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Jus III – Universität Innsbruck

Jus III: Staats-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht (W. Antoniolli, F. Ermacora, G. Winkler, H. Klecatsky), Völkerrecht (E. Reut-Nicolussi, H. Kipp)

Der erste nach der Befreiung ernannte Öffentlich-Rechtler Walter Antoniolli (1907-2006) hat sich 1947 in Wien mit einer von Ludwig Adamovich sen. und Hans Schima begutachteten Schrift über die „Rechtssetzung in der Selbstverwaltung“ habilitiert.

In Innsbruck legte Antioniolli 1954 ein in der Tradition von Adolf J. Merkl stehendes „Allgemeines Verwaltungsrecht“ vor, wie Hans Klecatsky sogleich im Oktoberheft der „Juristischen Blätter“ urteilt: „Das Werk hält sich im großen und ganzen an den Aufbau, den die hervorragenden Österreicher [Rudolf H.] Herrnritt (‚Grundlehren des Verwaltungsrechts‘, 1921) und [Adolf J.] Merkl (‚Allgemeines Verwaltungsrecht‘, 1927) ihren Werken gegeben haben.“ Günther Winkler berichtet, dass Antoniolli dieses Lehrbuch in den Seminaren auch an Hand der deutschen Verwaltungsrechtstradition von Otto Mayer, Fritz Fleiner,
Walter Jellinek, Karl Kormann und Ernst Forsthoff diskutieren ließ.

1956 an die Universität Wien berufen fungierte Antoniolli von 1958 bis zu seiner Emeritierung 1977 auch als Präsident des Verfassungsgerichtshofs. (Vgl. Susanne Lichtmanneger: Geschichte des Lehrkörpers der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck 1945-1955, 2 Bände, phil.Diss., Innsbruck 1998, Band 2, 3-11. Und Günther Winkler: Der Rechtslehrer
Walter Antoniolli. Ein gegenwartsbezogener Rückblick aus Anlass seines 90. Geburtstages, in: Juristische Blätter 119 (1997), 754-756
)

Bei Antoniolli habilitierten sich Felix Ermacora und Günther Winkler: Felix Ermacora (1923-1995), 1951 für Staatslehre und Verfassungsrecht habilitiert, in jungen Jahren auch Heidegger, Gide, Camus, Sartre, Ernst Jünger studierend, war ab 1956 Professor für Staatsrecht an der Universität Innsbruck. Aus Innsbrucker Jahren stammt sein „Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte“ (1963).

1951 war Ermacora noch Anhänger der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens gewesen, was von Walter Antoniolli und Godehard Ebers, den Gutachtern seiner Habilitationsschrift „Das Wesen und die Grundformen der Zentralisation und Dezentralisation“ auch festgestellt wurde: „Den Weg (...) sucht er mit den Mitteln der normativen Methode des kritischen Rechtspositivismus zu finden, der Recht gleich Norm setzt. Damit scheidet von vornherein jede rechtspolitische Betrachtung aus.“ Ende der 1950er Jahre zeigte sich Ermacora schon als Gegner von Kelsens Naturrechtskritik. Der spätere langjährige ÖVP-Nationalrats-abgeordnete Ermacora forciert nun ein „wertgeprägtes Menschenbild“, orientiert auf eine „inhaltlichen Grundnorm“, die „im freiheitlichen Rechtsstaat nichts anderes als die Achtung der Menschenwürde“ sein könnte.

Von 1956 bis zu seiner Berufung an die Universität Wien 1964 lehrte Ermacora als Professor an der neu errichteten Innsbrucker Lehrkanzel „Öffentliches Recht II“. (Vgl. Manfred Nowak: Felix Ermacora (1923-1995), in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), 278-281)

Fünf Jahre nach Ermacora hat sich 1956 Günther Winkler (Jg. 1929) bei Walter Antoniolli mit einer Arbeit über den „Bescheid“ habilitiert. Auf Initiative von Antoniolli wurde er 1959 in Wien zum Professor ernannt. Winkler war wie Ermarcora erst begeistert von der „utopisch anmutenden“ Erstauflage der „Reinen Rechtslehre“ (1934). Winkler, der Alfred Verdross’ kritischer Natur-rechtsrehabilitation zuneigt und diesem das Verdienst, die „rationale Wertbegründung“, die „wissenschaftliche Wertlehre“ von Viktor Kraft für die Rechtswissenschaft gewonnen zu haben, zuerkennt, spricht von der Kelsen-Merklschen Fehlmeinung, „dass die Methode den Gegenstand bestimmt“.

Winklers Begründung eines „empirisch-rationalen Rechtsdenkens“ diente die in den späten 1980er Jahren einsetzende Wieder-erinnerung an die Tradition der österreichischen Staatsrechtswissenschaft um 1900, hervorgegangen aus dem Wiener Umfeld des nach 1892 in Heidelberg lehrenden Georg Jellinek. In der Reihe „Forschungen aus Staat und Recht“ gab Winkler im Sinn einer historischen Relativierung der „Wiener Rechtstheoretischen Schule“ mehr oder weniger vergessene Schriften von Felix Stoerk (1885), Edmund Bernatzik (1890), Gustav Seidler (1905), Friedrich Tezner (um 1900) oder von Ernst Seidler (1930) heraus.  (Vgl. Günther Winkler: Die Rechtswissenschaft als empirische Sozialwissenschaft. Biographische und methodologische Anmerkungen zur Staatsrechtslehre, Wien 1999)

Winkler pflegte Verbindung zum „liberal-konservativen österreichischen Akademikerbund“: „Ich wurde neben Reinhard Kamitz Vizepräsident dieser Vereinigung und entfaltete mich dort zum Protagonisten für Freiheit und Würde des Menschen in einem demokratischen Rechtsstaat und in einem geeinten Europa.“ Winkler verwies auch auf seine Beratertätigkeit für Bundeskanzler Josef Klaus, dessen Verfassungsberater er in den Jahren der ÖVP-Alleinregierung von 1966 bis 1970 war.

 

Hans R. Klecatsky

Hans R. Klecatsky wurde im Sommersemester 1964 in Innsbruck ein halbes Jahr vor seiner im Jänner 1965 erfolgten Ernennung zum Ordinarius wegen seiner hervorragenden, mittlerweile nicht nur juristisch, sondern auch sprachlich darstellerisch als „klassisch“ geltenden Studien unter Erlass von Kolloquium und Probevorlesung habilitiert: Er hat die „Privatwirtschafts-verwaltung in Österreich erstmals herausgestellt und ihre weitreichende Beziehung zum Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung entwickelt“. (Vgl. Peter Pernthaler: Nachruf auf Hans R. Klecatsky, in: Juristische Blätter 137 (2015), 364f.)

Die Lehre des Öffentlichen Rechts war in Innsbrucker Jahren ab den späten 1960er Jahren mit drei Professuren vertreten. Neben Hans Klecatsky lehrte der 1959 nach langen öffentlich politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in der Nachfolge von Walter Antoniolli berufene ehemalige ÖVP-Bundesminister und vormalige stellvertretende Vorarlberger Landeshauptmann Ernst Kolb.

1968 wurde eine Professur „Öffentliches Recht III“ errichtet und mit Peter Pernthaler besetzt. Pernthaler hatte sich 1963 noch bei Felix Ermacora in Innsbruck mit einer Arbeit über die „Grundlinien der österreichischen Wehrverfassung“ habilitiert. Er war durch auch Hans Klecatsky thematisch nahestehende Arbeiten zu den „verfassungsrechtlichen Schranken der Selbstverwaltung“ ausgewiesen. Pernthaler wurde deshalb 1967 nach wenigen Jahren als Professor an der Hochschule für Bodenkultur in Wien gleichrangig an erster Stelle mit Friedrich Koja (später Professor in Salzburg) für das „Öffentliche Recht III“ genannt.

Hans Richard Klecatsky (1920-2015), seit 1945 im Justizdienst, von 1951 bis 1959 im Verfassungsdienst tätig, dann bis 1965, bis zur Berufung auf das in der Nachfolge von Felix Ermacora vakante Ordinariat des Öffentlichen Rechts an der Universität Innsbruck (Hof-) Rat des Verwaltungsgerichtshofs, Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofs, führt in einer 1990 ver-öffentlichten Autobiographie zweierlei intellektuelle Bildung an, einerseits das Rechtsstudium bei Wiener Lehrern wie Alfred Verdross, Karl Wolff, Heinrich Klang oder Ludwig Adamovich sen. und andererseits die Lektüre von Autoren wie Ernst Jünger, Gottfried Benn, Knut Hamsun, Ernest Hemingway, Albert Camus, das Interesse für den „Mythos des Einzelnen“, auch die Lektüre von Arthur Schopenhauer oder Sören Kierkegaard. Viele dieser Autoren waren Vertreter der so genannten „Konservativen Revolution“, die von Georg Lukács in der „Zerstörung der Vernunft“ in die Reihe des bürgerlichen Irrationalismus gestellt worden sind. (Vgl. auch zur Tätigkeit als Bundesminister für Justiz 1966 bis 1970 Hans R. Klecatsky: Autobiographie, in: Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben, hrg. von Hermann Baltl, Nikolaus Grass und Hans Constantin Faußner, Sigmaringen 1990, 165-182. 2003 ist diese Selbst-darstellung leicht verändert erschienen in Clemens Jabloner und Heinz Mayer (Hrg.): Österreichische Rechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, Wien 2003, 73-91)

Rechtstheoretisch fällt an Klecatskys wissenschaftlichem Werk – neben der Orientierung an der deutschen bürgerlichen Rechts-staatstradition aus gegenrevolutionären Nach-1848er-Jahren aber auch der Einfluss Hans Kelsens auf. Die Beschäftigung mit Kelsen mündete 1968 in der von Klecatsky betriebenen großen Textausgabe der Wiener Rechtstheoretischen Schule (Kelsen, Merkl, Verdross) Es war Hans Klecatskys Verdienst die Texte der Kelsen-Schule wieder leichter zugänglich gemacht zu haben. 1968 hat Hans Klecatsky Kelsen in Berkeley (Kalifornien) besucht. Nach Kelsens Tod wurde die Abschrift des Besuch-Gesprächs 1973 mit einem Nachruf Klecatskys in den „Juristischen Blättern“ veröffentlicht.

Das Thema von der rechtstaatlichen Bindung des Sozial- und Wirtschaftsstaats, von der gesetzmäßig gebundenen Verwaltung, das Bild vom willkürlichen „Ermessensstaat“ – oft auch rechtsdogmatisch getarnte politische Kritik der im Gefolge der faschistischen Erfahrung nach 1945 durchgeführten Verstaatlichung – präzisierte Hans Klecatsky 1957 in den „Juristischen Blätttern“ im Aufsatz „Die Köpenickiade der Privatwirtschaftsverwaltung“.

1961 gab Hans Klecatsky gemeinsam mit Leopold Werner, Senats- und später Vizepräsident des Verwaltungsgerichtshofs, einen ersten vollständigen Kommentar des Bundesverfassungsrechts unter Einschluss der verfassungsgerichtlichen Judikatur heraus. In je unterschiedlichen Phasen ihres Berufslebens – Werner war 15 Jahre älter – waren sie seit 1945 an der Seite „der Ver-fassungsväter der Zweiten Republik“ gestanden. (Vgl. Leopold Werner und Hans Klecatsky: Das österreichische Bundes-verfassungsrecht. (Manzsche Große Gesetzesausgabe I), Wien 1961, XX und 844 Seiten)

Im Mai 1965 hielt Hans Klecatsky die Innsbrucker Antrittsvorlesung „Hat Österreich eine Verfassung?“ Die 1957 initiierten Bemühungen um systematische Wiederverlautbarung des zersplitterten Verfassungsrechts waren Mitte der sechziger Jahre gescheitert, nicht zuletzt da selbst im Verlautbarungsfall rund fünf Dutzend Verfassungsvorschriften außerhalb des Textes des B-VG hätten bleiben müssen, und da der Verfassungsdienst davon ausging, dass eine Wiederverlautbarung sich nicht nur wegen einer geplanten Reform der Grund- und Freiheitsrechte, sondern auch wegen anderer politisch angedachter Verfassungs-reformen nur zu schnell von neuem überleben wird: So standen neben der Grundrechtsreform Novellierungen zum Föderalismus, zur Vermeidung der divergierenden Rechtsprechung der Höchstgerichte, zum Bundeshaushaltsrecht oder zum Prüfungsrecht des Rechnungshofes an.

Selbst eine „Neukundmachung“ schien Klecatsky kein Ende der „Methode der flickwerkartigen und systemlosen Verfassungsänderungen“ zu garantieren, zumal er eine generelle Krise der Verfassung als solcher zu erkennen glaubte, die er unter Rückgriff auf die Staatsrechtslehre der Jahrhundertwende historisch analysierte: Die ursprünglich (revolutionären) Verfassungsentscheidungen des bürgerlichen 19. Jahrhunderts verebben im Zeitalter eines postliberalen, massen-demokratischen, um antagonistische Gruppeninteressen zentrierten Parlamentarismus. Die normativ „ruinenhafte“ Erosion der Verfassung scheint Klecatsky schon 1964 irreversibel.

Klecatsky beschrieb das juristische Nachdenken „über Dauer und Wandel der Verfassung“ nicht nur unter Bezugnahme auf die Kelsen-Schule, sondern auch auf die Vorläufer der Wiener Rechtstheoretischen Schule, so auf Rudolf Herrnritt und
Georg Jellinek. Hans Kelsens und Adolf Merkls „normlogische“ Überlegungen zur Abänderlichkeit der „positiv-rechtlichen Verfassung“ und zur Unabänderlichkeit der „Verfassung im rechtslogischen Sinn“ einer hypothetisch vorausgesetzten „Grundnorm“ hat Klecatsky nach der 1953 im Göttinger Smend-Seminar erschienenen Dissertation des späteren sozial-demokratischen Bundesjustizministers der Brandt-Regierung Horst Ehmke beschrieben. Bei Ehmke fand Hans Klecatsky auch die entsprechende „Verfassungsänderungs“-Debatte innerhalb der Weimarer Staatsrechtslehre von Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Rudolf Smend bis hin zu Hermann Heller und Carl Schmitt reichend beschrieben vor.

Rudolf Herrnritt, Wiener Privatdozent und späterer Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofs, hatte die Frage nach der „(Un-) Abänderlichkeit“ der Verfassung 1901 in einem Band der von Edmund Bernatzik mit herausgegebenen „Wiener staats-wissenschaftlichen Studien“ noch im Licht der von Kelsen später bekämpften (Jellinek‘schen) Lehre von dem sich gegenüber der Rechtsordnung „selbstverpflichtenden“ Staat gedeutet: „Schwieriger [als die Bindung des „verwaltenden Staates“] gestaltet sich schon das Problem der Selbstbindung des Staates in seiner Funktion als Gesetzgeber.“ Auch wenn der Gesetzgeber derartige rechtliche Schranken etwa in Form erhöhter Zustimmungserfordernisse schafft, kann er auch „derart qualifizierte Normen“ unter Einhaltung dieser Zusatzkriterien wieder ändern. Auch wenn einige Staaten „die Gesetzgebung an eine materielle Schranke“ binden, in dem sie „gewisse Verfassungsbestimmungen“ (etwa „über die Ordnung der Gewalten im Staate, über die Staatsform“) „als unabänderlich erklären“, stellt sich für Herrnritt die Frage: „Ist es aber möglich, dass der souveräne Staat über diese formale Schranke hinaus sich selbst auch eine unübersteigliche materiellrechtliche Schranke für die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt setze?“ Herrnritt zweifelt, indem er die Frage der „thatsächlichen Unabänderlichkeit gewisser Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze“ in das außerjuristische „Gebiet der Ethik“ verweist.

In Georg Jellineks Wiener Vortrag aus dem Jahr 1906 konnte Klecatsky lesen: „Die Theorie schreibt dem souveränen Staate unbe-grenzte Willensmacht zu. Daher kann er auch seine Verfassung nach Gutdünken ändern, aufheben, eine andere an deren Stelle setzen. Und nicht etwa nur auf dem Wege des Rechtes. Die Verfassung eines Staates kann durch Gewalt eine totale Umwälzung erleiden. Jede Revolution zielt auf Verfassungsänderung. Da es über dem Staate keine Macht gibt, die solche Umwälzungen, mögen sie aus den Höhen oder den Tiefen kommen, ungeschehen machen kann, so schafft jede gelungene Revolution neues Recht.“

Die Verfassungen sind nach Jellinek in einem (bürgerlichen) „Zeitalter des Rationalismus“ mit seinem auch im parlamentarischen Ideal verankerten Glauben an die „Macht bewusster menschlicher Gedankenschöpfung“ entstanden. Der „erleuchtete Wille“ des parlamentarischen Gesetzgebers vermöge alle „Schäden der Gesellschaft zu heilen“: „Und über dem Gesetzgeber erhebt sich noch die höchste Macht der Grundgesetze, die festen Quadern, auf denen der ganze Staatsbau selbst ruht. Unerschütterlich durch die von ihnen eingesetzten Gewalten, nur nach ihren eigenen, schwer zu handhabenden Normen abänderlich, sollen diese Grundgesetze das Leben des Staates vermöge ihrer unwiderstehlichen Kraft in ferne Zeiträume leiten.“ Das „Irrationale der Wirklichkeit“ hat nach Jellinek aber den „Glauben an die Weisheit des Verfassungsgesetzgebers, wie den an die Weisheit des in seiner inneren Wesenheit so mystischen Gesetzgebers überhaupt erschüttert“. Der gesellschaftliche Widerspruch reißt auch die Verfassung in den geschichtlichen Fluss: „Die Grundgesetze, wie alle anderen, sind mit unentrinnbarer Notwendigkeit, mag dies zugegeben werden oder nicht, in den Fluss des historischen Geschehens gestellt.“ (Vgl. Horst Ehmke: Grenzen der Verfassungs-änderung, Berlin 1953, über Kelsen 27-33. Vgl. Einleitung zu Rudolf Hermann Herrnritt: Die Staatsform als Gegenstand der Verfassungs-gesetzgebung und Verfassungsänderung. Eine Studie aus der allgemeinen Staatslehre, Tübingen-Leipzig 1901. Vgl. Georg Jellinek: Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung. Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft am 18. März 1906, Berlin 1906)

Mit Georg Jellinek nannte Hans Klecatsky den Parlamentarismus als eine „institutionelle Quelle“, die zur Auflösung der Ver-fassungen geführt hat. Eine Quelle, die unter dem Titel der so genannten „Krise des Parlamentarismus“ selbst „rasch fragwürdig“ werden sollte, wobei Klecatsky aber Kelsens „kritisch relativistischer“ Verteidigung des bürgerlich demokratischen Parlaments gegen Carl Schmitt folgte. Nach Kelsen hat Schmitt nämlich den Parlamentarismus erst in Richtung einer „Lehre von der prästabilisierten Harmonie“, einer „Metaphysik des Zweiparteiensystems“ überhöht und überlastet, um ihn dann im Vor- und Umfeld faschistischer Bewegungen schon Mitte der 1920er Jahre umso effektvoller als dem eigentlichen „Volkswillen“ angeblich fremd bleibend fallen zu lassen, um polemisch davon zu sprechen, dass der Glaube, dass „aus Zeitungsartikeln, Ver-sammlungsreden und Parlamentsreden“ die „wahre und richtige Gesetzgebung“ entsteht, erledigt ist. In einer Schlussbemerkung zu seinem 1967 in Ministerjahren verfassten Aufsatz zum „Rechtsstaat heute“ merkt Klecatsky an, dass nur der Parlamentarismus als „verfassungsmäßiger Gesetzgeber“ gelten kann: Mit der seit der Jahrhundertwende 1900 von der bürgerlichen Rechtswissenschaft mit inszenierten „Krise des Parlamentarismus“ ist auch der „Rechtsstaat, die Freiheit aller und die Freiheit des Einzelnen in Flammen aufgegangen“, wie „meine Generation leidvoll erlebt hat“. (Vgl. Hans Kelsen: Das Problem des Parlamentarismus, Wien-Leipzig 1925, 39f.)

Bis in das hohe Alter kämpfte Hans Klecatsky gegen die Todesstrafe oder gegen Tendenzen zur Aufweichung des Folterverbots. Am 6. Februar 2007 kam Hans R. Klecatsky mit einigen Studierenden seines Seminars in berührend eindrucksvoller Weise in das Universitätsarchiv, um diesen die hier verwahrten Dokumente zur Abschaffung der Todesstrafe auch im standgerichtlichen Verfahren in seinen Ministerjahren am 7. Februar 1968 (durch einstimmigen Beschluss des Nationalrats) zu zeigen. Er wollte den jungen Rechtsstudierenden demonstrieren, wie gefährlich jede in das juristische Denken auch nur ansatzweise einsickernde Befürwortung der Todesstrafe ist, wie verwerflich jedes – selbst bloß von fern gedanklich hypothetische – Aufweichen des Folter-verbots ist. Auf der von ihm angelegten Sammelmappe „Abschaffung der Todesstrafe, des Standrechts“ vermerkte er handschriftlich: „Von großer historischer Bedeutung!“  (Universitätsarchiv Innsbruck, Nachlass Hans R. Klecatsky)

Unter einem kopierte er für seine Studierenden auch ein Schreiben an die Österreichische Sektion von Amnesty International betreffend „Todesstrafe in den USA“. Amnesty International hatte am 16. März 1994 an Klecatsky geschrieben: „Die Situation hinsichtlich der Todesstrafe hat sich in den USA nicht verändert, in 36 Staaten sowie im Bundesrecht und im Militärrecht ist sie noch in Kraft, im Jahre 1993 wurden 38 Exekutionen durchgeführt, darunter waren auch jugendliche Straftäter und geistig behinderte Menschen.“ Beunruhigend war, dass die Clinton-Administration „die Todesstrafe auf mehr als 40 weitere Delikte“ ausweiten wollte. Hans Klectasky antwortete am 21. März 1994: „Zu Ihrem Schreiben vom 16. März 1994, betreffend die Ab-schaffung der Todesstrafe in den USA, teile ich Ihnen mit, dass ich zu zahlreichen Malen, und dies in verschiedenen Figurationen, mich an amerikanische Stellen mit der Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe gewandt habe. (…) Bei dieser Gelegenheit darf ich darauf aufmerksam machen, dass während meiner Amtsführung als Justizminister in Österreich der letzte Rest der Todesstrafe, das standgerichtliche Verfahren wie die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Ausnahmegerichten überhaupt abgeschafft wurde (Bundesverfassungsgesetz BGBl. 1968/73, BGBl. 1968/74).“

Wiederholt unterstützte Hans Klecatsky auch die Erinnerung an den Widerstandskampf gegen den NS-Faschismus, so würdigte er 1991 Eduard Rabofsky, Mitglied der kommunistischen Widerstandsgruppe „Soldatenrat“ und später Leiter der Rechtsabteilung der Wiener Arbeiterkammer: seinen „Lebensweg aus der Arbeitslosigkeit in jungen Jahren in die politische Aktion, in die Kerker der Blutrichter, in die jahrzehntelange Kleinarbeit im wiedererstandenen demokratischen Österreich für eine zeitgemäße Rechts-entwicklung zum Nutzen des arbeitenden Menschen“. (Vgl. Hans R. Klecatsky: Brief an Eduard Rabofsky zum 80. Geburtstag, in: querela iuris. Gedächtnisschrift für Eduard Rabofsky (1911-1994), hrg. von Johann J. Hagen, Alfred Noll, Gerhard Oberkofler, Wien 1995, 143f.)

In den 1990er Jahren unterstützte Hans Klecatsky Opfer der repressiv ausbeuterischen Tiroler Heim- und Fürsorgeerziehung seit den Nachkriegsjahren, indem er einige von ihnen rechtlich beraten hat. (Vgl. u.a. die Beiträge zur „Heimerziehung“ von
Horst Schreiber und Manfred Kappeler, in: heim@tlos. Gaismair-Jahrbuch 2010, Innsbruck 2009, 132-175
)

In einem Geleitwort zu einer völkerrechtstheoretischen Studie des Innsbrucker Philosophen Hans Köchler wandte sich Hans Klecatsky 1998 gegen das drohende „Ende des Völkerrechts“ und gegen den „idealistischen Diskurs der Apologeten einer ‚schönen neuen Welt‘ der (nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers unangefochtenen) liberalen Demokratie“: „Der ideologische Triumphalismus, der allenthalben im Lager der welt-, d.h. machtpolitischen Sieger des Kalten Krieges zu be-obachten ist, ist Köchler als philosophischem Beobachter des unter den Zeichen einer ‚Neuen Weltordnung‘ ausgerufenen Paradigmenwechsels zutiefst suspekt.“ (Hans R. Klecatsky: Geleitwort zu Hans Köchler, Neue Wege der Demokratie. Demokratie im globalen Spannungsfeld von Machtpolitik und Rechtsstaatlichkeit, Wien 1998, V-VII)

Wiederholt wandte sich Hans Klecatsky gegen die drohende imperialistische NATO-Weltordnung, so 1999 gegen den Jugoslawien-Krieg, 2003 gegen den Irak-Krieg. Wiederholt unterstützte er Initiativen zur Aufrechterhaltung der österreichischen Neutralität, so 1998 etwa eine u.a. von den Wiener Universitätsprofessoren Thomas Schönfeld, Michael Weinzierl oder Emmerich Talos geplante Petition an Regierung und Parlament, so 2001 einen vom ehemaligen sozialdemokratischen Außenminister Erwin Lanc organisierten, an alle österreichischen Juristen und Juristinnen gerichteten Aufruf, sich für den „Schutz der durch das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955, BGBl. 211, erklärten immerwährenden österreichischen Neutralität“ einzusetzen.

 

Völkerrecht (E. Reut-Nicolussi, H. Kipp)

Im Juli 1958 war der langjährige Innsbrucker Völkerrechtsprofessor Eduard Reut-Nicolussi (Jg. 1888) kurz vor der Emeritierung verstorben. Der am Ende der 1920er Jahre aus der Internierung durch den Mussolini-Faschismus nach Innsbruck geflohene Südtiroler Rechtsanwalt und Abgeordnete im italienischen Parlament Reut-Nicolussi habilitierte sich 1931 mit einer Arbeit „Zur Problematik der Heiligkeit der Verträge“ für das Völkerrecht. Reuts naturrechtlicher Ansatz brachte ihn in „Gegensatz zur Wiener-schule mit ihrem übersteigerten formalistischen Rechtspositivismus“. 1934 zum Professor für Völkerrecht und Rechtsphilosophie ernannt zog sich Reut-Nicolussi bald die Feindschaft nazistischer Studenten zu, da er die sich abzeichnende „Achsenpolitik“, ein Bündnis von NS-Deutschland mit Italien zu Lasten der Südtiroler Selbstbestimmung, scharf ablehnte. Auch die austro-faschistischen Behörden hielten Reut-Nicolussi für einen Störfaktor mit Blick auf ihre Beziehungen zu Mussolini. Während der NS-Jahre wurde Reut-Nicolussi – er war 1939 aus Protest gegen das deutsch-italienische „Optionsabkommen“ für einige Wochen in die Niederlande geflüchtet – die Lehrbefugnis für das Völkerrecht entzogen. Pläne der Tiroler Gauleitung, Reut-Nicolussi an eine andere Hochschule, nach Kiel oder an die Technische Hochschule in Wien, zu versetzen, scheiterten am Widerstand des NS-Rektors Harold Steinacker. Dieser meinte, Reut-Nicolussi opponiert der „nationalen Bewegung“ nicht aus legitimistisch klerikaler Haltung heraus, sondern allein wegen seiner „auf Südtirol fixierten Haltung“. Nach 1945 war Reut-Nicolussi – so wie Franz Gschnitzer – wieder zentral in der Südtirol-Politik eingesetzt. (Vgl. Michael Gehler: Eduard Reut-Nicolussi und die Südtirolfrage 1918-1958, 2 Bände, Innsbruck 2007 und Peter Goller: Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848-1945), Innsbruck 1997, 357-371)

Im August 1958 erstellte die Innsbrucker Fakultät den Vorschlag für die Nachfolge Reut-Nicolussis:

  1. Heinrich Kipp (1910-1993, Ministerialrat Bonn, Privatdozent Würzburg),
  2. Gustav Kafka (1907-1974, erst 1955 in Graz mit einer Arbeit über „Verfassungskrisen als verfassungsrechtliches Problem“ habilitiert),
  3. Dietrich Schindler (jun., Jg. 1924, 1956 an der Universität Zürich mit einer Arbeit über „Gleichberechtigung von Individuen als Problem des Völkerrechts“ für Staats- und Völkerrecht habilitiert), und
  4. Wilfried Schaumann (1923-1971, bei Werner Kägi in Zürich mit einer Arbeit über „die Gleichheit der Staaten“ habilitiert, später Professor in Würzburg und Fribourg).

Geprägt vom rheinischen Katholizismus orientierte sich Kipp auch als Völkerrechtsprofessor an einem christlichen Naturrecht, etwa an der jesuitisch scholastischen Moralphilosophie von Viktor Cathrein. Von da ausgehend hat er jeden rechts-positivistischen Ansatz abgelehnt, so auch jenen von Hans Kelsen. Michael Stolleis fasst das staatsrechtlich rechtsphilosophische Denken von Heinrich Kipp in seiner „Geschichte des öffentlichen Rechts IV“ 2012 (S. 197) zusammen: „Wie in allen Umbruchszeiten, in denen die Gemüter aufgewühlt sind, finden sich auf diesem Feld auch Rückgriffe auf religiöse Weltbilder, von denen aus die Distanzen zum weltlichen Staat abgemessen werden. So lieferte Heinrich Kipp (1910-1993), der Schüler von
Godehard Josef Ebers, [1949] eine der katholischen Soziallehre im Sinne der Enzyklika ‚Quadragesimo anno‘ (1931) entsprechende ‚Staatslehre‘ [Köln, 1. Auflage 1946, 2. Auflage 1950], also eine von der Familie und anderen kleineren sozialen Einheiten ‚organisch‘ zum Staat aufsteigende Darstellung des ‚richtigen‘ Staates, dessen juristisches Fundament das Naturrecht war.“

Der 1956 in Würzburg unter Federführung des nationalreaktionären Staatsrechtlers Friedrich August Heydte mit einer Arbeit über die „UNESCO“ habilitierte Kipp war von der Fakultät auch wegen seiner Arbeiten mit rechtshistorischem Bezug genannt worden, wegen seiner rechtsphilosophischen Interessen, so wegen der 1951 veröffentlichten Schrift „Völkerordnung und Völkerrecht im Mittelalter“. (Vgl. Heinrich Kipp: Rückblicke. Jurist in revolutionärem Jahrhundert, Moers 1992. Zur Geschichte des Völkerrechts an Österreichs Universitäten vgl. Waldemar Hummer: Die österreichische Völkerrechtslehre und ihre Vertreter, in derselbe (Hrg.): Paradigmenwechsel im Völkerrecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Völkerrechtler zu aktuellen Fragen, Wien 2002, 354-446)

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