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Sandler Willibald: „Mehr als alles hüte dein Herz“. Christliche Spiritualität in der Zeitenwende des Ukraine-Kriegs
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„Mehr als alles hüte dein Herz“. Christliche Spiritualität in der Zeitenwende des Ukraine-Kriegs

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:„Mehr als alles hüte dein Herz“ (Spr 4,23). Diese biblische Herzensweisheit ist alles andere als ein Rückzug auf unpolitische Innerlichkeit. Die physische Gewalt der militärischen Invasion verletzt zugleich die Herzen unzähliger Menschen. Sie raubt uns den Glauben an eine friedliche Koexistenz und macht aus Opfern Täter, die ihrerseits Verbitterung weitergeben. Wie eine neue Pandemie breiten sich subtile Traumatisierungen in Kriegsbereitschaft und Unversöhnlichkeit aus. Das blockiert Auswege aus einer fortgeschrittenen Eskalationsdynamik, die uns wie Schlafwandler in einen atomaren dritten Weltkrieg treiben könnte. Mit Gebet und geistlichem Kampf, der die Saat Putins im eigenen Herzen bekämpft“ kann christliche Spiritualität diese fatalen Dynamiken nicht nur unterbrechen, sondern sogar umkehren.
Publiziert in:Dieser Artikel wurde als gekürzter Beitrag für den Sammelband zu den Innsbrucker Theologischen Sommertagen 2022 verfasst: Monika Datterl / Robert Deinhammer / Wilhelm Guggenberger / Claudia Paganini (Hg.), Wofür es sich zu leben lohnt. Zum Verhältnis von Ethik und Spiritualität (theologische trends 32) 2022.
Datum:2022-05-17

Inhalt

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1. Verletzte Herzen

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1.1 „Alles in deine Hände“

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Am Morgen des 24. Februar, als Russland seine Invasion in die Ukraine gerade begonnen hatte und ich auf dem Weg in unser kleines Gebetshaus1 war, spürte ich ein dumpfes Brennen in der Brust. Ich fühlte mich, als wäre ich selber gerade überfallen und wehrlos zusammengeschlagen worden. Putins brutaler Überfall hatte offenbar nicht nur eine souveräne Nation mit 43 Millionen Einwohnern getroffen. Zahllose Menschen haben das Unfassbare einer Totalinvasion aus den Medien erfahren, und viele von ihnen hat das in ihrem Herzen verletzt – in ihrem Glauben an das Gute im Menschen. Für mich zeigte sich das an einem scheinbar banalen Konflikt. Ein fremdes Auto hatte bereits mehrere Tage den Privatparkplatz vor unserem Gebetshaus zugeparkt, und ich musste einen Zettel schreiben mit der Aufforderung, den Wagen endlich wegzustellen. Dieser war schärfer als sonst ausgefallen. Als ich beim Gebetshaus ankam, war das Auto bereits weg.

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„Alles in deine Hände – und alles aus deinen Händen“. Mit diesem Stoßgebet versuchte ich bei der gemeinsamen Morgenandacht, mein verstörtes Herz zur Ruhe zu bringen. In deine Hände, Christus, das unfassbare Leid und die sinnlose Zerstörung, das jetzt über das zweitgrößte Land Europas und seine 43 Millionen Einwohner hereinbricht. In deine Hände, was diese Invasion in den Herzen zahlloser Menschen anrichtet – auch in meinem.

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1.2 Putins verletztes Herz

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Verletzte Herzen können aus Opfern Täter machen. Das gilt auch für die offenkundigen ganz großen Täter. Über die psychische Verfassung Putins zu spekulieren – ob er vielleicht wahnsinnig geworden sei und in einer Art Diktatorenwahn allen Bezug zur Realität verloren hat, wie in den ersten Tagen der Invasion spekuliert wurde – ist wenig zielführend. Aber es macht Sinn zu verstehen, dass sich hinter der skrupellosen Rationalität dieses Gewaltmenschen ein tief verletztes Herz verbirgt. Als 1991 die UdSSR kollabierte, war das für den noch jungen KGB-Offizier die schlimmste Katastrophe des 20. Jahrhunderts. „Wer den Untergang der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz ...“, stellte er im Jahr 2000 fest.2

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Offenbar hat Putin nicht nur seine Herzenswunde, sondern die Verwundungen zahlloser russischer Nationalisten sorgsam genährt, damit sie die Demütigung des sowjetischen Kollapses nie vergessen und jede geschichtliche Gelegenheit erbarmungslos nutzen, um die gefühlte Schande auszulöschen und ein neues russisches Reich erstehen zu lassen. Damit verbunden ist ein über die Jahre gewachsenes Ressentiment gegen den Westen, dem sie vorwerfen, dass er die historische Schwäche Russlands mit seinen NATO-Osterweiterungen schamlos ausgenutzt hat.

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1.3 Ein kollektiv „gewähltes Trauma“

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Psychologisch lassen sich solche Herzensverletzungen – durch wehrlos erlittene Gewalt, die uns auch über entsetzliche Nachrichten treffen kann – als „Mikrotraumata“ begreifen.3 Wir reagieren darauf unwillkürlich mit stammesgeschichtlich grundgelegten Reaktionsmustern von Aggression, Flucht („fight or flight“) oder von Erstarrung. Das dumpfe Brennen in der Brust, das ich am Morgen der Invasion spürte, war ein typisches Symptom für eine ansatzweise Schockstarre. Es ist wichtig, das nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten. Tiere verfügen über Verhaltensmechanismen, mit denen sie Schockstarre „auszittern“ und so weitgehend folgenlos überwinden.4 Solche Verhaltensmuster sind auch in uns Menschen angelegt, aber meist kulturell zugedeckt. Zittern gilt als feige, und geschockten Menschen werden Beruhigungsmittel verabreicht. Im Unterschied dazu ist es wichtig, „Verletzungen des Herzens“ im Ansatz zu verarbeiten. Gebet kann dazu eine Hilfe sein, wenn es nicht nur geistig, sondern auch leibhaft ist und Raum gibt für ein körperliches Ausagieren.

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Menschen und menschliche Kulturen können aber auch ein Interesse daran entwickeln, dass die Herzenswunde nicht zuheilt, sondern sich in Bitterkeit, Hass und Ressentiment weiter entzündet – damit man nie vergisst, was einem angetan wurde. Das kommt nicht nur individuell vor, sondern kann kollektiv geschürt werden. Nicht nur Siege, sondern auch Niederlagen und erfahrene Demütigungen können in übertriebenen Trauerfeiern kollektiv erinnert werden und so für Völker, Nationen oder auch Religionen geradezu identitätsbildende Bedeutung gewinnen. So konnten Milosevic und Karadziz die 600 Jahre alte Erinnerung an die verlorene Schlacht am Amselfeld verwenden, um die Serben gegen die bosnischen Muslimen aufzuhetzen.5 Der Psychoanalytiker Vamik Volkan spricht hier von einem „gewählten Trauma“, das geeignet ist, Großgruppenidentität gegen Übeltäter von außen zu verfestigen.6 Daraus wächst ein Gewaltpotenzial, das für kollektivem Hass bis hin zu Völkermorden instrumentalisiert werden kann. Solche Zusammenhänge machen den wachsenden russischen Imperialismus mit seinem antiwestlichen Ressentiment bis hin zur gegenwärtigen Gewaltexplosion in der Ukraine besser nachvollziehbar.

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2. Biblische Herzensweisheit

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2.1 „Mehr als alles hüte dein Herz...“ (Spr 4,23)

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So zeigt sich, dass die richtige oder falsche Pflege von anfänglich unscheinbaren Herzensverletzungen höchste Bedeutung für den inneren Frieden einzelner Menschen bis hin zum Überleben der Menschheit hat. Das bestätigt die biblische Weisheit im alttestamentlichen Buch der Sprichwörter:

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Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus. (Spr 4,23)7
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– und möglicherweise der Tod, wenn man das Herz nicht recht, sondern gar nicht oder falsch hütet. Spr 4 beschreibt dies als „Pfad der Frevler“: „Denn sie schlafen nicht, ehe sie nicht Böses getan haben; der Schlaf flieht sie, wenn sie nicht straucheln. Sie essen das Brot des Unrechts und trinken den Wein der Gewalttat“ (V 16–17). Solche Texte erinnern an die oben beschriebene Haltung des Ressentiments, das zur Besessenheit führt, erlittene Demütigungen zu rächen. Es ist wichtig, diese Bibeltexte nicht moralisierend misszuverstehen. Die biblischen „Frevler“ sind vor allem Getriebene, die nicht nur andere, sondern letztlich auch sich selbst in den Untergang treiben: „Der Weg der Frevler ist wie dunkle Nacht; sie merken nicht, worüber sie fallen“ (V 19). Als Ausweg nennt Sprüche 4 den Weg der Weisheit. Um ihn zu finden und gehen zu können, gilt es, die eigenen Sinne richtig auszurichten: Worauf man hört (V 10.20) und wo man hinschaut (V 21.25).

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2.2 Der Sauerteig des Herodes – und der Pharisäer (Mk 8,15)

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Im Neuen Testament warnt uns Jesus vor einem verderblichen Samen, den Gewalttäter in unsere Herzen einpflanzen können – und der zu einer Saat des Verderbens heranwachsen kann: Das ist vor allem „der Sauerteig des Herodes“, des Gewalttäters, vor dem Jesus seine Jünger warnt:

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Gebt acht, hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes! (Mk 8,15)
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Der „Sauerteig des Herodes“ entspricht dem Weg der Gesetzlosigkeit, den die Frevler gemäß Sprüche 4 gehen. Sauerteig ist er, weil er in menschlichen Kollektiven aufgehen, epidemisch auf viele übergreifen und so ganze Gesellschaften durchsäuern kann. Im gleichen Atemzug warnt Jesus aber auch vor dem „Sauerteig der Pharisäer“ als dem entgegengesetzten Extrem eines Weges der Gesetzlichkeit, welche gemeinschaftliche Identität in Abgrenzung gegen offenkundige Sünder stabilisiert und so in heuchlerische Selbstverblendung verstrickt: Ein Habitus von hohler Gerechtigkeit verdeckt ein verletztes und begieriges Herz, das durch die Saat von Gewalttätern – den Sauerteig des Herodes – immer noch infiziert ist, sodass der vorgebliche Einsatz für das Gute jederzeit in Gewalt umschlagen kann.8

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2.3 Die Spirale des „Ärgernisses“ unterbrechen: um jeden Preis!

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Diese Ansteckung hat auch eine aktive Täter-Seite, vor der Jesus dringend warnt:

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Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt [skandalísē], für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde. (Mk 9,42)
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Das war der erste Vers des Tagesevangeliums am Tag der russischen Invasion! Als wir ihn beim Morgengebet lasen, ging mir seine Bedeutung ganz neu auf. Er traf punktgenau meinen inneren Zustand. In meiner Bitterkeit fühlte ich mich als einer „dieser Kleinen“, deren Glaube an Gott, das Gute und die Möglichkeit, Konflikte gewaltlos zu überwinden, Schaden genommen hatte. In meinem unversöhnten Schmerz sah ich Putin, an dem sich meine Wut entzündete, als den Beschädiger, der nicht nur in ein Land, sondern auch in mein Herz eingefallen war.9

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„Ärgernis geben“ übersetzt dabei das griechische Wort „skandalízo“, und das bedeutet „zu Fall bringen“. Da steckt unser Wort Skandal drin. Skandalon ist eine Falle oder genauer das Zuschnappen einer Falle.

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Der ‚Skandal‘, etymologisch ‚der, der springt‘, ist zuallererst ‚das Zuschnappen‘ einer Falle, dann die ‚Falle‘ selbst, mit der man Tiere fängt, sodann die ‚Tücke‘, um den Feind zu Fall zu bringen, schließlich die ‚Gelegenheit des Falles‘.10
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Dabei ist die Bibel weder moralisierend noch individualisierend. Sie verweist uns auf die Innerlichkeit des Herzens, weil sich dort – von Herz zu Herz – eine Ansteckung vollzieht, die Früchte des Todes hervorbringt: für Menschen, Völker und die ganze Welt.11

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Das biblische Wort skandalízein drückt eine Dynamik mit epidemischer Ansteckungskraft aus. Von Tätern „skandalisierte“ Opfer werden selber zu Tätern. Ohne es zu wollen oder auch nur zu ahnen, geben sie den erlittenen Anstoß – das skandalon – an andere weiter und werden ihrerseits für sie zum Stolperstein. Selbst Putin ist nicht nur Täter, sondern ein infizierter Infizierer. Mit seiner unkontrollierten Macht und seinem globalen Einfluss ist er ein absoluter „Superspreader“. Aber auch wir, für die das nicht annähernd zutrifft, müssen aufpassen, dass wir nicht im Kleinen zu dem werden, was er im Großen ist. Es gilt, die epidemische Spirale innerer und äußerer Gewalt zu unterbrechen – um jeden Preis! Das ist der Sinn eines der härtesten Jesus-Worte, das unmittelbar an Mk 9,42 anschließt:

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Wenn dir deine Hand Anstoß gibt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer ... (Mk 9,43–44)
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„Abhauen“ steht hier hyperbolisch (d.h. in rhetorischer Übertreibung) für ein Unterbrechen um jeden Preis. Wenn ich feststelle, dass mir nun selber „die Hand ausrutscht“, dann muss ich „mir in die Arme fallen“, selbst wenn mir vorkommt, dass ich mir durch diese gewaltsame Unterbrechung mit meinen legitimen Ansprüchen Schaden zufüge.

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3. Das zweideutige Erwachen Europas

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3.1 Ein vielversprechender Aufbruch

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Seit dem Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2000 führte Putin in angrenzenden Ländern militärisch erfolgreich brutale Invasionskriege, auf die die Welt mit zu wenig Widerstand reagierte: 1999–2009 gegen Tschetschenien, 2008 gegen den NATO-Kandidaten Georgien, 2014 mit der Einnahme der Krim und seither durch militärische Unterstützung von Separatisten in der Ostukraine. Erst Russlands durch nichts zu rechtfertigender Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine im Februar 2022 hat – verbunden mit einem beeindruckend effektiven Widerstand der Ukrainer – Europa aufgeweckt. Die Staaten der EU begannen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und – in Einheit mit den USA, den anderen NATO-Staaten und internationalen Verbündeten – einmütig und effektiv gegen diesen militärischen Willkürakt Widerstand zu leisten: mit massivsten, kostspieligen Wirtschaftssanktionen gegen Russland, der großzügigen Aufnahme von Millionen von ukrainischen Flüchtlingen und zunehmenden Waffenlieferungen. Dieses „Aufwachen Europas“ führte im ersten Monat zu optimistischen Einschätzungen und Prognosen. Francis Fukuyama erneuerte seine These eines Siegs des westlichen Liberalismus über jeden Totalitarismus:

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Russland steuert auf eine totale Niederlage in der Ukraine zu. [...] Putin wird die Niederlage seiner Armee nicht überleben. [...] Der Einmarsch hat den Populisten auf der ganzen Welt, die vor dem Angriff einheitlich Sympathie für Putin bekundeten, bereits großen Schaden zugefügt [...] Eine russische Niederlage wird eine ‚Neugeburt der Freiheit‘ ermöglichen und uns aus unserem Grübeln über den Niedergang der globalen Demokratie herausholen. Der Geist von 1989 wird weiterleben, dank einer Gruppe mutiger Ukrainer.12
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3.2 ... und rasche Ernüchterung

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Nur wenige Wochen später war viel von diesem Optimismus verflogen. Die Einheit der EU sowie internationaler Kooperationen im Blick auf Wirtschaftssanktionen begann zu bröckeln, und eine steigende Inflation und wirtschaftliche Unsicherheit bescherte gerade den mit Putin sympathisierenden Rechtspopulisten unerwartete Höhenflüge. Ließen sich die Erdrutschsiege von Ungarns Präsident Viktor Orbán und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, beide am 4. April, noch auf das Gesetz eines Bonus für Regierende in unsicheren Zeiten zurückführen, so zeigte das unerwartet starke Abschneiden der EU-kritischen und Putin verbundenen Marine Le Pen in Frankreich, dass die Bereitschaft der Wählenden in europäischen Demokratien, ökonomische Nachteile für den Einsatz für eine gerechte Sache zu riskieren, äußerst begrenzt ist.13

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Gewiss bedeutet Russlands Einfall in die Ukraine einen aufrüttelnden Schock und eine Chance aufzuwachen für ein „müde und alt gewordenes“ Europa,14 deren Demokratien schon lange in Gefahr sind, von neoliberalen Eliten instrumentalisiert und von konsumorientierten Wählern als Dienstleistungsunternehmen für eigene Interessen missverstanden zu werden.15 Aber es steht zu befürchten, dass dieser geschichtliche Kairos ein kurzer ist und möglicherweise verfehlt wird. Wir wären dann die Zeugen nicht eines Aufwachsens, sondern eines vorübergehenden Aufschreckens von Europa.

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3.3 Getrieben vom Zwang zu schnellem Erfolg

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Dass diese Gefahr besteht und von Politikern und Journalisten auch so wahrgenommen wird, zeigt sich an der überstürzten Eile, mit der Maßnahmen ergriffen und Erfolge verkündet werden. Offenbar geschieht das unter dem Druck, ein unberechenbares Volk für unpopuläre Maßnahmen bei der Stange zu halten, ohne dass Populisten daraus für ihr nationalistisches Programm Kapital schlagen, das den einmütigen Widerstand Europas (wie auch der USA) gegen den neuen russischen Imperialismus zum Stillstand bringen würde.

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Eine extreme Zeitnot, die weniger der dringenden Unterstützung der Ukraine als dem wackelnden Einverständnis durch die Wähler geschuldet ist, zeigt sich an einer auf Schlagzeilen zielenden adhoc-Diplomatie von Regierungschefs16 und an populistischen Sprüchen von ihnen, die mitunter diplomatisch verheerend sind.17

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3.4 Das populistische Spiel mit einer Freund-Feind-Logik

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Um die Zustimmung von Wähler:innenmehrheiten für in ihrer Auswirkung für das Volk unpopuläre Sanktionsmaßnahmen aufrechtzuerhalten, wird die neue europäische Einheit und Identität mit den problematischen Mitteln einer Freund-Feind-Logik bedient. Das verringert die derzeit ohnehin geringen Chancen für eine diplomatische Deeskalation weiter und treibt die Eskalation des Konflikts auch von westlicher Seite voran.

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Um diesen verhängnisvollen Trend umzukehren, darf eine Freund-Feind-Logik nicht bedient, sondern muss überwunden werden. Das gilt für die politischen Entscheidungsträger bis zu jedem einzelnen aus der Bevölkerung, um deren Loyalität die Politiker fürchten. Ob die Bürger unserer Demokratien, also jede:r einzelne von uns, ein „Energiefasten“ für den Frieden in der Ukraine und in der Welt oder gegen Putin auf sich nehmen,18 ist nicht zweitrangig. Spätestens wenn es gilt, von der heißen Phase des Krieges zu realistischen diplomatischen Friedensbemühungen zurückzukehren, werden solche Unterschiede darüber entscheiden, ob minimale sich öffnende Fenster für eine Deeskalation und neue Vertrauensbildung entschieden wahrgenommen, widerwillig gemieden oder entrüstet zurückgewiesen werden.

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3.5 Schläfer, Schlafwandler oder wirklich aufgewacht?

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Gegenwärtig ist noch ungewiss, ob Europa wirklich aufgewacht ist, oder sich, aufgestört durch den brutalen Überfall auf eine europäische Nation, nur aufgeschreckt ist, um alsbald in den Schlummer einer gedankenlosen Selbstgenügsamkeit zurückzufallen. Oder ist es aufgestanden, um wie Europa im Jahr 1914 als „Schlafwandler“ in den Abgrund eines Weltkriegs hineinzutappen?19

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4. „Dämonisierte Zonen“ in einem eskalierten Konflikt

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Der Ukraine-Krieg hat unsere europäischen Staaten bereits in einen Wirtschafts-, Informations- und militärischer Stellvertreterkrieg hineingerissen. Um diese unheimliche Dynamik zu erfassen, müssen wir uns an Theorien über eine fortgeschrittene Konflikteskalation orientieren.

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4.1 Neun Stufen der Konflikteskalation (Friedrich Glasl)

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Der österreichische Konfliktforscher und Mediationsexperte Friedrich Glasl hat ein Phasenmodell der Konflikteskalation in neun Stufen entwickelt, die drei Zonen durchschreiten. In den Stufen 1–3 (Verhärtung – Debatte/Polemik – Taten statt Worte) sind die Beteiligten an einem Konflikt noch offen für eine „win–win–Logik“, fähig und bereit zu einer Verständigung, die beiden Seiten Vorteile bringen kann. Stufe 4 – 6 (Images und Koalitionen – Gesichtsverlust – Drohstrategien und Erpressung) sind auf eine „win–lose–Logik“ fixiert, dergemäß man nur noch gewinnen kann, wenn man den Schaden für den Konfliktgegner erhöht. In Stufe 7–9 (begrenzte Vernichtungsschläge – Zersplitterung/totale Zerstörung – gemeinsam in den Abgrund) haben sich die Konfliktgegner schließlich in eine „lose-lose“–Logik verrannt, bei der es nur noch Verlierer gibt. Die Kontrahenten sehen ihr Heil nur mehr in der Vernichtung des Gegners und sind bereit, dafür auch schwerwiegenden Schaden für sich selber in Kauf zu nehmen – bis hin zum eigenen Untergang.20

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In einem Vortrag genau einen Monat nach Beginn der Ukraine-Invasion hat Glasl den Konflikt der siebten Eskalationsstufe zugeordnet:21 Das Ziel ist hier bereits die Zerstörung des anderen, in Vernichtungsschlägen, die allerdings noch begrenzt sind. Ein Wille zur Vernichtung des Gegners wird freigesetzt, indem man diesen entpersonalisiert und auf Ding-Kategorien reduziert. So kann man ihn ohne moralische Bedenken „auslöschen“ oder „eliminieren“. Kriegstugenden wie Lügen, Betrügen und Täuschen dominieren, wobei anerkannte Werte in ihr Gegenteil pervertiert werden. Rachedurst wird mehr und mehr zum treibenden Motiv.

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Ist vier Wochen später nach den Kriegsverbrechen in Butscha, der Zerstörung von Mariupol, und dem Beginn der „Schlacht um den Donbass“ die achte Eskalationsstufe erreicht: „Zersplitterung und totale Zerstörung“ in physisch-materieller, seelisch-sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht?

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4.2 Die „dämonisisierte Zone“

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Glasls neun Stufen der Eskalation folgen einem Abstiegsschema, das durch fortschreitende Regression mit zunehmendem Verlust an Einsicht und an Handlungsspielräumen bestimmt ist. Glasl hat den dritten, von einer „lose-lose“-Logik bestimmten Bereich auch „dämonisierte Zone“ genannt und dies durch Verblendungsdynamiken funktional erklärt: In einer fortschreitenden Konflikteskalation lässt das wachsende Wüten der Kontrahenten gegeneinander unbeabsichtigte Nebeneffekte zunehmen, die der jeweilige Gegner dem anderen als beabsichtigt unterstellt, während dieser alle Verantwortung dafür zurückweist. Auf diese Weise kommt es in der „dämonisierten“ Zone zunehmend zu Handlungen, für die keine Partei verantwortlich sein will22 – als ob hier ein unsichtbarer Dämon Unheil sät und so die Kontrahenten gegeneinander aufhetzt.

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Dazu wäre über Glasl hinaus zu berücksichtigen, dass die Gegner einander dämonisieren. . So agieren sie zunehmend verblendet und treiben – wie „Schlafwandler“ – auf einen Abgrund zu, in den sie sich, einander und möglicherweise die ganze Welt hineinreißen.

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4.3 Konflikteskalation in der mimetischen Theorie (René Girard)

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Was die Konfliktgegner dabei im Fortschreiten von der siebten bis zur restlos zerstörerischen neunten Eskalationsstufe so antreibt, dass sie von außen betrachtet immer ähnlicher auf eine irrationale Weise agieren, kann mit der mimetischen Theorie René Girards weiter erhellt werden.23 Mimesis – ein Begehren, das von anderen unwillkürlich nachgeahmt wird – kann Menschen zugleich aufeinander als auch gegeneinander ausrichten: Sie werden einander zugleich Vorbild und Hindernis für ihr Begehren. Dies kann – auf geradezu satanische Weise, wie Girard in ähnlicher Metaphorik wie Glasl entfaltete24 – Menschen von einer Aneignungsmimesis („Ich will haben, was der bzw. die andere hat“) in eine Gegenspielermimesis treiben, deren Ziel nur noch darin besteht, den Rivalen, der einem im eigenen Begehren fortgesetzt im Wege steht, zu vernichten.25 Dabei können die Gegner in eine Raserei gegeneinander geraten, bei dem der oder die jeweilige andere als Inbegriff von allem Bösen wahrgenommen wird – in äußerstem Gegensatz zur Selbsteinschätzung als verzweifelt sich wehrendes, bedrohtes Opfer. Unbeteiligte Beobachter:innen nehmen hingegen die beiden Streitparteien ganz anders wahr: dass sie sich in Schlag und Gegenschlag keineswegs gegensätzlich, sondern immer mehr wie ununterscheidbare Doppelgänger verhalten.

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4.4 Sind wir denn alle gleichermaßen in Schuld verstrickt?

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Den Konflikttheorien von Glasl und Girard ist die Annahme gemeinsam, dass sich bei fortschreitender Konflikteskalation die Gegner bis zur Ununterscheidbarkeit ähnlich werden, obwohl sie sich in äußerstem Gegensatz zum Gegner als moralisch im Recht wahrnehmen.26 Die Zuschreibung moralischer Differenzen wird von beiden Theorien der Verblendung verdächtigt, und in dieser Verblendung sehen sie einen Schlüssel für die ungebremste Eskalation.

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Damit entsprechen sie der biblischen Warnung Jesu vor der fatalen Ansteckungskraft eines verletzten Herzens (Kap. 2.3). Jesus warnte seine Jünger ja nicht nur vor dem „Sauerteig des (offen gewalttätigen) Herodes“, sondern auch vor dem „Sauerteig der Pharisäer“ – mit einer heuchlerischen Anschuldigungskultur, die moralisierend mit dem Finger auf andere zeigt und so sich und andere vom eigenen Anteil am Konflikt ablenkt. Das eröffnet eine in einem fortgeschrittenen Konflikt gleichermaßen erstaunliche wie anstößige Perspektive, nach der wir alle Sünder sind und gleichermaßen der Vergebung Christi bedürfen. Petrus nicht weniger als Judas?27 Und Poroschenko nicht weniger als Putin?28 Wie weit darf diese Relativierung moralischer Unterschiede gehen?

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Der durch nichts zu rechtfertigende Überfall auf einen souveränen Staat, die entsetzlichen Kriegsverbrechen, eine fortgesetzte zynische Täter-Opfer-Umkehr in der Propaganda und die Raubzüge, mit der Russland Reichtümer der Ukraine in ihr eigenes Land abtransportiert: Diese Zeugnisse einer himmelschreienden Unmoral lassen Konflikteskalationstheorien, die wachsende Symmetrien zwischen den Konfliktgegnern ins Licht stellen, selber als zynisch erscheinen. Läuft das nicht auf eine faktische Auflösung der Moral hinaus, die jede konkrete Zuschreibbarkeit moralischer Urteile aushöhlt?

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Und doch sind echte Versöhnung und nachhaltiger Friede ohne eine selbstkritische Schuld-Beteiligungs-Perspektive nicht möglich. Selbst wenn die Ukraine den Krieg gewinnen und Putin stürzen sollte, bräuchte es in der Folge eine Aufarbeitung mit Vergebung und Versöhnung von allen Seiten, um einen stabilen Frieden zu erreichen und ein noch bedrohlicheres Chaos – etwa von Russland als einem „gescheiterten Staat“ („failed state“) – zu verhindern.

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5. An Frieden glauben – aber realistisch

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5.1 Den Kairos für Frieden erwarten

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Was es auf allen Ebenen braucht, ist ein entschiedener Wille zu Frieden aus dem Glauben an seine Möglichkeit: Auch dann, wenn unter gegenwärtigen Bedingungen keine konkreten Schritte zu einem verantwortbaren Frieden möglich sind, kann jederzeit eine neue Situation eintreten, in der sich unvermutet ein Fenster dafür öffnet. Dafür gilt es, bereit zu sein. In einer solchen Bereitschaft besteht ein realistischer Glaube an Frieden. Realistisch ist dieser Glaube, wenn man akzeptiert, dass Friede nicht jederzeit machbar ist, sondern von unplanbaren Ereignissen abhängt, die einen unverfügbaren Kairos darstellen und christlich als Gnadenchancen begriffen und erbetet werden können. Realistisch an Frieden glauben heißt, seine faktische gegenwärtige Nichtmachbarkeit zu akzeptieren und ihn dennoch proaktiv zu erwarten. Dabei ist Erwarten mehr als ein bloß passives Abwarten.29 Zuversichtlich und geduldig sucht man nach Anzeichen dafür und erwartet sie „mehr als die Wächter den Morgen“ (Ps 130,6) – in der Zuversicht, dass auch in der verfahrensten Situation sich unvermutet ein Ausweg öffnen kann.

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5.2 Der Unterschied zu einem Pazifismus, der „aus der Zeit gefallen“ ist

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Ein solcher realistischer Glaube an Frieden unterscheidet sich von einem Pazifismus, der nur dann „aus der Zeit gefallen“ ist (Olaf Scholz)30, wenn er Gewaltlosigkeit, Versöhnung und Frieden für jederzeit machbar und deshalb auch allgemein einforderbar hält. Ein kairologischer Glaube an Frieden lässt sich hingegen mit unterschiedlichen persönlichen Lebenshaltungen verbinden (ohne sie anderen aufzuzwingen):

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in radikalem Gewaltverzicht, um für jede Form eines gewaltlosen Widerstandes optimal disponiert zu sein,

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oder auch in gewaltbereiter Gegenwehr, um Bedingungen für faire Friedensverhandlungen entgegenzuarbeiten, die nicht mehr einseitig vom ungerechten Aggressor diktiert werden.31

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Die zweite Option entspricht dem alttestamentlich-weisheitlichen Kairosprinzip, wonach es für jedes Geschehen unter dem Himmel seine Zeit gibt – auch „eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln“ (Koh 3,5).32

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Wer mit eigenem Gewalteinsatz kämpft oder Opfer bei ihrer legitimen Selbstverteidigung gegen ungerechte Angreifer militärisch unterstützt oder sich auch nur für eine solche Unterstützung durch die eigene Regierung einsetzt, braucht eine Spiritualität des von Hass befreiten Herzens noch dringender als radikale Kriegsverweiger:innen. Die Dynamiken der Ansteckung und entsprechenden Verbitterung des Herzens nehmen zu, wenn man selber Gewalt gegen einen ungerechten Gegner einsetzt. Und: Wer mit gereinigtem Herzen kämpft, kämpft nicht schwächer als aus blindem Hass.33 Man ist so aber besser davor geschützt, sich in der Hitze des Gefechts vom Gegner in analoge Unrechtsdynamiken (etwa von Kriegsverbrechen) hineinreißen zu lassen und man kann auf jeden „Kairos zum Steinesammeln“, wenn er sich unvermutet ergibt, sofort reagieren.

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5.3 Eskalierte Konflikte transformieren auf den Spuren von Christi Erlösung

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Trotz all seiner kalkulierten Brutalität und Verlogenheit ist nicht Putin der eigentliche Feind. Würde er heute sterben, dann lebte die Saat seiner Grausamkeit dennoch weiter – in vielen und auch in mir. Die einzige Möglichkeit ihrer echten Überwindung und Transformation in ihr heilvolles Gegenteil gründet in der Erlösung Jesu Christi am Kreuz:

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Er [Gott] hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden. (2 Kor 5,21)
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Das heißt, dass Jesus sich in die ansteckende Dynamik der Sünde hineinreißen ließ, sich von Hass und Ressentiment treffen ließ, ohne sich davon selber anstecken zu lassen.34 Auf diese Weise nutzte er die ansteckende Kraft des Ressentiments, die die Täter auf die Opfer ausüben, so dass sie sich selbst ungewollt an diese binden, und polte sie um: von Hass zu Liebe, die nun auf die Täter zurückstrahlt – richtend und möglicherweise transformierend – ohne dass sie sich dem entziehen könnten.35

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Wie diese Kraft wirkt und wie sie in der Brutalität eines Weltkriegs wirken kann, zeigt die Bekehrungsgeschichte des einstigen Kriegshelden Jean Goss, der später gemeinsam mit seiner Frau zum weltweiten Lehrer eines christlich begründeten gewaltlosen Widerstandes wurde.36

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Das Lebenszeugnis dieses „Mystikers des Internationalen Versöhnungsbundes“ belegt allerdings auch, dass die Macht dieser Transformation nicht verfügbar und der daraus wachsende wahre Friede nicht machbar ist. Beide hängen ab von Gottes Gnade, die in ein von Gewalt infiziertes, verletztes Herz als neuen Anfang den „Geist der Wahrheit“ und seiner Liebe pflanzt, „die die Welt nicht sieht und nicht kennt“ (Joh 14,17). Diese Gnade erreicht uns als Ereignis, als Kairos,37 wann, wo und wie Gott will. In solchen Ereignissen wird Friede Realität – als neuer Anfang eines im Wurzelgrund gewandelten Herzens – noch lange bevor die ausgewachsene Frucht des Friedens Völker versöhnt.

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6. Um Frieden beten

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6.1 Gebet um Frieden muss bei mir anfangen

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Auch wenn dieser Friede nicht machbar ist – weder im eigenen verletzten Herzen noch zur Versöhnung verfeindeter Nationen – kann und muss man sich darauf vorbereiten. Als Christen sind wir gerufen, um Frieden zu beten – um Frieden in der Welt, wobei wir zugleich unser eigenes verletztes Herz Gott hinhalten, um es von ihm verwandeln zu lassen: „Herr schaffe Frieden, und fange mit meinem Herzen an!“ Im Grunde muss jede Bitte für andere und anderes von einer Bereitschaft zur Umkehr des eigenen Herzens begleitet sein. Und das ist keine Verlagerung in eine unpolitische Innerlichkeit. Wenn ich Gott bitte, er möge Putins Herz erweichen, dann kann ich ihm dafür den „Putin in meinem Herzen“ anbieten. Damit meine ich die Saat, den verderblichen Sauerteig, der Putin zum kalt berechnenden Massenmörder machte und der in diesem Moment auch in mir seine giftige Frucht zeigt, wo meine Empörung vermischt mit Hass auf ihn in mir hochkommt.

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Das muss erst verwandelt werden, damit mein Gebet mit reinem Herzen und solcherart im Namen Jesu erfolgt. Nach der Lehre Jesu im Johannesevangelium ist das die Voraussetzung dafür, dass unsere Bitten mit Gewissheit erhört werden.38

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6.2 Gebet um Frieden als geistlicher Kampf

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So zu beten, bedeutet geistlich zu kämpfen. Diesen Kampf führen wir gemäß biblischer Lehre

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nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut [...], sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den himmlischen Bereichen. (Eph 6,12)
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Diese ‚Dämonen‘ erreichen uns nicht als Bewohner übernatürlicher Hinterwelten, sondern als destruktive Dynamiken, wie sie Glasl für die dämonisierten Zonen der letzten Stufen einer Konflikteskalation beschreibt.39 Ihre unheimliche Macht, die sie so viel gefährlicher macht als identifizierbare „Personen aus Fleisch und Blut“, besteht darin, dass sie dann, wenn wir sie im Kampf vermeintlich vor uns haben, zugleich unsichtbar hinter unserem Rücken wirken, wo sie uns antreiben und gerade dann zu ihren Akteuren machen, wenn wir meinen, sie in Gestalt anderer erledigen zu können.

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In der Fortsetzung der zitierten Stelle leitet uns der Epheserbrief an, wie wir diesen geistlichen Kampf richtig führen. Die „Waffenrüstung Gottes“, die wir anziehen sollen, wendet unseren Blick von der ansteckend-verderblichen Fixierung auf den Gegner weg und auf Christus, an den wir glauben, hin.40 Wir lernen den Gegner mit Jesu Augen anzusehen und uns entsprechend zu verhalten.

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Dann löst sich die Fixierung gegen unseren Kontrahenten und wir entdecken die Spuren des eigentlichen Feindes in unseren verletzten Herzen. Das ist dann der Moment, wo der Kampf – mit dem Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes“ (Eph 6,17) – in seine offensivste Phase gelangt. Und zwar gemäß dem Wort:
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Wenn dir deine Hand Anstoß gibt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer ... (Mk 9,43–44)Dazu haben wir bereits in Kapitel 2.3 festgestellt, dass das „Abhauen“ für ein Unterbrechen von Dynamiken um jeden Preis steht. Das muss keineswegs ein gewalttätiger Akt sein, es kann sich auch um die Selbstüberwindung handeln, die nötig ist, um seinen Gegner für den eigenen Hass um Vergebung zu bitten.

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Und in Kap. 4.2 wurde bereits deutlich, dass die „Hölle“ hier nicht bloß für eine jenseitige Wirklichkeit steht, sondern für den gegenwärtig wirksamen destruktiven Sog der „dämonisierten Zone“, aus der ein Entkommen nur mit äußerster Entschlossenheit möglich ist. Und doch ist auch dieses radikale Uns-selbst-in-den-Arm-Fallen nicht machbar. Es hat seinen unverfügbaren Kairos, der sich dann ergibt, wenn wir mit den Augen Christi die Saat von Hass und Verbitterung im eigenen Herzen unterscheiden können. Dies zu beachten schützt uns vor Missverständnis und Missbrauch dieses gefährlichen Jesuswortes – in der aggressiven Anwendung gegen andere oder auch autoaggressiv gegen uns selber.

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6.3 Biblische Zusagen zum erhörten Bittgebet – recht verstanden

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Wenn wir Bittgebet auf diese Weise verstehen, so dass wir uns radikal selbst in unsere Bitte hineinnehmen und verwandeln lassen, dann gewinnen biblische Erfüllungszusagen, die sonst überzogen scheinen, einen gut nachvollziehbaren Sinn. Das gilt auch für die schwierige Aussage in Mk 11,24:

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Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil.
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Wir haben schon gesehen, wie die Bitte um Frieden in der Ukraine und um eine Wandlung von Putins Herz zu einer Wandlung und Befriedung unseres eigenen Herzens führen kann – und zwar so, dass dieser innere Friede mit dem erbetenen politischen Frieden in einem Wirkzusammenhang steht: So wie die Übergriffe der Feinde auch unsere Herzen verletzten, gewinnt ein von Gott befriedetes Herz eine Ausstrahlung, die nicht mehr Bitterkeit und Verletzung, sondern Trost und Segen weitergibt. Auf diese Weise ist der erfahrene Frieden in unserem Herzen – auch, wenn er nur für eine begrenzte Zeit aufleuchtet – ein zeichenhafter Anfang und ein Wirkfaktor für den erbetenen „großen Frieden“.

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Auch wenn die Kairos-Erfahrung eines gewandelten Herzens, das Frieden in sich trägt, wieder verblassen wird, gibt sie dem Glauben Grund, dass wir das Erbetene anfanghaft „schon erhalten haben“ (Mk 11,24). Und dies befestigt unsere Zuversicht, dass auch die volle Frucht eines ausgewachsenen, politischen Friedens mit Sicherheit kommen wird – wann, wo und wie es Gott geben wird: „Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil“ (Mk 11,24).

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6.4 Jesu Zusage einer unverzüglichen Erhörung: „plötzlich“, aber nicht „sofort“

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Ein bedingungsloses Vertrauen in einen unerwartet hereinbrechenden Kairos der Erhörung unserer Bitten – wann, wo und wie Gott will – lehrt Jesus seine Jünger, und damit zugleich uns, mit dem Gleichnis von der zudringlichen Witwe. Sein Fazit:

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Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. (Lk 18,7–8)
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Das „Unverzüglich“ wird oft falsch verstanden und auch missverständlich übersetzt. „En táchei“ bedeutet nicht „sofort“, sondern „plötzlich“ – in einem Augenblick.41 Bei meinem Morgengebet am Tag der Invasion in der Ukraine (vgl. Kap. 1.1), gemeinsam mit drei ebenso geschockten Mitbetenden, erfuhr ich den erbetenen Durchbruch zu einem inneren Frieden nicht. Aber er ereignete sich unerwartet am Nachmittag, auf einem langen Spaziergang mit meiner Frau, bei dem ich ihr zuerst mein Herz mit meiner Wut über Putin ausschüttetete. Als wir später schweigend durch den Wald ging, merkte ich auf einmal, dass alle Bitterkeit weg war. Zurück blieb das Verlangen, etwas beizutragen, damit dieses Attentat auf das Land und unsere Herzen uns nicht zum Stolperstein42 wird, sondern uns zu etwas Gutem aufweckt.

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Anmerkungen

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1 Vgl. https://www.dieweide.org. Es handelt sich um ein kleines Gebetshaus mit charismatischer und kontemplativer Ausrichtung.

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2 „Anyone who doesn’t regret the passing of the Soviet Union has no heart. Anyone who wants it restored has no brains“ (New York Times, 2000-02-20, zitiert nach: https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780191843730.001.0001/q-oro-ed5-00016963. Allerdings bedeutet die Fortsetzung von Putins Bonmot „... und wer sie zurückwill, hat keinen Verstand“, gerade nicht, wie John Mearsheimer fälschlich annimmt, dass Putin keine imperialen Ansprüche verfolgte. Vielmehr zielt er auf die Etablierung einer russischen Großmacht, die die große Kränkung des Zusammenbruchs der UdSSR, eines starr gewordenen Systems zum Machterhalt, mehr als kompensiert. Über Jahrzehnte erweiterte Putin mit brutalen und erfolgreichen militärischen Interventionen den Einflussbereich Russlands an seinen Grenzen (Georgien 2008, die Krim 2014) wie auch international und transformierte gleichzeitig innenpolitisch eine wackelige Demokratie in eine de-facto-Diktatur. In dieser Agenda einer Wiederherstellung Russlands als Großmacht sollte die Zerschlagung der Ukraine von einem souveränen westorientierten Staat zu einem ferngelenkten russischen Satellitenstaat sein bislang größter Coup werden. Ob er damit nun selbst in eine Falle gelaufen ist, scheint zur Zeit naheliegend, ist aber längerfristig noch nicht absehbar. Jedenfalls hat die imperialistische Geschichte von Putin als dem ambitionierten „Sammler russischer Erde“ nach dem sowjetischen Kollaps von 1991 hat eine verborgene Innenseite: die Geschichte eines verletzten Herzens.

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3 Unabhängig von einer populären Inflationierung des Traumabegriffs gibt es neuere Tendenzen in der Traumapsychologie, posttraumatische Belastungsstörungen nicht nur an massiven Schockerfahrungen, sondern auch aus einer Summierung minimaler Erschütterungen („Mikro-Traumata“) zu verstehen. Vgl. zu diesem Ansatz wegweisend: Margaret Crastnopol, Micro-trauma. A psychoanalytic understanding of cumulative psychic injury, 2015.

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4 Vgl. dazu Peter Levine, Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt, München 2011, sowie das Video „polarbear shaking trauma“ https://www.youtube.com/watch?v=xDlR-wl7iFI. Weiters David Berceli, Körperübungen für die Traumaheilung, hg. vom Norddeutschen Institut für Bioenergetische Analyse e.V. (NIBA) 2007.

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5  „Zu bestimmten Zeiten wurde Prinz Lasars Bild benutzt, um ein kollektives Gefühl der Opferwerdung und des Martyriums unter muslimischer Herrschaft zu festigen; zu anderen Zeiten wurde dieses Bild zum Symbol für den Wunsch der Serben, die Demütigung, die sie durch den Verlust ihrer staatlichen Souveränität erfahren hatten, durch die Rückeroberung des Kosovo wieder aus der Welt zu schaffen.“ (Vamik Volkan, Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Krisenzeiten, Gießen 2005, 55.)

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6 „Das gewählte Trauma ist die kollektive psychische Repräsentation eines Ereignisses, durch das eine Großgruppe sich einst gezwungen sah, mit starken, die Allgemeinheit betreffenden Verlusten fertig zu werden, sich hilflos und von einer anderen Gruppe in die Opferrolle gedrängt zu fühlen und demütigende Verletzungen mit anderen zu teilen.“ (Volkan, ebd. 53).

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7 Wenn nicht anders angegeben, wird die Neue Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (Stuttgart 2016) verwendet.

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8 Dass sich diese Gegensätze von Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit im Extrem berühren und ineinander umschlagen können, thematisiert das Johannesevangelium in den Streitreden von Joh 7-8. Mit der äußersten Zuspitzung in Joh 8,44: „Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“ Diese Aussage Jesu ist nicht aburteilend sondern diagnostisch zu verstehen. Er sagt das zu den Juden, „die an ihn glaubten“ (Joh 8,31) und warnt sie vor einer aufgehenden Saat der Gewalt im eigenen Herzen.

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9 Gerne hätte ich Putin den „Mühlstein“ an den Hals gewünscht. Aber das Evangelium bedient kein Ressentiment der Wehrlosen gegen die bösen Mächtigen. Vielmehr warnt es vor der Qual einer späten Selbsterkenntnis, wenn Täter – spätestens im Jüngsten Gericht konfrontiert mit der verdrängten Wahrheit ihres Lebens – erkennen, was sie in den Herzen ihrer Opfer angerichtet haben. Fern davon, die Gläubigen als Opfer der Mächtigen zu stilisieren, warnt es davor, dass das erlittene Ärgernis anfängt, in ihren Herzen zu wirken und nun sie zu Tätern zu machen.

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10Bovon, Das Evangelium nach Lukas III/3, 137f.

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11 Der Exeget François Bovon erschließt die Tragweite von „skandalizo“ im Blick auf Lk 17,1: „Es ist unvermeidlich, dass Ärgernisse kommen. Aber wehe dem, durch den sie kommen!“: „Der Begriff wird in der Septuaginta wie im Neuen Testament im übertragenen Sinn verwendet. Es handelt sich hierbei um eine Handlung, die den Fall einer anderen Person bewirkt, um eine Sünde, die sündigen macht. Es ist somit ein Gemeinschaftsrahmen vorausgesetzt: Die Jünger (vielleicht als Amtsinhaber verstanden) schockieren andere Gläubige (in V 2 „diese Kleinen“ genannt) mit ihrer skandalösen Lebensführung, indem sie ihre Macht mißbrauchen, Geld abzweigen, die eheliche Treue verraten, auf den exklusiven Dienst Gott gegenüber verzichten usw. Mit Blick auf solche Skandale ‚fallen‘ die Gläubigen, das heißt, sie können sich entweder gehen lassen oder sie beginnen an der Macht Gottes zu zweifeln oder sie verurteilen ihren Nächsten mit übermäßigem Zorn.“ (Bovon, ebd. Fortsetzung des vorigen Zitats. Hervorhebungen von mir).

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12Francis Fukuyama, Preparing for Defeat, in: American Purpose (9. 3. 2022), online: https://www.americanpurpose.com/blog/fukuyama/preparing-for-defeat (eigene Übersetzung).

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13 Vgl. Idlir Lika, Ukraine war and right-wing populism in Europe (11.4.2022), online: https://www.aa.com.tr/en/analysis/analysis-ukraine-war-and-right-wing-populism-in-europe/2560689

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14 So Papst Franziskus in seiner Ansprache an das Europaparlament am 25. November 2014 in Straßburg, online: https://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/november/documents/papa-francesco_20141125_strasburgo-parlamento-europeo.html

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15 Zu Letzterem vgl. Armin Nassehi, Die Rückkehr des Feindes, in: Die Zeit, 25. 2. 2022, online: https://www.zeit.de/kultur/2022-02/demokratie-bedrohung-russland-ukraine-krieg-wladimir-putin/komplettansicht

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16 Vgl. Jürgen Klatzer, Diplomatie auf lauten Sohlen, online: https://orf.at/stories/3259415 (17. April 2022)

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17 Ich denke hier an Joe Bidens bewusst undiplomatische, explizite Bezeichnungen von Putin als Mörder (noch vor dem Ukrainekrieg, am 17. 3. 2021), als Kriegsverbrecher (ab 17. 3. 2022) und seine, Feststellung, dass „dieser Mann [...] nicht an der Macht bleiben“ kann (27. 3. 2022). Seit dem April 2022 ist Biden allerdings mit seiner Rhetorik viel vorsichtiger geworden.

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18 Vgl. dazu den Spiegel-Cartoon von Thomas Plaßmann: „Nimm das, Putin,“, https://www.spiegel.de/kultur/cartoons-der-woche-kw10-22-a-7d7e0b7d-ad22-4c44-9c06-c8e114eed47d

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19 Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog. München 2015, sowie dazu die aktuelle Debatte, ob auch wir heute wie Schlafwandler die Welt mit unüberlegten Waffenlieferungen in einen atomaren Dritten Weltkrieg treiben. Dazu      Konrad Schuller, Die große Angst vorm großen Krieg. In: FAZ vom 17. 4. 2022, online: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/russlands-krieg-gegen-die-ukraine-droht-der-dritte-weltkrieg-17959863.html?premium. Auf wichtige Unterschiede zwischen der politischen Situation 1914 und 2022, gegen eine warnende Anwendung der Schlafwandler-Analogie auf europäische Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine, weist allerdings Herfried Münkler hin: Ders., Offener Brief in der „Emma“: Ratgeber ohne Sachverstand, Die Zeit (7. Mai 2022), online: https://www.zeit.de/kultur/2022-05/offener-brief-emma-ukraine-krieg-waffenstillstand-zweiter-weltkrieg/komplettansicht

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20 Vgl. Friedrich Glasl, Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater, Bern–Stuttgart–Wien 102021, 233–309.

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21 Vgl. den Videovortrag von Friedrich Glasl: Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine, vom 24. 3. 2022, genau einen Monat nach Beginn der Ukraine-Invasion. Online: https://www.youtube.com/watch?v=qOXmlyY4LAc. Darin zum Folgenden v.a. die in 1:23:16 eingeblendete Folie.

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22 Vgl. Glasl, Konfliktmanagement, ebd. 307.

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23 Vgl. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (Beiträge zur mimetischen Theorie 6). 3. korrigierte Auflage. Münster 2008.

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24 Vgl. René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. München–Wien 2022.

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25 Vgl. René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Freiburg i.Br.–Basel–Wien 2009.

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26 Bei Glasl zeigt sich das durch die etwas zu selbstverständliche schematische Annahme, dass beide Gegner gemeinsam von einer Stufe in die nächste fortschreiten. Dagegen lässt sich im Hinblick auf den Ukraine-Krieg einwenden: Es entspricht der schwächeren Position der angegriffenen Ukraine, dass sie mit Mitteln kämpft, die weniger tiefen Eskalationsstufen entspricht als die angreifenden Russen – zum Beispiel mit Image-Kampagnen (Konflikteskalationsstufe 4) und Vorwürfen von Ehrverlust und Verbrechen (Stufe 5), um daraus die dringend benötigte internationale Unterstützung durch härtere Sanktionen und gesteigerte Waffenlieferungen zu erreichen.

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27 Vgl. Józef Niewiadomski in einer Predigt: „Es ist Ostersonntag. Die himmlische Gemeinschaft sitzt beim Tisch. Das Mahl hätte auch schon längst beginnen sollen. Langsam werden die Gäste ungeduldig. Doch Jesus wartet. ‚Worauf wartet er noch?‘, denkt sich der eine oder andere Heilige. ‚Die Christen auf Erden sind schon lange beim Nachtisch.‘ Plötzlich geht die himmlische Tür auf. Draußen steht Judas. Alles erstarrt. Die Spannung steigt. Man könnte eine Nadel fallen hören. Die Apostel werfen einander eindeutige Blicke zu: ‚Was will das Schwein hier?‘ Jesus strahlt Ruhe aus. Steht auf und geht auf Judas zu. Nimmt ihn bei der Hand und sagt: ‚Auf Dich habe ich gewartet!‘ Und dann ruft er in den Raum hinein: ‚Nun können wir beginnen. Mit dem Ostermahl.‘“ (Ders., Österliche Augen in Zeiten der Schwarzseherei. Predigt am Ostersonntag, 17. April 2022 in der Jesuitenkirche Innsbruck, online: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/3421.html#8). Die bewusst provozierende Predigt folgt einer durch dramatische Theologie und mimetische Theorie verfeinerten Intuition, dass das selbstgerechte Ressentiments des „Sauerteigs der Pharisäer“ viel schwerer aus der Welt zu schaffen ist, als der offen gewalttätige „Sauerteig des Herodes“ (vgl. Kap. 2.2). Daraus kann sich aber auch ein „antimoralistischer Affekt“ ergeben, der die Abgründigkeit der Position des Judas unterschätzt, von der Jesus immerhin sagt, „Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre (Mk 14,21 = Mt 26,24). Ein „moralistischer Affekt“ würde daraus fälschlich die Verdammung des Judas ableiten, was von der Kirche nie vollzogen wurde. Aber zwischen beiden Affekten muss ein schmaler Mittelbereich offengehalten werden, der den wesentlichen Unterschied zwischen dem Verrat des Judas und der Verleugnung des Petrus nicht einebnet. Trotz seiner Verleugung verbleibt Petrus im Kommunikationsbereich, den Jesus von seiner Selbsthingabe im letzten Abendmahl an auf leibhafte Ebene eröffnet – und den die Abschiedsreden des Johannesevangeliums nochmals auf Wortebene ausfalten, mit allen Aposteln außer Judas, von dem es zuvor programmatisch heißt, dass er die Gemeinschaft in die Nacht hinein verlassen hat (Joh 13,30). Auch wenn Petrus mit seiner Verleugnung die Kommunikation mit Jesus abgebrochen hat, was Petrus in Verzweiflung stürzt und einen Neuanfang von Seiten des Auferstandenen notwendig macht (Joh 21,15ff), kann Jesus mit Petrus auf dem Fundament einer durch die Passion vertieften Kommunikation (wie bei Johannes in den Abschiedsreden) Petrus neu berufen.

Dass Jesu Hingabe auch die weit abgründigere Pervertierung seiner Berufung durch Judas – der die Kommunikation mit Jesus auch auf leibhafter Ebene durch einen Kuss entstellt – dennoch aufzufangen vermag, können, dürfen, ja müssen wir hoffend „gegen alle Hoffnung“ offen halten. Das ist das tiefe berechtigte Anliegen der eschatologischen Hoffnung des dramatischen Theologen Niewiadomski.

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28 Die gesteigerte Problematik einer „symmetrischen Intuition“ dramatischer Theologie (wonach wir alle, Täter und Opfer, gleichermaßen erlösungsbedürftig sind) im Blick auf den Ukraine-Krieg zeigt sich rückblickend bei einer Predigt von Józef Niewiadomski anlässlich eines Friedensgebets, das genau eine Woche vor der Invasion in der Innsbrucker Spitalskirche stattfand („Niemand will ihn. Und doch: Es riecht nach Krieg!“, online: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/3413.html). Bereits der Titel der Predigt ist von der „symmetrischen“ Grundannahme geleitet, dass niemand Krieg will und doch keiner ihn ohne Gottes besondere Gnade mehr verhindern könne. Bereits eine Woche später musste die bange Frage „auch Putin nicht?“ abschlägig beantwortet werden. Rückblickend zeigt sich, dass Putin diesen Krieg schon lange geplant und über diesen Plan fortlaufend alle angelogen hatte. Die moralische Entrüstung darüber darf durch den berechtigten und unverzichtbaren Impuls des Evangeliums, Putins Saat auch im eigenen Herzen zu suchen und zu überwinden (s. Kap. 2.2 und 6.2), nicht unter Verdacht gestellt werden.

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29 Der Unterschied zwischen einem proaktiven Erwarten und einem bloß passiven Abwarten ist in der politischen Kairos-Theorie wichtig. Der evangelische „Kairos-Theologe“ Paul Tillich verlangt „ein Tun, dessen innerster Kern Erwartung ist“, und das mit einem „Akt des Sich-Bereithaltens“ beginnt. Die Nähe zu Jesu dringlicher Ermahnung zur jederzeitigen Wachsamkeit (vgl. dazu W. Sandler, Weltuntergang und Wiederkunft Christi. Eine mystagogisch-dramatische Auslegung der Markusapokalypse (Markus 13), online: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1220.html) liegt dabei ebenso auf der Hand wie der Unterschied zu einem bequemen Abwarten, wie ihn Ernst Block als „sozialdemokratischen Automatismus“ kritisiert: „als Aberglaube an eine Welt, die von selber gut wird“. Zur „kairologischen“ Unterscheidung zwischen Erwarten und Abwarten im Zusammenhang mit Tillich und Bloch vgl. Alexander Neupert-Doppler, Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairós, Wien–Berlin 2020, 205.

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30 „Ich respektiere jeden Pazifismus, ich respektiere jede Haltung, aber es muss einem Bürger der Ukraine zynisch vorkommen, wenn ihm gesagt wird, er solle sich gegen die Putinsche Aggression ohne Waffen verteidigen. Das ist aus der Zeit gefallen», sagte Scholz am 1. Mai bei einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Tag der Arbeit in Düsseldorf. Vgl. Die Zeit, 1. 5. 2022, online: https://www.zeit.de/news/2022-05/01/scholz-radikaler-pazifismus-aus-der-zeit-gefallen „Der Kanzler sprach vor lauten Protestierern, die ‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ riefen. Er musste seine eigene Stimme kräftig strapazieren, um sich Gehör zu verschaffen.“ (Ebd.)

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31 Es gibt Situationen einer „strukturellen Sünde“, in denen falsche Entscheidungen von Menschen zu solchen strukturellen Verzerrungen führen, dass es keine einfachen, eindeutigen Auswege gibt. Verschiedene Menschen können so zu einander widersprechenden Gewissensentscheidungen kommen, auch als Christen, und das muss respektiert werden. Dieser Respekt wird missachtet, wenn Christen aufgrund ihres christlichen Glaubens in einer Haltung radikaler Gewaltlosigkeit verharren und dafür abgeurteilt werden. Er wird aber auch von Christen missachtet, die eine Entscheidung anderer Christen für eine wehrhafte Unterstützung der Ukraine als ungläubig und unchristlich kritisieren.

Dieses Plädoyer für eine Offenheit gegenüber verschiedenen beschrittenen Wegen eines christlichen Widerstandes gegen den russischen Überfall auf die Ukraine schließt nicht aus, dass der Weg, den Christus am Kreuz vorgibt, ein radikal gewaltloser ist. Es ist aber zu berücksichtigen, dass dieser Weg nicht für alle Christen jederzeit gangbar ist. Selbst für Jesus stand sein Weg zu Leiden und Kreuz in Jerusalem nicht jederzeit offen. Wiederholt entzog er sich eskalierenden Konflikten mit den religiösen Autoriäten, und er weigerte sich nach Jerusalem zu gehen, weil seine Stunde noch nicht gekommen sei (Joh 7,1–9). Wir müssen damit rechnen, dass unterschiedliche Christen zu unterschiedlichen Zeiten einen Ruf in die Kreuzesnachfolge bekommen – der ihnen die Möglichkeit eines gewaltlosen Widerstandes mit einer Umpolung einer Ansteckung des Hasses in eine Ansteckung der Liebe eröffnet, so wie ich es im kommenden Unterkapitel 5.3 skizzieren werden.

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32 Vgl. W. Sandler, Und einen Kairos zum Steinesammeln (Koh 3). Gnade als gottgeschenkte Zeit für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung: M. Datterl; W. Guggenberger; C. Paganini (Hg.), Friede – Gnade – Gerechtigkeit. Im Spannungsfeld zwischen Institutionen und persönlichem Engagement, theologische trends (2020), 181–200.

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33Wolfgang Palaver hat mich auf eine ähnliche Weisheit bei Mahatma Gandhi und seinem christlichen Ausleger Richard Bartlett Gregg aus dem Jahr 1959 hingewiesen: „Sowohl Zorn als auch Liebe können schöpferisch sein, denn beide sind Ausdruck oder Form von Energie. Aber die Liebe enthält mehr Energie und Ausdauer als der Zorn. Liebe beinhaltet das eigentliche Prinzip und die Essenz der Kontinuität des Lebens selbst. Wenn man sie als Instrument betrachtet, kann sie effizienter und effektiver eingesetzt werden, sie hat ein besseres Ziel, einen besseren Drehpunkt oder Aussichtspunkt als der Zorn. Die Liebe erhält eine stärkere und dauerhaftere Zustimmung von der übrigen Menschheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf lange Sicht über den Zorn siegt, ist groß. Wenn aber eine Partei in einem Streit nicht in der Lage ist, dem Konflikt oder dem Gegner gegenüber eine Haltung zu entwickeln, die schöpferisch oder der Liebe ähnlich ist, sollte sie auf jeden Fall ehrlich und wahrhaftig zu sich selbst sein. ‚Wenn ich nicht so sehr ein Seher bin, dass ich meinen Feind liebe‘, sagt Hocking, ‚ist es sowohl sinnlos als auch falsch, das Verhalten der Liebe anzunehmen; wir können uns im Allgemeinen darauf verlassen, dass der Feind einem solchen Verhalten seinen wahren Namen gibt.‘ Solange Menschen unkontrollierbaren Zorn oder Feindschaft in ihren Gefühlen haben, ist es besser, sie ehrlich und mutig auszudrücken, als zu heucheln und aus Feigheit den Kampf zu verweigern. In Bezug auf eine solche Situation sagte Gandhi einmal zu mir: ‚Wenn du ein Schwert in deinem Schoß trägst, nimm es heraus und benutze es wie ein Mann.‘ Christus, der eine Veränderung in den Menschen suchte, die tiefer und wichtiger war als unmittelbare äußere Handlungen, sagte ihnen, sie sollten sich von Zorn und Habgier befreien, weil er, wie ich glaube, wusste, dass dann der Krieg verschwinden würde.“ (Richard B. Gregg, The Power of Nonviolence, Cambridge 2018, 57; eigene Übersetzung).

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34 Texte wie 2 Kor 5,21 beschreiben einen radikalen Umschlag der äußerst denkbaren Asymmetrie – zwischen dem absolut sündenreinen Jesus und Menschen mit den denkbar schwersten Sünden – in eine Symmetrie wo nun alle unter der Sünde stehen: auch Jesus, der „zur Sünde gemacht“ wurde. Und doch werden damit moralische Schuldzuschreibungen nicht einfach aufgehoben, denn ein wesentlicher Unterschied wird nicht eingeebnet: zwischen Jesus, der „zur Sünde“, aber nicht „zum Sünder“ gemacht wurde. Vgl. dazu Raymund Schwager, Jesus im Heilsdrama (Gesammelte Schriften 4), 302–313, mit dem wichtigen Hinweis: „Dennoch darf der Unterschied zwischen verantwortlichem Täter und Opfer nie verwischt werden, und er ist für eine richtig verstandene Erlösungslehre sogar ausschlaggebend. Jesus war nie selber Sünder, und er hat nie fremden Sünden zugestimmt“ (ebd. 311). Allein auf dem Weg einer übergreifenden Identifizierung von Opfern und Tätern durch die Identifizierung Jesu Christi mit allen Opfern und mit allen Tätern (insofern sie in eine destruktive Dynamik hineingerissen „nicht wissen, was sie Tun“), ist eine Überwindung von uns allen in unserem Täter-Sein und auf dieser Grundlage eine umfassende Versöhnung möglich. So geschieht Erlösung. Vgl. dazu Willibald Sandler, „Denn sie wissen, was sie tun“ – Freiheit, Heilsverantwortung und Erlösbarkeit des Menschen bei Raymund Schwager und Karl Rahner, in: Niewiadomski, Józef (Hg.), Das Drama der Freiheit im Disput, Freiburg i. Br.: Herder 2017, 116–149, online: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1141.html

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35 In meinem Buch „Die gesprengten Fesseln des Todes. Wie wir durch das Kreuz erlöst sind“ (Kevelaer 2011) habe ich gezeigt, wie ein dreifaches Wirken des Heiligen Geistes bewirkt, dass das Werk der Erlösung die Täter der Geschichte erreichen und von innen transformieren kann. Vgl. ebd. 111–113, online: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/900.html#360

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36 Vgl. Hildegard Goss-Mayr, Jean Goss. Mystiker und Zeuge der Gewaltfreiheit. Ostfildern 2012.

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37 Vgl. Willibald Sandler, „Nutzt den Kairos!“ Biblische Grundlagen für ein christliches Leben aus der Kraft und Führung Gottes. In: Johannes Panhofer / Nikolaus Wandinger (Hg.), Kirche zwischen Reformstau und Revolution. Vorträge der 13. Innsbrucker Theologischen Sommertage 2012 (theologische trends 22). Innsbruck 2013, 53–87; online: http://theol.uibk.ac.at/itl/1006.html

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38 Vgl. Jesu sechsmalige Zusage einer Erhörung von Bitten, die im Namen Jesu erfolgen, in Joh 14,13.14; 15,7.16.23–26.

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39 Vgl. oben, Kap. 4.2, sowie   Willibald Sandler, Jesus Christus, Sieger über Teufel und Dämonen. Biblische Perspektiven für einen effektiven Widerstand gegen den Sog des Bösen, in: ders., Skizzen zur dramatischen Theologie: Erkundungen und Bewährungsproben, Freiburg, 163–216; online: http://theol.uibk.ac.at/itl/801.html

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40  Vgl. Willibald Sandler, Jesus Christus, Sieger über Teufel und Dämonen. Biblische Perspektiven für einen effektiven Widerstand gegen den Sog des Bösen, in: ders., Skizzen zur dramatischen Theologie: Erkundungen und Bewährungsproben, Freiburg 2012, 163–216, online: http://theol.uibk.ac.at/itl/801.html

 

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41 Vgl. dazu Willibald Sandler, Charismatisch, evangelikal und katholisch. Eine theologische Unterscheidung der Geister. Freiburg 2021, 261f.

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42 Vgl. oben, Kap. 2.3 zum Stolperstein oder „Skandalon“.

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