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Ein Leben für die Zeitgeschichte: Rolf Steininger – Universität Innsbruck
Rolf Steininger

Ein Leben für die Zeitgeschichte: Rolf Steininger

Studierender. Forschender. Visionär

Text: David Astl

Es ist eine Geschichte, die eine:n in ihren Bann zieht: Der Weg von Rolf Steininger, einem Jungen aus Plettenberg im Sauerland, der von den Erzählungen seines Vaters über die Wirren des 20. Jahrhunderts tief beeindruckt war, hin zu einem der führenden Historiker Österreichs. Ein Mann, der das Fach Geschichte nicht nur studierte, sondern es lebte und formte. Und ein Mann, der den Autor des hier vorliegenden Beitrags in seinem Arbeitsrefugium, einem Kellerappartement am Rande von Innsbruck innerhalb weniger Minuten vollends in seinen Bann zog. Zwischen Unmengen an Büchern, in einem schummrig anmutenden Raum und unter den aufmerksamen Augen seines Hundes Ronnie wird schnell klar, dass Rolf Steininger ein ganz Großer seines Faches ist. Doch anfangen sollte alles relativ unspektakulär und pragmatisch:

Der Funke, der das Feuer entfachte

„Mein Vater, ein einfacher Mann, geboren 1899 in Straubing, hat alles miterlebt: den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Aufstieg Hitlers und den Zweiten Weltkrieg“, beginnt Steininger seine Erzählung. „Er erzählte mir Geschichten, die mich als Kind tief beeindruckten. Geschichten, die ich heute bereue, nicht selbst aufgeschrieben zu haben.“

Diese Erzählungen seines Vaters, kombiniert mit dem Einfluss einer hervorragenden Geschichtslehrerin, legten den Grundstein für seine Leidenschaft für die Geschichte. Doch es war nicht die idealisierte Vorstellung eines Historikers, die Steininger zum Studium der Geschichte brachte. Es war vielmehr der pragmatische Wunsch seiner Mutter, dass ihr Sohn einen sicheren Beruf als Lehrer und Beamter ergreifen sollte – ein Beruf, der bereits in den turbulenten Zeiten der Weimarer Republik Sicherheit geboten hatte.

Der Beginn einer außergewöhnlichen akademischen Reise

Das Studium der Geschichte begann er 1962 an der Universität Marburg. Steininger erinnert sich an die endlosen Stunden, die er in der Bibliothek verbrachte, vertieft in die Literatur, um den Zweiten Weltkrieg zu verstehen. „Die Neugier hat mich schon immer angetrieben. Ich wollte verstehen, begreifen, was hier geschehen ist“, sagt er. Diese Neugier führte ihn schließlich nach Göttingen, wo er in einem Seminar zur britischen Geschichte auf einen Professor traf, der sein Talent erkannte und ihm eine Stelle als Hilfsassistent anbot. Diese Gelegenheit war der Beginn einer akademischen Laufbahn, die ihn letztlich weg vom Lehrerberuf und hin zu einer Promotion führte.

„Es war ein Glücksfall“, sagt Steininger rückblickend. „Der Professor, bei dem ich promovierte, war großartig. Er ließ uns freie Hand, aber wir mussten liefern.“ Diese Freiheit und gleichzeitig der Druck, Ergebnisse zu präsentieren, prägten Steiningers eigenen Führungsstil später in Innsbruck.

Unverhofft kommt oft: Der Weg nach Innsbruck

Es war das Jahr 1979, als Steininger zufällig in München auf die Ausschreibung für eine Professur in Innsbruck stieß. Ohne groß darüber nachzudenken, bewarb er sich und wurde prompt zu einem Vortrag eingeladen. „Ich kannte Innsbruck überhaupt nicht“, gibt er zu. Doch die Stadt hinterließ einen bleibenden Eindruck bei ihm. Die Entscheidung, nach Innsbruck zu gehen, fiel jedoch erst drei Jahre später, als er einen Brief vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft erhielt. „Ich wusste gar nicht, dass der Minister mich persönlich eingeladen hatte“, lacht Steininger. „Die Unterschrift konnte ich nicht einmal entziffern.“ Deshalb fiel ihm auch zunächst sein Irrtum nicht auf, als er selbstverständlich annahm, dass er mit einem Mann – der in Wirklichkeit die legendäre Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg war – über die Ausstattung seiner Professur verhandeln würde.

Die Entscheidung, nach Innsbruck zu gehen, war kein einfacher Schritt. Steininger war zu diesem Zeitpunkt bereits Professor in Hannover, hatte ein Haus gebaut und war fest verwurzelt. „Aber der Gedanke, etwas Neues zu beginnen, hat mich gereizt“, sagt er. So nahm er das Abenteuer an, ohne genau zu wissen, was ihn erwartete.

Ein Institut wird gegründet

Steiningers Vision war klar: Er wollte ein Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck gründen, das nicht nur lokal, sondern international ausgerichtet sein sollte. Doch der Weg dorthin war geprägt von Herausforderungen. „Es war nicht einfach, die Kollegen von meiner Idee zu überzeugen“, erinnert er sich. „Aber ich war entschlossen, etwas Neues zu schaffen, etwas, das über die Grenzen Österreichs hinaus Bedeutung haben würde.“

1984 war es schließlich so weit: Das Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck wurde gegründet. Unter Steiningers Leitung entwickelte es sich schnell zu einem Zentrum für internationale Forschung. „Wir wollten nicht nur lokale Geschichte betreiben“, erklärt er. „Unsere Ausrichtung war von Anfang an international.“

Besonders stolz ist Steininger auf die vielen internationalen Konferenzen und Projekte, die das Institut organisierte. „Der Umgang mit dem Holocaust war eines unserer zentralen Themen“, sagt er. Eine der wichtigsten Veranstaltungen war eine Konferenz, bei der führende Holocaustforscher aus der ganzen Welt in Innsbruck zusammenkamen. „Das war ein Riesenunternehmen“, erinnert sich Steininger. „Wir hatten Forscher aus den USA, Palästina und vielen anderen Ländern hier versammelt.“

Der Kampf um Ressourcen und Anerkennung

Doch der Aufbau eines solchen Instituts war kein Selbstläufer. Steininger musste hart kämpfen, um die nötigen Ressourcen zu sichern. „Es gab immer wieder Widerstand“, sagt er.

„Wir mussten die Kollegen und das Ministerium überzeugen, dass es sich lohnt, in unser Institut zu investieren. Du musst bedenken: Immer, wenn du etwas bekommst, bekommt es wer anderer nicht.“

Doch sein Einsatz zahlte sich aus: 2002 wurde das Institut von der European Science Foundation als „Center of Excellence“ anerkannt. „Das war eine große Bestätigung für unsere Arbeit“, sagt Steininger, und noch heute hört man einen Anflug an Stolz in seiner Stimme. Doch der Kampf um Anerkennung und Mittel hörte nie auf. „Es war immer ein Kampf“, gibt er zu. „Aber das hat uns auch motiviert, weiterzumachen.“

Steininger und die Studierenden

Neben seinen wissenschaftlichen Erfolgen war die Arbeit mit Studierenden immer ein zentrales Anliegen für Steininger. „Meine Vorlesungen waren für mich wie ein Lebenselixier“, sagt er. Besonders stolz ist er auf die Exkursionen, die er mit seinen Studierenden unternahm. „Nach 18 Tagen unterwegs wusste ich genau, wer ein guter Lehrer werden könnte und wer nicht“, erzählt er. Kurz hält er inne. Dann schmunzelt er, seine fragenden Augen auf mich gerichtet: „Kannst du spontan zu fünf historischen Themen je zwei Stunden auswendig referieren?“ Ich verneinte. „Dann hast du noch zu tun, Junge, denn ich habe all meinen Studierenden gesagt: ‚Das sollte man als guter Geschichtelehrer können.‘“

Sein Führungsstil war geprägt von Vertrauen und Freiheit. „Ich habe meinen Mitarbeitern viel Spielraum gegeben“, erklärt er. „Aber am Ende mussten Ergebnisse vorliegen.“ Diese Herangehensweise förderte eine produktive und motivierende Arbeitsatmosphäre. „Es gab keine festen Präsenzzeiten, aber es musste Leistung erbracht werden“, betont er.

Rückblick auf ein erfülltes Leben

Nach Jahrzehnten erfolgreicher Arbeit zog sich Steininger 2010 aus der aktiven Arbeit zurück. Der Übergang in den Ruhestand war nicht einfach. „Plötzlich waren die Sekretärinnen weg, und ich musste lernen, mit dem Computer umzugehen“, erinnert er sich schmunzelnd. Doch auch im Ruhestand blieb er produktiv und widmete sich weiterhin der Forschung und dem Schreiben. „Mein Hobby ist das Schreiben“, sagt er. „Ich habe keine anderen Hobbys.“ Stille. Ein Schmunzeln.

„Wenn ich in den Nachrichten lese, wie viele meiner deutschen Landsleute vom Helikopter abgeholt werden, weil sie sich beim Skilaufen verletzt haben – dann denke ich mir immer, ich bin auch Deutscher, aber ich weiß eben, was ich kann und lasse den Rest. Wohl besser so, hm, Ronnie?“

Aber auch ohne Augenzwinkern blickt Steininger mit Zufriedenheit auf sein Lebenswerk zurück. „Ich bereue nichts“, sagt er. „Ich habe immer das getan, was mir wichtig war, und ich habe immer versucht, das Beste aus jeder Situation zu machen.“ Seine Leidenschaft für die Geschichte und seine Art zu sein, haben nicht nur seine Karriere geprägt, sondern auch ganz viele Menschen in seinem Umfeld sowie das Institut für Zeitgeschichte an sich. „Aber da kann dir die Ingrid (Anm. Böhler) mehr erzählen.“

Das Vermächtnis von Rolf Steininger

Rolf Steininger ist mehr als nur ein Historiker. Er ist ein Visionär, ein Lehrer und ein Kämpfer. Seine Geschichte ist die eines Mannes, der sich nicht mit dem Status quo zufriedengab, sondern immer nach mehr strebte – nach mehr Wissen, mehr Verständnis und mehr Bedeutung.

Sein Vermächtnis ist das Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck, das heute international anerkannt ist und weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsforschung leistet. Aber sein Vermächtnis sind auch die vielen Studierenden, die er inspiriert hat, die Kolleg:innen, die er gefördert hat, und die unzähligen Menschen, die durch seine Arbeit ein tieferes Verständnis der Geschichte gewonnen haben.

Heute lebt Steininger ein ruhigeres Leben, doch seine Leidenschaft für die Geschichte brennt noch immer. „Die Highlights eines Historikers sind die Momente, in denen man etwas ganz Neues entdeckt“, sagt er mit einem Lächeln. „Und diese Momente werde ich nie vergessen.“

Ein Blick auf die Uhr.

„Och, aber jetzt, junger Mann, bringe ich dir ein paar Bücher. Die schreibe ich extra für die Schulen, mit Bildern, das gefällt denen immer. Muss man nicht so viel lesen, nicht wahr? Aber dann müssen wir leider gehen, Spaziergang, mit Ronnie. Der muss sein, nicht wahr, mein Lieber?“

Blickt auf seinen Hund, streichelt ihn liebevoll, verschwindet in den Engen des Kellerappartements und lässt nach einem langen Gespräch einen gleichermaßen faszinierten Studierenden zurück, der seine Eindrücke und die Geschichte eines spürbar großen Zeithistorikers hier versucht hat niederzuschreiben.


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