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Kanzian Christian: Mathematik - Musik - Mystik
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Mathematik - Musik - Mystik
(Zur Uraufführung der Vertonung des Tractatus logico- philosophicus durch Balduin Sulzer)

Autor:Kanzian Christian
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2007-11-06

Inhalt

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Dieser Text ist die Grundlage eines Vortrags, gehalten vom Autor am 18. Oktober 2007 im Linzer Brucknerhaus zu dem im Titel angeführten Anlass. Nicht alle Stilelemente der mündlichen Rede habe ich entfernt. Besonders bedanken möchte ich mich für sachliche Hinweise zum Thema „Wittgenstein und die Musik“ bzw. zum Werk Balduin Sulzers bei Volker Munz (Geschäftsführer der Österr. L. Wittgenstein Gesellschaft, Universität Graz), Joseph Wang (Mitarbeiter am Brenner-Archiv, Universität Innsbruck), Sandra Hupfauf (Institut für Christliche Philosophie, Universität Innsbruck), bei Johannes Leopold Mayer, der mich anlässlich eines Rundfunkinterviews zu diesem Thema gebracht hat, last not least bei Anna Maria Pammer für die Einladung zu besagtem Vortrag. Höchsten Respekt bekunde ich vor der Komposition, ihrem Komponisten, und natürlich vor der Interpretin.

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0. Hinführung

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Ich freue mich, einige einführende Worte sagen zu dürfen zur Uraufführung der Vertonung des Tractatus logico-philosophicus Ludwig Wittgensteins durch Balduin Sulzer, interpretiert von Anna Maria Pammer.

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Wenn ich hier spreche, bin ich mir bewusst, dass dies ein Abend ist, der der Musik gehört und nicht der Rede. Die Musik aber, der dieser Abend gehört, ist zum Klingen gebrachte Philosophie, wie ein Sachkundiger Balduin Sulzers Kompositionen beschrieben hat. In dem Sinne erlaube ich mir ein Wort zu sagen zu dem, was heute zum Klingen gebracht wird: Philosophie.

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Philosophie, Musik, Philosophie und Musik: Das Verhältnis der Philosophie zur Musik ist so wenig auf den Punkt zu bekommen, wie das mit jeder lebendigen Beziehung geschehen kann. Für manche Philosophen ist die Musik das höchste: jene Harmonie, welche den ganzen Kosmos verbindet und die menschliche Seele in ihrem eigentlichen Wesen beschreibt. Philosophie ist die Deutung dessen, was den Kosmos verbindet und die menschliche Seele ausmacht. Also ist Musik Philosophie. Das sagen die einen. Nachzulesen etwa bei Phythagoras und seinen älteren Schülern. (1) Und dann gibt es auch die anderen, wie beispielsweise Immanuel Kant, welcher den Stellenwert der Musik für die Welterklärung wie folgt zum Ausdruck bringt, ich zitiere aus seiner Kritik der Urteilskraft: „Die Musik hat unter den schönen Künsten den untersten Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt. … Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, da sie … ihren Einfluss weiter als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft) ausbreitet; … … Es ist hiemit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt: Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen.“ (2) Philosophie spielt nicht mit Empfindungen, die Musik tut das. Also hat Musik mit Philosophie nichts zu tun.

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Kein Wunder könnte man sagen: Pythagoras hat auf Sizilien vermutlich nur die besten Musiker um sich gehabt; Kant in Königsberg, Ostpreußen, neben dem Zuchthaus gewohnt, in dem von den Häftlingen zur sittlichen Läuterung das Absingen religiöser Lieder zwangsweise verlangt wurde.

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Aber, heute geht es uns nicht um Pythagoras, zum Glück auch nicht um Kant, sondern um einen anderen, nicht minder bedeutenden Philosophen: Ludwig Wittgenstein. Wir hören die Vertonung eines seiner Werke. Wie aber ist das mit Wittgenstein: Wo steht er in seiner Einschätzung der Musik, nahe dem Pythagoras oder gar im Verbund mit Immanuel Kant? Dieser Frage gehe ich in der Folge nach. Ich möchte ihnen dazu kurz den Menschen Ludwig Wittgenstein vorstellen, den Philosophen, und den Autor des berühmten Tractatus, der im Folgenden zum Klingen gebracht wird (1. Teil). Dann versuche ich etwas zu sagen über Wittgenstein und die Musik, insbesondere über die Bedeutung der Musik für sein Philosophieren (2. Teil). Von da aus werde ich vorschlagen, ihn in die Nähe des Pythagoras zu rücken. Musik ist für Wittgensteins Leben und Denken unverzichtbar, mehr noch: vielleicht sogar ein viel zu wenig beachteter Schlüssel, sein Leben und Denken überhaupt zu verstehen. Aber langsam, Schritt für Schritt.

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1. Ludwig Wittgenstein: Leben – Philosophie – Tractatus logico-philosophicus

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Wer ist überhaupt dieser Ludwig Wittgenstein? (3) – Ludwig Josef Johann Wittgenstein wird am 26. April 1889 in Wien geboren, als jüngstes Kind von Karl und Leopoldine Wittgenstein. Seine Familie ist wohlhabend und bedeutend, auch und v.a. könnte man sagen, für das kulturelle Leben Wiens. Ich werde darauf noch zurückkommen, wenn ich das Thema Wittgenstein und die Musik beleuchte. Zunächst wird Ludwig, wie es sich geziemt, privat zu Hause unterrichtet. Seine erste öffentliche Schule besucht er in Linz, und zwar die Oberrealschule (heute Fadinger-Schule) von 1903-06. In der Folge studiert Wittgenstein Ingenieurwissenschaften, u.a. in Berlin. Das ist für das Verstehen seines Denkens durchaus maßgeblich. Erst über Grundlagenprobleme der Mechanik kommt er auf die Mathematik, über die Mathematik zur Philosophie. Das wird ihn prägen und macht seine Schriften, v.a. seine früheren wie den Tractatus, nicht einfacher, sprich allgemein verständlicher. Aber immerhin, er kommt zur Philosophie, ging 1911 nach Cambridge, wo er sich bald einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Der erste Weltkrieg unterbricht seine beginnende akademische Laufbahn in England. Er tritt freiwillig in die K. u. K.-Armee ein, wird gar Leutnant, kommt in italienische Gefangenschaft. 1919 kehrt Wittgenstein nach Wien zurück – und tut etwas kaum Vorstellbares: Er gibt sein (beträchtliches) Vermögen auf, sowie seine (erfolgversprechende) akademische Karriere; und wird Lehrer, Volksschullehrer im Niederösterreichischen Feistritztal. Seine Tätigkeit hat dort bis heute deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen. Sie können Wittgenstein-Museen und Dauerausstellungen besuchen, in Trattenbach und Kirchberg am Wechsel, wo sich auch der Sitz der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft befindet und seit 1976 (!) jährlich die großen „Wittgenstein-Symposien“ veranstaltet werden. (4) Und das, obwohl Wittgenstein Erfolg als Pädagoge nicht wirklich beschieden ist, wie die jungen Leute heute sagen würden. Konsequenterweise gibt er den Lehrberuf wieder auf und beschäftigt sich, nach einem mehrmonatigen Intermezzo als Hilfsgärtner bei den Barmherzigen Brüdern in Wien 1926, mit Architektur. So baut er für eine seiner Schwestern in Wien ein Haus, das Sie in der Kundmanngasse im 3. Wiener Gemeindebezirk auch heute noch besichtigen können. Es ist gegenwärtig der Sitz des Kulturinstituts der Bulgarischen Botschaft. Die Philosophie erhält Wittgenstein jedoch wieder, zum Glück. 1929 kehrt er nach Cambridge zurück, macht weiter Karriere, die in der Übernahme einer Professur gipfelt. Auf äußere Ehren und Postensicherheit hat Wittgenstein nie Wert gelegt: Während des zweiten Weltkriegs arbeitet er in Spitälern, geht nach dem Krieg nach Irland, gibt 1947 seinen Lehrstuhl zurück. Weitere Reisen, u.a. in die USA folgen. Er arbeitet in dieser Zeit intensiv philosophisch, auch hinein in die Zeit seiner Krankheit zum Tode, etwa an einem Buch „Über Gewissheit“, die er auch über sich selbst hat, als er kurz vor seinem Tode am 29. April 1951 bemerkt: „Sage ihnen, dass ich ein wunderbares Leben gehabt habe.“ (5)

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So unorthodox, unkonventionell und in keine der gängigen Schubladen passend sein äußeres Leben war, so kann man wohl auch seinen Charakter beschreiben. Wittgenstein konnte äußerst hart, ja zynisch sein; wohl nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Aber Wittgenstein hatte auch sehr herzliche Seiten, fähig zu äußerst sensiblem und fürsorglichem Umgang mit anderen. Das bezeugen seine Briefe, aber auch Zeugnisse seiner Freunde. Manche erlebten ihn furchteinflößend, nannten ihn „Nervensäge“ und „Besserwisser“. Andere sind gebannt von seinem beeindruckenden Charisma, das in der Lage war, Menschen, die mit ihm verbunden waren, zu begeistern. Wittgenstein ist ein unglaublich wortreicher Mensch, mit viel Gefühl für die Sprache, hatte aber eine große Ehrfurcht vor dem, was man nicht sagen kann. Derlei Spannungen in seinem persönlichen Charakter und seinem Umgang mit Menschen lassen sich beliebig fortsetzen.

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Wittgenstein war Ingenieur, Architekt, Krankenpfleger, nicht zu vergessen Hilfsgärtner, Volksschullehrer, etc. Er war aber auch, in erster Linie, Philosoph. Und so möchte ich versuchen, auch etwas über seine Philosophie zu sagen. (Beiseite lasse ich die schulmäßige Gliederung seines Schaffens in ein Früh- und ein Spätwerk, eine Erörterung des Problems, wie sich diese zueinander verhalten; ob es einen Philosophen Wittgenstein gibt, zwei, gar mehrere; ob man den Mono-Wittgensteinianismus, wie unsere Freunde aus Übersee sagen, „mild“ oder „hard“ auffassen könne (6) , etc. etc. etc. Auch eine einfache Auflistung seiner Schriften erspare ich mir, das können Sie in jeder Standardbiographie nachlesen.)

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Wie aber kann man nun seine Philosophie verstehen? Ich möchte mich auf drei Aspekte konzentrieren: Wittgensteins Philosophie ist beschreibend. – Was heißt das, mag die ein oder andere fragen, beschreiben ist nichts großmächtig Aufschlussreiches. Das kann jedes Kind. – Doch, würde ich der fiktiven Gegnerin erwidern: Für Philosophen ist das etwas sehr Aufschlussreiches: Beschreiben. Einfach Beschreiben. Viele Philosophen fassen ihre Tätigkeit so auf, dass sie denken, grübeln, und, so es ihre psychische Gesundheit aushält, unglaubliche spekulative Gedankenwelten entwickeln, ohne dass diese einen erkennbaren Zusammenhang hätten mit der Welt, wie Sie und ich sie kennen. Andere Kollegen verstehen Philosophie so, dass sie warten, was andere hervorbringen, etwa die Naturwissenschaftler. Sie greifen z.B. physikalische Forschungsergebnisse auf, und machen daraus eine Metaphysik. Wittgenstein hält davon nichts: Er beschreibt, akribisch, genau. Er entdeckt so selbst, und kaut nicht die Entdeckungen anderer wieder. „Denk nicht schau!“ sagt er einmal und, so könnte man ergänzen, beschreibe das Gesehene.

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Was beschreibt er? - Die Antwort führt uns in ein zweites Merkmal der Philosophie Wittgensteins: Er beschreibt die menschliche Praxis. Bevorzugtes Interesse hat für Wittgenstein zunächst die menschliche Sprechpraxis. Wir reden miteinander. Wir äußern Sätze. Und mit diesen Sätzen verbinden wir Wahrheitsanspruch, und dieser Wahrheitsanspruch hat damit zu tun, dass wir mit diesen Sätzen die Wirklichkeit abbilden wollen. Die Wahrheit von komplexen Sätzen hängt nun ab von der Wahrheit ihrer Teilsätze, letztlich von der sogenannter Elementarsätze. Wittgenstein versucht dieses Phänomen zu beschreiben. So klar es nur geht. Im Laufe seines Schaffens hat dann Wittgenstein die menschliche Sprechpraxis als immer komplexeres Phänomen in den Blick bekommen: Wir bilden mit Sprache nicht nur etwas ab, wir scherzen auch, befehlen, tragen Gedichte vor etc. Wir spielen mit Sprache, in verschiedener Weise. Und diese verschiedenen „Sprachspiele“ sind Ausdruck weiterer Handlungs- und Lebenskontexte, deren Vielfalt das ausmacht, was wir auch Kultur nennen können. Wittgenstein beschreibt unsere Sprechpraxis in ihrer ganzen Komplexität. Er beschreibt ihre Regeln, ihre Strukturen, ihre Chancen auf Erfolg, ihre Risken auf Misserfolg.

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Wozu tut er das? – Die Antwort darauf lässt uns auf ein drittes Merkmal seines Philosophierens stoßen: Wittgensteins Philosophie ist therapierend. Therapierend, nicht moralisierend – wohlbemerkt. Durch das klare Beschreiben unserer Sprechpraxis lösen sich Missverständnisse bzgl. unseres Sprechens auf. Lösen sich Missverständnisse bzgl. unseres Sprechens auf, so auch Missverständnisse beim Sprechen, im Miteinander Reden. Und Lösen sich Missverständnisse beim Sprechen, lösen sich auch Denk-Probleme. „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (PU 109). (7)

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Wittgensteins Philosophie ist eine Beschreibung unserer Sprechpraxis zur Therapie von Denk-, aber auch von Lebensproblemen, wie ich sagen würde.

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Wir hören heute keine Vertonung des Gesamtwerks Wittgensteins. Balduin Sulzer hat es offensichtlich besonders der Tractatus logico philosophicus angetan. Es ist ein Frühwerk. Ab 1913 arbeitet Wittgenstein daran, also als 24-Jähriger. Abgeschlossen ist es vor der erwähnten italienischen Kriegsgefangenschaft. Worum geht es im Tractatus? (Auch hier lasse ich schulmäßige Beschreibungen weg, etwa dass der Tractatus in 7 Hauptsätzen aufgebaut ist, der in mehreren Stufen aus Untersätzen besteht etc.) Lassen wir seinen Autor selbst zu Wort kommen. In einem Vorwort, verfasst im Wien des Jahres 1918, schreibt er: „Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt … dass die Fragestellung dieser Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken.“ (8) – Ich wende die allgemeinen Merkmale des Philosophierens Wittgensteins auf den Tractatus an und weise auf wichtige Besonderheiten hin: Wittgenstein will in diesem Werk beschreiben, und zwar unsere Sprechpraxis. Und zwar möchte er beschreiben, was sich überhaupt sagen lässt und zeigen, wie klar sich das, was sich überhaupt sagen lässt, sagen lässt. Das entspricht den allgemeinen Merkmalen der Philosophie Wittgensteins. Das besondere im Tractatus liegt darin, dass es Wittgenstein bei der Beschreibung unserer Sprechpraxis auch, ja vor allem um die Grenzen, nicht des Denkens, sondern das Sagbaren geht: das wahrhaft Ästhetische und Ethische (TLP 6.421), die Frage nach dem Sinn, das Mystische liegen außerhalb des Sagbaren. Wichtig: Das ist keine Negierung dieses Bereichs. TLP 6.522: „Es gibt Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“. Möglicherweise hat dieser Aspekt den Komponisten dieses Abends nach Augustinus und Bernhard von Clairvoux auf Wittgenstein kommen lassen. (9) Um dem Unaussprechlichen Raum zu geben, beschreibt Wittgenstein exakt und präzis das Sagbare, seine Wahrheitsbedingungen und seine Grenzen.

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Worin aber besteht das Therapeutische? - könnte man im Hinblick auf den dritten erwähnten allgemeinen Aspekt seines Philosophierens fragen. Philosophische Probleme entstehen durch Missverständnisse unserer Sprache. Viele Philosophen denken sich einen Knopf ins Hirn, weil sie das Instrument des Denkens nicht verstehen: die Sprache. Ist so. Ich würde aber auch sagen, Lebensprobleme entstehen durch solche Missverständnisse, Kommunikationsprobleme. Und auch das Missverstehen von Ethik, Ästhetik, ja dem Mystischen beruht mitunter darauf, dass man es entweder verwechselt mit dem, was man exakt – etwa im Sinne der Naturwissenschaften – sagen kann; oder irrigerweise sogar negiert, weil man es nicht exakt besprechen kann. Was die Naturwissenschaften nicht exakt sagen können, gebe es nicht. Wittgenstein will die Leserin von derartigen Irrtümern heilen. Er will dem Nicht-Sagbaren Raum geben, in dem er das Exakt-Sagbare umgrenzt.

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Soweit zum Menschen Wittgenstein, dem Philosophen, dem Autor des Tractatus. Ich komme nun zum zweiten Teil meines Vortrags.

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2. Wittgenstein und die Musik

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Wie eingangs erwähnt, spielt die Familie Ludwig Wittgensteins im kulturellen Leben Wiens eine hervorragende Bedeutung. Und diese Bedeutung verdankt sie vor allem ihrer verständnisvollen Neigung zur Musik und zu Musikern. Der Vater Ludwig Wittgensteins, Karl, spielt Geige, für die Mutter, Leopoldine, ist das Klavierspiel nicht Hobby, sondern Lebensinhalt. Alles, was im musikalischen Leben des vorletzten Jahrhunderts in Wien Rang und Namen hat, verkehrt im Hause Wittgenstein, darunter Gestalten von unbestrittener Größe, wie Johannes Brahms. Besondere Verehrung fand u.a. der blinde Organist und Komponist Joseph Labor. Bekannt ist das musikalische Genie von Paul Wittgenstein, Ludwigs älterem Bruder. Selbst der Verlust des rechten Armes durch eine Kriegsverletzung hindert nicht seine Karriere als Pianist. Ravel komponierte eigens für Paul Wittgenstein ein Stück für den linkshändigen Pianisten. In diesem Umfeld bleibt Ludwig nichts anderes übrig als eine innige Beziehung zur Musik zu entwickeln. Und er tut dies auch. Besonderen Enthusiasmus hegt Ludwig Wittgenstein für die Musik des 19. Jahrhunderts: über allen Beethoven, Wertschätzung bekundet er für Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms natürlich und Bruckner.

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Nahe liegend ist natürlich die Frage, ob Ludwig Wittgenstein wie seine Eltern und seine Geschwister auch selbst die so sehr geliebte Musik machte. Praktisch nicht – könnte man sagen. Er nimmt zwar in seiner Kindheit Klavierunterricht. Allerdings führt dieser nicht zu künstlerischer Praxis im Klavierspiel. Im Erwachsenenalter ist von Ludwig Wittgenstein sicher keine Klaviermusik zu hören. Während der Ausbildung zum Volksschullehrer muss er Geigenunterricht nehmen. Auch dieser lässt unseren Philosophen weitgehend unberührt. Allerdings spielt Wittgenstein während seiner Lehrerzeit Musik, nicht auf der Geige freilich – wie man das mitunter liest – sondern auf einer Klarinette, einer B-Klarinette genauerhin, die er zum Erstaunen der Leute in einem alten wollenen Strumpf transportierte. Wittgensteins Klarinette können Sie übrigens besichtigen in einer Dauerausstellung im Gemeindezentrum von Kirchberg am Wechsel. Gesungen hat Ludwig Wittgenstein nie, auch nicht während des Musikunterrichts. Allerdings, und allein darin hat er es zu echter Virtuosität gebracht: Er konnte hervorragend Pfeifen. Wollte er Tonfolgen exemplarisch darstellen, nicht nur den Volksschülern, sondern auch Freunden im gehobenen Gespräch über musikalische Themen, tat er das pfeifend: präzis, tonsicher, klar verständlich.

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Wittgenstein war, ohne ein Instrument wirklich zu beherrschen, ein hervorragender Kenner von Musik. Mehr noch: Musik bestimmt sein Leben, somit auch sein Denken. Und Wittgenstein war natürlich Philosoph. Da liegt es nahe zu fragen, ob und wie die lebensbestimmende Musik sein philosophisches Denken beeinflusst und geprägt hat. Den Gefallen, ein Buch zu verfassen, etwa „Ich und die Musik“ oder „Meine Philosophie und die Tonkunst“ hat er uns nicht getan, auch keinen Essay, nicht einmal mehrere zusammenhängende Anspielungen hat er derartigen Themen gewidmet. Was wir über seine Einstellung zur Musik wissen, verdanken wir Gesprächszeugen, Briefen, allen voran seinem Briefwechsel mit Rudolf Koder (10) , fragmentarischen Bemerkungen in Tagebüchern, seinen „Vermischten Bemerkungen“, aber auch seltenen Randbemerkungen in monographischen Schriften. Wenn ich nun der Frage nach Philosophie und Musik bei Ludwig Wittgenstein nachgehe, kann ich damit beginnen, mögliche Erklärungen dieses doch paradox anmutenden Faktums zu suchen. Warum sagt er nichts über etwas, das ihm offensichtlich so wichtig ist?

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Ein erster Zugang mag darin bestehen, dass Wittgenstein grundsätzlich Scheu hat, über Dinge zu reden, die ihm nicht nur theoretisch wichtig sind, sondern auch persönlich. Besonders dann, wenn er wenig Hoffnung hegt, dass das, was er zu diesen persönlichen Dingen zu sagen hat, auch wirklich verstanden wird. Und die Musik ist so ein Thema: Musik betrifft Wittgenstein persönlich, und was er zur Musik denkt, fühlt, an ihr leidet und an ihr liebt, kann er nicht mitteilen ohne Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden. Ich zitiere eine Bemerkung aus dem Jahre 1949: „Ich finde es unmöglich … auch nur ein einziges Wort zu sagen über all das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich dann darauf hoffen, dass man mich versteht“. (11) Ein zweiter Zugang, warum Wittgenstein keine expliziten Abhandlungen zu Musik und zur Wirkung von Musik auf sein Denken verfasst, mag darin bestehen, dass seine vorliegenden Schriften ohnehin implizit oder von innen her deutlich geprägt sind davon, wie er zur Musik steht. Möglicherweise erachtet es Wittgenstein für überflüssig, noch etwas darüber zu sagen, was ohnehin vorliegt: zwar nicht offenkundig, thematisch zur Schau gestellt, aber doch wahrnehmbar. In diesem Sinne möchte ich versuchen, solche Wahrnehmungen zu beschreiben.

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Da ist zunächst die Weise wie Wittgenstein denkt, seine „forma mentis“ sozusagen. Wittgenstein nimmt bezüglich musikalischer Werke und deren Aufführung die Position des scharfen, klaren Analytikers ein. Er ist in der Lage, äußerst intensiv zuzuhören. Dabei spricht er immer wieder davon, dass nicht das viel-Hören, sondern das gut-Hören entscheidend ist. In Berlin hört er gut 30 Mal die Meistersinger Wagners (man möchte fragen, was er dort sonst noch gemacht hat). Das, was vorliegt, sehen, analysieren, beschreiben – Denk nicht schau! – ist, wie wir schon gesehen haben, ein wesentliches Merkmal seines philosophischen Denkens. Es ist eins zu eins in seiner Einstellung zur Musik umzulegen, möglicherweise auch umgekehrt: Seine Einstellung zur Musik hilft uns, ein wesentliches Merkmal seiner Philosophie zu verstehen.

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Aufschlüsse über das Verhältnis von Musik und Philosophie ergeben sich aber nicht nur aus der Weise, wie er wahrnimmt und denkt. Auch manche inhaltliche Aspekte sind zu finden. In einer Tagebucheintragung aus dem Frühjahr 1915 finden wir zum Beispiel den Hinweis, dass die Kenntnis des Wesens der Logik zur Kenntnis des Wesens der Musik führe. (12) Möglicherweise auch umgekehrt: die Kenntnis des Wesens der Musik zur Kenntnis dessen, was Wittgenstein unter dem „Wesen der Logik“ versteht?

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Im Tractatus, in die Zeit seiner Abfassung fällt die angeführte Notiz, wird Wittgenstein an einer Stelle jedenfalls konkret, und zwar 4.014: Dort spricht er vom Verhältnis von musikalischem Gedanken und Notenschrift, die man exemplarisch für das Verhältnis zwischen gedanklichem Inhalt und sprachlichem Ausdruck verstehen kann. Alle sind in gewissem Sinne eins, weil ihnen ihre logische Struktur gemeinsam ist. Versteht man, warum ein musikalischer Gedanke durch eine Notensequenz abgebildet werden kann, ich wiederhole: weil ihnen ihre logische Struktur gemein ist, versteht man auch, warum überhaupt Gedanken sprachlich formuliert werden können. Der Punkt: Musikalische Notation -Verstehen ist Sprache verstehen. Sprache verstehen ist im Mittelpunkt von Wittgensteins Philosophie, also führt uns das Verstehen von musikalischer Notation, von Musik könnte man einfacher sagen, in den Mittepunkt von Wittgensteins Philosophie, hier die des Tractatus.

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In seinen späteren Werken, in denen Wittgenstein die menschliche Sprechpraxis als komplexes Phänomen in den Blick bekommt, nicht nur im Hinblick auf ihre Abbildfunktion, finden sich punktuell bemerkenswert deutliche Spuren, wie Musik-Verstehen Sprachverstehen in einem philosophischen Sinn bedingt. Etwa Punkt 527 PU „Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt“. Warum?, BPP II, 503f: (13) „Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache“. Wann versteht man ein Thema der Musik, einen sprachlichen Ausdruck? – Wenn man seine Bedeutung kennt. Wann kennt man die Bedeutung eines musikalischen Themas, eines sprachlichen Ausdrucks? „Nur im Fluss der Gedanken und des Lebens“ (Ebd.) (14) Musikalische Themen haben Bedeutung im Kontext des Flusses von Gefühlen, Gedanken, lebendigen Einstellungen, könnte man Wittgenstein frei interpretieren. Versteht man das, versteht man auch, wie Sprache allgemein zu Bedeutung kommt: im Fluss der Gedanken und des Lebens; in Sprachspielen, wie Wittgenstein sagt, das sind nichts anderes als verschiedene lebendige Einstellungen, Handlungs- oder kurz Lebenskontexte, wie Abbilden, Scherzen, Befehlen, Rezitieren, Beten etc. Worauf ich hinaus will: Das Verstehen von Musik, oder wie Musik Bedeutung haben kann, ist ein Weg in Wittgensteins Philosophie, auch in seine späte Philosophie, der es um das Verstehen und Bedeutung von Sprache in ihrer ganzen Vielfalt geht.

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Ich komme zum Schluss: nach meinen kurzen Schlaglichtern auf Leben, Philosophie, den Tractatus Wittgensteins (1. Teil), auf seine Einstellung zur Musik, und dem Verhältnis Musik – Philosophie bei ihm (2. Teil), wende ich mich nochmals der Eingangsfrage zu: Wo steht Wittgenstein in seiner Einschätzung der Musik, nahe dem Pythagoras oder doch im Verbund mit Immanuel Kant? – Mein Vortrag verfolgt das Ziel, diese Frage als rein rhetorische auszuweisen. Musik ist, wenn schon nicht Philosophie, so doch geradezu paradigmatischer Ausdruck dessen, worum es der Philosophie eigentlich geht. So gesehen ist Wittgenstein ein „klassischer Pythagoräer“. Musik ist ein Schlüssel zum Verstehen der Philosophie Wittgensteins, nicht von außen vielleicht, sondern von innen her.

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Aber jetzt schweige ich besser, denn wie Wittgenstein von innen her zu verstehen ist, fällt sicherlich nicht in den Bereich des Sagbaren. Das Nicht-Sagbare ist – mit Worten - nicht zu bereden: eher schon mit Tönen, wie wir von Wittgenstein lernen und jetzt gleich feststellen werden … Danke.

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Anmerkungen:

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1. Vgl. Pythagoras, Ältere Pythagoreer. In: Die Vorsokratiker I, Griechisch / Deutsch. Auswahl der Fragmente , Übersetzung und Erläuterung von J. Mansfeld. Reclam, Stuttgart 1983, 145, 163, 183.

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2. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Zitiert nach der Edition von G. Lehman bei Reclam, Stuttgart 1963, 271.272.

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3. Als Hauptquellen dieses biographischen Überblicks führe ich an: Elisabeth Leinfellner & Sascha Windholz, Ludwig Wittgenstein. Ein Volksschullehrer in Niederösterreich. Sutton Verlag, Erfurt 2005; bzw. J. Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart 1989, Abschnitt I.1. „Leben“.

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4. Einen Überblick über die Tätigkeiten der Wittgenstein-Gesellschaft in Kirchberg gibt die Festschrift anlässlich des Jubiläums 30. Internationales Wittgenstein-Symposium: Wir hofften jedes Jahr noch ein weiteres Symposium machen zu können, hrsg. v. C. Kanzian, V. Munz, S. Windholz. Ontos. Kirchberg 2007. Aktuelle Informationen zur Gesellschaft: http://www.alws.at . Dort finden sich auch weiterführende links zu Leben und Werk Wittgensteins.

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5. Zitat übernommen aus: Ludwig Wittgenstein. Ein Volksschullehrer in Niederösterreich, 27.

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6. Siehe den Vortrag von James Conant während des Kongresses der Internationalen Wittgenstein Gesellschaft, Leipzig, 27. September 2007: „Mild Mono-Wittgensteinianism“.

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7. Passagen aus den Philosophischen Untersuchungen (PU) zitiere ich aus der Ausgabe bei Suhrkamp, Taschenbuch Wissenschaft 203. Frankfurt am Main 1977.

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8. Passagen aus dem Tractatus (TLP) zitiere ich aus der Edition Suhrkamp 12, Frankfurt am Main 11963.

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9. Information zu Balduin Sulzers Leben und Werk, u.a.: www.eduhi.at/schule/hak-linz.bsulzer ; www.de.wikipedia.org/wiki/Balduin_Sulzer ; www.religion.orf.at/radio/menschenbilder/me010715.htm .

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10. Quelle: Wittgenstein und die Musik. Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder: Briefwechsel. Hrsg. v. M. Alber in Zusammenarbeit mit B. McGuiness und M. Seekircher. Brenner Studien Band XVII. Haymon, Innsbruck 2000, 9-89.

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11. Zitiert nach Wittgenstein und die Musik, 151.

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12. Vgl. Wittgenstein. Notebooks 1914-16. Ed. by G.H. von Wright & G.E.M. Anscombe. Blackwell, Oxford 1961, S. 40. Eintragung vom 7. Februar 1915.

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13. Zitate aus den Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie übernehme ich aus Wittgenstein und die Musik. Hier: 157.

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14. Ebd.

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