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Locher Robert: Weihnachten
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Weihnachten
(Predigt zum Christtag)

Autor:Locher Robert
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2005-12-28

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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1.Ich erinnere mich, wie einer beim Brautleutekurs zu seiner Verlobten gesagt hat: „Wärst Du mir nicht über den Weg gelaufen, dann wäre es halt eine andere gewesen.“ Immer wenn ich diese Geschichte erzähle, beim Brautleutekurs in Innsbruck genauso, dann gibt es einen Verlegenheitslacher in der Runde. Sie hat damals geweint. Sie wollte kein Zufallsprodukt sein. Und wenn schon Zufall, dann bitte mit Bindestrich: Du bist mir zu-gefallen, du bist mir zugedacht, von… von einem gütigen Geschick, du bist für mich ein Geschenk des Himmels“.

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Ich habe aber auch einmal mitbekommen, wie dasselbe Wort gut und richtig klingt: „Mein Mann sagt mir: Das größte Glück in meinem Leben ist, dass Du mir über den Weg gelaufen bist.“ – Ich habe zurückgefragt: „Das hat er gesagt?“ – „Ach, das sagt er mir jede Woche einmal, schon 30 Jahre lang...

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Ein damit verwandtes Wort, das ebenfalls so schön klingen kann, lautet: Auftauchen. „Und da tauchst ausgerechnet Du auf! Wer hätte das gedacht! So eine wunderbare Überraschung.“

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2.Über den Weg laufen, auftauchen… - Wenn wir es von Weihnachten her aussprechen: Gott ist uns über den Weg gelaufen, Gott ist aufgetaucht in dieser Welt. Vielleicht lange vorbereitet – und doch völlig überraschend. „Auftauchen“: Das lateinische Wort für Auftauchen hat inzwischen in der Wissenschaft seinen Platz bekommen: emergere – Emergenz. Emergenz bezeichnet dort nüchtern das Phänomen, dass sich bestimmte Eigenschaften eines Ganzen nicht aus seinen Teilen erklären lassen. Anders gesagt: Da taucht etwas auf, was aus dem bisher Bekannten nicht zu erwarten und nicht abzuleiten war. "Emergenz" ist das überraschende, unwahrscheinliche Auftauchen, die unwahrscheinliche Geburt von etwas Neuem mitten im Alten.

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3.Zunächst allerdings: Wenn mir ein Mensch über den Weg läuft, wenn ein Mensch in meinem Gesichtskreis auftaucht, ach, dann ist das meistens – eher nichts Neues. Sondern vermutlich genau das, was ein Mensch in aller Regel immer ist: behutsam oder zynisch, lieb oder grausam, verwöhnt oder hart gegen sich (und gegn andere), voller Mitgefühl oder eiskalt, menschlich oder unmenschlich, berechnend oder unberechenbar, leidenschaftlich oder kühl, (animal rationale oder animal irrationale)... Und vermutlich gleichzeitig von allem ein bisschen, Stärken und Schwächen gleichmäßig verteilt. (Noch ein Genie hat seine Macken.) - Wenn ein Mensch kommt, ahnt man schon was auf einen zukommt, menschliches Versagen inbegriffen, und noch bei einem liebenden Menschen sind Leid oft ganz nah beieinander, sogar Liebe und Haß.

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Ein Rechtsanwalt hat es einmal so ausgedrückt.: Ach was, ein Verbrecher ist für mich überhaupt keine Überraschung. Es ist in meinem Beruf das Normalste von der Welt. Und passiert sozusagen für mich jeden Tag. Die Menschen sind so. Eine Überraschung ist für mich vielleicht, dass es die Natur auch nicht besser kann. Wenn da dann ausgerechnet an Weihnachten, wo das Böse ein bisschen Ruhe gibt, eine Naturkatastrophe wie ein Tsunami ausbricht - ein Wort das wir vor einem Jahr noch gar nichtg kannten - und womöglich gerade morgen irgendeine Horrornachricht via Fernsehen in unsere Wohnzimmer einbricht: Das verstehe ich nicht. Menschen sind so. Aber die Natur auch? – womöglich Gott auch?

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Und noch die gutwilligsten Menschen stehen auf einer rutschigen schiefen Ebene, jederzeit in Gefahr, dass sie sich nicht mehr halten können.

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4.Und da taucht am Rand der Welt, buchstäblich in der tiefsten Provinz, ein Mensch auf, und es ist, als ob er als einziger auf dieser schiefen rutschigen oder gar schlüpfrigen Ebene des Menschseins aufrecht und entspannt stehen kann, ohne jede Gefahr, dabei auszurutschen. Er ist die personifizierte, unverkrampfte, selbstbewußte Güte. Nicht bloß mit eisernem Willen und mit Ach und Krach vermeidet er das Schlimmste. „Man müsste so gut sein, dass man sich einfach gehen lassen kann“, war der Wunschtraum eines Paters. – Genauso war er. So gut, dass er sich einfach gehen lassen konnte. Er musste sich nicht zusammennehmen, sich nicht am Riemen reißen. Gut sein – bei ihm ging es von selber.

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"Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts", notierte einmal der Schriftsteller Botho Strauss. - Genau dies ist die christliche Zentralerfahrung, das ist die Emergenz-Erfahrung in unserem Glauben: das überraschende, unwahrscheinliche Auftauchen des neuen Menschen mitten in der alten Menschheit. Da taucht einer auf wie von einem anderen Stern: "Erschienen ist uns die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes." Immer schon ersehnt und erträumt – ach was erträumen sich die Menschen nichts alles -, aber jetzt existiert er tatsächlich: Gott selber taucht auf in dieser Welt – Gott als Mensch mit einem menschlichen Antlitz. "Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts" – und genau dieser ist einer von uns: "geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt" (Gal 4,4)

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5.Wem dieser Jesus von Nazareth über den Weg läuft, wer dieses völlig unwahr-scheinliche Auftauchen dieses Jesus in einem Dorf der tiefsten Provinz wahrnimmt, kommt um eine Frage nicht herum – schon seine Nachbarn haben sie gestellt: „Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Wunder!... Ist das nicht der Zimmermann… der Sohn der Maria…“ (Mk 6,2f) – Es ist doch nur der Nachbarsbub von nebenan im dritten Stock.

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 Ich finde drei Varianten, was passieren kann, wenn er uns begegnet:

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Die erste Variante, ziemlich wahrscheinlich, dass sie immer wieder passiert: „Und“ heißt es, „und sie nahmen Anstoß an ihm“. Er ist doch genau wie einer von uns, kein bisschen anders. Er soll nicht so tun. Wir wissen doch Bescheid.

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Die zweite Variante ist oft genug versucht worden, letztlich ziemlich erfolglos. Rudolf Augstein steht als einer der letzten dafür: Es hat ihn nie gegeben, es kann ihn nicht gegeben haben. Man hat ihn sich erträumt. – Doch so einfach ist er nicht aus der Welt zu schaffen. Er hat zu tiefe Spuren in die Geschichte eingegraben, als dass man ihn daraus auslöschen könnte. Seriöse Geschichtsschreibung weiß es: Es hat ihn gegeben.

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Eine dritte Variante gibt es auch: Und die lautet: Weihnachten! Es ist tatsächlich Weihnachten gworden: Einer von einem anderen Stern ist aufgetaucht in unserem Nazareth und Gott ist unser Nachbar geworden. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Das Wort – der Logos – der Sinn – die Weisheit – der Geist – die Hoffnung - das Licht, kurz gesagt: Gott ist uns ganz irdisch nahe gekommen, einfach aufgetaucht, einfach über den Weg gelaufen. Und tut das immer wieder!

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Was so beiläufig aussieht, das ist das größte Glück in unserem Leben. Er will unsere Wege kreuzen, er will mitten in unserem Leben präsent sein. Abgesehen davon: Es sieht nur so beiläufig aus, so nebenher, so zu-fällig: „Zufall ist ein Pseudonym Gottes“. Das Beste am Menschen ist nicht einfach so passiert, das Beste an der Evolution ist kein Nebenprodukt. Es ist uns zugedacht. Weisheit, Sinn, Logos sind uns geschenkt. Oder im Klartext des Johannesbriefs: Es war Liebe. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gesandt hat.“ (vgl. Joh 3,16f) – Wohl denen, die das so sehen und die das so feiern dürfen! Sie feiern mehr als ein Winterfest, sie feiern – den Christtag! Amen.

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