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Abstract Ruggeri – Universität Innsbruck

Die Dolomitenladiner und die nationale Frage

Die Bergwelt als Medium der Identitätsvermittlung und Bergsteigen als Instrument kultureller Kolonisierung im Kontext des sozialen Wandels

 Erstbetreuer: Kurt Scharr

Zweitbetreuer: Elena dai Prà

 

Viele Belege für die Nationalisierung des ländlichen Raumes zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert stützen sich stark auf mediale Quellen und Interpretationen der Nationalisten selbst – Quellen, die zumeist von bürgerlich-normativen Diskursen geprägt und beeinflusst sind. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass diese Quellen oft bemerkenswert wenig über die ländliche Bevölkerung selbst aussagen. Denn so verlockend es auch sein mag, sich auf solche Berichte zu stützen, um die historischen Erfahrungen von Individuen oder Gemeinschaften zu verstehen, so sagen die gedruckten Medienquellen doch oft mehr über ihre Verfasser aus als über die Subjekte, über die sie berichten. Ähnlich verhält es sich mit wissenschaftlichen Beschreibungen und künstlerischen Darstellungen der Dolomiten – ein Begriff, der im 20. Jahrhundert zunächst in geologischen Kreisen zum Teil kritisch aufgenommen und später durch die europäische Reiseliteratur populär gemacht wurde: Ihre unterschiedlichen Repräsentationen sagen mehr über die Wahrnehmung der Bergwelt durch die bürgerlichen Eliten Europas aus als über die Berge selbst.

Ausgehend von einer kritischen Analyse der schriftlichen Quellen, die von Reisenden, Geologen, Alpinisten und Touristen stammen, soll eine postkoloniale Geschichte der Dolomiten und der Dolomitenladiner erarbeitet werden. Es soll gezeigt werden, dass die Bergwelt bereits vor dem modernen Alpinismus und dem aufkommenden Nationalismus das Selbst- und Weltbild der Dolomitenladiner prägte und dass mit dem sozialen Wandel während des 19. und 20. Jahrhunderts ein Prozess kultureller Kolonisierung einsetzte.

 

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden die Dolomiten zum Ziel von Bergsteigern und Touristen. Der soziale Wandel der einheimischen Bevölkerung eröffnete neue wirtschaftliche Möglichkeiten und schuf interessante unternehmerische Räume. In diesem Zusammenhang hat die Geschichtsschreibung zu Recht den Zusammenhang zwischen Alpinem Tourismus und nationaler Frage hervorgehoben und den Einfluss der aufkommenden Tourismuswirtschaft auf die Herausbildung einer autonomen ladinischen Identität betont. Selten wurde jedoch ausreichend hinterfragt, inwieweit diese Entwicklung auf eine physische und symbolische Kolonisierung der bestehenden Berggesellschaft und ihrer Umwelt abzielte. Diese Forschungslücke spiegelt eine in den Geschichtswissenschaften weit verbreitete Sichtweise wider, die Berggesellschaften als „primitiv“ oder „leer“ betrachtet. Im Gegensatz dazu versucht die vorliegende Arbeit, die Bergwelt und ihre soziale Organisation aus der Dimension historischer Pathologien herauszuholen. Die ladinische Geschichte soll nicht als Relikt einer Gesellschaft verstanden werden, die die Moderne anachronistisch überlebt hat, sondern als Prozess der Identitätsbildung, der im Vergleich zu den industrialisierten Gesellschaften andere Wege gegangen ist. Ein entscheidender Faktor für diesen Unterschied war die Tatsache, dass die ladinische Gesellschaft über Jahrhunderte keine Schriftsprache besaß. Die ladinische Sprache und ihr kohärentes mündliches Wissen mussten sich damals mit den Nationalsprachen und der modernen Geschichtsschreibung auseinandersetzen, die beide an die grundsätzliche Objektivität des „Wortes“ glaubten. Das Fehlen einer einer literarischen Tradition bedeutet jedoch keineswegs, dass die ladinischen Gemeinschaften geschichts- und kulturlos gewesen wären. Im Gegenteil: So wie die gedruckten Medien der ersten Reisenden mehr über ihre Autoren als über die behandelten Themen aussagen, so sagen auch die mündlichen Überlieferungen der Dolomitenladiner mehr über ihre Träger als über die Welt, die sie gleichzeitig schufen.

 

In der vorliegenden Arbeit soll also problematisiert, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt werden, dass ausschließlich eine Elite ladinischer Intellektueller, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem in den an die Dolomitentäler angrenzenden Städten lebte, dazu beigetragen hat, die Identität der Ladiner zu formen und mit Inhalten zu füllen. Dieser historisch belegte und viel diskutierte Aspekt verkennt meines Erachtens die Dynamik, die zur Entstehung der Identität der Ladiner geführt hat, denn er scheint die Identitätsbildungsprozesse, die den modernen Nationalismen vorausgingen, als nicht existent oder irrelevant abzutun. Folgt man genau dieser Argumentation, so erscheinen die politischen Forderungen nach Anerkennung der Identität der Ladiner um die Jahrhundertwende bestenfalls als – unter anderem etwas naive – Phantasien einer kleinen Zahl von Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig in die politische Dynamik der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts hineingezogen wurden. Aus dieser Perspektive muss betont werden, dass die politische und kulturelle Bewegung des Nationalismus und die damit verbundenen Identitätsmechanismen ein sehr modernes Phänomen sind, dessen Ausbreitung bereits tiefgreifende Veränderungen voraussetzte.

 

Die Arbeit bewegt sich also auf zwei Interpretationsebenen. Die erste betrifft die Rekonstruktion der Geschichte der ladinischen Gemeinschaften vor dem Aufkommen des modernen Alpinismus in den Dolomiten, was in einigen Fällen zu einer regelrechten Wiederholung und Neuinterpretation der bisher oft oberflächlich und voreilig beschriebenen markanten Ereignisse führt, vor allem in Bezug auf die Frage nach den Beziehungen zwischen den verschiedenen Kulturen im Dolomitenraum sowie nach dem Verhältnis zwischen Natur und Kultur und den damit verbundenen Aktivitäten in einer tief geprägten Bergwelt. Ein kontinuierlicher Vergleich dieser Zusammenhänge wird gemeinsame Phänomene und Dynamiken aufzeigen, die die gesamte dolomitenladinische Gemeinschaft betroffen und geprägt haben. Damit wird eine zweite Interpretationsebene berührt: Einerseits ermöglicht sie eine Kontextualisierung und kritische Analyse der Ereignisse, die die Entstehung einer dritten und neuen sprachlichen Identität im Kontext des habsburgischen Tirols bestimmt und geprägt haben; andererseits kann sie Einblicke in umfassendere gesellschaftliche Transformationen geben, die nicht nur die ladinische Gemeinschaft betrafen.

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