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Wandinger Nikolaus: „WEH EUCH, IHR SCHRIFTGELEHRTEN"
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„WEH EUCH, IHR SCHRIFTGELEHRTEN"
(Gedanken zum 31. Sonntag im Jahreskreis (LJ A). Lesungen: Mal 1,14b-2,2b.8-10; (1 Thess 2,7b-9.13); Mt 23,1-12[13])

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:Sind Jesu Worte gegen die Schriftgelehrten nur ein willkommener Anlass auf "die da oben" in der Kirche zu schimpfen - oder gehen sie uns alle an?
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2002-11-04

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Liebe Gläubige,

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die heutigen Texte scheinen so recht geeignet, einmal seinen Frust auf „die da oben" in der Kirche herauszulassen. Ich nehme einmal an, es wird auch einigen von Ihnen beim Hören dieser Worte so gegangen sein wie mir: Mir fielen sofort eine ganze Reihe kirchlicher Würdenträger und kirchlicher Titel ein und dazu der innere Kommentar „Genau!" „Genau so ist es!" - Dann kam mir aber ein anderes Wort Jesu in den Sinn und das ließ mich stutzen: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" (Mt 7,3) Das bremst zunächst das allzu schnelle Einstimmen in den Chor der Ankläger gegen „die da oben".

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Aber - so könnten wir sagen - wir sind ja keine Schriftgelehrten und Pharisäer, wir sind keine Priester, Bischöfe oder Heilige Väter, ja die meisten hier sind nicht einmal Theologen und Theologinnen. Können wir denn überhaupt denselben Balken im Auge haben wie die da oben? Müssen wir auch in diesem Fall die Kritik auf uns selbst zurückwenden? Handelt es sich dabei nicht um etwas ganz Spezielles für religiöses Führungspersonal? Jedenfalls werden die direkt angesprochen. Versuchen wir, genauer zu verstehen, warum Jesus diese direkt anspricht, dann können wir besser erkennen, wie weit das auch uns betrifft.

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Der letzte Satz ist dabei von großer Bedeutung: „Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen." Bitte, wie verschließt man jemandem das Himmelreich?

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Die sicherste Methode dazu ist, die Menschen davon zu überzeugen, dass Gott eigentlich bedrohlich ist, rach- und strafsüchtig, mitleidslos, dass er religiöse und moralische Leistungen verlangt als Vorbedingung für seine Zuwendung. „Überzeugen" aber nicht in einem intellektuellen Sinn. Solche religiösen Führer gibt es nicht, die so etwas über Gott lehren würden. Sie werden alle sagen, dass Gott gut ist und gnädig und die Menschen liebt. Aber viele leben vielleicht selbst so als wäre Gott eher ihr Gegner als ihr Freund, sie vermitteln viel tiefgründiger und emotionaler die Botschaft, dass man vor Gott Angst haben muss. Und eine solche tiefgründige und emotionale Botschaft ist weitaus wirkungsvoller als eine verbale Auskunft. Wenn mir das Gefühl vermittelt wird, nach jedem Fehltritt fürchterliche Selbstkasteiungen als Buße tun zu müssen, dann wird dies mein Bild von Gott viel stärker prägen als die Worte, dass Gott natürlich vergebungsbereit ist.

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Befolgt also alles, was diese religiösen Führer sagen: „Gott ist vergebungsbereit und gütig", aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun: schwere Lasten zusammenschnüren, die man angeblich tragen muss, um die Vergebung Gottes zu erlangen. Statt also selber das zu tun, was sie sagen, vergebungsbereit zu sein, tun sie etwas ganz anderes: sie schnüren so schwere Lasten zusammen, dass sie sie selber nicht mehr tragen können. Und so bleibt ihnen letztlich nichts anderes übrig, als alles nur äußerlich zu tun, damit die Menschen es sehen, denn sonst wäre ja die ganze Vorbildfunktion verloren. Und so kann aus der Unfähigkeit, die selbst auferlegten Lasten zu tragen, ganz schnell ein Teufelskreis werden, in dem man anderen schwere Lasten auferlegt, die sie nicht tragen können, und man selbst - um in der Rolle zu bleiben - sich immer weiter entfernt von den Menschen, immer mehr etwas Besonderes wird, ein Hoch-Würden, der den Ehrenplatz bekommen muss.

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Nur, die Menschen, denen diese untragbaren Lasten auferlegt wurden, die können die schönen Worte vom barmherzigen Gott emotional nicht mehr nachvollziehen und nicht mehr glauben - und so ist ihnen durch dieses problematische Gottesbild der Zugang zu Gott, zum Himmelreich, versperrt. Jesus hat sein ganzes Leben lang versucht, ein solches Gottesbild zu wandeln: den barmherzigen Vater den Menschen nahe zu bringen, nicht den rächenden Richter. Er hat dafür sein Leben gegeben.

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Wo aber könnte nun der Balken in unserem Auge sein, den wir vergrößert bei kirchlichen Amtsträgern sehen? Das ganze Schlamassel, das ich versucht habe zu schildern, entsteht durch die besonders prekäre Rolle, die Vorbilder haben für die, deren Vorbilder sie sind. Ihr eigenes Verhalten, ihre eigenen emotionalen Grundströmungen, prägen nämlich die, deren Vorbilder sie sind, viel mehr, als das, was die Vorbilder sagen. Das ist der Grund, warum es nur selten was nützt, wenn rauchende Eltern ihre Kinder beschwören, nur ja nie mit dem Rauchen anzufangen - oder eben, wenn Menschen, die letztlich Angst haben vor Gott, erklären, man solle ihn lieben.

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Und jetzt muss jeder und jede bei sich selber schauen, ehrlich und in Ruhe: habe ich geheime, vielleicht mir selber uneingestandene Ängste vor Gott, kann ich ihn wirklich als barmherzigen Vater wahrnehmen, wie Jesus, oder gibt es da Reste von Misstrauen und Angst, vielleicht sogar Hass? Wenn ich solche Reste entdecke, dann werden diese sich auswirken, überall dort, wo ich Vorbild bin, vor allem wo ich im religiösen Leben Vorbild bin. Und das bin ich vielleicht oft ohne mir dessen bewusst zu sein. Viele haben eigene Kinder, deren Vorbild sie notwendigerweise eine Zeit lang sind, zu einer Zeit, wo diese ganz stark geprägt werden. Alle, die in erziehenden Berufen stehen, sind Vorbilder, Ältere sind oft Vorbilder für Jüngere, Berühmtere für weniger Berühmte, Prominente und Stars sogar für Tausende oder Millionen. Hier könnte man überall suchen danach, wo diese und wo wir - oft ohne es selber zu merken - durch unser Handeln schwere Lasten auferlegt haben, obwohl wir durch unser Reden die Menschen näher zu sich, näher zum Leben, näher zu Gott bringen wollten.

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Liebe Gläubige, religiöse Führungspersonen sind in der Tat besonders betroffen von den Worten Jesu, aber nicht, weil sie schlechtere Menschen wären als andere, sondern weil sie von Berufs wegen ständig in der Situation sind, dass sie das Gottesbild der Menschen prägen. Andere sind das nur von Fall zu Fall. Deshalb haben alle, die in irgendeiner Weise in Verkündigung und Erziehung stehen, diese Worte Jesu besonders ernst zu nehmen - aber niemand kann sagen: mich gehen diese Worte gar nichts an. Jede und jeder ist auch Verkündiger oder Verkündigerin des Gottesbildes, das in ihm oder in ihr wirksam ist.

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Gibt es einen Weg, die Gefahr, dass wir anderen schwere Lasten auflegen zu vermindern? „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden." - Das ist nicht eine Aufforderung zu einer neuen Show, sich kleiner zu machen als man ist, sondern vielmehr dazu zu akzeptieren, dass wir die eigene Vorbildrolle viel weniger steuern können als wir das gerne hätten, d. h. zu akzeptieren, dass wir unweigerlich durch unser Verhalten als Vorbilder wirken, viel mehr als durch alles, was wir absichtlich tun, um Vorbildwirkung zu erzielen. Das entlastet zunächst von dem Zwang, nach außen - für die Menschen - einen bestimmten Schein aufrecht erhalten zu müssen, es erlaubt, eigenes Versagen auch zuzugeben. Es erlaubt auch, sich darauf zu konzentrieren, das eigene Leben möglichst gut nach dem Evangelium zu leben, dann wird sich - fast wie von selbst - auch eine gute Vorbildwirkung einstellen. Denn wer sich selbst zurücknimmt, wird viel leichter durchsichtig auf Gott, durch ihn kann Gott viel eher sein Bild zum Erscheinen bringen, als wenn ich meine, ich müsste das machen. Das ist für mein Ego eine Erniedrigung, aber wenn sich wirklich Gott durch mich hindurch einem Menschen zeigen sollte, ohne dass ich das überhaupt beabsichtig habe, dann ist es eine Erhöhung, die meine eigene Selbsteinschätzung weit übertrifft. Ich wünsche uns allen und unserer Kirche, dass dies durch uns und durch sie möglichst oft geschehe - denn wenn dies geschieht, wirkt der Geist Christi in uns.

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