Die Suche nach dem Verlorenen, Verschollenen, vielleicht nur über Umwege Zugänglichen beschäftigt die Philologien, die Geschichtswissenschaft, die Altertumswissenschaften und die Buchwissenschaften seit jeher. Neben der peniblen Recherche ist vor allem dessen editorische Repräsentation eine Fragestellung, die angemessen zu lösen ist. Das Medium Brief, dem seit einigen Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, eignet sich hierfür in besonderer Weise.
Das Organisationsteam der Tagung "Lücken-Texte", bestehend aus Markus Ender, Ulrike Tanzer und Anton Unterkircher von der Universität Innsbruck, Bodo Plachta (Münster) und Jochen Strobel (Marburg), versammelte Expert:innen aus deutschsprachigen Archiven und Forschungseinrichtungen unterschiedlicher Disziplinen. Mit dem zeitlichen Schwerpunkt auf dem 18. bis 20. Jahrhundert beleuchteten sie gemeinsam die Möglichkeiten der Editionswissenschaft mit verlorenen und/oder aus anderen Quellen rekonstruierten Briefen umzugehen und diskutierten diese anhand von Fallbeispielen.
Einblicke in Theorie und Praxis
In seinem Eröffnungsvortrag skizzierte Bodo Plachta die editorische Praxis, stellte aber zugleich fest, dass über das Phänomen der erschlossenen Briefe bislang nicht systematisch nachgedacht worden sei. Der Vortrag von Cosima Jungk (Mainz) illustrierte die Bedeutung von Auktionskatalogen, um fehlende Briefe zu erschließen und verwies auf die Probleme, die damit verbunden sind. Die Perspektive von Literaturarchiven veranschaulichten vor allem die Beiträge von Gabriele Radecke (Berlin), Christian Hain (Weimar), Markus Ender und Anton Unterkircher. Wolfgang Wiesmüller vom Institut für Germanistik gab einen Einblick in die Werkstatt der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters. Gerhard Lauer (Mainz) und Martin Anton Müller (Wien) demonstrierten mit Methoden der Digital Humanities, welchen Gewinn die traditionelle Editionswissenschaft aus neuen Ansätzen ziehen kann.
Die konkreten Fallbeispiele, präsentiert von Sebastian Scharff (Münster), Joachim Veit (Detmold/Paderborn), Denise Jurst-Görlach (Frankfurt), Irmlind Capelle (Detmold/Paderborn) und Simon Gerber (Berlin), spannten sich von der Antike bis zur Gegenwart. Zur Sprache kamen hier Überlieferungslücken bei Kaiser Hadrian, in den Korrespondenzen Carl Maria von Webers, bei Friedrich Schleiermacher, Martin Buber und Hans Werner Henze. Aline Deicke und Jochen Strobel (Marburg/Mainz) beschlossen das Symposium mit einem Überblick über die Lücken in den Korrespondenzen der Frühromantik.
Ein buntes Tagungsprogramm
Auch das Rahmenprogramm nahm das Tagungsthema auf: Gleich am ersten Abend wurden die wiedergefundenen Briefe Heinrich von Kleists im Landesmuseum Ferdinandeum besichtigt. Roland Sila, Leiter der bibliothek, berichtete über den Sensationsfund, der im deutschsprachigen Feuilleton gefeiert wurde, und Klaus Müller-Salget, Professor emeritus am Institut für Germanistik, ordnete die Briefe in Leben und Werk Heinrich von Kleists ein. Dass die bibliothek des Ferdinandeums noch weitere Kostbarkeiten wie Goethe- und Stifter-Autographen beherbergt, versetzte die Gäste in Staunen. Die Lesung von Anna Mitgutsch im Literaturhaus am Inn, die von Gabriele Wild moderiert wurde, widmete sich vor allem einer Erzählung in Briefform, die die Beziehung zum langjährigen Lektor der Schriftstellerin thematisiert. Unzustellbare Briefe ist der Titel des Erzählbandes, der 2024 im Luchterhand-Verlag erschienen ist.
Die Ergebnisse der Tagung werden 2026 als Beiheft zu editio bei De Gruyter Brill erscheinen.
(Markus Ender, Ulrike Tanzer)