- Leseraum
| Vielfalt der Opfervorstellungen und ihre DeutungAutor: | Schwager Raymund |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Datum: | 2001-10-17 |
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Inhalt1
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Rituelle Opfer finden sich bei allen Völkern und in allen Kulturen. Nur in der modernen Welt spielen sie offiziell keine Rolle mehr. Dennoch hat das Wort 'Opfer' (1) in fast allen Bereichen der heutigen Zivilisation eine gewisse Bedeutung behalten (2), und zeigt damit indirekt an, wie vital die Erfahrungen gewesen sein müssen, die einst mit den Opfern verbunden waren.
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In Entsprechung zu den vielen Religionen gab es eine große Mannigfaltigkeit von Opferriten. Deshalb tun sich heute die Ethnologie und Religionswissenschaft schwer, das 'Wesen' oder das Zentrale der Opfer zu beschreiben. Oft wird gesagt, das Opfer sei eine Gabe an ein höheres Wesen (Gottheit, Geister, Ahnen etc) mittels einer meist gewalttätigen Zerstörung, um eine Gegengabe (ein Gut oder die Abwendung eines Unglücks) zu erhalten. (3) Diese Sicht dürfte weitgehend dem entsprechen, was die Opfernden selber erlebt haben; sie stimmt auch mit der Tatsache überein, daß in archaischen Gesellschaften der Tausch von Gabe und Gegengabe von zentraler Bedeutung war. (4) Ob damit aber alle wesentlichen Aspekte der rituellen Opfer angesprochen werden, ist fraglich. Folgende Punkte sind vor allem zu bedenken:
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(1) Die Opfer waren von einem heiligen Schauer umgeben. Sie wurden oft durch ekstatische Tänze vorbereitet, deren Wirkung durch Masken oder erregende Säfte noch erhöht wurde. Bei den Riten konnten Tabus durchbrochen werden, auf deren Einhaltung sonst strengstens, ja mittels eines sakralen Schreckens gedrängt wurde. Nach M. Eliade hatten alle archaischen religiösen Feiern die Tendenz, zunächst die bestehende Ordnung in eine orgiastische, ja gefährliche Unordnung aufzulösen: "Jedes 'Fest' enthält die Neigung zur Orgie in seiner Struktur." (5) Wenn das Opfer eine Gabe an eine Gottheit ist, wieso gehörte dann zu ihm diese Erfahrung des Schauers und Schreckens und die Auflösung der Ordnung?
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(2) Die Opfer schlossen nicht nur die Zerstörung von materiellen Dingen (z.B. Verbrennen von Speisen) ein; bei ihrem Vollzug wurden vor allem Tiere oder gar Menschen geschlachtet. Die Tötung wurde sogar als Höhepunkt des Ritus und als Zentrum des sakralen Schauers erlebt. Aufgrund seiner Studien über die griechischen Religionen urteilt W. Burkert (Zürich):
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"Nicht im frommen Lebenswandel, nicht in Gebet, Gesang und Tanz allein wird der Gott am mächtigsten erlebt, sondern im tödlichen Axthieb, im verrinnenden Blut und im Verbrennen der Schenkelstücke. Heilig ist der Götterbereich: die 'heilige' Handlung aber, am 'heiligen' Ort zur 'heiligen' Zeit vom Akteur der 'Heilung' vollzogen, ist das Schlachten der Opfertiere, das 'hiereuein' der 'hiera'.(...) Grunderlebnis des 'Heiligen' ist die Opfertötung, der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewußt als homo necans."(6)
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Die Opfertötung wurde nicht nur im alten Griechenland so erlebt. Blutige Opfer kannten alle alten Kulturen, und oft waren es Menschen, die für das hohe Geschehen 'auserwählt' waren. Im Tempel zu Jerusalem wurden an hohen Festtagen Tiere in großer Zahl geschlachtet, und es gab sogar Könige, die in Krisenzeiten wieder auf Menschenopfer zurückgriffen (vgl. 2 Kön 23,10; Jer 7,31; 32,35). Warum war die tötende Gewalt so wichtig, wenn das Opfer eine Gabe an die Gottheit sein soll?
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3) Die geopferten Tiere oder Menschen gehörten nicht mehr zur alltäglichen und profanen Wirklichkeit. Im Ritus wurden sie, wie vor allem viele Mythen berichten, meist mit einem Kulthero oder einer Gottheit identifiziert und als solche getötet. Ad.E.Jensen, der archaische ackerbautreibende Kulturen in verschiedenen Erdteilen untersucht hat, sieht in all diesen Kulturen ein einheitliches und zentrales Element, das er auf folgende Weise beschreibt:
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"In den großen Kultfesten steht, (...) bei aller Verschiedenheit des Anlasses stets die Wiederholung der mythischen Urzeit-Vorgänge im Mittelpunkt; darin zeigt sich deutlich, daß Menschen- und Tier-Opfer, Reife- und Fruchtbarkeits-Kulte und andere Zeremonien und Ritual-Bräuche nicht einzelne Kultur-Elemente sind, die sich mehr oder weniger zufällig in einem Kulturkreis vereinigt haben, sondern, daß sie alle aus einer zentralen Idee abzuleiten sind, nämlich der von einer getöteten Gottheit, die durch ihren Tod die heutige Seinsordnung in der Welt setzte." (7)
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Daß ursprünglich eine Gottheit getötet und geopfert wurde, wird auch von anderen Forschern betont. So sieht N.Davies einen Zusammenhang zwischen diesem Ursprungsgeschehen und der vielfach bezeugten Opferung eines Königs:
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"Die Geschichte dieser Schöpferhelden endete oft in einer uranfänglichen Tat der Gewalt, die wiederum die - weit verbreitete, aber nicht allgemeine - Übung verursachte, den König selbst zu töten. Nach einer festgesetzten Zeit mußte er, als Abkomme des Gottes, der einst geopfert wurde, sterben. Somit waren diese neuen und geänderten Formen des Opfers eine Wiederinkraftsetzung, ein Zurückgehen zum Beginn der Zeit und zu dem, was die Götter damals taten. Ihre Riten, die ihren Höhepunkt in der Wiedergeburt oder der Wiederauferstehung fanden, waren auch oft verknüpft mit dem Verspeisen des Gottes, in der Person seines Opfers und Stellvertreters. Der Mythos vom sterbenden Gott wurde so die Grundlage des Menschenopfers."(8)
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Nach M. Eliade sind sogar viele nebengeordnete Opferriten (wie etwa bei der Metallbearbeitung oder bei der Ernte) auf dem Hintergrund des Mythos von der getöteten Gottheit zu sehen:
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"Diese Mythen, Riten und Bräuche lassen ein ursprüngliches mythisches Geschehen vermuten, das ihnen vorausgeht und sie rechtfertigt. Die Metalle gingen aus dem Körper eines geopferten Gottes oder eines übernatürlichen Wesens hervor. (...) Nach allem, was wir über den kosmogonischen Mythos gesagt haben (die Welt, den Menschen, oder die Pflanzen, die aus dem Körper eines Ur-Riesen hervorgehen), scheint die Vorstellung, daß die Metalle aus den Gliedern eines göttlichen Wesens entstehen, nur eine Variante des gleichen zentralen Motivs zu sein. So wie die Opfer zum Nutzen der Ernten symbolisch die Opferung des uranfänglichen Höchsten Wesens widerholen, das, ab origine, das Erscheinen der Samenkörner ermöglicht hatte, verfolgt auch die konkrete oder symbolische Opferung eines Menschen anläßlich des metallurgischen Werkes den Zweck, ein mythisches Vorbild nachzuahmen." (9)
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Gemäß dem Mythos von der getöteten Gottheit ist folglich das Opfer nicht eine Gabe an die Gottheit, sondern eher umgekehrt: aus einer geopferten Gottheit entsprang die gegebene Lebensordnung.
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(4) Die Sicht, wonach das Opfer der Ursprung aller Dinge ist, wurde vor allem im Hinduismus systematisch entfaltet und ins Kosmische ausgeweitet. In dieser Religion ist das Opfer "die schöpferische Macht schlechthin, der Urakt" (10). Die Dichter der vedischen Hymnen haben die Schöpfung ausdrücklich als Frucht eines Opfers besungen, und sie stellten konsequenterweise - wie Klaus Klostermeier sagt - "an den Anfang die Opferung des Opfers an das Opfer" (11). Dieses ist folglich nicht mehr eine Gabe an die Gottheit, sondern ein absolutes Ursprungsgeschehen, das nicht mehr von etwas anderem her erklärt werden kann, sondern von dem her alle anderen Wirklichkeiten - die Götter, die Menschen und der Kosmos - ihren Ursprung erhalten.
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Angesichts der vielfältigen und sogar widersprüchlichen Vorstellungen, die mit den Opfern verbunden sind, halten viele Autoren eine systematische Deutung für unmöglich. Es gibt sogar vereinzelte Stimmen, die meinen, das Wort Opfer sei überhaupt trügerisch. Es würde Riten unter einem Hut zusammenpressen, die so unterschiedlich seien, daß sie sachlich nichts gemeinsam hätten. Man solle deshalb den Opferbegriff in der Wissenschaft fallen lassen. So meinen z.B. J.- L. Detienne und J.- P. Vernant im Gegensatz zu Burkert, das wirklich Realistische an den griechischen Opfern sei nur das, was zur Zubereitung von Speisen für das Mahl gehöre. (12) Diese Art Opferkritik vermochte sich aber in keiner Weise durchzusetzen, denn trotz der Vielfalt der Aspekte ist das eigentümliche Phänomen bestechend, daß es in den unterschiedlichsten Kulturen Riten gab, bei denen etwas vernichtet wurde, wobei die Beteiligten mit sakralem Schauer und Schrecken glaubten, daß daraus etwas Gutes entstehe (Segen einer höheren Macht, Abwendung eines Übels, Begründung der Lebensordnung, Nachvollzug der Schöpfung, etc.). Bei aller Schwierigkeit bleibt deshalb die Aufgabe, dieses seltsame Phänomen so weit wie möglich zu verstehen und zu deuten.
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Heute dürfte es nur eine Opfertheorie geben, die den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Vorstellungen in etwa gerecht zu werden verspricht. Es ist dies die Theorie R. Girards, der nicht mehr von einer einzigen Definition der Opfer ausgeht, sondern die Riten im Kontext eines Ursprungsgeschehens mit widersprüchlichem Charakter deutet und darüber hinaus eine komplexe Weiterentwicklung annimmt. (13) Zu dieser Theorie gehört eine Anthropologie, gemäß der friedliches Zusammenleben unter Menschen alles andere als selbstverständlich ist. Girard nimmt zwar keinen Aggressionstrieb an, zeigt aber, wie Menschen sich durch Nachahmung (Mimesis) instinktiv in Rivalitäten verlieren, die sich leicht zu Konflikten und Aggressionen steigern können. Die Vernunft sei normalerweise viel zu schwach, um dieser Tendenzen Herr zu werden. In archaischen Gesellschaften, die noch kein Justizsystem kannten, das die meisten drohenden Konflikte im voraus niederhält oder entstandene Konflikte als neutraler Dritter entscheidet, habe nur die Gewalt selber sich eindämmen können. Girard deutet dies so: auf dem Höhepunkt konfuser Aggression kann die wechselseitige Gewalt unter der Wirkung der Nachahmung leicht in die Tat aller gegen einen umschlagen. Einer wird für schuldig gehalten und geopfert, damit alle anderen wieder den Frieden haben (Sündenbockmechanismus). Dieser Vorgang meint nicht nur die physische Gewalt. Da Zorn blind macht, wie ein Sprichwort sagt, und da in archaischen Gesellschaften die menschlichen Leidenschaften noch weit elementarer waren, wie u.a. die griechischen Tragödien verraten, in den 'Helden' in ihrem Zorn so blind werden konnten, daß sie sogar den Unterschied zwischen Mensch und Tier aus dem Auge verloren, muß die ursprüngliche kollektive Aggression von enormer Erregung und Blindheit gewesen sein. Den von ihr Befallenen entglitt jede realistische Selbstwahrnehmung, und ihre Gegner wurden zu monströsen Gestalten. Schlugen plötzlich alle Aggressionen über einem Opfer zusammen, dann wurde dieses von kollektiven Projektionen voll zugedeckt. Es erschien der erregten Menge, die nicht mehr wußte, wie ihr geschah, als ein Monstrum, als Inkarnation alles Bösen. Die gleiche Menge machte aber die Erfahrung, daß ihr durch die Tötung des Opfers auf unerklärliche und wunderbare Weise der Friede zurückgeschenkt wurde. Das Monstrum bekam deshalb zugleich die Züge eines wunderbaren und 'übernatürlichen' Heilbringers. Es erschien als furchterregend und faszinierend zugleich, als tremendum et fascinosum. Es wurde - mit anderen Worten - als sakral erlebt, denn die Ethnologie hat schon lange festgestellt, daß zum archaischen Sakralen beides gehörte, das Verfluchte und das Heilbringende, das Furchterregende und das Faszinierende, das Böse und das Gute. Durch die Theorie von der kollektiven Ausstoßung und Tötung wird verständlich, wie die gegensätzlichen Erfahrungen früher zusammenfallen konnten. Dem Opfer wurde blind und instinktiv die ganze Schuld für die tödliche Krise angelastet, und durch die Zusammenrottung aller gegen es 'schenkte' es allen, ohne daß diese merkten, wie ihnen geschah, den ersehnten Frieden zurück. Der untergründige kollektive Mechanismus, der menschliche Gemeinschaften immer wieder ermöglichte, und das erste Auftauchen archaischer sakraler Gestalten bilden folglich nach Girard ein einziges Geschehen. In den rituellen Opfern sieht er dann kontrollierte Nachvollzüge der ursprünglich rein instinktiven Selbsteindämmung der Gewalt, um deren heilbringende Wirkung für die Gemeinschaft zu erneuern. In den vorbereitenden Riten (Tänze, Masken) würden die latenten Aggressionen in der Gemeinschaft einmal mehr geweckt, um dann im Akt der Opfertötung erneut abgeleitet und von der Gemeinschaft entfernt zu werden. Aus dem dadurch entstanden Raum des Friedens würden alle anderen religiösen, kulturellen und politischen Institutionen entstehen.
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Die Theorie Girards kann unterschiedliche, ja gegensätzliche Phänomene aus der vielfältigen Opferwelt gut erklären: die große Bedeutung der Tötung, die Menschenopfer und (später) ihre Ersetzung durch Tieropfer, den sakralen Schrecken und Schauer, die Tendenz zum Chaos und zur Orgie bei gleichzeitiger Erneuerung der Ordnung und den mythischen Rückbezug auf einen geheimnisvollen Ursprung und Anfang. Die Theorie Girards vermag ferner den seltsamen und doch so weit verbreiteten Mythos von der getöteten Gottheit, aus der die Lebensordnung entsteht, überraschend einfach zu deuten. Wenn das ursprüngliche Opfer in seiner empirischen Realität durch Projektionen total zugedeckt wurde, dann mußte es der beteiligten Menge als ein übernatürliches Wesen erscheinen, und da durch seine Tötung für alle anderen ein Raum des Friedens entstand, begründete seine Opferung tatsächlich die bestehende Lebensordnung. Der Mythos bietet demnach eine durch Leidenschaft und Blindheit verzerrte Wahrnehmung eines tatsächlichen Geschehens.
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Trotz ihrer umfassenden Erklärungskraft hat die Theorie Girards viel Kritik auf sich gezogen. Ihr wurde u.a. vorgeworfen, sie führe alles auf Gewalt zurück. Darin liegt aber ein klares Mißverständnis, denn entscheidend ist für sie nicht die Gewalt, sondern deren Selbsteindämmung. Die Beteiligten finden den Sündbockmechanismus deshalb als faszinierend, weil ihnen dabei auf wunderbare Weise eine Gabe geschenkt wird, die sie mit eigener Anstrengung nie erreichen: den Frieden. Die sakrale Gewalt bringt Leben und Heil, weil sie die böse und selbstzerstörerische Gewalt niederhält. Wie aber steht es mit dem Thema der Gabe an die Gottheit, das, wie wir gesehen haben, eine große Rolle in der Opferwelt spielt? Spricht diese Vorstellung nicht eindeutig gegen eine Deutung der Opfer im Kontext des Sündenbockmechanismus?
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Girard vertritt klar, daß die Menschen auf eine reale Transzendenz ausgerichtet sind. Solange aber ihr Lebensraum nicht befriedet ist, wird ihre wahre Erahnung des Unendlichen ganz von Leidenschaften, mit denen ums Überleben gekämpft wird, gefangen gehalten, (14) und alle Urteile werden entsprechend verzerrt. (15) Haben sich Traditionen und Verhaltensmuster, die aus dem kollektiven Mechanismus der Gewalteindämmung hervorgehen, aber genügend gestärkt, um eine stabilere Ordnung zu garantieren, kann das religiöse Empfinden schrittweise eigenen Intuitionen folgen. Weitreichende Folgen hatte nach Girard vor allem der Übergang zur staatlichen Ordnung mit ihrem Gewaltmonopol. Da es nun deren Aufgabe war, einen halbwegs friedlichen Lebensraum zu garantieren, öffnete sich für das religiöse Empfinden wenigstens die grundsätzliche Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung. Diese verlief allerdings sehr langsam und in den verschiedenen Kulturen recht unterschiedlich, sie blieb auch auf die eine oder andere Weise immer an ihren Ursprung zurückgebunden. So kam es - gemäß Girard - auf der bewußten religiösen Ebene vom gleichen Ausgangspunkt her zu vielfältigen und zum Teil gegensätzlichen Opfervorstellungen, die das unbewußte Geschehen überlagerten.
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Die archaische sakrale Gestalt, die aus der ursprünglichen kollektiven Projektion entstand, konnte sich zum Glauben an eine Gottheit weiterbilden, die das Leben einer menschlichen Gemeinschaft dauernd begleitet und von der Glück und Unglück abhängen. Der Mythos von der getöteten Gottheit trat in diesem Kontext zurück, und die Opfer bekamen den Sinn, den drohenden Zorn der Gottheit zu besänftigen und sie um Segen zu bitten, indem man beim Opfer etwas tötete und Gott weihte, das einem besonders wertvoll war (Erstgeburt der Tiere oder erstgeborener Sohn). Aus einer solchen Entwicklung dürften die frühesten Überzeugungen in Israel entstanden sein.
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Eine andere Möglichkeit bestand darin, daß sich in der archaischen sakralen Welt schrittweise eine Unterscheidung herausbildete. Durch neue religiöse Erfahrungen schied sich der Glaube an ein höchstes Himmelswesen vom Glauben an untergeordnete Gottheiten, Geister, Ahnen und Dämonen, was in weiten Teilen Afrikas der Fall war. Der höchste Gott war in diesem Kontext dem Leben der Menschen weitgehend fern. Ihr Alltag wurde von Geistern, Ahnen und Dämonen beherrscht, und nur an sie richteten sich die Opfer. Unter solchen Voraussetzungen dürften die Riten vor allem eine befriedende soziale Funktion gehabt haben, wie Girard dies beschreibt, auch wenn die opfernde Gemeinschaft glaubte, Ahnen oder Geister zu besänftigen oder Zauberer abzuwehren. (16) Das religiöse Empfinden ging in diesen Riten aber nicht mehr auf, und es wußte um einen höchsten Himmelsgott, auch wenn die Beziehung zu ihm ziemlich unklar blieb.
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Eine wieder andere Möglichkeit lag darin, daß trotz der Ausbildung stabiler politischer Strukturen sogar die Menschenopfer erhalten blieben, wie dies bei den Azteken und bei anderen Indiandern in Mittel- und Südamerika der Fall war. Die Mythen von der getöteten Gottheit lebten hier teilweise direkt weiter, teilweise wurden sie in die Vorstellung transformiert, durch die Opfer werde die ganze bestehende Ordnung, die politische und vor allem auch die kosmische, erhalten. So glaubten die Azteken, "daß die Sonne der Ernährung und Kräftigung durch Menschblut und -herzen bedürfe, um nicht in der Unterwelt zu bleiben oder ihren Lauf am Himmel zu unterbrechen" (17).
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Eine ganz andere Richtung hat Indien eingeschlagen. Hier wurden die Opfer auf einmalige Weise spiritualisiert. Dies bedeutet, daß einerseits nicht nur die Menschen- ,sondern auch die Tieropfer weitgehend zugunsten von Opfern mittels Gaben der Natur verschwunden sind; anderseits wurde hier aber die archaische Opfererfahrung besonders hartnäckig festgehalten und gleichzeitig ins Kosmische ausgeweitet und transformiert. Die unter Faszination und Schrecken gemachte sakrale Erfahrung, daß Opfer eine erste Ordnung erzeugten, aus der alle anderen religiös-kulturellen Vorstellungen und Institutionen hervorgingen, lebte als Überzeugung weiter, daß aus einem Ur-Opfer alle Gottheiten und alle Welten entstanden sind. "Alles wurde schließlich in der Terminologie der Opfertheologie ausgedrückt, jeder Akt des Lebens, jede Bewegung eines Himmelskörpers als Opfer oder integraler Teil davon betrachtet." (18) In diesem Kontext konnte recht Widersprüchliches koexistieren. Der archaische Mythos von der getöteten Gottheit lebte - wenn auch in transformierter Form - weiter, und gleichzeitig verbanden sich damit religiös-philosophische Ideen von einer ganz neuen spirituellen Kraft. Aus dem Glauben an ein Uropfer als der ersten Wirklichkeit, aus der selbst die Götter entstehen, wurde die Überzeugung von einer letzten Einheit als der wahren Wirklichkeit, die allen Unterscheidungen, die sich letztlich nur auf eine Welt des Erscheinens beziehen, vorausliegt. Trotz der hohen Spiritualisierung hat der Hinduismus aber die vedischen Feueropfer - vor allem im Alltag der Brahmanen - sehr ernst genommen. Sie sollten die Menschen auf ihrem Weg zur 'Erlösung' und zur Vereinigung mit dem Uropfer von Schuld reinigen(19), wobei ihre Wirkung nicht vom betreffenden Gott abhängt, an dem man sich wendet: "der Gott ist nur notwendig als technischer Terminus ad quem des Opfers, als 'Bestandteil' des Yajna. Die Wirkung kommt ex opere operato zustande, als unpersönlicher Effekt der Riten und Mantras." (20)
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Eine weitere Möglichkeit bestand schließlich darin, die Opfer ganz zu kritisieren. Der Buddhismus ist diesen Weg gegangen, indem er die Praxis der rituellen Opfer verwarf und nur einen spirituellen Gehalt festhielt. Von der Überzeugung, beim Opfer etwas zu zerstören, das einem wertvoll ist, hielt er nur noch die Idee vom Verzicht fest, und als Weg zur Befreiung durch Eingang in die letzte Einheit (Nirwana) anerkennt er nur die Meditation und den Verzicht auf alles Begehren. - Die Opfer wurden auch bei Zarathustra und bei den großen Propheten Israels kritisiert, hier allerdings aus einer anderen Inspiration heraus. Sowohl in Persien als in Israel wurde die Gottesvorstellung durch die prophetische Inspiration gereinigt, und im Namen einer damit gegebenen neuen Ethik wurden wesentliche Elemente der alten Welt der Riten und sakralen Überlieferungen in Frage gestellt.
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Diese kurzen und summarischen Bemerkungen können selbstverständlich keinen angemessenen Überblick über die komplexe Welt der Religionen und ihrer Opfer geben. Sie wollen nur skizzieren, wie es auf dem Hintergrund der Sakraltheorie Girards möglich zu sein scheint, die Opfervorstellungen einerseits in einem einheitlichen Licht zu sehen und anderseits der Vielfalt ihrer Phänomene gerecht zu werden. Wichtig ist, daß dabei nicht nur archaische Riten gedeutet, sondern zugleich eine Problematik angesprochen wird, die bis heute höchst aktuell ist. Um diesen Zusammenhang deutlicher zu sehen, ist zunächst etwas ausführlicher auf die christliche Opfervorstellung einzugehen.
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Gemäß einer zentralen christlichen Lehre hat Christus am Kreuz das vollkommene Opfer dargebracht. Der Hebräerbrief, der diese Sicht besonders entwickelt, stellt dabei den Tod Christi in einen deutlichen Gegensatz zu den alttestamentlichen Opfern. Während dort täglich neue Tiere geschlachtet wurden, habe Christus sich ein für allemal Gott dargebracht. Die Priester nach der alten Ordnung hätten fremdes Blut, das Blut von Böcken und Stieren, ins Heiligtum getragen, Christus aber sei mit seinem eigenen Blut vor Gott getreten. Mit ihm seien folglich die früheren Opfer aufgehoben worden. Der Hebräerbrief, der auf diese Weise den Unterschied zwischen dem Tod Christi und den früheren Opfern betont, zitiert aber zugleich viele alttestamentliche Text und stellt damit dennoch eine gewisse Kontinuität zu früher her.
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In der Frühphase Israels waren, wie wir schon kurz gesehen haben, Opfer selbstverständlich, und auch zur Zeit der Könige (1020 - 586 v.Chr.) wurden sie an vielen Orten und oft auch für recht unterschiedliche Gottheiten dargebracht. Im Namen einer religiösen Erneuerung, die nur den Jahwekult anerkannte, zerstörte König Joschia (641-609 v.Chr.) alle Heiligtümer im Land und erlaubte nur noch den Opferkult im Tempel zu Jerusalem. Schon vor ihm hatten die Propheten begonnen, im Namen Jahwes und einer neuen Ethik, die die gerechtigkeit und den Dienst an den Armen betonte, die Priester und Opfer hart zu kritisieren. So verkündete der Prophet Amos (um 750 v.Chr.) als Wort Gottes:
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"Eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen.
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Weg mit dem Lärm deiner Lieder!
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Dein Harfenspiel will ich nicht hören.
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Laßt lieber das Recht strömen wie Wasser und die gerechtigkeit wie einen immer fließenden Bach!" (Am 5,22f).
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Auf ähnliche Weise und fast zur gleichen Zeit sprach der Prophet Hosea im Namen Jahwes:
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"Nicht Schlachtopfer will ich, sondern Liebe, nicht Brandopfer, sondern Gotteserkenntnis" (Hos 6,6).
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Der Prophet Jeremia, der etwa 150 Jahre später zu wirken begann, konnte in seiner Opferkritik so weit gehen, daß er sogar in Frage stellt, daß Jahwe je Opfer befohlen hatte (Jer 7,21ff; vgl. Amos 5,25)). Als Jerusalem und der Tempel bald danach (587 v.Chr.) zerstört und die Oberschicht der Bevölkerung nach Babylon ins Exil deportiert wurden, konnte der Jahweglaube die dadurch erzwungene opferlose Zeit dank der vorausgegangenen prophetischen Kritik gut überdauern. Trotzdem begann man von neuem mit dem Opferkult, als nach 540 v. Chr. den Juden unter den Persern die Rückkehr nach Jerusalem wieder möglich und der Tempel - nach einer Übergangsphase - wieder aufgebaut wurde. Warum geschah dies, und welche Wirkung erwartete man sich von den vielen blutigen Riten in einer Zeit, die schon eine harte Opferkritik kannte? Die heiligen Schriften Israels hüllen sich diesbezüglich in ein seltsames Schweigen. Der bekannte Alttestamentler G. von Rad schreibt:
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"Während das AT so voll ist von Hinweis auf göttliches Geschehen, wo immer es unter Menschen wirksam wird, voll ist von intensivster Anrede, von 'Offenbarung', ist hinsichtlich dessen, was Gott beim Opfer geschehen läßt, eine Zone des Schweigens und des Geheimnisses." (21)
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Obwohl der blutige Opferkult in Israel so wichtig war, daß er auch nach einer längeren opferlosen Zeit wieder eingeführt wurde, scheint der Jahweglaube keine klare Vorstellung gehabt zu haben, wie oder was die Opfer tatsächlich bewirken sollen. In der Zeit nach dem Exil wurde vor allem der Gehorsam gegenüber dem Wort und dem Gebot Gottes betont. Der Opferkult dürfte vor allem deshalb wieder eingeführt worden sein, weil man - trotz der Kritik der Propheten - überzeugt war, Gott habe diesen Kult dem Mose befohlen. Nicht die Überzeugung vom inneren Wert der Opfer, sondern der Gehorsam gegenüber jener Tradition, die man über Mose auf Gott zurückführte, war entscheidend. Dies zeigt, wie tief der Opferkult trotz aller Kritik in der religiösen Überlieferung Israels verankert gewesen sein muß.
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Obwohl Jesus selber ganz in dieser Tradition stand, spielten die blutigen Opfer in seiner Verkündigung keine Rolle. Er wandte sich nicht direkt gegen sie, gab ihnen aber auch keine Bedeutung. Für ihn war der Glaube an den nahen und erbarmenden Gott und die Umkehr zu einem neuen Verhalten (Nächsten - und Feindesliebe) entscheidend. Wegen dieser Botschaft wurde er bald kollektiv verfolgt und schließlich verurteilt und hingerichtet.
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Nach Ostern hat die christliche Gemeinde seinen Tod bald als Opfer verstanden, wie dies vor allem der Hebräerbrief zeigt. Dabei wurde aber die Opfervorstellung so radikal umgedeutet, daß sie in Gegensatz zu allen früheren Vorstellungen trat. Während die rituellen Opfer in Tempeln oder an sakralen Orten dargebracht werden, ereignete sich der Tod Christi am Schandpfahl und an jener Stätte, wo Verbrecher hingerichtet werden. Während bei den rituellen Opfern die Tötenden zugleich die Opfernden und die Priester sind, waren bei der Kreuzigung Christi die Tötenden nur Teil der sündigen Menschheit, und er selber als der Getötete wurde zu einem Opferer und Priester in einem radikal neuen Sinn.
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Hält man die Theorie Girards für zuverlässig, dann lassen sich sowohl die Kontinuität als auch der radikale Unterschied zwischen den alten sakralen (22) Opfern und dem Opfer am Kreuz noch schärfer herausheben. Bei den ersteren handelt eine Menge, die sich gegen einen einzelnen zusammenrottet. Dabei dominiert die täuschende Sicht der vielen, die ihr Opfer mit Projektionen zudecken, es zum totalen Schweigen verurteilen und ihr Töten für eine von den Göttern gewollte Tat halten. Beim Tod Christi haben wir es zwar wieder mit einer Menge zu tun, die sich kollektiv gegen einen einzelnen wendet. Diesmal dominiert aber nicht mehr deren Sicht. Jesus als der einzelne hat schon vorher seine Hörer durch eine neue Botschaft herausgefordert. Bei seiner Verurteilung schwieg er zwar, und seine Jünger ließen sich für kurze Zeit vom Sog der im Augenblick dominierenden Menge mitreissen. Dank der Erfahrung von Ostern und Pfingsten bekehrten sie sich aber und begannen die Sicht ihres Meisters, d.h. die Sicht des getöteten Einzelnen in der ganzen Welt zu verkünden. Opfer bedeutet in diesem Kontext folglich nicht mehr die kollektive Tat vieler gegen einen einzelnen, sondern genau umgekehrt: die Tat eines einzelnen für die vielen. Christus reagierte auf die kollektive Gewalt gegen ihn nicht mit Gegengewalt (Verfluchung), sondern beantwortet das Böse, das ihm angetan wurde, im Hören auf seinen himmlischen Vater mit Verzeihen (Lk 23,34), Hingabe und Liebe (Lk 22,14-23; Röm 5,6-8).
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Das neue Opferverständnis brachte eine so radikale Veränderung und war so herausfordernd, daß selbst die an Christus Glaubenden große Mühe hatten, ja überfordert waren, die neue Sicht voll festzuhalten und ihr im eigenen Leben zu entsprechen. Die Welt, in der die Christen lebten, war weiterhin vom Sog der sakralen Opfer beherrscht und verleitete instinktiv auch das christliche Denken dazu, den Tod Christi wieder in direkter Analogie zu den blutigen Opfern zu sehen. Weil er getötet wurde, wie Opfertiere getötet werden, konnte sich - vor allem in der Frömmigkeit, in Predigten und in populären Theologien - die Vorstellung ausbreiten, Gott selber habe mittels sündiger Menschen seinen eigenen Sohn geopfert/ getötet, um auf diese Weise seinen Zorn zu besänftigen. Opfern würde folglich auch im christlichen Sinn bedeuten, etwas töten oder vernichten, um Gott damit zu besänftigen.
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Die Werke der meisten großen Theologen waren - wenn auch auf verhaltene Weise - kritisch gegenüber solchen Vorstellungen. Dennoch wirkten sie im christlichen Leben intensiv weiter. Seit der Aufklärung erhoben sich jedoch immer mehr Stimmen, die leidenschaftlich gegen die Vorstellungen von einem Gott, der seinen eigenen Sohn opfert, stritten und dabei meinten, die eigentliche christliche Lehre zu treffen. Da viele christliche Autoren trotz dieser Kritik weiterhin von der Opferung des Sohnes durch den himmlischen Vater sprachen, ist die Frage des Opferverständnisses bis heute einer der zentralsten Punkte in der Auseinandersetzung um den christlichen Glauben. Manche meinen gegenwärtig, man könne das Problem am einfachsten dadurch lösen, daß man überhaupt nicht mehr von Opfern redet. Aber diese Sicht dürfte zu vordergründig sein. Die Opfer sind tief in der Welt der Gewalt verwurzelt. Solange es Gewalt in der Welt gibt, bleibt folglich die Opferproblematik auf die eine oder andere Weise virulent. Wie beim Tod Christi kann es auch heute nur darum gehen, den archaischen Sinn der Opfer umzudrehen. (23) Tötende können in keiner Weise mehr Opfernde sein. Wohl aber opfern sich jene in einem ganz neuen und heilbringenden Sinn, die auf Gewalt nicht mit Gegengewalt reagieren und so die alte Gewalt- und Sakralwelt wenigstens im Bereich ihrer eigenen Existenz überwinden.
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Bei den blutigen Opfern weckte das Töten einen sakralen Schauer und Schrecken, eine dunkle Faszination. Die Opfer fanden deshalb an Orten statt, die vom Alltag ausgesondert waren, in Tempeln, auf Bergen, in Höhlen, in sakralen Hainen, etc. Die Handlung vollzog man auf einem Altar, der in besonderer Weise dafür vorbereitet und geweiht war. Das Opferfleisch wurde teils gegessen, teils verbrannt. Knochen konnten aber auch als heilbringende Gegenstände aufbewahrt werden. Die dunkle Faszination der Opfer war so stark, daß sie gleichsam wie eine Substanz am Ort der Opfer kleben blieb. Opferstätten und Opferreliquien wurden deshalb als sakrale Orte und Gegenstände verehrt und oft mit der Absicht aufgesucht, dort Heilung zu finden.
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Das christliche Opfer hatte, wie wir gesehen haben, einen ganz andern Sinn. Die ersten Gemeinden der Gläubigen, die des Todes am Kreuz gedachten, brauchten deshalb keine Tempel und keine Altäre. Sie versammelten sich zu ihren Feiern (Eucharistie) in privaten Häusern um gewöhnliche Tische. Sobald aber alte sakrale Vorstellungen wieder in die Deutung des Kreuzestodes Christi eingedrangen, beeinflußten sie auch das Verständnis der Eucharistie. Man begann davon zu sprechen, daß der Priester bei der Messe in symbolischer Weise eine Schlachtung vornehme (24) und daß man den heiligen Gaben nur mit sakralem Schauer nahen dürfe.
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Sobald solche Vorstellungen sich stärker verbreiteten, drängten sich auch für die Eucharistie wieder abgesonderte und sakrale Opferstätten auf. Die Christen begannen ihre Gebets- und Versammlungshäuser in Analogie zu heidnischen Tempeln zu bauen, und aus dem eucharistischen Tisch wurden Altäre, die man innerhalb der Kirchen - zusammen mit dem Altarraum - vom gewöhnlichen Volk absonderte. In Entsprechung dazu wurde das Opfern zu einem Tun, das ganz den dafür ausgesonderten Personen (Priestern) vorbehalten blieb.
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Ähnliches geschah bezüglich der Märtyrer und Märtyrerinnen. Da diese in der Nachfolge Christi ihr Leben hingegeben hatten, ohne in irgendeiner Weise zur Gewalt zu greifen, drängte es sich auf, daß auch ihrer in der eucharistischen Feier gedacht wurde. Mit der Zeit aber verlagerte sich das Interesse, und die Gebeine der Märtyrer (und dann auch die Gebeine anderer Heiligen) wurden zu einem eigenen Gegenstand der Verehrung. Man glaubte, daß mit diesen Gebeinen eine besondere Kraft verbunden sei, die Hilfe und Heilung bringe. Deshalb wurden in jeden Altar Reliquien eingelassen, und die Orte, wo die Gebeine besonders verehrter Märtyrer und Heiligen aufbewahrt wurden, entwickelten sich zu großen Wallfahrtsorten.
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Daß beim Reliquienkult neben christlichen Impulsen auch alte sakrale Vorstellungen im Spiel waren, dürfte ein Vergleich mit den Gebeinen von Verbrechern zeigen. M. Herzog hat ein reiches historisches Material zusammengetragen, das zeigt, daß auch in christlichen Ländern hingerichtete Verbrecher oft als Heilige, ja bisweilen sogar als "Schutzgötter" verehrt wurden. (25) Ihre Gebeine konnten für ebenso kostbar wie die Gebeine der Heiligen gehalten werden. Ein ähnliche sakrale Zweideutigkeit kam auch dem Henker zu, wie Herzog in einer weiteren Studie nachweist. (26) Man begegnete dem Scharfrichter mit grauenvoller Faszination und numinoser Scheu. Als Henker konnte er zugleich Arzt sein und die Verbrecher-Reliquien zu pharmazeutischen Zwecken nützen. Herzog stellt deshalb einen klaren Zusammenhang zwischen Hinrichtungen und Opfern her: "Wie in wohl kaum einem andern Bereich als dem des Volksglaubens um das Hinrichtungsdrama ist die Wesensverwandlung des Profanen zum Sakralen durch einen rituellen Tötungsakt so mit Händen zu greifen. Obwohl die Verbrecher eigentlich für ihre eigenen Missetaten sterben, wird ihre Hinrichtung in der Volksfrömmigkeit als stellvertretendes und damit auch für andere gleichsam 'erlösendes' Ersatzopfer aufgefaßt." (27) Solche Zusammenhänge mögen für ein modernes, aufgeklärtes Denken seltsam, ja unverständlich sein. Von der Theorie Girards her lassen sie sich relativ leicht deuten. Wie bei Opfern, so wird auch bei Hinrichtungen die latente kollektive Gewalt nach außen abgeleitet und dadurch ein friedvoller und 'heilbringender' Raum geschaffen. Als Folgerung drängt sich deshalb auf, daß archaische Vorstellungen, solange Gewalt in der Welt herrscht, wohl unausrottbar sind und in der einen oder anderen Form immer wieder auftauchen werden. In der christlichen Volksfrömmigkeit, aber ebenso in der Esoterik und in der Welt der Sekten ist deshalb solchen Phänomenen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der christliche Glaube möchte - seiner tiefsten Zielrichtung nach - die dunklen Hintergründe des Sakralen aufdecken und die Gewalt nicht durch kollektive Zusammenrottung und Ersatzopfer eindämmen, sondern durch Liebe und Gewaltfreiheit überwinden. Da dies aber ein sehr schwieriger Weg ist, werden auch in der christlichen Welt immer wieder viele Mischformen - wie etwa im Reliquienkult oder in den Theorien von der mystischen Schlachtung in der Messe - auftauchen. Diese sind kritisch zu prüfen, denn sakrale Gewalt kann auch heute physische Gewalt rechtfertigend verschleiern.
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Anmerkungen:
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1. Während das deutsche Wort 'Opfer' den ganzen Ritus mit seinen verschiedenen Aspekten bezeichnet, unterscheiden die romanischen Spachen genauer zwischen dem Geopferten (vittima) und der Opferhandlung (sacrificio).
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2. Vgl. Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch. Hg. von Richard Schenk. Stuttgart 1995; A quoi bon (se) sacrifier? Sacrifice, don et intérêt. La revue du M.A.U.S.S., Nr. 5, 1995 (Paris).
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3. Vgl. A. Caillé, Sacrifice, don et utilitarisme. In: A quoi bon (se) sacrifier? (s. Anm. 2), 248-292, hier 265.
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4. vgl. M. Mauss, Essai sur le don [1924]. In: Sociologie et anthropologie (PUF) Paris 1966.
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5. M.Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Salzburg 1954, 413.
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6. W. Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin 1972, 9.
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7. Ad.E. Jensen, Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur (Urban-Bücher 90), Stuttgart 1966, 78.
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8. N. Davies, Opfertod und Menschenopfer. Frankfurt a.M. 1983, 344.
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9. M. Eliade, Schmiede und Alchemisten, Stuttgart 1980, 72f.
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10. K.Klostermeier, Hinduismus. Köln 1965, 78.
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11. Ebd. 111.
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12. J.- L. Detienne, J.- P. Vernant, La cuisine du sacrifice en pays grec. Paris 1979.
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13. R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Übersetzt von A. Berz. Freiburg i. Br. 1983; ders., Das Heilige und die Gewalt. Übersetzt von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1987: ders., Der Sündenbock. Übersetzt von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1988; ders., Hiob. Ein Weg aus der Gewalt. Übersetzt von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1990.
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14. Vom Christentum her gesehen ist die Theorie Girards im Rahmen einer Lehre von der Erbsünde anzusiedeln, was Girard ausdrücklich tut.
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15. Selbst in der heutigen Welt, in der alles weit komplexer und vielschichtiger geworden ist, gibt es gewisse Bestätigungen für diese Sicht. So glauben z.B. alle Konfliktparteien in Bosnien - dank einer langen Tradition - zwar an einen einzigen transzendenten Gott, dennoch sind ihre jeweiligen Wahrnehmungen des Konfliktes total gegensätzlich und jede Partei meint, die andern seien schuldig und würden die Wahrheit verdrehen. - Im Roman Medea von Christa Wolf (Darmstadt 1996) findet sich sogar eine (indirekte) Anwendung der Theorie Girards auf das heutige Deutschland.
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16. Vgl. E. de Rosny, Les yeux de ma chèvre. Sur les pas des maîtres de la nuit en pays Douala. Paris 1981.
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17. W. Krickeberg, u.a., Die Religionen des alten Amerika (Die Religionen der Menschheit 7). Stuttgart 1961, 50.
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18. Klostermeier, Hinduismus, (s. Anm. 10) 111.
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19. "Nach Manu erfüllen die fünf großen Opfer den Zweck, die 'fünf Sünden' zu söhnen, die täglich im Haushalt verübt werden. Diese bestehen in der Verletzung oder Tötung von lebenden Wesen: im Herd, in der Getreidemühle, durch den Besen, im Worfelkorb, durch Mörser und Stößel und im Wasserkrug." ebd. 111.
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20. Ebd. 125.
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21. G.v. Rad, Theologie des Alten Testaments (1.Bd.). München 1957, 273.
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22. Ich unterscheide zwischen sakral und heilig und ordne den Begriff sakral jenen ursprünglichen religiösen Erfahrungen zu, für die verflucht und segensbringend, tremendum et fascinosum noch zusammenfielen, während ich mit heilig den christlichen Gott der Liebe bezeichne und alles, was sich direkt oder indirekt auf ihn bezieht.
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23. Vgl. R. Schwager, Jesus im Heilsdrama. Innsbruck 21996; Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Hg. von J. Niewiadomski. Thaur 1996.
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24. Patriarch Nestorius lehrte z.B., daß in der Eucharistie "Christus symbolisch gekreuzigt, durch das Schwert des priesterlichen Wortes geschlachtet werde." (Loofs, Nestoriana [1905] 241,24ff).
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25. M.Herzog, Hingerichtete Verbrecher als Gegenstand der Heiligenverehrung. Zum Kontext von René Girard. In: Geist und Leben 65 (1992) 367-386.
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26. M.Herzog, Scharfrichterliche Medizin. Zu den Beziehungen zwischen Henker und Arzt, Schafott und Medizin. in: Medizinhistorisches Journal 29,4 (1994) 309-331.
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27. M.Herzog, Hingerichtete Verbrecher, (s. Anm. 25) 382.
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