Eine Kugel rollt einen Hügel hinab. Auf ihrem Weg trifft sie auf Erhöhungen oder Mulden und muss ihre Bahn anpassen, rollt mal nach rechts, mal nach links. Am Ende ihres Weges erreicht sie ebenen Boden. Das Bild des „Waddington Landscape“ wurde im Jahr 1957 entwickelt und ist ein klassisches Modell, das den Differenzierungsweg von Stammzellen beschreibt: Stammzellen teilen sich. Daraus entstehen zunehmend spezialisierte Zelltypen, bis sie eine bestimmte Körperzelle gebildet haben. Je spezifischer die Zelle, desto eingeschränkter ist die Bandbreite an Zelltypen, zu denen sie sich noch ausdifferenzieren kann - so wie die Kugel auch nicht mehr bergauf rollen kann. Die Fähigkeit zur Differenzierung in verschiedene Zelltypen nennt sich Plastizität.
Diese Vorstellung von Stammzellen beruht allerdings hauptsächlich auf dem, was von Wirbeltieren bekannt ist. Diese werden in der Stammzellforschung bereits seit Jahrzehnten untersucht, allen voran der Mensch, da medizinische Anwendbarkeit stark im Vordergrund steht. In einer großen internationalen Kooperation haben Wissenschaftler*innen bisher wenig beachtete Eigenschaften von adulten Stammzellen an wirbellosen Tieren erforscht und das Bild des „Waddington Landscape“ um mehrere Dimensionen erweitert. Die Arbeit wurde im wissenschaftlichen Journal „Biological Reviews“ veröffentlicht. Bert Hobmayer vom Institut für Zoologie der Universität Innsbruck war maßgeblich an der Studie beteiligt und erklärt, welche Rolle der Süßwasserpolyp Hydra gespielt hat, an dem seine Arbeitsgruppe forscht.
Entscheidungen im Embryo
Bei Wirbeltieren entscheiden sich Stammzellen bereits sehr früh, im Embryonalstadium, zwischen einem von zwei Wegen: entweder sie schlagen die Keimbahn ein, entwickeln sich zu Spermien- oder Eizellen und geben damit die Erbinformation weiter - oder sie entwickeln sich zu somatischen Stammzellen, die sich zu allen anderen Körperzellen ausdifferenzieren. Diese Entscheidung ist endgültig – keine Keimzelle kann sich später noch zu einer somatischen Zelle entwickeln, oder umgekehrt. Stammzellen, die sich nach der Embryonalentwicklung im Gewebe und den Organen von Tieren finden, nennen sich adulte Stammzellen. „Prinzipiell ist es so, dass adulte Stammzellen in allen Tieren vorkommen. Sie sind dafür verantwortlich, das Gewebe jung zu halten, absterbende Zellen zu erneuern und Regenerationsprozesse umzusetzen,“ erklärt Hobmayer. „Unsere Organsysteme greifen zurück auf einen Pool von adulten Stammzellen, damit unsere Gewebe und Organe über unsere Lebenszeit hinweg leistungsfähig bleiben können.“ Adulte Stammzellen in Wirbeltieren haben eine begrenzte Teilungsfähigkeit, danach sterben sie. Bei wirbellosen Tieren hingegen sieht die Sache ganz anders aus, wie sich am Beispiel der Hydra zeigt.
Dem Tod entgehen
„Um das in einen Bezug zu setzen: die Wirbeltiere sind einer von 35 Tierstämmen. Die restlichen 34 Tierstämme gehören zu den Wirbellosen. Wir haben da eine gigantische Vielfalt von Formen und Entwicklungsstrategien“, sagt Hobmayer. Unter den Wirbellosen sind sehr ursprüngliche, einfach gebaute Tiere vertreten, die aber sehr leistungsfähige Stammzellen besitzen und die über ausgeprägte Reparationsleistungen verfügen. Manche dieser Tiere können ganze Körperteile komplett ersetzten, oder aus Einzelzellen einen ganzen Organismus neu bilden - so auch die Hydra, weshalb sie auch diesen Namen trägt. „Diese Tiere scheinen in ihrem Lebenszyklus nahezu unbegrenzt zu wachsen. Sie vermehren sich asexuell, das heißt, sie bilden neue Klone aus ihren Körpern und erneuern permanent ihr Gewebe“, so Hobmayer. „Damit bleiben sie jung und irgendwie – auf zellulärer Ebene verstehen wir das noch nicht – entgehen sie dem Tod. Wir arbeiten mit Laborstämmen, die in den 1960er Jahren etabliert wurden und seither über klonales Wachstum vermehrt werden. Sie haben also schon tausende Zellteilungen hinter sich gebracht und es gibt kein Signal, dass die in irgendeiner Form gealtert wären.“
Süßwasserpolypen bestehen zu einem sehr hohen Anteil aus adulten Stammzellen - etwa ein Drittel der Gesamtzellen, die eine Hydra ausmachen - die sich auch ständig teilen. Die Alterungsprozesse, die normalerweise mit häufiger Zellteilung einhergehen und letztendlich zum Tod führen, sind hier außer Kraft gesetzt. „Im Waddington Landscape wird nicht die Plastizität beschrieben, die wir in einigen von diesen basalen Tieren finden“, sagt Hobmayer. „Wir haben hier Stammzellen, die über sehr lange Lebensspannen in diesem Stammzellzustand gehalten werden und verschiedene Entwicklungswege einschlagen können.“ Das Ziel der kooperierenden Forscher*innen war es deswegen, die biologie adulter Stammzellen viel breiter zu beobachten und zu charakterisieren, um ihre Eigenschaften besser fassen zu können. Dafür entwickelten sie eine graphische Darstellung - den „Wobbling Penrose Landscape“ (siehe unten).
Die Kugel rollt auch bergauf
Im Gegensatz zum „Waddington Landscape“ – auf dem Bild oben rechts in Schwarz-Weiß zu sehen- bewegen sich die Stammzellen im „Wobbling Penrose Landscape“ nicht in eine einzige Richtung. Vielmehr befinden sie sich in einem stetigen Auf und Ab. Diese Stammzellen können fortwährend und über sehr lange Lebensspannen eine hohe Plastizität aufweisen und in einem andauernden dynamischen Zustand gehalten werden, dargestellt durch die Penrose-Treppe, auch bekannt als unmögliche Treppe. Die zahlreichen Ausgänge können von Stammzellen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Lebens gewählt werden, um einen bestimmten Entwicklungsweg einzuschlagen, je nachdem, was der Organismus des Tieres gerade benötigt. In manchen wirbellosen Tieren können Körperzellen sich auch wieder zurück differenzieren und wieder zu einer Stammzelle werden, dargestellt durch die Leitern im Schema. Damit steht ihnen die Möglichkeit offen, sich auch später wieder zu Keimzellen zu entwickeln.
Das neue Modell verspricht, ein guter Grundstein für zukünftige Forschung zu sein. Hobmayers Forschungsgruppe versucht aktuell, die Entscheidungsfindung von interstitiellen Stammzellen der Hydra eingehender zu studieren und die Plastizität dieser Stammzellen auf einer molekularen, genetischen Ebene besser zu verstehen. Dazu sind auch interdisziplinäre Projekte in einem von der Europäischen Union geförderten Doktoratsprogramm an der Universität Innsbruck (EU-CoFUND „DP ARDRE“) geplant, vor allem Kooperationsprojekte mit dem Institut für Alternsforschung und dem Institut für Molekularbiologie der Universität Innsbruck. Die adulten Stammzellen der Hydra und ihre unbegrenzte Regenerationsfähigkeit haben noch viel über Fragen der Regeneration, des Alterns und der Arzneimittelforschung zu verraten.
Der „Wobbling Penrose Landscape“ ist eine neue bildliche Darstellung der Dynamik von Stammzellen.
Dieser Beitrag ist in der Dezember-2021-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).
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