- Leseraum
| Die Perfektion der Innerweltlichkeit als gesellschaftlicher GötzeAutor: | Guggenberger Wilhelm |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | Auch die moderne Gesellschaft der Industrienationen ist nicht frei von religiösen Phänomenen. Die Grundthese dieses Artikels lautet: Moderne Götzen dienen dazu, dem Menschen die Last seiner Freiheit abzunehmen, die er sich im Prozess der Säkularisierung errungen hat. Diese Funktion erfüllen u.a. Strukturen und Mechanismen der Bürokratie und des Marktes. Eine Unterwerfung unter sie ist damit eine neue Form des Götzendienstes. |
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Publiziert in: | Andreas Vonach (Hg.), Die Götter kommen wieder. Religion -
Religiosität - Neue Götter. (theologische trends 9) Thaur
2001. |
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Datum: | 2001-10-15 |
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Inhalt1
| „Einst, als ihr Gott noch nicht kanntet, wart ihr Sklaven der Götter, die in Wirklichkeit keine sind. ... Warum wollt ihr von neuem ihre Sklaven werden?" (Gal. 4,8f)
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1917 hielt Max Weber, einer der Begründer der modernen Soziologie, in München vor Studenten einen Vortrag mit dem Titel „Wissenschaft als Beruf". In diesem Vortrag sprach Weber von der Entzauberung der Welt, ein für sein Denken kennzeichnender Begriff. Die moderne Welt ist nicht mehr die der Dämonen und Geister, sie ist nicht mehr durchweht von Magie und Mystik, sie ist vielmehr eine Welt in der der Intellekt regiert, eine Welt, die durch Wissenschaft und Technik rationalisiert ist. Das bedeutet nicht, so führt er aus, dass der einzelne mehr darüber wüsste, was in seiner Umwelt vorgeht, wie die Dinge funktionieren, mit denen er zu tun hat. Wie eine Trambahn hergestellt wird, das weiß ich nicht, sagt Weber, es genügt mir dass ich mich darauf verlassen kann, dass sie fährt. Das Faktum dieser praktischen Unwissenheit nimmt mit jeder weiteren technischen Errungenschaften sogar weiter zu. Müsste ich das Funktionieren des Computers, an dem ich arbeite, begreifen, um ihn bedienen zu können, ich könnte keinen Satz schreiben, geschweige denn einen Artikel ausarbeiten. Auf das konkrete Wissen und Verstehen im Einzelfall kommt es aber gar nicht an. Entscheidend ist nach Weber vielmehr das Wissen davon, oder auch nur der Glaube daran „: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe, ... dass man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnung beherrschen könne." (1) Genau das bedeutet Entzauberung der Welt. Nichts mehr braucht grundsätzlich als verborgen, entzogen und geheim zu gelten, alles ist uns zugänglich, steht unserem Wissen offen. Nach dem berühmt gewordenen Satz eines der ersten Wissenschaftstheoretiker der Neuzeit - Francis Bacon - ist Wissen Macht. Das bedeutet: Worüber wir Bescheid wissen, das machen wir uns früher oder später auch zunutze. Was wissbar ist, ist letztlich auch machbar.
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Gegen Ende des selben Vortrages weist Weber dann aber darauf hin, dass dort, wo es um praktische Stellungnahmen geht, das heißt um Entscheidungen ethischer Natur, um den Bereich des Sinnes unserer Existenz, es nach wie vor zugehe wie in der „alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt" (2). Ja er schreibt wörtlich: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." (3) Das Problem des modernen Menschen sei es aber gerade, diese Situation nicht ertragen zu können.
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Ein absurdes Bild, das sich uns hier bietet. Die entzauberte, rationalisierte Welt wird zum Kampfplatz der neuen, unpersönlichen Götter, und wir Menschen werden neuerlich zu Spielbällen ihrer Willkür. Am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends müssen wir noch immer, oder schon wieder Opfer darbringen: nicht mehr dem Zeus oder der Aphrodite, nicht mehr dem Wotan oder der Freya, wohl aber dem Sachzwang oder dem Systemerfordernis, ohne zu wissen, ob wir letztlich nicht doch selbst zu ihren Opfern werden. Eine absurde Situation; wie ist sie zu erklären? Dieser Frage spüren die folgenden Ausführungen nach.
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Um der aufgeworfenen Frage nachzugehen, wage ich einen Sprung zurück in die abendländische Geschichte. Aus der geschichtlichen Vergangenheit werden wir uns dann der Gegenwart wieder annähern, in der Hoffnung einige Beobachtungen und Hinweise aufgesammelt zu haben, die dazu beitragen können diese Gegenwart besser zu verstehen.
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Als Startpunkt wähle ich die Zeit vor etwa 500 Jahren. Darin liegt eine gewisse Willkür. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass sich in jener Epoche ein Umbruch ereignet hat, dessen Bedeutung für den weiteren Lauf der Dinge - zunächst in Europa, in wachsendem Maße aber weltweit - nicht groß genug veranschlagt werde kann. Dieser Umbruch ist in der Geschichtsschreibung als Wechsel vom Mittelalter zur Neuzeit bekannt.
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Einige Namen und Ereignisse sind unlösbar mit jenem Umbruch verknüpft. Die Entdeckung der Neuen Welt gilt als eines dieser Ereignisse, ja als Schlüsselereignis; 1492 damit als Wendepunkt der Weltgeschichte. Die Landung des Christobal Columbus in der Karibik ist freilich nur ein Schritt im Rahmen einer dynamischen Bewegung, in der Europa damals auf die Welt zuzugreifen begann. Die Entdeckung des Seeweges nach Indien und die erste geglückte Weltumsegelung waren weitere Schritte. Auch der Aufbruch der Naturwissenschaften und damit verbunden eine Vielzahl von Erfindungen und technischen Neuerungen gehören in diese Zeit. Die Erfindung des bis dahin in Europa unbekannten Magnetkompasses etwa ermöglichte die zahlreichen Entdeckungsfahrten erst. Das Schießpulver, ebenfalls neu in Europa, ebnete den Eroberern, die den Entdeckern folgten, den Weg. Und schließlich trug der Buchdruck dazu bei, dass die Nachrichten über das allenthalben entdeckte Neue rasch bekannt und weit verbreitet wurden.
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Wie jeder geschichtliche Umbruch, hat natürlich auch dieser einen langen Vorlauf. Historische Wirklichkeit besteht nicht aus einzelnen, isolierten Geschehnissen, sondern aus langen Handlungs- und Ereignisketten. Dennoch bricht sich - grob gesprochen um 1500 - ein gesellschaftlicher Impuls Bahn, der zuvor nicht in solcher Deutlichkeit sichtbar war. Kultureller Ausdruck dieses Aufbruches ist jene Bewegung, die Renaissance genannt wird. (4)
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Die Renaissancezeit war die Zeit der Widergeburt antiker Ideale, in der Kunst ebenso wie in der Philosophie. Die religiösen Rücksichten des Mittelalters sollten beiseite gelassen werden. Von einem antikirchlichen oder gar antichristlichen Kulturkampf war freilich noch keine Rede, aber Kunst und Wissenschaft wollten sich in ihrem jeweiligen Bereich aus der Autorität der Kirche und ihres Weltbildes befreien und so bisher unüberspringbare Schranken öffnen; was auch vielfach gelang.
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Der Mensch der Renaissance versteht sich als selbstbewusst und vernünftig. Er versteht es sein Leben in dieser Welt zu genießen und er versteht es, sich die Welt mittels neuer Technik zu unterwerfen. Die alten Traditionen und Ordnungen werden zurückgelassen, der Blick ist nun auf Zukunft gerichtet - auf eine diesseitige, nicht auf eine jenseitige Zukunft. Selbst der Wahlspruch Kaiser Karls V., des mächtigsten Herrschers jener Zeit, deutet in diese Richtung. Er lautet „Plus ultra": darüber hinaus, oder salopper formuliert: immer weiter.
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Die neuen Wissenschaften erschüttern das alte ptolemäische Weltbild, nach dem die Erde im Mittelpunkt des Universums stand. Die kirchliche Tradition hatte es als selbstverständlich erachtet, dass das der Mansch als gottähnlichstes Geschöpf im Zentrum des Kosmos stehen mußte. Kopernikus, Keppler und schließlich Galilei zeigten, dass es anderes ist. Die Erde bildet nicht das Zentrum des Universums, die Menschheit rückt ein Stück weit an dessen Rand. Das bedeutete durchaus eine Erschütterung des Selbstbewusstseins. Aber immerhin ist es die Menschheit selbst, die mit ihrem scharfen Geist dieses Faktum entdeckt hat und die es in mathematisch exakte Naturgesetze zu fassen vermag. Das mildert den Schock. Was benannt, ja sogar berechnet werden kann, hat bereits einiges an Bedrohlichkeit und Fremdheit verloren.
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Der Renaissancemensch begibt sich also auf den Weg der Entschlüsselung des Buches der Natur. Das Hauptinteresse wechselt von der rechten Interpretation der Offenbarungstexte hin zur rechten Interpretation der Schöpfung. Der Mensch der Renaissance ist nicht mehr so sehr der Horchende und Gehorchende, er ist vielmehr der Fragende und immer öfter auch der Antwortende.
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Ein anderer Aspekt des neuen Selbstbewusstseins zeigt sich am Aufstieg des Bürgertums. Der vierte Stand entwickelte sich mit der Bedeutung des Handels. Dieser hatte einen enormen Aufschwung durch das Silber aus Südamerika erhalten. Das christliche Abendland hatte erstmals genügend Edelmetall verfügbar, um ein umfassendes Geldsystem zu errichten. Parallel mit der Geldwirtschaft wächst das Bank- und Kreditwesen. Dadurch vermittelt erwirbt sich das Bürgertum sozialen Einfluss über seinen Reichtum. Von Handelsdynastien wie den Fuggern oder den Welsern waren selbst Könige und Kaiser finanziell abhängig. Das Selbstgeschaffene beginnt also auch hier über die alten Privilegien der Geburt, die als gottgegeben erachtet wurden, zu obsiegen.
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Markanten Ausdruck findet das neue Menschenbild jener Jahre in den Selbstportraits Albrecht Dürers. (5) Das 1500 in München entstandene Selbstbildnis im Pelzrock soll als Beispiel gewählt werden. Das Bild zeigt Kopf und Oberkörper des neunundzwanzigjährigen Künstlers. Bereits das Selbstbildnis als Genre ist ein kunstgeschichtlich neues Phänomen. Doch das Bild weist einige Besonderheiten auf, die es darüber hinaus beachtenswert machen. Ins Auge springt das große Monogramm Dürers, ein durch ein großes A nahezu umrahmtes D im linken oberen Bildquartal. Die Tatsache dass Bilder signiert werden, erscheint uns freilich als Selbstverständlichkeit. In der alten christliche Ikonographie, wie wohl auch in anderen religiösen Kunstformen, war aber weitestgehend auf Signaturen verzichtet worden. Der Maler der klassischen Ikone etwa steht ganz im Dienst des Dargestellten und tritt hinter dieses zurück in die Anonymität. Wichtiger allerdings als das Monogramm ist die Art der Darstellung. Nicht nur das Aussehen des Künstlers, der langes, gewelltes Haar und Vollbart trägt, sondern auch seine Haltung, seine würdevoller, strenger und direkter Blick, die Frontalansicht des Gesichts, all das war bislang typisch für Heiligen-, besonders für Christusdarstellungen gewesen. Dürer gleicht in diesem Gemälde geradezu einer Pantokratorfigur. Wie um diesen Eindruck noch zu steigern, weist er mit dem Finger auf sich selbst. Dieser Gestus verbirgt sich zwar ein Wenig - die Rechte hält vor der Brust den Pelzumhang geschlossen - ist aber doch deutlich zu erkennen, da der Zeigefinger in ansonsten nicht verständlicher Weise gestreckt und exponiert dargestellt ist. Der religiösen, mittelalterlichen Kunst war der Zeigegestus mit gestrecktem, überbetontem Finger durchaus geläufig. Der Zeigende war allerdings in den meisten Fällen Johannes der Täufer, der auf den verweist, dem er nicht würdig ist die Schuhriemen zu lösen. Eine der bekanntesten Variationen dieses Themas findet sich in der Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altares von Johannes Grünewald. Der christusgesichtige Renaissancemensch verweist nun allerdings auf sich selbst und keinen anderen. Deutlicher könnte menschliches Selbstbewusstsein wohl kaum zum Ausdruck gebracht werden.
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Alles bisher geschilderte ist lange her und auch weitgehend bekannt. Was hat es mit der Frage nach den neuen Göttern zu tun, die Max Weber am beginn des 20. Jahrhunderts entdecken zu können meint? Wir können wohl davon ausgehen, dass an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit das Aufkeimen einer gesellschaftlichen Entwicklung beobachtbar ist, die, durch die Ereignisse von Reformation und Gegenreformation etwas in den Hintergrund gedrängt, sich mit der Bewegung der Aufklärung vollends durchsetzen konnte und gesellschaftsprägend wurde bis in die Gegenwart herein. Diese Dynamik trug meines Erachtens von Anfang an den Keim der Wiedergeburt jener alten vielen Götter in sich, von denen Max Weber sprechen sollte.
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Selbstbewusstsein kennzeichnete jene Epoche - oder sollten wir es besser Selbstbehauptung nennen? (6) -, ein Selbstbewusstsein, das Motor des Aufbruchs und der Befreiung aus dem „dunklen" Mittelalter mit seinem geschlossenen Weltbild war. Mit dem Gewinn neuer Freiheit war allerdings der Verlust alter Sicherheiten verbunden. Die Strukturen des Mittelalters waren nicht nur starr, auch stabil, sein geschlossenes Weltbild auch geordnet und überschaubar.
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Zu einer solch verlässlichen Überschaubarkeit gehörten zweifellos die Tröstungen der Religion in einer an Gewalt, Krankheit und Not wahrlich nicht armen Welt. Der Tod war allgegenwärtig im Leben der Menschen: als Hungertod, als Kriegstod und besonders mit dem Auftreten der Pest als Tod durch Krankheit.(7) Die religiöse Hoffnung über den Tod hinaus blieb dabei vielfach die einzige Perspektive jenseits von Elend und Trostlosigkeit. Alle Not und auch der Tod selbst wurden dem biblischen Erbe gemäß in der gesamten mittelalterlichen Tradition als Folgen menschlichen Versagens, eben als Sold der Sünde verstanden. Im Zentrum der religiösen Hoffnung stand daher die Hoffnung auf Vergebung dieser Sünden. Denn nur sie konnte ein besseres Leben im Jenseits ermöglichen.
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Die Hoffnung über den Tod hinaus, auf ein solch besseres Leben war gleichsam das Geschenk des Christentums an eine Welt, die nach dem Untergang des römischen Imperiums recht orientierungs- und haltlos geworden war. Sie half den Menschen die Todesangst, die die späte Antike beherrschte, wie Paul Tillich meint, (8) zu bewältigen. Hoffnung aber ist nicht Wissen und Gewissheit. Die Kehrseite der Hoffnung bleibt daher die Angst, die sich immer dann Bahn bricht, wenn die Ungewissheit des Erhofften in den Vordergrund tritt und die positive Erwartung überwuchert. Die Kehrseite der christlichen Hoffnung über den Tod hinaus war damit die alte Angst im neuen Gewand. Wiederum nach Tillich, beginnt im späten Mittelalter die Angst vor der eigenen Schuld und deren Bestrafung, in zugespitzter Form Höllenangst, dominant zu werden. Ich will hier nicht näher auf dieses Phänomen und seine Auswüchse eingehen. Worauf es mir ankommt, ist es zu betonen, wie zentral das Thema des Scheiterns, des Versagens, der menschlichen Unzulänglichkeit gerade am Vorabend jener großen Zeitenwende war, die wir näher betrachten. Es spielte offenbar nicht nur in den Köpfen der Gebildeten eine entscheidende Rolle, sondern auch und gerade in der Volksfrömmigkeit und Volkskultur.
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Die Reformation etwa und ihr Ringen mit der römischen Kirche stellt das unter Beweis. Die Angst vor dem Bösen in Mensch und Welt war allgegenwärtig. Der Ablasshandel ist ein Beispiel dafür. Er versuchte dem Problem des Bösen im Menschen mit den neuen Mitteln der Geldwirtschaft zuleibe zu rücken. Ein anderes Beispiel ist der Hexenwahn. Er versuchte das Böse zu dämonisieren und auf einzelne Menschen, vor allem Frauen abzuschieben, um es mit ihnen stellvertretend zu vernichten. Die Scheiterhaufen vermochten aber nicht die Sünde als gesellschaftlich präsente Realität zu verbrennen. Luther spitzte die Frage des sittlichen und letztlich gesamtmenschlichen Scheiterns sogar noch zu. Immer wieder betont er mit Paulus und Augustinus die Sündhaftigkeit eines vom Teufel gerittenen Menschen, die keinerlei Verdienst oder Leistung auszugleichen vermag. Die einzige Rettung besteht nach reformatorischer Theologie, die inzwischen ja auch weitgehend von römischen Lehramt bestätigt wurde, im Glauben an die grundlose Gnade Gottes.
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Gerade die Glaubenskriege, die im Gefolge der Reformation Europa überzogen, trugen aber dazu bei, dass diese gnadentheologische Antwort auf die Angst vor der eigenen Schuld von den Menschen immer weniger angenommen wurde. Das Handeln der Kirchen hatte ihrer Glaubwürdigkeit ein schlechtes Zeugnis ausgestellt und damit ihre eigentliche Botschaft diskreditiert. Wenn die Glaubensantwort auf das menschliche Versagen aber immer mehr verblasste, so verschwand das Problem selbst damit freilich noch lange nicht. Die Angst, ja das Grauen vor der eigenen Schuld blieb Leben der Menschen präsent. Mehr noch, es scheint sich sogar immer tiefer festgefressen zu haben, scheint zur zentralen Frage des menschlichen Zusammenlebens geworden zu sein, auch und gerade dort, wo es nicht mehr unter dem Begriff der Sünde behandelt wurde.
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Die Spannung zwischen Selbstbewusstsein, ja Selbstbehauptung gerade auf wissenschaftlich-technischem Gebiet auf der einen Seite und dem Bewusstsein der eigenen Hinfälligkeit im ethischen Bereich - nennen wir es ruhig Schuldbewusstsein - auf der anderen Seite, kommt gerade im sozialphilosophischen und gesellschaftspolitischen Denken der frühen Neuzeit zum Tragen. Das Menschenbild einer Reihe von Denkern jener Jahre erweist sich als ausgesprochen pessimistisch. Erinnert sei hier nur an zwei unter ihnen, die klingende Namen tragen: an den Florentiner Staatsmann und Schriftsteller Niccolo Machiavelli (1469-1527) und den geistesgeschichtlich sehr einflussreichen gewordenen, politischen Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) aus England.
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Wie, so fragen sich beide, ist eine Ordnung der Gesellschaft, ein Zusammenleben ohne Chaos überhaupt möglich, angesichts der sittlich so überaus unzulänglichen menschlichen Natur?
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Machiavelli setzt dabei auf eine geschickte politische Führung durch den Fürsten. Dieser muss sich dessen bewusst sein, so betont er, dass die Menschen böse und unzuverlässig seien. Es lässt sich von ihnen „... nur Schlechtes erwarten, wenn sie nicht zum Guten gezwungen sind." (9) Sein politischer Ratgeber „Il principe" ist letztlich nichts anderes als eine Hilfestellung dafür, wie man aus nahezu unbrauchbarem (Menschen-) Material dennoch einen brauchbaren, das heißt stabilen und mächtigen Staat formen könne, wobei er im Grunde die Methode von Zuckerbrot und Peitsche (10) variiert.
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Dass der Mensch böse ist, wird im Grunde auch von Hobbes bestätigt. Allerdings fasst er seine Beobachtungen gar nicht mehr in eine derart wertend-moralische Sprache. Er konstatiert vielmehr einfach, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, weil jeder, gierig auf seinen eigenen Vorteil bedacht, die Gier der anderen fürchte und so schließlich jeder mit jedem in Krieg gerate. (11) Auch bei ihm stellt sich die Frage, wie wir angesichts dessen überhaupt miteinander zu leben vermögen. Aus reinem Überlebensinteresse, aus Angst um sich selbst, so meint er, wären die Menschen bereit, sich einer politischen Macht zu unterwerfen. Diese Staatsmacht könne dann Ordnung schaffen, müsse aber mit eiserner Faust herrschen, um das Wolfsrudel des Staatsvolkes im Zaum zu halten. Wir bedürfen also der politischen Gewalt, damit sie uns vor der Selbstvernichtung bewahre.
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Die Linie ließe sich weiterziehen. Es dürfte aber deutlich geworden sein, wie wenig optimistisch das Menschenbild bedeutender Köpfe der frühen Neuzeit war, wenig optimistisch zumindest was die ethische Qualität der Krone der Schöpfung betrifft.
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Freilich läßt sich auch eine optimistischere Denktradition nachzeichnen. Die pessimistisch-triste kann kein Monopol für sich beanspruchen; es gibt auch eine hoffnungsvollere, geradezu idealistische Sicht der Dinge. Um nur grobe Eckpunkte zu nennen, lasst sich hier der Bogen von Immanuel Kant bis Jürgen Habermas spannen. Bei alle Sympathie und Bewunderung für die Zielsetzungen dieser Autoren, muss freilich angemerkt werden, dass sie die das menschliche Wesen nicht selten in massiver Weise beschneiden. Der Mensch wird dann auf seine Rationalität und Vernünftigkeit zurückgestutzt, alles Emotionale und Leidenschaftliche muss amputiert werden, da nur auf dieser doch reichlich sterilen Grundlage die hohen ethischen Ideale erreichbar scheinen. Die formulierten Ideale und Ziele einer Menschheit, die mit ihren Konflikten gewaltfrei und besonnen umzugehen vermag, sollen keineswegs in Frage gestellt werden, die Frage bleibt allerdings, ob die Suche nach einem Weg dort hin mit realistischen Annahmen über die gegebene Situation beginnt. Oder um es in biblischer Sprache zu formulieren: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und holt dieses Gebot herunter? (Vgl. Dtn 30,12)
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Wie kann die Geschichte einer vaterlos gewordenen Menschheit, die immer mehr an ihrer eigenen Unzulänglichkeit leidet, nun aber weitergehen? Die Bewältigung menschlicher Fragwürdigkeit durch politische Gewalten, wie Macchiavelli und Hobbes es vorgeschlagen hatten, stellte auf Dauer kein tragfähiges Konzept dar. Dieser Weg war für gebildete, aufgeklärte, zusehends unabhängiger werdende Bürger nur schwer zu akzeptieren. Sollte man sich die Befreiung aus einem geschlossenen, transzendenzorientierten Weltbild tatsächlich bloß errungen haben, um sich postwendend den Zwängen eines tyrannischen Fürsten oder autoritären Staates zu unterwerfen? Aus solcher Untertänigkeit befreite eine Reihe von Revolutionswellen, bis hinein in das 20. Jhd. Mit dem Geschenk der Freiheit, das auf diesem Weg immer mehr Menschen zuteil wurde, kamen freilich auch die letzten gesellschaftstranszendenten Normen ins Wanken. Auch die Staatsmacht ist nun nicht mehr Herr der Gesellschaft, sondern nur noch deren Werkzeug - glücklicherweise, werden wir hinzufügen. Allerdings: An keinerlei Oben mehr orientiert, nur noch an sich selbst, das heißt aneinander, werden wir einander auch endgültig zur größten Gefahr. Der Schweizer Soziologe Peter Gross formuliert diese Situation in einem, dem Theater entlehnten Bild, wenn er schreibt: „Um Achtzehnhundert betritt das Subjekt nicht die Bühne der Weltgeschichte, sondern drängt sich von der Hinter- auf die ungeschützte Vorderbühne: Seht mich, ich bin ich. Auf dieser himmellosen, nicht mehr dem Auge Gottes, sondern den messenden Blicken der anderen ausgesetzten Vorderbühne strampelt es sich nun ab, peinigt sich selbst und kann nicht verschwinden." (12) So weit sind wir nun: Wir haben uns befreit und nun müssen wir selbst mit uns fertig werden und werden uns nicht mehr los, können nicht verschwinden. Vielleicht ja doch?!
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Gerade in jenem 18. Jhd., das Gross anspricht, beginnt sich nämlich eine neue Lösung unseres Problems abzuzeichnen, die eben mit dem Verschwinden des menschlichen Subjekts operiert. 1714 erschien in England ein Text eines gewissen Bernard De Mandeville mit dem Titel die Bienenfabel. Dieser Text enthielt eine Art Lehrgedicht mit erläuterndem Anhang. Die einzelnen Menschen, so auch dieser Text, streben nur nach ihrer Selbsterhaltung und ihrem Vorteil, im besten Fall nach Anerkennung und Lob. Wenn aber ein Gemeinwesen sich das zunutze zu machen versteht, so kann es nach dem Modell des Insektenstaates geradezu perfekt funktionieren, ohne - das ist der wesentliche Punkt - dass an der egoistischen Natur der Menschen sich etwas zu ändern bräuchte. Den entscheidenden Gedanken seiner Ausführungen formuliert Mandeville prägnant und konzentriert bereits im Untertitel der Bienenfabel. Dieser Lautet: „Private Vices, Public Benefits", zu deutsch etwa: „Private Laster, öffentlicher Nutzen" Zwischen den beiden Begriffspaaren ist dabei ein Gleichheitszeichen, so dass wir lesen müssen: Private Laster führen zu öffentlichem Nutzen. (13) Mandeville würde die ironische Frage des Apostels Paulus ob wir denn Böses tun sollen, damit Gutes entsteht (Röm 3,8), demnach wohl mit ja beantwortet haben.
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Über diesen Gedanken gab es zur Zeit seiner Veröffentlichung reichlich moralische Empörung. Nichts desto weniger prägte er letztlich aber das Denken eines andern Mannes, dessen Werk bis heute größtes Ansehen genießt.
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Gemeint ist Adam Smith. Smith gilt wohl zu Recht als Gründervater der modernen Volkswirtschaftslehre. Sein Buch über den Wohlstand der Nationen ist nach wie vor ein Klassiker, um den kein Ökonom herumkommt. Adam Smith kritisiert Mandevilles Insektengleichnis zwar, formuliert in seinen eigenen Schriften aber den berühmt gewordenen Gedanken der „unsichtbaren Hand", der letztlich nicht weit von „Private Vices, Public Benefits" entfernt ist. Diese unsichtbare Hand ist vor allem die Hand des Marktes, die Kraft, die hinter dem wirtschaftlichen Geschehen waltet und dieses formt, lässt man sie nur gewähren.
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Nun war Smith nicht primär Wirtschaftswissenschafter, sondern Moralphilosoph, dessen zentrale Anliegen ethischer Natur waren. Auch er fragt sich, wie denn mehrheitlich egoistische, eitle, selten vernünftig agierende Wesen in positiver Weise zusammenleben können. Um diese Frage beantworten zu können, setzt seine Hoffnung auf einen naturgegebenen, apersonalen Automatismus, der - man erkennt die Parallele zu Mandeville - aus negativen Einzelelementen ein positives Ganzes zu formen vermag. "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Bauerns oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an die Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, ..." (14) lautet eines der bekanntesten Zitate aus dem Wohlstand der Nationen. Nicht Wohlwollen, sondern Eigennutz befördert den Wohlstand des gesamten Volkes. Der Automatismus, der dies leistet ist eben jene unsichtbare Hand, von der Smith erstmals in seinem großen ethischen Werk über die Moralischen Gefühle schreibt. Dort meint er hinsichtlich des Einsatzes des Bürgers für seinen Staat: „ ... er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das schlechteste, dass der einzelne ein solches Ziel nicht bewusst anstrebt, ja, gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun." (15) Dass das so ist, verdanken wir nach Smith der "wohlwollenden Weisheit der Natur" (16) . Der Egoismus des Individuums führt also nicht mehr zum Krieg aller gegen alle, er lässt die Gemeinschaft nicht zerbrechen, vernichtet nicht alles, was dem Gemeinwohl dient, nein, er bewirkt gerade das Gegenteil. Dass jeder sein Eigeninteresse verfolgt, verwirklicht erst das Gemeinwohl. Zumindest gilt das für und seit Smith im Bereich der Wirtschaft. Ökonomischer Wohlstand für alle ist aber - darüber dürfte in der modernen Wirtschaftswissenschaft weitgehend Konsens bestehen, nicht nur ein angenehmer Luxus, er sichert darüber hinaus auch das friedliche Zusammenleben. Denn wenn alle materiell abgesichert sind, ist zumindest eine sehr bedeutsame Ursache für Streit und Konflikt aus der Welt geschafft. Die Gesetzmäßigkeiten der von einer Unsichtbaren Hand gesteuerten Ökonomie erscheinen so geradezu als die Normen einer besseren, weil wirksamen Ethik.(17)
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Die Weisheit der Natur, die es versteht aus Egoisten eine harmonische Gesellschaft zu schmieden, hat bei Smith noch einen Schöpfergott im Hintergrund. Die unsichtbare Hand ist Teil seines Weltplanes. Auch wenn dieser Gott sehr fern und im konkreten Leben der Menschen kaum präsent ist; es gibt ihn immerhin noch. Zeitgenössische Sozialwissenschafter sehen darin einen (faulen) Kompromiss der Moderne mit den Restbeständen alter, überholter Religiosität.(18)
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Der aus Österreich stammende Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft von 1974 F.A von Hayek macht sich frei von solchen Kompromissen. Die Grundgedanken von Smith übernimmt er, den Schöpfergott als eigentlich Kraft hinter der unsichtbaren Hand aber streicht er völlig, da er verzichtbar erscheint. Nicht etwa, dass Hayek mehr vom Menschen erwarten würde und deshalb keinen „Trick", keinen Mechanismus bräuchte, der das Negative zum Positiven, das Schlechte zum Guten wendet. Ganz im Gegenteil; er ersetzt allerdings Gott durch Evolution. Das geschieht sogar gleichsam rückwirkend auch im Hinblick auf Smith, wenn wir über dessen Ansatz bei Hayek lesen: „Zum ersten mal wurde gezeigt, dass eine öffentliche Ordnung, die nicht das Produkt einer planenden menschlichen Vernunft war, deshalb nicht einem höheren übernatürlichen Geist zugeschrieben werden muss, sondern, dass es eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich das Entstehen einer Ordnung als Ergebnis anpassender Entwicklung." (19) Auf diese dritte Möglichkeit der Ordnung der Gesellschaft, die sich weder auf den Menschen verlässt (der für Hayek nicht nur ethisch unzuverlässig, sondern auch von sehr beschränkter Erkenntniskraft ist), noch eines transzendenten Wesens bedarf, wird nun gesetzt. Sie besteht darin, dass sich gesellschaftsdienliche Ordnungsmodelle spontan entwickeln und im Wettbewerb mit anderen Modellen als überlebensfähiger erweisen. Was sich durchsetzt, kann getrost als das beste gelten, auf jeden Fall als besser denn alles, was stets bornierte Menschen mit Absicht planend zuwegezubringen vermöchten. Dies gilt nun übrigens nicht mehr nur für das Wirtschaftsgeschehen. Hayek weiten das Modell durchaus auf die Bereiche der Politik, der Wissenschaft und letztlich der Moral aus.
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Wir haben damit kein ethisches Problem mehr. Schuldangst ist kein Thema mehr. Wir haben kein ethisches Problem mehr, auch wenn die Menschen als Individuen ‚Sünder' bleiben. Verhaltensänderung, Gesinnungsänderung, Umkehr erübrigen sich. Dieses Wunder der Befreiung aus unserem Versagen - als solches muss er wohl erscheinen - bewirkt kein Messias, sondern der soziale Mechanismus des Marktes. (20) Lassen wir ihm freien Lauf und fördern wir ihn, wo es geht, so ist uns der Himmel ganz nahe; zumindest aber sind wir jener Hölle entkommen, die wir einander sind.
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Sind wir nun nach langem Weg durch die abendländische Geschichte endlich am Ziel unserer Träume angelangt: bei einem Selbstbewusstsein, das nicht permanent durch Schuldbewusstsein in Frage gestellt wird?
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Das möchten wir nur allzu gerne glauben. Angesichts ökologischer Krisen, humanitärer Krisen, angesichts von Wert- und Sinnkrisen entpuppt sich was als Selbstbewusstsein bezeichnet wurde (die Tendenz zur Autonomie), aber immer deutlicher als Gestalt der Verzweiflung. S. Kierkegaards sie beschrieben hat. Wenn ein Geschöpf Gottes, so der dänische Philosoph, mit aller Kraft es selbst sein will, in Unabhängigkeit von seinem Schöpfer, gerät es unweigerlich in den Wiederspruch, sich gerade im Selbstseinwollen selbst loswerden zu müssen, also nicht es selbst sein zu wollen, sofern es nämlich Geschöpf, d.h. unvollkommen und fehlerhaft ist. Auf den Versuch einer Befreiung von Gott folgt daher geradezu zwingend der Versuch einer Befreiung des Menschen von sich selbst. Selbstbehauptung und Selbstverneinung fallen auf merkwürdige Weise ineins. Nochmals sei Peter Gross zitiert, der über die Selbstfindungs- und Selbsterhaltungsversuche des modernen Ich schreibt: „Je verzweifelter es in sich dringt, sich in sich hineinschraubt, desto ferner wird es sich. Desto weiter entfernt sich jenes kompakte, unteilbare, selbstidentische, gralsähnliche Superich, von dem so hoffnungsvoll und ausschweifend in den Identitätstheorien und Selbstverwirklichungsträumen die Rede ist. Erlöst sich das Ich? Wird Ich sich, sein wahres Ich finden und irgendwann sagen können (wie Gott) ‚Ich bin der ich bin!' Oder ist das Unabhängigkeitsjahrhundert des Ich, mehr denn je eine Geschichte der Selbstverängstigung und Selbstverzweiflung?" (21)
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Selbstverängstigung, das ist wohl das Erschrecken vor der Möglichkeit wechselseitiger Selbstvernichtung der menschlichen Möchtegern-Götter. Wenn jedes Individuum sein eigener Gott, jeder Lebensentwurf eine eigene Religion ist, dann ist der Widerstreit der Götter erwartbar und nichts anderes als der Krieg alle gegen alle, in dem jeder das Opfer seines Nächsten wird. (22) Die Selbstverzweiflung, von der Gross spricht ist aber wohl nichts anderes als die Unterwerfung unter anonyme Strukturen, Systeme und Mechanismen, die als so viel weiser und vor allem effizienter als das planende Gestalten der Menschen erscheinen. Wir unterwerfen uns, um der fortlaufenden Perfektionierung sozialer Mächte und Gewalten nicht im Wege zu stehen, denn nur ihr Funktionieren verspricht uns noch eine Erlösung aus unserer Selbstverängstigung, nur ihr Funktionieren scheint noch Gewähr dafür zu sein, dass aus Menschen, die einander Wolf sind, eine friedvolle Gesellschaft wird, in der für das Wohl aller gesorgt ist. Die Unterwerfung unter die Sachzwänge der modernen Welt ist nichts anderes als die Folge der Angst vor unserer eigenen Freiheit oder anders formuliert; Folge der Angst vor uns selbst, sobald wir uns „frei" gemacht haben.
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Es mag offensichtlich sein, dass sich die modernen Menschen zusehends von Gott losgelöst haben, losgekettet, wie F. Nietzsche es ausgedrückt hat. Es mag auch offensichtlich sein, dass wir heute in wachsendem Maße unter der Macht anonymer, unpersönlicher Mächte und Strukturen stehen, dass wir die Knechte dessen geworden sind, was wir gern als Sachzwang bezeichnen - auch um uns selbst zu entschuldigen. Dass aber diese beiden Dinge aufs engste miteinander verknüpft sind, ja letztlich nur zwei Seiten ein und des selben Prozesses darstellen, ist nun gar nicht so leicht zu erkennen. Nur wenn man diesen Zusammenhang herstellt, wird aber die religiöse Dimension der modernen, technisierten, angeblich so rationalen Welt erkennbar. Nur vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs wird die Relevanz der Gottesfrage für die Gegenwart überhaupt in ihrer gesamten Tragweite, die nicht unterschätzt werden sollte, sichtbar. Die Texte der heilige Schrift schärfen den Blick dafür. Sie schildern uns ähnliche Prozesse wie den hier beschriebenen. Auch wenn deren Zeitumstände gänzlich andere sind, gleichen sie in ihrem Gehalt der Dynamik der Moderne. Wo immer Menschen sich vom lebendigen Gott entfernen, werden sie alsbald Opfer dunkler Mächte. Die biblischen Autoren entlarven diesen Vorgang als die Dramatik des Götzendienstes; diesem verfällt der Mensch ohne Gott geradezu automatisch.
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Aber sind die neuen, alten Götter des sozialen Systems tatsächlich Götzen im Sinne der Bibel? Ist eine Warnung vor ihnen zumindest aus der Perspektive des Glaubens gerechtfertigt und nicht bloßes Ressentiment? Und wenn ja, welche Relevanz besitz die theologische Warnung vor dem Götzen im Feld einer pluralen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Weltanschauungen? Vermag sie mehr zu sein als der eifersüchtig verteidigte Einzigartigkeitsanspruch einer partikulären Religion? Diesen Fragen sei abschließend nachgegangen. Um sie zu beantworten ist zunächst ein Blick auf den Gehalt der biblischen Rede von den Götzen zu werfen, der historische Besonderheiten überdauernde Geltung hat.
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Was sagt uns die Schrift über das Wesen der Götzen? Generell gilt: Götzendienst ist die knechtische Unterwerfung unter Realitäten, die wir selbst erzeugt haben. Die großen Propheten Israels haben das in unnachahmlicher Weise beschrieben. Da lesen wir etwa, dass ein Mensch einen Baum im Wald aussucht, ihn fällt, einen Teil davon zu Brennholz verarbeiten um Essen zu kochen und sich zu wärmen und schließlich aus dem für alles andere unbrauchbaren Rest ein Götterstandbild schnitzt, vor dem er sich zu Boden wirft und es anbetet. (Jes 44,9-20. Weish 13,10-14.21) Die Spitze erreicht die sarkastische Götzenkritik dort, wo etwa Jeremia die Beschreibung der Herstellung eines Götterbildes mit der Bemerkung schließt: „Mit Nagel und Hammer macht man es fest, so dass es nicht wackelt." (Jer 10,4) Die Ironie, die in diesen Texten liegt, soll aber nicht dazu verleiten den Ernst der Sache zu unterschätzen. Lustig über die Götzen kann sich der machen, der im Glauben an den lebendigen Gott feststeht, der also gleichsam von außen auf die Idolatrie blickt. Die Innenperspektive ist eine völlig andere, denn sie präsentiert die Götzen eben als reale, wirkmächtige Götter, die ihren Tribut fordern. Diese Situation ist bar jeder Harmlosigkeit. Das tote Holz wird von seinem Schöpfer mit einer Macht ausgestattet, die ihn schließlich selbst unterjocht.
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Freilich erweist sich diese Macht aus objektiver Perspektive als Illusion. Wenn es darauf ankommt, kann der Götze nicht helfen, entpuppt sich vielmehr selbst als Last. Bei Deuterojesaja wird unzweideutig das Urteil Jahwes über die Götter des von Persien bedrohten Babylon gefällt: „Babels Götter werden auf Tiere geladen. Eine Last seid ihr, eine aufgebürdete Last für das ermüdete Vieh. Die Tiere krümmen sich und brechen zusammen, sie können die Last nicht retten, sie müssen selbst mit in die Gefangenschaft ziehen. Hört auf mich, ihr vom Haus Jakob, und ihr alle, die vom Haus Israel noch übrig sind, die mir aufgebürdet sind vom Mutterleib an, die von mir getragen wurden, seit sie den Schoß ihrer Mutter verließen." (Jes 46, 1-3) Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Gott und Götze ist überdeutlich. Die Frage ist, ob die verehrte Gottheit im Krisenfall niederdrückt oder aufrichtet, ob sie bei Licht besehen dem Menschlichen zum Ballast oder zur Stütze wird. Was zum einen ein Produkt menschlichen Handelns ist, zum anderen aber tatsächlich Herrschaft ausübt, was objektiv betrachtet ein Nichts, aus der Perspektive derer, die ihm Dienen, aber eine unentrinnbare Macht darstellt. Unterscheidet sich vom Gott der Bibel dadurch, dass seine Anhänger letztlich selbst zu seinen Opfern werden.
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Vergleichen wir diesen Kurzbefund mit der modernen Situation: Es lässt sich wohl kaum leugnen, dass wir selbst verursacht haben, was uns nun in einem komplexen sozialen System als fremde Macht - faszinierend und erschreckend zugleich - entgegentritt. Ohne menschliches Entscheiden und Handeln würden die Systeme der modernen Welt keinen Tag überdauern. Der Markt etwa, auch wenn wir noch so oft von seinen Zwängen sprechen, wird beständig vom Handeln der Produzenten und Konsumenten in Gang gehalten. Das erste Kriterium für einen Götzen ist also erfüllt.
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Auch für das zweite Kriterium gibt es Belege. Die Zwangsgewalt des Sachzwangs ist real? Niemand kann einfach aus den Strukturen, die ihn umgeben, aussteigen; derlei zu fordern wäre blauäugig und unrealistisch, ja letztlich zynisch, weil es die historische Bedingtheit des Menschen von einer lebensfernen Beobachterposition her leugnen würde. Die unpersönlichen, anonymen Mächte und Gewalten unserer Welt verfügen über ihre Wirkmacht aber nur , weil menschliches Tun sie damit ausgestattet hat. Sie schöpfen ihre Kraft aus unseren eigenen dunklen Seiten, die wir nicht sehnen können, nicht sehen wollen, bleiben wir mit ihnen allein. Dieses Dunkle, das, was die Theologie Sünde nennt, ist es, was uns nun gegenübersteht, als unüberwindliche Gewalt. Was in uns ist, erscheint als vor uns stehend. Unabhängig, aber unfähig mit uns selbst fertig zu werden, verbannen wir einen Teil unseres Selbst in die Welt der Dinge in der Hoffnung, dass es dort verwandelt werde, doch hat, was wir an uns selbst verleugnen, die Welt verwandelt. Gestalten und Erleiden, verursachendes Tun und hilfloses Ausgeliefertsein sind derart komplex und nahezu unentflechtbar miteinander verknüpft. (23) So kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es Strukturen in unserer Welt gibt, bei denen es sich tatsächlich um Götzen in dem Sinn handelt, dass gemachte Realitäten sich verselbständigt haben und nun ihr Eigenleben führen.
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Entsprechen diese aber auch dem dritten, zentralen biblischen Kriterium? Sind die unpersönlich-entzauberten Mächte und Gewalten der modernen Welt tatsächlich bedrohlich, das heißt als Last zu interpretieren? Sind sie nicht vielmehr segenbringend, da sie doch viele Probleme zu lösen oder zumindest zu mildern vermögen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob die Rede von Götzen überhaupt gesellschaftliche Relevanz besitzt und nicht lediglich Reflex der Selbstverteidigung einer in die Jahre gekommenen, kraftlos gewordenen Religion ist.
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Unbestritten sind die zahlreichen positiven Effekte der Mächte und Gewalten der modernen Welt. Sie hier anzuführen erübrigt sich, werden sie doch fortwährend medial gefeiert und individuell genossen. Treten wir aber einen Schritt zurück aus dem Trubel der Erfolgsstory der neuzeitlichen Geschichte und Werfen wir einen besonnenen Blick auf die Dynamik, in die wir uns von ihr hineinführen lassen. Dazu greife ich zunächst nochmals Max Weber auf, der uns ja darauf aufmerksam gemacht hat, dass auch die entzauberte, rationale Welt von widerstreitenden Göttern gekennzeichnet ist, die Gewalt über den Menschen begehren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Weber diese Götter nicht trotz, sondern aufgrund der modernen Sozialstrukturen wiedererstehen sieht. Ein von ihm sehr eingehend untersuchtes Element der Entzauberung ist Bürokratie. Wo sie dominiert, herrscht Ordnung und tritt gerechtigkeit ein. Das liegt primär daran, dass bürokratische Strukturen sine ira et studio agieren, ohne Liebe, aber eben auch ohne Hass und Parteilichkeit, wie Weber betont. (24) Sie tragen freilich den Makel der seelenlosen Mühle an sich, ihr Verwalten hat der Politik engagierter Akteure aber doch auch ein großes Maß an Stabilität, Verlässlichkeit und Friedlichkeit voraus, das nicht nur einengt sondern auch beruhigt. Damit sind an sich erstrebenswerte Ziele erreicht. Allerdings, so hält Weber fest, sind wir damit auch in eine Situation geraten, die er als „stahlhartes Gehäuse" (25) bezeichnet, aus dem der Geist des lebendig Menschlichen bereits vollends entwichen sei.
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Ähnliche ambivalente Kräfte sieht Weber auch im modernen Wirtschaftsgeschehen am Werk, was für die Gegenwart wohl aktueller und bedeutsamer sein dürfte. So schreibt er etwa: „Rationale Wirtschaft ist sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, ... Geld ist das Abstrakteste und ‚Unpersönlichste', was es im Menschenleben gibt. Der Kosmos der modernen, rationalen, kapitalistischen Wirtschaft wurde daher, je mehr er seinen immanenten Eigengesetzlichkeiten folgte, desto unzugänglicher jeglicher denkbaren Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik. Und zwar immer mehr, je rationaler und damit unpersönlicher er wurde. Denn man konnte zwar die persönlichen Beziehung zwischen Herren und Sklaven ethisch restlos regulieren, eben weil sie persönlich war. Nicht aber - wenigstens nicht im gleichen Sinn und mit dem gleichen Erfolg - die zwischen den wechselnden Inhabern von Pfandbriefen und den ihnen unbekannten und ebenfalls wechselnden Schuldnern der Hypothekenbank, zwischen denen keinerlei persönliches Band bestand." (26) Was uns bei Adam Smith und Friedrich A. von Hayek als Entlastung von ethischen Problemen durch das Marktgeschehen gegenübertrat, erhält bei Weber einen ganz anderen, im Grunde aber kaum überraschenden Akzent. Eine geldzentrierte, durch sachliche Strukturen dominierte Wirtschaft bedeutet zwar Befriedung der Beziehungen, (27) sie bedeutet aber auch Entpersonalisierung und Anonymisierung. Sie erübrigt ethische Entscheidung, verunmöglicht sie letztlich aber auch und beraubt uns damit der Fähigkeit Verantwortung für unser Tun und seine Folgen zu übernehmen. „Sachzwangdenken dominiert und bringt den ökonomischen ‚Laien' zum Schweigen - nicht immer, aber immer öfter."(28) Wobei als Laie in diesem Kontext jeder gilt, der nicht die sakrale Sprache der Bilanzen spricht und nicht von Amts wegen am Sakrament des Wachstums mitwirkt.
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Die hier angedeutete Entwicklung läuft auf eine Situation zu, die Niklas Luhmann, einer der einflussreichsten deutschsprachigen Soziologen der vergangenen Jahrzehnte, mit der trockenen Feststellung charakterisiert, dass der Mensch nur noch in der Umwelt der gesellschaftlichen Systeme seinen Platz habe, während diese längst „autopoietisch" nach ihren eigenen Regeln und Strukturen funktionieren.(29) Das Bild vom humanen Steuermann des Sozialen ist damit obsolet, folglich aber auch das Ideal, dass der Mensch Träger und Schöpfer aller gesellschaftlichen Einrichtungen zu sein hat.(30) Gerade die Randständigkeit des Humanen macht die Gesellschaft als solche aber friedlicher. Eben dadurch, dass sich Menschen nicht mehr als Personen, sondern lediglich in diversen Rollen, die nie ihre Gesamtheit erfassen, sondern lediglich diverse Funktionselemente, in den Gesellschaftlichen Mechanismen wiederfinden, werden Konflikte vermieden. (31) Denn betroffen ist immer nur ein Aspekt von mir, niemals ich selbst in meiner menschlichen Einheit.
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Evolutionärer Eigengesetzlichkeit unterworfen und daher unsteuerbar für den Menschen präsentiert sich heute neben dem ökonomischen Markt in zunehmendem Maße auch der eng verflochtene Komplex von Wissenschaft und Technik. In ihm wird mit Eifer nicht nur an der Behebung von Mängeln gearbeitet, die uns von der Natur auferlegt sind, wie etwa Krankheiten, ja selbst die Sterblichkeit. Auch Übel, die menschlicher Freiheit entspringen, sollen durch die Erfolge einer Forschung, die in sich geschlossen von Erfolg zu Erfolg jagt, beseitigt werden. Um dieses Thema kreiste etwa die 1999 aufgeflammte Debatte um den Vorschlag des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk, die immer wieder gescheiterte Erziehung des Menschengeschlechts hin zum Besseren, durch eine gentechnische Korrektur zu ersetzen. Die Aufregung rund um diesen Vorschlag war enorm, was allerdings nichts daran ändert, dass in wissenschaftlichen Labors und Forschungsabteilungen potenter Firmen eifrig weiter an Projekten gearbeitet wird, die durchaus in diese Richtung weisen. (32) Ergebnis einer solchen Entwicklung könnte eine radikale Umformung bislang als unveränderlich geltender menschlicher Lebensgrundlagen sein, was bedeuten könnte, dass die Spezies Mensch sich durch „gentechnologisch veränderte, genormte und nach Programmen differenzierte humanoide Lebewesen" (33) ersetzt.
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Die Strukturen der modernen Gesellschaft gleicht bereits heute einem evolutionär sich fortentwickelnden Organismus, von dem wir als Menschen abhängen, über dessen weiten Werdegang wir aber kaum noch etwas vermögen. Ein besonders augenfälliges Symptom dafür stellt die schwindende Handlungsfähigkeit des politischen Systems dar, das immer häufiger zur bloßen medialen Inszenierung gerät. Die Erwartungen an Politik, was die Lenkung der Gesamtgesellschaft betrifft, können vielfach nicht mehr erfüllt werden. Dies mag in immer wieder aufbrechenden Krisensituationen beklagt werden, andererseits aber besteht durchaus die Tendenz, es zu begrüßen, dass das Zentrum sozialer Aktivität vom Bereich der konfliktiven Politik sukzessive in den Bereich eines Reichtümer aussäenden Marktes überwechselt. (34) Gerade angesichts seiner Vitalität und Leistungsfähigkeit möchte man wohl meinen es mit einem wahren Gott zu tun zu haben, dem wir uns getrost anvertrauen können. Ist uns durch ihn nicht wirklich die Last unseres Versagens abgenommen? Oder konkreter gefragt: Lässt sich das Problem von Armut und Not, die immer wieder Quelle von Streit und Gewalt sind, nicht durch fortwährendes Wachstum besser lösen, als durch die müßige Ermahnung an die Satten, mit den Hungernden zu teilen? Haben wir mit dem alten Gott der Transzendenz und seinen Geboten also wirklich etwas verloren? Was hat dieser Gott den selbstgemachten Göttern voraus, wenn diese doch auch, ja sogar verlässlicher Heil schaffen?
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Der Blick auf die Motive die hinter der von mir skizzierten geschichtlichen Entwicklung aufleuchten, sollte sensibel für den Preis machen, den wir für das Heilsangebot der neuen Götter zu bezahlen haben, und hellsichtig für ihre Opfer. Das Problem dem wir im Zuge dieser Ausführungen immer wieder begegnet sind, ist die menschliche Unzulänglichkeit und die daraus resultierenden, zum Teil desaströsen Konflikte. Um die Lösung dieses Problems dreht sich letztlich alles. Die funkelnden Systemgötter bringen uns einer solchen nahe. Dafür sind freilich Opfer auf ihren Altären darzubringen - das wird selten völlig geleugnet. Allerdings - so wird häufig eingewandt - handelt es sich dabei lediglich um Reibungsverluste, die bedauerlicherweise aber unvermeidlich überall entstehen, wo Bewegung ist; um Fehler, an deren Minimierung gearbeitet wird; um einzelne Haare, durch die man sich doch nicht die köstliche Suppe verderben lassen möge. Handelt es sich beim Preis für die systemische Lösung unseres Problems aber tatsächlich nur um kleine Übel, die angesichts des gewonnenen Gutes leicht zu verschmerzen sind?
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Bei Licht betrachtet geht es wohl um unendlich viel mehr. Das Opfer, das wir auf den Altären der neuen Götter verselbständigter Sachgesetzlichkeiten darbringen, ist nicht irgendeine Nebensächlichkeit, es ist unsere Menschlichkeit. So opfern wir, um der fortschreitenden Perfektionierung ausdifferenzierter Spezialbereiche nicht im Wege zu stehen, unsere Integrität, die den wiederstreitenden Rollenanforderungen durch Moral, Familie, Wirtschaft, Politik etc. nicht mehr standzuhalten vermag. Wir opfern unsere Fähigkeit zur Verantwortung, die zu übernehmen wir in einer selbstläuferhaften Welt der Sachzwänge schon kaum mehr in der Lage sind, um deren Dynamik nicht ins Stocken zu bringen. Wir, die Stolzen, Selbstbewussten, opfern unsere Freiheit, um uns von der Last, die wir uns selbst geworden sind, zu befreien. Sofern wir nämlich nicht in der Lage sind unsere Freiheit zum Positiven zu wenden und auch nicht mehr glauben können oder wollen, dass uns eine solche Wende geschenkt sein könnte, bleibt uns nur die Eliminierung dieser Freiheit. Das bedeutet, dass wir dazu tendieren unserer Freiheits-Geschichte ein Ende zu setzen um uns einer schicksalshaften Naturgeschichte technischer und ökonomischer Prozesse zu überantworten. (35) Wir opfern uns also letztlich selbst, damit unsere gottlos gewordene Welt zu bestehen vermag. So versuchen wir zu überdauern, aber werden wir auch überleben?
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Die Frage der Entscheidung zwischen biblischem Gott und gesellschaftlichem Götze ist damit nicht eine des Beliebens und der freien Auswahl aus der Buntheit religiöser und pseudoreligiöser Angebote. Der Ernst dieser Frage greift wesentlich tiefer, bis an die Fundamente unserer Existenz. Wie das Volk Israel in der Wüste, im Niemandsland zwischen Knechtschaft und Freiheit, stehen wir noch immer vor der gleichen alten, stets aktuellen Entscheidung, deren Konsequenz im Buch Deuteronomium unzweideutig und mit bleibender Gültigkeit formuliert ist: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch, wähle also das Leben, damit du lebst, ..." (Dtn 30,19).
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Anmerkungen:
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1. Weber M., Wissenschaft als Beruf. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von J. Winckelmann. Tübingen 71980, 582-613, 594.
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2. Ebd.604.
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3. Ebd.605.
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4. Die Epoche der Renaissance erstreckt sich etwa von 1350 bis 1550, ihre Ursprünge liegen in Italien, von dort breitete sie sich allmählich über ganz Europa aus, um schließlich in Manierismus und Barock zu münden.
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5. Die folgenden Betrachtungen zu Dürers Selbstbildnis folgen M. Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Darmstadt 1993, 23f. Die Autorin nimmt Dürers Selbstbildnis als Beleg dafür, dass „... der moderne Mensch, um sich im Zentrum Platz zu schaffen, Gott daraus vertreiben muss, ..." (ebd. 23).
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6. Blumenberg entscheidet sich jedenfalls für diesen weniger unverfänglichen Ausdruck. Vgl. Blumenberg H., Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a.M. 1974, bes. 159-161.
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7. Der ersten großen Pestepidemie in Europa fielen innerhalb weniger Jahre 30, in manchen Landstrichen 50% der Bevölkerung zum Opfer.
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8. Tillich P., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie (Werke 11) Stuttgart 1969, 50-54.
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9. Macchiavelli Niccolo, Der Fürst. Stuttgart 1961, 132.
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10. Vgl. etwa ebd. 101. Der Fürst selbst steht dabei außerhalb der Grenzen der Moral, sein Maßstab ist einzig Erfolg.
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11. Vgl. z.B. Hobbes Th., Leviathan. Neuwied 1966, 94-96.
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12. Gross P., Ich-Jagd. Im Unabhängigkeitsjahrhundert. Frankfurt a.M. 1999, 21.
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13. Dazu Doumuchel P./ Dupuy J.-P., Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie. Thaur 1999, 266-276.
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14. Smith A., Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München 71996, 17.
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15. Ders. Theorie der ethischen Gefühle. Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren Charakter beurteilen. Leipzig 1926, 317. Vgl. Der Wohlstand der Nationen. 371.
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16. Ders. Theorie der ethischen Gefühle. 384.
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17. Vgl. Doumouchel P./Dupuy J.-P., bes. 181-184.
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18. Vgl. Luhmann N., Soziale Systeme. Frankfurt a.M. 1984, 174 .
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19. von Hayek F. A., Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 21983, 72.
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20. Vgl. Doumouchel P./Dupuy J.-P. 191.
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21. Gross Peter, Ich-Jagd. Im Unabhängigkeitsjahrhundert. Frankfurt a.M. 1999, 10.
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22. Vgl. Strauss L., Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956, 47.
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23. In diesem Sinne interpretiert Johannes Paul II. den Begriff der „strukturellen Sünde". Vgl. Sollicitudo rei socialis Nr. 36.
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24. Vgl. Weber M., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 81986, 546f.
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25. Ebd. 203.
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26. Vgl. ebd 544.
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27. Schon Immanuel Kant war davon überzeugt, dass der Handelsgeist die Völker der Welt einen werde, nicht ihr Friedenswille. Kant I., Zum Ewigen Frieden. In: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 8, 343-386, 368. Moderne Ökonomie aber auch Politik setzt immer wieder auf diesen Mechanismus. Vgl Fukuyama F. Second Thoughts. The Last Man in a Bottle. In: The National Interest 56 (1999) 17-19. Auch die Gründerväter der Europäischen Einigung setzten 1955 bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl auf die friedensstiftende und friedenssichernde Wirkung verflochtener Volkswirtschaften.
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28. Ulrich P., Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern 1997, 360.
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29. Z.B. Luhmann N., Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, 744.
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30. So wurde es erstmals von Johannes XXIII. In der Enzyklika Mater et magistra Nr. 219 formuliert und gilt seither als eines der Grundprinzipien christlicher Gesellschaftslehre.
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31. Vgl. die Ausführungen über das Konfliktpotential von moralischen Positionierungen, die immer Personen, niemals nur Rollen treffen in Guggenberger W., Niklas Luhmanns Systemtheorie. Eine Herausforderung der christlichen Gesellschaftslehre. Innsbruck 1998, 123f.
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32. Vgl. die Ausführungen Fukuyamas in Second Thougts. 29f über den Einsatz von Psychopharmaka in den USA.
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33. Luhmann N., Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, 135f.
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34. Der eigenwillige doch einflusseiche Hegelinterpret Alexandre Kojève stellt bereits 1957 die These auf, dass man von einer Welt des Nehmens aller, wie sie auch in Politik repräsentiert ist, zu einer Welt des Gebens und Teilens auf dem Weg der Wirtschaft, dem Weg eines „gebenden Kapitalismus" gelange, der endlich alle zufrieden stellen kann. Vgl. Kojeve A., Kolonialismus in europäischer Sicht. In Schmittiana VI (1998) 136.
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35. In diesem Sinne hatte Fukuyama in einem viel diskutierten Buch Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992 vom Ende gesprochen. Er aktualisiert dabei lediglich einen Gedanken Hegels, dessen Realisierung wir heute dank globalisierter Wirtschaftsstrukturen und einer unglaublich entwickelten Naturwissenschaft und Technologie in einer Weise nahestehen, die für den Philosophen der Napoleonischen Zeit wohl kaum vorstellbar war.
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