Text: Lisa Peyrer-Angermann und Georg Ebster
Im Rahmen unseres Studiums hatten wir die Gelegenheit, im Kurs „Unigeschichte: Das Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck, die ersten 40 Jahre“ Interviews zum Thema Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaften zu führen. Aufgrund zeitlicher Hindernisse konnten die Interviews nicht gemeinsam durchgeführt werden, sondern fanden getrennt statt. Unser erster Gesprächspartner war Benedikt Kapferer. Das zweite Interview wurde mit Nikolaus Hagen geführt.
Während Benedikt Kapferer sich nach seinem Studium für eine journalistische Ausbildung interessierte und nun schon seit September 2022 beim Landesstudio des ORF in Innsbruck als Redakteur tätig ist, arbeitete Nikolaus Hagen nach seinem Abschluss einige Zeit in verschiedenen Museen, bevor er sich zur Aufnahme eines Doktoratsstudiums am Institut für Zeitgeschichte entschloss. Dort ist er mittlerweile Assistenzprofessor und strebt seine Habilitation an. Obwohl sie unterschiedliche Berufslaufbahnen eingeschlagen haben, vereint beide das ihren jetzigen Tätigkeiten vorangegangene Geschichtestudium mit einem besonderen Fokus auf Zeitgeschichte. Und wenngleich die Lebensläufe von Nikolaus Hagen und Benedikt Kapferer durchaus den Eindruck erwecken könnten, dass ihre Berufswahl von Anfang an feststand, so wird in beiden Interviews der Einfluss des Faktors Zufall deutlich. Benedikt Kapferer berichtet beispielsweise von seiner Fachspezialisierung in Medienpädagogik und einen durch die Corona-Pandemie vereitelten Auslandsaufenthalt im Rahmen des Programms „Sprachassistenz“ in Irland. Daraufhin habe er die Tiroler Journalismusakademie sowie daran anknüpfende Praktika bei der Tiroler Tageszeitung, Life Radio und der Zeit im Bild 2 in Wien absolviert. Anschließend führte er am Institut für Zeitgeschichte ein vom ORF gefördertes Forschungsprojekt über die Geschichte des Rundfunks in Tirol durch, bevor er selbst als Journalist im Landesstudio begann. Nikolaus Hagen arbeitete bereits während seines Studiums in einem Museum in Liechtenstein und war auch als studentischer Mitarbeiter tätig. Nach seinem Abschluss arbeitet er ein Jahr lang im vorarlberg museum in Bregenz. Obwohl er anfangs nicht vor hatte zu dissertieren, wurde er von einem dortigen Arbeitskollegen zur Aufnahme eines Doktoratsstudiums motiviert. Zufällig wurde zur selben Zeit ein Fördertopf vom Land Tirol ausgeschrieben. Nikolaus Hagen brachte mit Unterstützung von Thomas Albrich, der mittlerweile im Ruhestand ist, aber damals noch Professor am Institut für Zeitgeschichte war, einen Antrag für ein Projekt ein, das zugleich seine Dissertation werden sollte. Es erhielt eine Genehmigung und damit war das Vorhaben für die kommenden drei Jahre im Rahmen einer Anstellung am Institut für Zeitgeschichte gesichert.
Der Begriff „Erinnerungskultur“
Für Benedikt Kapferer spielt der Begriff „Erinnerungskultur“ eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, zeithistorische Themen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei dienen Jahres- und Gedenktage als Anknüpfungspunkte, wobei auch lokalgeschichtliche Namen und Ereignisse aufgegriffen werden, um einen Bogen zum ihnen zugrunde liegenden geschichtlichen Gesamtzusammenhang zu spannen. Dies geschah beispielsweise in Bezug auf ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager in Schwaz, das die französische Besatzungsmacht in ein Lager für schwer belastete Nationalsozialisten umfunktionierte und diesem den Namen „Oradour“ gab – in Erinnerung an den französischen Ort Oradour-sur-Glane, wo im Juni 1944 die Waffen-SS ein Massaker begangen hatte. Anlässlich des 80. Jahrestages des Kriegsverbrechens fanden in Schwaz und Innsbruck Gedenkveranstaltungen zum Lager „Oradour“ und seinem Entstehungskontext statt, die in Form von TV-, Radio- und Online-Beiträgen in die Programmgestaltung der ORF Eingang fanden.
Nikolaus Hagen ist es ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass es einen Unterschied zwischen Geschichtsforschung und Erinnerungskultur gibt. Letztere orientiere sich sehr stark an den Bedürfnissen der Gegenwart und daher bestehe die Gefahr einer verzerrten Darstellung von historischen Ereignissen. Gut veranschaulichen lasse sich dies anhand der Tendenz der Instrumentalisierung des Holocaust, der häufig als abschreckendes Beispiel herangezogen wird, um zu zeigen, in welche Richtung Rassismus und Ausgrenzung führen können. Der Versuch, diesem systematischen Massenmord in einem pädagogischen Setting einen moralischen „Mehrwert“ im Sinne eines Negativbeispiels beizumessen, bezeichnet Hagen als absurd. Den Holocaust hält er vielmehr für einen „lernungünstigen Gegenstand“. Es sei unmöglich, aus einem millionenfachen Massenmord irgendwelche guten Schlüsse zu ziehen. Für ihn ist die Aufgabe der Geschichtsforschung die Annäherung an einen Gegenstand in seiner historischen Wirklichkeit, die didaktische Aufbereitung als Teil erinnerungskultureller Aktivitäten solle dagegen anderen vorbehalten bleiben.
Der Bezug zur Gegenwart
Benedikt Kapferer sieht das Charakteristikum, das den Begriff der Erinnerungskultur spezifiziert, nämlich durch bewusstes Erinnern selektiver Kapitel der Vergangenheit ein ganz bestimmtes „Wir“ in der Gegenwart zu begründen oder absichern zu wollen, durchaus als sinnvolle und positive Herausforderung. Er führt aus, dass man sich beim Bemühen, einen Bezug zwischen belastenden Kapiteln der Vergangenheit und dem Heute herzustellen, oftmals mit zwei Fragen konfrontiert sehe – eine schwer und eine leicht zu beantwortende, meinte er unter Verweis auf den Schriftsteller Miguel Herz-Kestranek. Die leichter zu beantwortende laute: Wie würde ich heute handeln? Die schwere sei: Wie hätte ich damals gehandelt?
Heute verfügen wir über umfangreiches Wissen um den Nationalsozialismus, doch in den Nachkriegsjahren sei die Aufarbeitung der NS-Zeit oftmals durch Verdrängen und Verschweigen mit Billigung der Politik erschwert oder verunmöglicht worden. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich dies allerdings sehr zum Positiven geändert – und dazu habe auch die Arbeit des Instituts für Zeitgeschichte seit seiner Gründung einen wichtigen Beitrag in der Region geleistet. Dass das Land heute für Forschungen, wie beispielsweise jene von Nikolaus Hagen zur „Identitäts- und Kulturpolitik im Gau Tirol-Vorarlberg 1938–45“ die Finanzierung übernehme oder die Universität für die Umgestaltung des nationalistischen Adlerdenkmals vor der Hauptuniversität sorge, sind für Kapferer nur zwei sprechende Beispiele für dieses Umdenken der Öffentlichkeit.
Journalismus oder Wissenschaft
Die Unterschiede zwischen journalistischer Aufarbeitung und wissenschaftlicher Forschung werden von Nikolaus Hagen und Benedikt Kapferer sehr ähnlich beschrieben. Während sich die geschichtswissenschaftliche Grundlagenforschung vor allem mit der Hebung von unbearbeitetem Material und faktengetreuer Rekonstruktion beschäftigt, scheint sich der Journalismus in erster Linie auf aktuelle Aufhänger sowie die Vermittlung und Interpretation im Zusammenhang mit der Frage nach Gegenwartsrelevanz zu fokussieren. Auch beim Schreibstil seien Unterschiede gewissermaßen vorprogrammiert. Die um äußerste Genauigkeit bemühte und daher oft sehr komplizierte Wissenschaftssprache zielt oftmals auf ein kleines Fachpublikum ab (wobei aber beide trotzdem Forscher:innen kennen, die ihre Bücher so schreiben, dass sie von allen verstanden werden können). Demgegenüber steht die journalistische Schreibtradition, deren Kunst darin besteht, sich unter Weglassung von zu vielen Details auf die wesentlichen Inhalte zu konzentrieren und diese sprachlich für ein möglichst breites Publikum aufzubereiten.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Diskussionen mit Nikolaus Hagen und Benedikt Kapferer eindrucksvoll verdeutlichen, wie Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaften unterschiedliche, jedoch sich ergänzende Wege darstellen, historische Inhalte zu vermitteln und zu interpretieren. Beide Interviews machten für uns außerdem deutlich, dass ein geistes- bzw. geschichtswissenschaftliches Studium eine solide Grundlage für verschiedenste berufliche Ambitionen bildet.