- Leseraum
| Harry Potter - Eine moderne Heilsgeschichte?Autor: | Wandinger Nikolaus |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Publiziert in: | # Vortrag für das Katholische Bildungswerk Vorarlberg in
Bregenz am 6. Februar 2006 |
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Datum: | 2006-02-10 |
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Inhalt1
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| Sehr geehrte Damen und Herren, | 3
| lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ein Vortrag, der
sich mit einer Romanreihe auseinandersetzt, muss damit rechnen,
dass unter den ZuhörerInnen solche sind, die diese Romane gut
kennen, aber auch solche, die sie nicht kennen und einfach nur
interessiert sind. Ich muss daher eine Gratwanderung machen:
Ich möchte nicht zu viele Details aus den Romanen behandeln,
kann aber doch nicht ganz darauf verzichten, das aus ihrem
Inhalt wiederzugeben, was für mein Thema von Bedeutung ist.
Jene, die in der Lektüre der Romane stecken und noch nicht bis
zum Ende des sechsten Bandes vorgedrungen sind, möchte ich
außerdem warnen: Sie könnten in dieser Stunde Dinge erfahren,
die Ihnen die Spannung nehmen. Sie sind also unter dieser
Rücksicht auf eigene Gefahr hier. Damit betrachte ich meine
Pflicht zur spoiler warning als erfüllt. | 4
| Wenn man fragt, ob die Romanreihe Harry Potter eine
Heilsgeschichte sei, so stellt sich zunächst das Problem, was
das denn ist – eine Heilsgeschichte. Wenn man diese Frage
außerdem als katholischer Theologe in einer Veranstaltung des
Katholischen Bildungswerkes stellt, so empfiehlt es sich
sicher, sich darauf zu konzentrieren, was in unserer
christlichen Tradition als Heilsgeschichte angesehen wird.
Natürlich kann ich dazu nur ein paar Bemerkungen machen. | 5
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| Das Christentum nimmt – darin ganz dem Judentum folgend –
an, dass Gott in der Geschichte der Menschen handelt; dass
Geschichte nicht nur die Anhäufung von Zufällen, Taten und
Untaten der Menschen ist, sondern dass Gott darin als Akteur
vorkommt und mit den Menschen in einen Kommunikations- und
Handlungsprozess eintritt. | 8
| Letztlich muss man davon ausgehen, dass diese Geschichte, in
der Gott mit den Menschen in Kommunikation tritt, er sich
offenbart (daher auch Offenbarungsgeschichte), nicht nur ein
Ausschnitt der Geschichte der Menschheit ist, sondern sich über
die ganze Weltgeschichte erstreckt. Für ein christliches
Verständnis ist Weltgeschichte immer auch
Offenbarungsgeschichte Gottes. Gott offenbart sich nicht neben
oder außerhalb der Geschichte der Welt, sondern in dieser. Wenn
wir Offenbarungsgeschichte sagen, meinen wir nicht eine andere
oder zusätzliche Geschichte zur Weltgeschichte (so wie die
Geschichte der Reformation noch ergänzt werden kann durch die
Geschichte der Französischen Revolution), sondern wir meinen,
dass wir die Weltgeschichte betrachten unter der besonderen
Fragestellung, wo Gott sich darin offenbart. Dabei muss diese
Offenbarung nicht immer in Worten geschehen und sie muss auch
nicht schon als Offenbarung Gottes verstanden werden. Dies
geschieht in den Religionen der Welt, die ihre Deutung der
Offenbarung bieten. | 9
| Ferner geht der christliche Glaube davon aus, dass Gott sich
um unseres Heiles willen offenbart. Offenbarung Gottes meint
nicht, dass Gott irgendwelche interessanten Dinge über sich
mitteilt, sondern es meint in erster Linie: indem Gott sich
offenbart, öffnet er den Menschen den Weg zu ihm selber, einen
Weg, der gleichzeitig der Weg zu ihrem Heil ist. Die
Offenbarungsgeschichte ist daher auch immer einer
Heilsgeschichte, jedenfalls was Gott angeht. Etwas anderes ist
es, wie die Menschen auf dieses Heilsangebot Gottes reagieren.
Gemäß den biblischen Schriften weigern sie sich immer wieder,
das Heilsangebot anzunehmen, und katapultieren sich so selber
ins Unheil. Was die Menschen angeht, ist die Weltgeschichte
daher auch immer eine Unheilsgeschichte. Heil und Unheil treten
in der Geschichte in einer oft schwer zu durchschauenden
Verquickung auf und liegen im Streit miteinander, in einem
dramatischen Ringen um die Vorherrschaft. | 10
| Nach jüdischer und christlicher Überzeugung findet diese
Heils-/Unheils- und Offenbarungsgeschichte eine besondere
Zuspitzung in der speziellen Geschichte des Volkes Israel mit
Gott, deren Verdichtung und letzte Bedeutung nach christlichem
Verständnis in der Person und dem Schicksal Jesu von Nazareth
liegt. Die Schriften des AT sehen die Geschichte ganz Israels,
aber auch die Geschichte einzelner Menschen als Drama zwischen
Gott und Mensch und darin als Drama zwischen Heil und
Unheil. | 11
| In diesem Drama gibt es herausragende Gestalten, die in
besonderer Weise Gott in diesem Drama vertreten und für ihn
sprechen und handeln (z. B. Propheten). Diese haben oft eine
geheimnisvoll-wundersam anmutende Berufungsgeschichte, oft
schon in der Kindheit (z. B. Samuel, vgl. 1 Sam 3,1-21); sie sind von Gott für ihre Aufgabe auserwählt, oft
schon vor ihrer Geburt (vgl. Jes 49,1); viele fühlen sich der Aufgabe zuerst nicht gewachsen
(vgl. Moses, Ex 4,10-16; Jesaja, Jes 6,1-8), einer versucht sogar direkt ihr zu entkommen
(Jona). Allen ist aber gemeinsam, dass sie als schwache, selber
unvollkommene Menschen auf der Seite Gottes zu stehen haben,
und dass sie in der rechten Erfüllung dieser Aufgabe selber ihr
Heil finden. | 12
| Jesus steht in dieser Tradition, geht aber über sie hinaus.
Auch Jesus hat eine geheimnisvoll-wundersame Kindheits-, und
wenn man so will, Vor-Kindheitsgeschichte, auch er ist von Gott
gesandt, für diesen zu sprechen und zu handeln; auch er gerät
in Situationen, in denen er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen
fühlt (vgl. z. B. Mk 6,5f; Mt 4,13); auch er steht als schwacher Mensch auf der Seite
Gottes und findet in der Erfüllung seiner Aufgabe sein eigenes
Heil. Der fundamentale Unterschied, den der christliche Glaube
zwischen Jesus und den Propheten macht, ist allerdings: Er
vertritt Gott nicht in dem Drama, sondern er handelt
in völliger Einheit mit Gott; er spricht und handelt nicht nur
für Gott, er handelt als Gott; er ist nicht
nachträglich zu seiner Existenz und seinem Leben für diese
Aufgabe auserwählt, sondern sie ist seine Existenz und
sein Leben; er fühlt sich nicht aus eigener Schwäche der
Aufgabe nicht gewachsen, sondern weil das Unverständnis der
Menschen oft so groß ist; und er versucht nie, der Aufgabe zu
entkommen. Er steht zwar als schwacher, aber nicht als
unvollkommener Mensch auf der Seite Gottes. Vielmehr sieht das
Christentum in ihm den vollkommenen Menschen, ohne Sünde und
Schuld, so dass er auch sein Heil in der Erfüllung der Aufgabe
nicht aus einer vorherigen Situation des eigenen Unheils
findet, sondern aus der Situation, dass er selbst im Heil, aber
alles um ihn im Unheil gelegen ist. Insofern unterscheidet sich
Christus für das christliche Verständnis fundamental von den
Propheten, obwohl er sehr viel mit ihnen gemeinsam hat. | 13
| | 14
| Lassen Sie mich nun noch darauf zurückkommen, dass die
Propheten (und auch Jesus) in der Bewältigung ihrer Aufgabe als
Offenbarer und Heilbringer auch selber ihr Heil finden. Das
bedeutet, dass es neben der großen – man könnte sagen der
kollektiven – Heilsgeschichte auch so etwas wie eine
individuelle Heilsgeschichte des Einzelnen gibt. In der
christlichen Spiritualität und Frömmigkeit ist dies ein
zentraler Gedanke: Gott hat nicht nur mit der Menschheit als
ganzer oder dem Volk Israel oder der Kirche eine
Heilsgeschichte, sondern mit jedem einzelnen Menschen. | 15
| Im Wachsen und Reifen jedes Menschen vom Mutterleib über
Wiege, Schulbank, Werkbank oder Schreibtisch, bis zur Bahre und
zum Sarg findet ein dramatischer Dialog mit Gott statt, hat
jeder Mensch seine individuelle Heils- und Unheilsgeschichte
mit Gott. Auch hier gilt: Nicht immer muss dem Menschen das
bewusst sein. Aber sie findet statt, diese Geschichte aus
Heils- und Unheilserfahrungen, und etwas vereinfacht kann man
sagen: wenn ein Mensch sein rechtes Verhältnis zu Gott findet,
findet er auch sich selber; und beides zusammen ist „sein
Heil“. Dieses finden (oder verfehlen) des rechten Verhältnisses
zu Gott ereignet sich in der Bewältigung der Aufgaben des
Lebens, im Finden des rechten Verhältnisses zu den Mitmenschen
und zur Welt als ganzer. | 16
| Auch für die individuelle Heilsgeschichte Gottes mit den
Menschen gilt also: sie geschieht selbst dann, wenn gar nicht
an Gott gedacht oder von ihm gesprochen wird. Sprechen,
Reflektieren und ausdrückliches Beten heben diese Geschichte
anders ins Bewusstsein und machen sie zum Thema des
menschlichen Selbstvollzugs. Sie geben ihr damit auch eine neue
Qualität. Das bedeutet aber nicht, dass sie ohne diese
religiösen Vollzüge nicht vorhanden wären.2 | 17
| | 18
| Auch wenn die meisten von Ihnen die Harry
Potter-Romane kennen, scheint es mir doch sinnvoll, ein
paar einführende Dinge dazu zu sagen. 1997 wurde der erste Band
der Romanreihe in einer Auflage von 500 Stück
veröffentlicht.3 Die
Autorin war eine bis dahin unbekannte, geschiedene und
alleinerziehende Mutter, die mit Mühe einen Verlag für ihr
„Experiment“ gefunden hatte. Bereits damals aber war die
Geschichte auf sieben Bände angelegt. Am siebten und letzten
Band schreibt Joanne K. Rowling gerade. Mittlerweile sind die
Bücher in 63 Sprachen übersetzt und es wurden insgesamt gut 300
Mill. Exemplare verkauft.4 Die Filmindustrie ist auf den Zug aufgesprungen und
hat bereits vier der Romane verfilmt – manche eher schlecht als
recht5 – und eine
gigantische Werbeindustrie vervielfacht den kommerziellen
Erfolg. Gerade die Tatsache, dass diese Geschichten so
erfolgreich wurden, bevor die gigantische Werbemaschinerie sich
ihrer bemächtigte, wirft die Frage auf, was die Fans in ihnen
suchen oder sogar zu finden meinen. Etwa etwas, das man „Heil“
nennen könnte? | 19
| Sehen wir uns an, worum es in ihnen geht:6
Zu Beginn erfährt der Junge Harry
Potter, der als Waise bei seiner Tante, deren Mann und Sohn
aufwächst und dort miserabel behandelt wird, dass er ein
Zauberer sei und auf die Zauberschule Hogwarts (was übersetzt
so viel wie „Schweinewarzen“ bedeutet) gehen soll. Er findet
heraus, dass seine Eltern nicht, wie man ihn belog, bei einem
Verkehrsunfall umgekommen sind, sondern ein böser Zauberer
namens Lord Voldemort sie ermordet hat. Nicht nur das: dieser
Lord Voldemort wollte eigentlich Harry ermorden, als dieser 15
Monate alt war, weil er in ihm einen Rivalen und Gegner
erblickte, den er frühzeitig beseitigen wollte. Harry ist der
einzige Mensch, der je einen Angriff dieses bösen Zauberers
überlebte. Dies verdankt er vor allem seiner Mutter, die sich
aus Liebe zu ihm geopfert hat, und ihn so mit einem Schutz
gegen Lord Voldemort versah. Anstatt Harry zu töten, fiel
Voldemorts Fluch auf ihn zurück und machte ihn zu einer Art
Untoten. Aufgrund seiner eigenen dunklen Zauberkünste konnte er
nicht sterben, aber er verlor seine ganze Macht und existiert
seither in einem seltsamen Zwischenzustand ohne Körper und ohne
Zauberkraft. | 20
| Harry geht in die Zauberschule, lernt dort gute Freunde
kennen (seine engsten sind Hermine Granger und Ronald Weasley),
aber auch Gegner, wie Draco Malfoy. Der Direktor der
Zauberschule, Albus Dumbledore, lässt Harry besondere Zuneigung
und Unterstützung zukommen ebenso wie seine Klassenlehrerin
Minerva McGonagall, während Severus Snape, ein anderer Lehrer,
ihn zutiefst zu hassen scheint. | 21
| Jeder Roman der Reihe deckt den Verlauf eines Schuljahres
ab. Da im englischen Schulsystem die sog. secondary
school, also die Schulzeit nach der Volksschule (bei uns
wäre das etwa das Gymnasium) sieben Jahre dauert, ergeben sich
daraus sieben Romane. In den Romanen erleben wir also mit, wie
Harry und seine Freunde langsam heranwachsen, wie sie in die
Kunst des Zauberns eingeführt werden, wie sie mit LehrerInnen
und SchulkameradInnen umgehen, und vor allem immer wieder, wie
sie die Vergangenheit einholt: Lord Voldemort meldet sich
wieder zu Wort, er möchte wieder einen Körper haben und zurück
an die Macht. In jedem Roman sind es Harry und seine
FreundInnen, die ihm da einen Strich durch die Rechung machen.
Aber schließlich, im 4. Band, gelingt es Voldemort, einen
Körper zurückzugewinnen, er scheitert aber erneut bei dem
Versuch, Harry zu töten. Seit dem 5. Band stehen sich Gut und
Böse direkt gegenüber: auf der einen Seite der Orden des
Phönix, angeführt von Schulleiter Dumbledore, auf der anderen
die verschworene Gemeinschaft der sog. Todesser unter
Voldemorts Führung. Diese sind vor allem Rassisten. Sie lehnen
Muggel (das sind Menschen, die keine Zauberer oder Hexen sind)
und Halbblüter, also Kinder, die aus einer Verbindung von einem
Zauberer/einer Hexe und einem Muggel hervorgegangen sind, ab.
Assoziationen mit der nationalsozialistischen Terminologie von
Halb- und Vierteljuden sind durchaus erlaubt. | 22
| In jedem Jahr erfährt Harry auch mehr über sich selbst
und seine Rolle in diesem Kampf. | 23
| Die Romane lassen sich nicht einem einzelnen Genre eindeutig
zuordnen, sondern vereinen absichtlich Züge verschiedner
Gattungen: es sind Bildungs- und Entwicklungsromane (die Kinder
werden Jugendliche und Erwachsene), es sind Detektiv- und
Agentenromane, Schulgeschichten, satirisch-komische
Erzählungen, Heldenromane und natürlich Fantasy- und
Märchengeschichten.7 | 24
| Bevor ich mich nun direkt der Frage zuwende, ob sie auch
literarische Darstellung einer Heilsgeschichte sind, sei mir
noch eine Bemerkung zur Rolle der Zauberei in diesen Romanen
gestattet. | 25
| Für die Harry Potter-Romane sind Zauberer und Hexen
Menschen, die eine besondere Begabung haben, eben die zur
Magie. Diese Begabung wird in speziellen Zaubereischulen
gefördert und ausgebildet und kann zum Guten oder zum
Schlechten dienen. Die Magier verbergen ihre Begabung aber vor
der Allgemeinbevölkerung, weil sie wissen, dass sie dieser
Angst machen könnte. In der Welt der Magier hat die Magie in
etwa dieselbe Funktion, wie sie in der Welt der Muggel, also
auch in unserer realen Welt, die Technik einnimmt: sie kann das
Leben kolossal erleichtern, kann aber auch für Böses
missbraucht werden. Für die Romane sind nicht das Zaubern und
Hexen an sich schlecht. Sie sind ein neutrale Hilfsmittel, für
deren moralische Bewertung das entscheidend ist, was man damit
tut. Unter dieser Rücksicht ist Rowlings Harry Potter
verwandt mit Otfried Preußlers Die kleine Hexe. Für
Kinder, die alt genug sind, Harry Potter zu lesen, ist
auch deutlich, dass die Zauberei in den Romanen Fantasie ist
und nicht real. Darüber hinaus lässt sich sagen: Gerade dort,
wo es in Harry Potter Anklänge an die Esoterik unserer
modernen Zeit gibt, wie etwa beim Handlesen oder der
Astrologie, werden diese betont als Anlass für Witz und Ironie
benützt, so dass von einer Verführung zur Magie nirgends die
Rede sein kann.8 | 26
| | 27
| Kommen wir nun aber zur zentralen Frage: Ist der junge Harry
in den Roman ein Heilbringer und erzählen diese Romane
literarisch eine Heilsgeschichte? | 28
| | 29
| Da stößt man zunächst schon auf eine ganze Reihe von
motivischen Ähnlichkeiten zwischen Harry Potter und biblischen
Gestalten, ja durchaus auch mit Jesus von Nazareth.
Ähnlichkeiten heißt aber immer: es gibt sowohl Gleiches als
auch Unterschiedenes. Wir wollen keinen der beiden Aspekte
vernachlässigen. | 30
| | 31
| Wie bei Jesus wird auch Harrys Geburt von einer Prophezeiung
eingeleitet, die ihm eine besondere Aufgabe – man könnte sagen
eine Sendung oder Berufung – in der Welt zuweist. Durch diese
Prophezeiung, durch Widerfahrnisse an ihm und durch sein
eigenes Handeln wird Harry, und wird im NT auch Jesus, zu etwas
Besonderem. Die Romane sehen ihren Helden als „Auserwählten“ an
und erzählen auch von dem inneren Kampf, den er mit dieser
Rolle ausficht. Wie die Propheten des AT möchte Harry manchmal
am liebsten davonlaufen, sich davonstehlen und seine schwierige
Aufgabe anderen überlassen.9 | 32
| Nach dem Matthäus-Evangelium ist die Geburt Jesu von einem
Rivalitäts- und Morddrama begleitet: Der König Herodes erblickt
in dem neugeborene Kind, von dem prophezeit wird, dass es einst
ein Fürst und Hirt des Volkes Israel sein werde (vgl. Mt 2,6) einen Rivalen und möchte es beseitigen. Als dies nicht
gelingt, tötet er „alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren“
(Mt 2,16) in der Hoffnung, so doch noch den Richtigen zu
treffen. Lord Voldemort will Harry töten, weil es in der
Prophezeiung heißt, dass jemand, auf den die Beschreibung
Harrys passt, ihm ebenbürtig sein und ihn besiegen werde. Aber
auch hier misslingt der Mordplan – und es stirbt stattdessen
Harrys Mutter, die sich für das Leben ihres Kindes opfert.
Diese ereignisreiche und außergewöhnliche Kindheit gehört
sowohl für Jesus als auch für Harry nur in die Vorgeschichte
der eigentlichen Erzählung. Die Evangelien lassen Jesu Jugend
im Dunkeln und setzen erst wieder ein, als Jesus mit 30 Jahren
seine eigentliche Aufgabe beginnt. [Die lukanische Ausnahme des
12-jährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41-51) ändert daran nicht grundsätzlich etwas.] Auch die
Harry Potter-Romane erzählen sonst nichts über Harrys
Kindheit bis zu dem Zeitpunkt, als Harry mit 11 Jahren seine
Begabung als Zauberer erkennt und in seine Aufgabe als
Erwählter hineinwächst. Bei beiden wird von der Zeit vor ihrer
eigentlichen Mission nur summarisch berichtet und nicht
detailliert erzählt. | 33
| | 34
| Die Unterschiede zwischen den Harry Potter-Romanen und der
Kindheitsgeschichte Jesu nach Matthäus sind jedoch auch zu
betonen: Die Prophezeiungen, die Jesu Geburt ankündigen,
beziehen sich nicht darauf, dass er einen speziellen Gegner
hätte, den er besiegen würde; sie sind keine negativen
Prophezeiungen, sondern positive: er wird sein Volk erlösen und
alle Völker erleuchten; nicht: er wird jemand oder etwas
besiegen.10
Allerdings spielt das Motiv, dass Jesus den Teufel besiegt
habe, in der späteren Deutung seiner Person eine große Rolle
und auch die Darstellung der Evangelien lässt sich so
rekonstruieren.11 Auch
wird Jesus in den Prophezeiungen keinem Menschen – schon gar
keinem bösen – als gleichwertig dargestellt, wie es die
Prophezeiung Harrys tut, wie wir später genauer sehen
werden. | 35
| Ein ganz wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem
Kindermord von Bethlehem und dem Mord an Harrys Mutter,
Lily.12 Die
unschuldigen Kinder von Bethlehem und auch deren Eltern hatten
keine Wahl. Laut der Geschichte des Matthäus lässt Herodes sie
einfach ermorden. Lily Potter dagegen hatte sehr wohl eine
Wahl. Je weiter die Romane fortschreiten, desto deutlicher
wird: Lily hätte ihr Leben retten können, wenn sie Harry im
Stich gelassen hätte. Sie wurde getötet, weil sie sich bewusst
für ihren Sohn hingab, sich, wie die Romane mehrfach wörtlich
sagen, für ihn „opferte“. In Anlehnung an den Anthropologen und
Kulturwissenschaftler René Girard könnten wir die Gestalt der
Lily Potter daher eine figura Christi nennen, eine
Gestalt, in der sich Christus widerspiegelt. | 36
| Interessant ist hier also, dass gerade der Unterschied
zwischen der Motivik in der Kindheitsgeschichte Jesu und der
Harrys eine deutliche Nähe der Harry Potter-Romane zum
christlichen Gedanken der Selbsthingabe, wie er im Tod Jesu
sich zeigt, aufweist. Hier kommen wir aber an die Grenze der
bloßen Motivbetrachtung. Wir müssen nun genauer fragen, wie
sich die mit diesen Motiven verbundenen Inhalte zueinander
verhalten. | 37
| | 38
| Bleiben wir zunächst bei der Hingabe von Harrys Mutter. Auch
wenn wir Lily eine figura Christi nennen, bleiben
wichtige Unterschiede zwischen dieser Romanfigur und Jesus
Christus: Christus wurde wegen einer religiösen Botschaft
verfolgt – Lily Potter, weil sie Muggel-geboren war und ihren
Sohn schützen wollte, aber auch weil sie Widerstand gegen
Voldemorts rassistische Ideologie leistete. | 39
| Viel wichtiger aber ist, dass der im Opfer Christi gegebene
Heilswille für die ganze Menschheit gilt, auch seine Verfolger.
Dies zeigt sich deutlich in Jesu Vergebungsbitte am Kreuz (vgl.
Lk 23,34), die eine bis zum Ende gelebte Feindesliebe zum
Ausdruck bringt. Lily Potter hingegen ist nicht von
Feindesliebe motiviert, sondern von der Mutterliebe für ihr
Kind. Dies entwertet ihr Opfer nicht, gibt ihm aber eine andere
Bedeutung und Tragweite. Man könnte auch sagen: Sie ist zwar
eine figura Christi, als solche bleibt sie aber immer
noch weit zurück hinter Christus zurück.13 | 40
| Kehren wir zurück zur Figur des Harry. Die motivischen
Ähnlichkeiten mit der Gestalt Jesu sind doch so interessant,
dass es sinnvoll erscheint zu klären, worin Harrys Mission
bestehen könnte, und das Ergebnis dann mit der Mission Jesu zu
vergleichen. Sehen wir uns zu diesem Zweck Harrys Prophezeiung
etwas genauer an. Sie lautet: | 41
| „›Der Eine mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen, naht
heran … jenen geboren, die ihm drei Mal die Stirn geboten
haben, geboren, wenn der siebte Monat stirbt … und der Dunkle
Lord wird Ihn als sich Ebenbürtigen kennzeichnen, aber Er wird
eine Macht besitzen, die der Dunkle Lord nicht kennt … und der
Eine muss von der Hand des Anderen sterben, denn keiner kann
leben, während der Andere überlebt …‹“14. | 42
| Dieser um der Spannung und Geheimnishaftigkeit willen etwas
kryptisch formulierten Prophezeiung können wir vier wichtige
Dinge entnehmen: der, von dem hier die Rede ist, wird Ende Juli
geboren und zwar Eltern, die Voldemort dreimal direkt bekämpft
haben; er wird von Voldemort als ihm ebenbürtig gekennzeichnet,
man könnte fast sagen, ihm ebenbürtig gemacht werden; er hat
eine Macht, die Lord Voldemort nicht kennt; und es scheint so,
als müsse einer der beiden den anderen töten. | 43
| Diese Prophezeiung trifft keineswegs automatisch auf Harry
zu: auch Neville Longbottom, ein Klassenkamerad Harrys, wurde
Ende Juli geboren und auch seine Eltern bekämpften Voldemort
dreimal. Er könnte also auch gemeint sein. Indem aber Voldemort
den kleinen Harry töten wollte und nicht den kleinen Neville,
spitze er die Vorhersage auf Harry zu. Denn durch diesen
Mordanschlag wurden einige der Fähigkeiten und Kräfte, die
Voldemort hat, auf Harry übertragen. Harry wurde ihm erst
dadurch ebenbürtig, was nun seine besondere Stärke im Kampf
gegen Voldemort ist, aber auch eine Schwäche, weil beide ein
unsichtbares Band verbindet. | 44
| Die eigentliche Kraft, die Harry Voldemort voraus hat und
die jener nicht kennt, besteht aber nicht in besonderen
magischen Fähigkeiten, sondern in der Macht der Liebe, wie
Schulleiter Dumbledore nicht müde wird, dem Jungen zu
erläutern. Dumbledore ist es auch, der im sechsten Band der
Reihe Harry klarzumachen versucht, dass die Prophezeiung ihn
nicht einer blinden, vordeterminierten Notwendigkeit
unterwirft. Das gilt auch für ihren letzten Satz, wonach einer
von der Hand des anderen sterben müsse. So wenig wie Voldemort
gezwungen war den kleinen Harry anzugreifen, so wenig ist Harry
gezwungen gegen Voldemort vorzugehen. Voldemorts Taten aber
haben eine Situation geschaffen, in der es für Harry nur
natürlich ist, Voldemort zu verfolgen. Dieser hat Harrys
Eltern, seinen Taufpaten und schließlich anscheinend den von
ihm hoch verehrten Schuldirektor Dumbledore getötet bzw. töten
lassen; er wollte und will Harry ermorden und strebt nach einer
Schreckensherrschaft. Erst durch Voldemorts Taten wurde Harry
zu seinem natürlichen Gegner. Voldemort hat ihn stark gemacht
und trachtet ihm nach dem Leben. Was wäre natürlicher, als dass
Harry den Spieß umdrehte? Und so scheint es am Schluss des
sechsten Buches, dass der siebte Band eine gegenseitige
Verfolgung von Harry und Voldemort darstellen könnte, an deren
Ende in einem gewaltigen Showdown einer von beiden den anderen
vernichten wird. | 45
| Würde es so enden, dann wäre Harry Potter
vielleicht eine moderne Heldengeschichte, aber keine
Heilsgeschichte. Die Geschichte Christi hat zwar Parallelen
sowohl mit antiken Heldensagen als auch mit modernen
Heldengeschichten. Aber neben diesen Parallelen stehen
fundamentale Unterschiede. Aus der christlichen Heilsgeschichte
nämlich ist das Kreuz nicht wegzudenken (vgl. 1 Kor
1,17f.). Dieses verbietet eine Interpretation Christi, die ihn
nach dem Muster der üblichen Heldengestalten versteht. Mag
Christus der strahlende Sieger von Ostern sein, er war vorher
erst der armselige Verlierer des Karfreitags. Der Sieg seiner
Auferstehung ist nicht zu haben ohne den Gang nach Golgatha –
und: solange die Auferstehung noch nicht geschehen ist, ist sie
nur Gegenstand von Glaube und Hoffnung, nicht von
Gewissheit. | 46
| Sollte Harry Potter am Ende des siebten Bandes als
strahlender Held Voldemort töten, so waren die Anleihen der
Romane bei der Kindheitsgeschichte Jesu nicht mehr als
motivische Anspielungen ohne tieferen Hintergrund, und ich
würde nicht anstehen, Harry Potter den Status einer
modernen Heilsgeschichte abzusprechen. Heldenepen sind keine
Heilsgeschichten im christlichen Sinne. | 47
| Das Unbequeme und zugleich angenehm Spannende an der
derzeitigen Situation ist allerdings, dass wir noch nicht
wissen, wie es im 7. Band weitergeht. Es könnte so sein, wie
ich es gerade dargestellt habe, denn dafür gibt es im
Bisherigen deutliche Hinweise. Ebenso klare Hinweise gibt es
allerdings für einen ganz anderen Fortgang der Geschichte.
Erlauben Sie mir also jetzt, ein wenig zu spekulieren – ohne
auf Einzelheiten einzugehen – welcher Fortgang Harry
Potter doch zu einer modernen Heilsgeschichte machen
könnte. | 48
| Ich wies schon darauf hin, dass Dumbledore Harry fast
verzweifelt klarzumachen suchte: seine besondere Macht ist die
Macht der Liebe, nicht eine spezielle Zauberkraft; und die
Geschehnisse sind nicht vorherbestimmt, sondern hängen von den
dramatisch interagierenden freien Entscheidungen der Personen
ab. Das große Vorbild für die Macht der Liebe in den Romanen
ist Harrys Mutter und ihr Akt der Selbsthingabe für ihren Sohn.
Aufgrund von Harrys besonderer Stellung – er ist der Erwählte
und er ist Lord Voldemort ebenbürtig, ja in manchem gleich –
könnte sich eine Situation ergeben, in der gerade Harrys Tod
Voldemort endgültig besiegt. Es ließe sich eine Situation
denken, in der Voldemort es darauf anlegt, Harry zu
umzubringen, und dieser die Wahl hat zwischen dem Töten
Voldemorts in Selbstverteidigung (was durchaus moralisch
erlaubt wäre, aber Harry nicht als Heilbringer qualifizierte)
oder der freiwilligen Hingabe seines Lebens, die auch den Tod
(oder zumindest die Entmachtung) Voldemorts zur Folge
hätte.15 | 49
| Geschähe dies, so hätte Harry Voldemort nicht aktiv getötet,
sondern die böse Tat Voldemorts fiele auf diesen selbst zurück,
indem sich Harry ihr freiwillig aussetzte.16
In diesem Falle wäre Harry eine
deutliche figura Christi.17 Sofern er dabei die Errettung der
Zaubererwelt vor Lord Voldemort und nicht nur die Errettung
einzelner Freunde im Sinne hätte, wäre Harry dann auch eine
deutlichere Heilbringergestalt als Lily Potter. | 50
| Allerdings hätte dieses Ende für alle Potter-Fans den großen
Nachteil, dass ihr Held sterben würde. Ob J. K. Rowling ihrer
LeserInnenschaft das wirklich zumutet, sei dahingestellt. Ich
selbst bekenne meine persönliche Gespaltenheit in dieser Frage:
Als Theologe wäre ich sehr für diesen Ausgang, als Leser
wünschte ich mir, Harry bliebe am Leben. Vielleicht findet
Rowling ja auch einen Weg, den Wunsch des Theologen in mir mit
dem des Lesers zu vereinen. Es ließen sich tatsächlich auch
andere Ausgänge der Romanreihe denken, die nicht den Tod Harrys
zur Folge hätten, und dennoch eine Heilsgeschichte aus dieser
Geschichte machten. | 51
| (Es könnte z. B. auch jemand anders als Harry Voldemort
durch Selbsthingabe zu Fall bringen, womöglich gar der
verhasste Severus Snape. Auch ließe sich, da ja die
Prophezeiung nicht determiniert, ein Szenario verstellen, in
dem sich Lord Voldemort bekehrt und weder er noch Harry
sterben. Dies scheint mir jedoch unwahrscheinlich. Es stellt
sich mir allerdings die Frage, ob Dumbledore wirklich tot ist,
oder ob er nicht zusammen mit Snape einen Plan zu seinem
eigenen Scheintod ausgeführt hat, dessen „Opfer“ dann
tatsächlich Snape auf sich nehmen würde, da er sich mit dem
nicht zu brechenden Schwur der Gefahr des Todes aussetzte,
sobald bekannt würde, dass Dumbledore noch lebt.) | 52
| Der Fall, dass Harry sein eigenes Leben opfert und dadurch
die Zaubererwelt von Lord Voldemort erlöst, ist sicher der, in
dem Harry dem christlichen Erlöser am ähnlichsten wäre. | 53
| | 54
| Doch selbst wenn wir annehmen, dass dieser Fall eintritt,
gibt es einen ganz gravierenden Unterschied zwischen der in der
Bibel sich verdichtenden Heilsgeschichte und der dazu ähnlichen
Potter-Heilsgeschichte. Wie eingangs erwähnt, versteht die
Bibel unter Heil die Selbstoffenbarung Gottes, unter Heils- und
Unheilsgeschichte die Geschichte der Menschen mit Gott. | 55
| Nun erzählt Harry Potter sicher einen Kampf
zwischen Unheil und Heil, aber der Bezug dieser Zustände auf
Gott existiert in Harry Potter nicht. Das Wort „Gott“
kommt darin nicht vor (im Englischen in der Verbindung
Godfather, was so viel wie Taufpate bedeutet). | 56
| Und so wie in der einen Variante des möglichen Endes das
Kreuz ausfiele, so scheint auch in der anderen Variante der
Hingabe Harrys kein Auferstehungsszenario folgen zu können.
Harry Potter rechnet nicht mit einer Rückkehr aus dem
Tod, obwohl es mehrere Hinweise gibt, dass der Tod keine
absolute Grenze für die Romane ist und ein Weiterleben nach dem
Tod mehrfach angedeutet wird. Und selbst, wenn es eine Analogie
zur Auferstehung gäbe, bliebe doch die Tatsache, dass es Gott
und Religion in diesen Büchern nicht gibt. | 57
| Das heißt allerdings nicht, dass die Romane antireligiös
sind. Auch in einem durchschnittlichen Fernsehkrimi kommt Gott
nicht vor, und das macht diesen auch nicht antireligiös.
Rowling schreibt säkulare Romane (wie die meisten AutorInnen
heute), die das, was ChristInnen Gott oder Transzendenz nennen,
also das, was über unsere Welt hinausreicht, nicht zum Thema
machen. | 58
| Aber sie machen sehr vieles zum Thema, das an die Grenzen
dieser Welt geht: immer wieder, ganz zentral und bewusst den
Tod und jene Fragen, die er aufwirft; dann das Phänomen der
Liebe, die den Tod nicht scheut, die die Grenze des Todes
transzendiert – jedenfalls von dieser Seite zur anderen; und
schließlich lässt sich fragen: Wenn Harry der „Erwählte“ ist,
von wem wurde er erwählt? | 59
| | 60
| Bei der Darstellung der Prophetengestalten habe ich erwähnt,
dass für die Bibel auserwählte Menschen in der Erfüllung ihrer
Sendung auch ihr eigenes Heil finden, dass der Weg zur Annahme
dieser Sendung oft ein längerer und umwegreicher Kampf ist, und
die biblischen Gestalten (mit Ausnahme Jesu und Marias)
unvollkommene Menschen sind. | 61
| Dies gilt auch von Harry Potter. Er kämpft lange um das
Verständnis seiner Rolle als Auserwählter und gerade am Ende
des sechsten Bandes scheint er sie wiederum auf fatale Weise
misszuverstehen. In den Harry Potter-Romanen gibt es
keine vollkommenen Gestalten. Selbst der Schulleiter
Dumbledore, der sicher einem Vollkommenheitsideal am nächsten
kommt, hat Fehler und Schwächen. Er hat aber auch die Größe,
diese einzugestehen. Dennoch unterscheiden sich die positiv
herausragenden Gestalten in Harry Potter klar von der
neutestamentlich-christlichen Sicht auf Jesus von Nazaret. | 62
| Auch die Frage, ob die Romane für die Figur des Harry eine
individuelle Heilsgeschichte darstellen, kann erst nach
Beendigung der Reihe beantwortet werden. Zwei Varianten, in
denen dies möglich ist, legen sich nahe: Im Falle, dass Harry
stirbt, wäre es der Kunst der Autorin zuzutrauen, dass sie
darin eine Erfüllung von Harrys Berufung und damit eine
Heilfindung sieht. Allerdings bliebe christlich die Anfrage, ob
dies ohne Auferstehung befriedigend sein kann. Im Falle, dass
Harry überlebt, könnte der Abschluss tatsächlich in seinem
Reifwerden als Erwachsener bestehen, der die Schule
verlässt,18 die
Prozesse von Heilung und Vergebung, mit denen er gerungen hat,
abschließt und womöglich seine geliebte Ginny heiratet. Doch
gedulden wir uns damit, bis es so weit ist.19 | 63
| | 64
| Ist Harry Potter also eine moderne Heilsgeschichte?
– In aller Ehrlichkeit muss man sagen, dass dies erst
entschieden werden kann, wenn der letzte Band der Reihe
vorliegt. Sollte sich allerdings mein Verdacht, der zugleich
meine Hoffnung ist, bestätigen, dass die Romane als
Heilsgeschichte gelesen werden können, so sind sie sicher auch
eine moderne Heilsgeschichte, gerade weil sie die
transzendente Dimension des Heils nicht thematisieren, sondern
eher behutsam und zaghaft an sie heranführen. | 65
| Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass sowohl kollektiv
als auch individuell Gottes Handeln in Offenbarung und Heil
nicht schon als solches verstanden und zum Thema werden muss,
um da zu sein. Erst wo Religion es ausdrücklich zum Thema
macht, wird es unmittelbar bewusst. Vorher ist es
unausdrücklich, implizit, aber doch vorhanden. | 66
| Unsere Zeit ist der expliziten Religion gegenüber sehr
skeptisch, oft sogar ablehnend. Die Fragen, die Religion
beantworten will, verschwinden aber dadurch nicht. Ja, sie
stellen sich vielleicht mit umso größerer Wucht. Die Harry
Potter-Romane thematisieren viele dieser Fragen und geben
auf einer rein anthropologischen Ebene Antworten, die denen des
Christentums sehr ähnlich sind. Sie thematisieren die
transzendente Dimension dieser Fragen bisher nicht, aber sie
führen ihre LeserInnen hart an die Grenze, an der eine
Thematisierung nur noch ein kleiner Schritt ist. | 67
| | 68
| 1
Vgl. zum ganzen Abschnitt: Rahner, K.: Grundstrukturen im
heutigen Verhältnis der Kirche zur Welt. In: Ders.: Sämtliche
Werke 19: Selbstvollzug der Kirche. Ekklesiologische
Grundlegung praktischer Theologie. Bearbeitet von Karl-Heinz
Neufeld. Solothurn - Düsseldorf - Freiburg 1995, 374-405;
ders.: Weltgeschichte und Heilsgeschichte. In: Ders.: Schriften
zur Theologie Bd. 5: Neuere Schriften. Zürich-Einsiedeln-Köln
31968, 115-135; ders.: Sämtliche Werke. Band 26: Grundkurs des
Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums. Bearbeitet von
Nikolaus Schwerdtfeger und Albert Raffelt. Solothurn -
Düsseldorf - Freiburg 1999, 137-171. | 69
| 2
Vgl. Wandinger, N.: Zur Rede von einer „impliziten Theologie“.
Versuch einer Begriffsklärung. In: Drexler, Ch. / Scharer, M.
(Hg.): An Grenzen lernen. Neue Wege in der theologischen
Didaktik (Kommunikative Theologie 6). Mainz 2004, 189-212. | 70
| 3
Quelle: http://www.pib-muenchen.de/docs/harrypotter.pdf | 71
| 4
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.1.06, S. 35. | 72
| 5
Vgl. Wandinger, N.: Harry Potter als der Gefangene der
Filmindustrie. Eine Kritik: Online:
http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/leseraum/
kommentar/494.html; ders.: The Charm is Back. „Harry Potter
und der Feuerkelch“ – Eine Filmkritik. Online:
http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/leseraum/k
ommentar/613.html | 73
| 6
Auf Verweise in die Romane wird weitgehend verzichtet, da die
Seitenzählungen in den verschiedenen Ausgaben oft eklatant
voneinander abweichen. | 74
| 7
Vgl.: Petzold, D.: Die Harry Potter-Bücher: Märchen, fantasy
fiction, school stories – und was noch? In: Spinner, K. H.
(Hg.): Im Bann des Zauberlehrlings? Zur Faszination von Harry
Potter. Regensburg 2001, 21-41. | 75
| 8
Vgl. auch Bachl, G.: Gefährliche Magie? Religiöse Parabel? Gute
Unterhaltung. In: Spinner, K. H. (Hg.): Im Bann des
Zauberlehrlings? Zur Faszination von Harry Potter. Regensburg
2001, 42-59, v.a. 44; 50-55. | 76
| 9
„Harry […] konnte es nicht mehr ertragen, er selbst zu sein …
er hatte sich noch nie so sehr in seinem eigenen Kopf und
Körper gefangen gefühlt, sich nie so heftig gewünscht, jemand
anderer sein zu können, irgendjemand …“ (HP 5, 964). „›IST MIR
EGAL! […] ICH HAB GENUG, ICH HAB GENUG GESEHEN, ICH WILL RAUS,
ICH WILL, DASS ES AUFHÖRT, MIR IST JETZT ALLES EGAL –‹“
(Rowling, J. K.: Harry Potter und der Orden des Phönix. Aus d.
Engl. v. K. Fritz. Hamburg 2003, 966).Ebenso: „Er hatte es
satt, der zu sein, der angestarrt wurde und über den man die
ganze Zeit redete. Wenn nur einer von ihnen wüsste, wenn nur
einer die leiseste Ahnung hätte, wie es war, wenn einem all
diese Dinge passierten …“ (Ebd., 257). | 77
| 10 Dies tritt auf alle im NT enthaltenen
Prophezeiungen um die Geburt Jesu zu (vgl. Mt 1,20-23; 2,1-6.13.15.18.20-23; 3,3; ebenso: Lk 1,31-33; 2,10-12.29-35; 3,4-6). Höchstens ließen sich das
Wort des Täufers, dass Jesus die Spreu vom Weizen trennen und
sie verbrennen werde (vgl. Mt 3,12) und der Hinweis des Simeon, dass viele durch Jesus zu
Fall kämen (vgl. Lk 2,34), als Drohung verstehen, aber auch sie richtet sich
nicht gegen eine oder mehrere bestimmte Personen. Besonders
deutlich macht Lk 4,18f. die Unbedrohlichkeit Jesu: Das Zitat aus Jes 61,1f. bricht ab, unmittelbar bevor von der „Vergeltung“
Gottes die Rede ist. | 78
| 11 Vgl. anfanghaft schon Hebr 2,14, dann aber vor allem in der patristischen Zeit. Vgl.
dazu: Schwager, R.: Der Sieg Christi über den Teufel. Zur
Geschichte der Erlösungslehre. In: Ders.: Der wunderbare
Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre. München
1986, 32-53. | 79
| 12 Nebenbei sei bemerkt, dass der Name
Lily im Englischen auch die Lilie bezeichnet, jene
Blume, die in der christlichen Kunst ein Symbol für Reinheit
ist und konkret auch für Maria, die Mutter Jesu, steht (vgl.:
Maar, M.: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte.
Berlin 2002, 60). | 80
| 13 Vgl. dazu genauer: Drexler, Ch. / Wandinger,
N.: Harry Potter und die Theologie des Opfers. In:
Dies. (Hg.): Leben, Tod und Zauberstab. Auf theologischer
Spurensuche in Harry Potter. Mit Beiträgen von Ch.
Drexler, T. Peter, A. Walser und N. Wandinger (Literatur –
Medien – Religion 11). Münster - LIT 2004, 49-64 sowie:
Bridger, F.: A Charmed Life. The Spirituality of Potterworld.
New York, N.Y., 2002, 94-99. | 81
| 14 Rowling, J. K.: Harry Potter und der Orden des
Phönix. Aus d. Engl. v. K. Fritz. Hamburg 2003, 987. | 82
| 15 Manche vermuten, dass Harry selbst ein
„Horcrux“ sei, was bedeutete, dass Voldemort nicht umgebracht
werden könnte, solange dieser „Horcrux“ existiert. Ob es
möglich ist, einen „Horcrux“ zu zerstören oder seinen Zauber
aufzuheben ohne den Träger zu vernichten, hat Rowling noch
nicht verraten. | 83
| 16 Dies ist ein wichtiges biblisches Motiv des
Umgangs Gottes mit dem Bösen (vgl. z. B. Ps 57,7; dazu Schwager, R.: Brauchen wir einen Sündenbock?
Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Thaur 31994,
74-81). | 84
| 17 Auch an das patristische Motiv der Überlistung
des Teufels könnte man durchaus Anklänge sehen (vgl. die
Literatur oben bei Anm. 11), obwohl bei genauerer Betrachtung
Voldemort nicht als adäquates Pendant zur Teufelsvorstellung
der Bibel gelten kann. Dazu zeigen ihn die Romane zu sehr
selbst als verletzten Menschen mit schwerer Vergangenheit. | 85
| 18 Vgl. Maar, M.: Warum Nabokov Harry
Potter gemocht hätte. Berlin 2002, 156. | 86
| 19 Vgl. zu diesen Fragen Drexler, Ch. / Wandinger,
N.: Harry
Potter und die Theologie von Heilung und Vergebung. In:
Dies.: Leben, Tod und Zauberstab. Auf theologischer Spurensuche
in Harry Potter. Mit Beiträgen von Ch. Drexler, T.
Peter, A. Walser und N. Wandinger (Literatur – Medien –
Religion 11). Münster - LIT 2004, 29-36, sowie Peter, T.: The
Story of a Scar – Harry Potter als Sinnbild verwundbarer und
verwundeter Geschöpflichkeit. In: Ebd., 103-127. |
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