Von Ludger Helms
Der Bundestagswahlkampf 2021 wurde, abgesehen von einigen scharfen sachpolitischen Akzentuierungen gegen Ende, nicht zuletzt von einer weitreichenden positiven und negativen Personalisierung bestimmt. Hatte die eigentliche "Sensation" im Frühjahr zunächst in der Nominierung erstmals gleich dreier nicht-amtierender Kanzlerkandidat/innen bestanden, unter ihnen die erste Kanzlerkandidatin der Grünen überhaupt, drehten sich spätere Phasen des Wahlkampfes zentral um das Duell zwischen den Kanzlerkandidaten der SPD und der Union, Olaf Scholz und Armin Laschet. Der grünen Spitzenkandidatin, Annalena Baerbock, kam beim letzten Medien-"Triell" angesichts der weitgehenden rot-grünen Annäherung zeitweilig so etwas wie die Rolle einer latenten Sekundantin des SPD-Kandidaten zu. Mit Blick auf die öffentliche Demontage während des Wahlkampfs teilte sie freilich eher das Schicksal Laschets, der ab einem gewissen Zeitpunkt einfach nichts mehr richtig machen zu können schien. Aus einer unauffälligen Position im Frühsommer stieg Scholz, dem seine Partei 2019 den erstrebten Zugriff auf den SPD-Vorsitz verweigert hatte, ab der Jahresmitte stetig zum mit großem Abstand populärsten Kandidaten auf.
Die unterschiedliche Popularität der Spitzenkandidaten erwies sich am Ende als ein zentraler Faktor für das Abschneiden ihrer Parteien. Der "Kandidatenfaktor" (der Anteil der Wähler, der die Partei vor allem wegen ihres Spitzenkandidaten gewählt hatte) lag bei Scholz und der SPD mehr als doppelt so hoch wie bei Laschet und der Union. Noch sehr viel deutlicher waren die Zahlen hinsichtlich der immer wieder gestellten Frage, wen die Deutschen präferierten, "wenn der Kanzler direkt gewählt würde". Hier schnitt Scholz bei der letzten Vorwahl-Umfrage des Politbarometer vom 24. September mit 47 Prozent weit vor Laschet (20 Prozent) und Baerbock (16 Prozent) ab.
Eine intensive Personalisierung mag die Aufmerksamkeit vieler Beobachter des Wahlkampfgeschehens und schließlich auch die Beteiligungsbereitschaft der Wähler befördern. Tatsächlich stieg die Wahlbeteiligung nach einem historischen Abwärtstrend 2021 zum dritten Mal in Folge. Wirklich systemkonform mit der Grundidee der parlamentarischen Demokratie, die im Kern eine Parteiendemokratie ist, ist das Denken in den Kategorien von Personen und Personal indes nicht. Der medial erzeugte und von den Parteien je nach Opportunität gezielt beförderte Personalisierungsdruck erzeugt Erwartungen für die Zeit nach der Wahl, auf deren prompte Erfüllung eine politisch-institutionell komplexe Demokratie wie jene der Bundesrepublik nicht ausgelegt ist. Das gilt bereits und insbesondere für das Wahlsystem, das auf eine mechanisch-institutionelle Erzeugung parlamentarischer Mehrheiten für den "relativen Sieger" bewusst verzichtet.
"Wirklich systemkonform mit der Grundidee der parlamentarischen Demokratie, die im Kern eine Parteiendemokratie ist, ist das Denken in den Kategorien von Personen und Personal indes nicht."
Die laufende Suche nach politisch tragfähigen Bündnissen in einem durch den dramatischen Absturz der Union aus den Fugen geratenen System, in dem keine Partei auf mehr als 26 Prozent der Stimmen kommt und außer einer politisch verhassten Großen Koalition nur Dreier-Koalitionen ("Jamaika" oder "Ampel") eine parlamentarische Mehrheit erreichen, birgt zweifellos eine Reihe genuin neuartiger Herausforderungen. Dabei zeigt eine historische Einordnung, dass koalitionsarithmetisches Denken und Handeln auch in der deutschen Nachkriegsgeschichte alles andere als neu und Bundestagswahlen keineswegs schlicht "Kanzlerwahlen" sind. Regierungsmehrheiten in der Koalitionsdemokratie entstehen dort, wo gewählte Vertreter unterschiedlicher Parteien ein Bündnis zustande bringen. Die schließlich gebildeten Koalitionen müssen auch den "fliegenden Wechsel" in politischen Spitzenpositionen während der Legislaturperiode, bis hin zu jener des Regierungschefs, wie ihn praktisch sämtliche europäischen Demokratien vielfach erlebt haben, aushalten können. Die Versuchung, öffentliche Zustimmungswerte zu einzelnen Personen zu einer "politischen Superwährung" neben den verbindlichen Wählerstimmen zu erheben, muss als ein grundsätzliches Problem für die Zukunft der repräsentativen Demokratie gelten, welches über die allfälligen Schwierigkeiten einer einzelnen Regierungsbildung weit hinausreicht.
Ludger Helms, M.A. (Freiburg), Dr. phil. (Heidelberg), Habilitation (Humboldt, Berlin) ist seit 2008 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleich politischer Systeme an der Universität Innsbruck.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf auf dem Gebiet der international vergleichenden Institutionenforschung, besonders der Exekutiv- und Oppositionsforschung.
Eine detailliertere Analyse des Autors mit historischen und vergleichenden Bezügen zu Österreich findet sich in einem Gastbeitrag der Wochenzeitung Die Furche, Nr. 39/21: https://www.furche.at/international/deutschland-wer-den-kanzler-wirklich-kuert-6239219.
This article gives the views of the author(s), and not the position of the Department of Political Science.
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