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Der Lektor als Feuilletonleser
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Der Lektor als Feuilletonleser

Ein Interview mit Florian Kessler. Von Claudia Dürr

 

Florian Kessler wurde 1981 in Heidelberg geboren und  arbeitet seit 2015 als Lektor im Hanser-Verlag. Zuvor studierte er Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Mit seinem 2014 erschienenen Zeit-Artikel "Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ löste er eine Debatte über das Herkunftsmilieu der Studierenden an deutschen Schriftsteller-Ausbildungsstätten aus. Facebook und Twitter gehören für Kessler zum integralen Bestandteil literarischer Öffentlichkeit, insofern ist er ein vielleicht typischer Vertreter des Berufsbildes Lektor in der Digitalmoderne. Traditionell galt der Lektor als „der unsichtbare Zweite“[1] im Prozess literarischer Produktion. Doch mit der Ausweitung seines Aufgabengebiets um Vermarktungsaspekte und mit der sukzessiven Anerkennung kollaborativer Momente in kreativen  Prozessen ist das Interesse an diesem Beruf stetig gewachsen.[2] Lektorinnen und Lektoren begleiten die Entstehung  literarischer Texte, gleichzeitig nehmen sie durch ein „Anderswissen“[3], das sie vom Schreibenden unterscheidet, den Blick von außen ein. Sichtbarer Teil dieser literarischen Öffentlichkeit ist die Literaturkritik im Feuilleton, die vom Lektorat antizipiert, rückblickend analysiert oder auch kommentiert werden kann.

Im Interview mit Claudia Dürr äußert sich Florian Kessler über sein Verhältnis zur Literaturberichterstattung, die Zeitungsinstitution Messebeilage und seine Wünsche an den Literaturjournalismus.

Claudia Dürr: Letzten Herbst zur Frankfurter Buchmesse haben Sie öffentlich Literaturbeilagen ausgewertet und kommentiert. Normalerweise geschieht sowas intern. Was war Ihre Intention?

Florian Kessler: Im Verlag liest man Literaturkritik sicherlich besonders auf die Erwähnungen der eigenen Veröffentlichungen hin. Andere Rezensionen kommen eher vor, wenn über literarische Tendenzen oder auch einzelne für das Geschehen wesentliche Stimmen nachgedacht wird. Die Beilagen in ihrer Gesamtheit mit der riesigen, fantastischen Vielzahl von Rezensionen erzählen eine viel umfassendere Geschichte, die mich grundsätzlich interessiert und mir auch ganz einfach Spaß macht. Die Schwerpunktsetzungen der einzelnen Zeitungen sind unterschiedlich, aus ihnen allen zusammen kann man viel darüber erfahren, wie es um die literarische Öffentlichkeit steht. Wenn man alle Beilagen zusammenlegt, sieht man überhaupt erst, was für einen ungeheuren Reichtum an Reflexionen und Meinungen zu Literatur die Feuilletons in diesen Jahren hervorbringen – das gerät manchmal ja etwas in Vergessenheit. 

Claudia Dürr: Wie würden Sie Ihre berufliche Feuilletonlektüre charakterisieren?

Florian Kessler: Ich finde Literaturkritik wichtig, und zwar gerade nicht lediglich als Aufmerksamkeitsinstrument für Bücher eines Verlages. Sondern als Selbstverständigung der literarischen Welt, durch die Ästhetiken erklärt, kritisiert, weitergetrieben werden.

Claudia Dürr: Aus welchen Komponenten besteht Ihre berufliche Feuilletonlektüre? Gibt es Rituale, abonnierte Zeitungen, Perlentaucher, social Media? Oder bekommt man alles in Form von Alerts und Presse-Clippings durch die hauseigene Presseabteilung zugespielt?

Florian Kessler: Zuhause habe ich die SZ abonniert. Bei ZEIT, Spiegel und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und oft auch der Literarischen Welt gucke ich eigentlich immer nach, was berichtet wird, das kann ich durch den Verlag. Vor allem aber kriegt man ja durch Perlentaucher und Facebook & Twitter eigentlich immer mit, worüber gerade diskutiert wird, da klicke ich schon viel herum. Ab und zu suche ich auch vor längerer Zeit erschienene Rezensionen. Weil ich keinen Archiv-Zugang habe, mache ich das dann oft über die Volltextsuche bei der ZEIT und für FAZ und SZ bei buecher.de

Claudia Dürr: Wie nehmen Sie die Literaturberichterstattung in der Langzeitperspektive wahr? Beobachten Sie Trends, Veränderungen (zum Guten oder Schlechten)?

Florian Kessler: Ich war bisher jedes Mal überrascht über die statistischen Auswertungen durch das Innsbrucker Zeitungsarchiv und den Perlentaucher. Ich selbst habe immer lediglich das sehr diffuse Gefühl, dass es früher einfach mehr Kritiken waren. Die Entwicklung hin zu einer größeren Bandbreite der literaturkritischen Formate weg von reiner Rezensionskritik finde ich auf jeden Fall gut, solange es zugleich noch Rezensionen und wirkliche Beschäftigungen mit Inhalten gibt – bedenklich an der Entwicklung ist aus Verlagsperspektive allerdings, dass neben allerlei allein schon umfangsmäßig großen Formaten „kleine“, minoritäre Titel oft nicht mehr richtig vorkommen. Für Verlage stellt sich da natürlich verstärkt die Frage, wie sie überhaupt Öffentlichkeit für solche Titel finden sollen.

Claudia Dürr: Im Zusammenhang mit den Kritiken des Romans „Stella“ haben Sie sich zu einem Statement auf FB entschlossen. Wie sehen Sie diese „Intervention“ rückblickend? Können Sie den Unmut und die Kritik an Ihren Postings nachvollziehen?

Florian Kessler: Na klar. Das war spontan geschrieben, etwas kühles Blut wäre nicht schlecht gewesen, das habe ich schon daraus gelernt. Vor allem konnte bei meinem Posting der Eindruck entstehen, dass ich Literaturkritik als solche abwerten und kritisieren wollte – das war mir sehr unangenehm, denn ich finde unbedingt, dass Literaturkritik möglichst klar und genau und selbstredend auch schonungslos ihre Gegenstände besprechen und kritisieren muss. Zugleich finde ich aber schon erstrebenswert, dass bei solchen Aushandlungen nicht lediglich Rezensentinnen und Rezensenten dabei sein sollten. Das Gespräch und auch der dann hoffentlich konstruktive Streit durch Feuilletons, aber ebenso Blogs, Tweets und manchmal eben auch laute Facebook-Einträge von Verlagsleuten ist etwas Gutes, wenn man an literarische Öffentlichkeit glaubt.  

Claudia Dürr: Der Lektor ist ein spezieller Leser: Wie funktioniert das „Switchen“ zwischen dem Blick des Lektors auf einen noch beweglichen Text hin zu einer Vorstellung der Wahrnehmung des abgeschlossenen Textes von außen, einem wertenden Blick der RezipientInnen auf das Buch. Imaginieren Sie unterschiedliche Lesarten, unterschiedliche LeserInnen?

Florian Kessler: Die ganze Arbeit an Manuskripten, Titelformulierungen, an der Vorschau für den Buchhandel, an der Präsentation von Autorinnen und Autoren zielt unweigerlich immer auf die Frage ab, auf was für eine Öffentlichkeit man mit dem jeweiligen Projekt stoßen könnte. Sicher gibt es dabei Bücher oder auch Autorinnen und Autoren, die eher im Feuilleton wahrgenommen werden, und andere, die stärker über den Buchhandel oder auch Mundpropaganda oder ganz andere Kanäle ihre Öffentlichkeit finden.  Es ist interessant und macht auch ganz einfach Spaß, daran zu arbeiten und darüber nachzudenken, auf wen das jeweilige Buch in welcher Weise treffen sollte, auch wenn dann oft alles ganz anders kommt als gedacht.

Claudia Dürr: Gibt es auch einen privaten Feuilletonleser Florian Kessler und wofür interessiert der sich?

Florian Kessler: Ich finde Feuilleton einfach gut, was für ein Privileg, in einem Sprachraum mit derart vielen Diskussionen und Berichten zur Kultur zu leben. Mir gefallen da die unterschiedlichsten Dinge, Gossip und Akademismus, mir vollkommen fremde Themengebiete und Besprechungen zu Büchern, deren kompletten Werdegang und Ansatz man hautnah mitbekommen hat … 

Claudia Dürr: Wie sind die Beilagen zur diesjährigen Leipziger Buchmesse Ihres Erachtens ausgefallen?

Florian Kessler: In meiner Zusammenfassung wird ein Stück weit deutlich, wie unterschiedlich die Ansätze und Bauweisen der einzelnen Zeitungsbeilagen sind, das finde ich faszinierend. Ganz überwiegend bestehen die Beilagen ja aus Rezensionen, dennoch sind die Schwerpunktsetzungen und ästhetischen Markierungen jeweils sehr unterschiedlich und erzählen viel davon, was die Zeitungen jeweils in die Gegenwartsliteratur hineindenken. Was ich mich immer frage: Warum es nicht mehr „Aufmacher“ gibt, die noch viel stärker grundsätzlich symptomatisieren, was gerade los ist in der Literatur, was diese Flut von Büchern bedeuten könnte, was für Gegenwartstendenzen zur Zeit besonders auffällig sind. Aber vielleicht ist das auch nur mein Blick auf Literatur, wer weiß, die Beilagen jedenfalls erzählen ihre ganz eigenen Geschichten, und schönerweise auch in diesen Jahren unglaublich viele.  

 


Anmerkungen:

[1] Vgl. Ute Schneider: Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag. Göttingen: Wallstein 2005.

[2] Vgl etwa aktuell: Johanne Mohs, Katrin Zimmermann, Marie Caffari (Hrsg.): Schreiben im Zwiegespräch. Praktiken des Mentorats und Lektorats in der zeitgenössischen Literatur. Bielefeld: transcript 2019.

[3] „Nicht besser wissen – anders wissen“. Interview mit Jo Lendle von Johanne Mohs, in: Schreiben im Zwiegespräch, S. 151–160, S. 157.