- Leseraum
| Menschenrechte: ein gordischer Knoten der heutigen GnadentheologieAutor: | Niewiadomski Jozef |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Publiziert in: | ThPQ 145 (1997) 269-280. |
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Datum: | 2001-10-18 |
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Inhalt1
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Emphatisches Festhalten an der Menschenrechtspolitik und das Mißachten derselben in der Praxis bringt Skeptiker dazu, die Menschenrechtsphilosophie zu diffamieren. Papst Johannes Paul II. hat aber die Menschenrechte ins Zentrum seiner Soziallehre gestellt. Unser Autor, Professor für Dogmatik in Innsbruck und Linz zeigt die vielfältigen Verbindungen der Menschenrechtsproblematik zur dogmatischen Gnadenlehre und sucht nach einer gnadentheologischen Begründung der Menschenrechte: Ohne die bewußt gelebte Proexistenz ist die Politik der Menschenrechte letzendes nicht möglich. (Redaktion)
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Schaut man sich die gängigen dogmatischen Handbücher zur Gnadenlehre auf das Thema der Menschenrechte hin an, wird die Erwartung zu diesem Beitrag bereits korrigiert: wenn die Frage der Menschenrechte ein gordischer Knoten der Gnadentheologie sein sollte, so muß es sich dabei auf jeden Fall um einen unsichtbaren Knoten handeln, oder gar um einen, den der Autor bloß in seinem Hirn zusammenflicht und vermutlich auch durchschneidet, ohne daß dabei ein wirklicher Bezug zum Leben der Kirche und zum theologischen Denken gegeben sei. Der Knoten - das gebe ich zu - ist unsichtbar; die Frage der Menschenrechte taucht im Kontext der Gnadentheologie in den neuesten Handbüchern nirgends auf; illusionär ist er allerdings nicht! Das Thema wirkt sich aus und dies schon im Bereich der Prolegomena, also im Kontext des allerersten Zugangs zur Problematik der Gnade. Dessen mangelnde Beachtung zeichnet dafür verantwortlich, daß die - nicht zuletzt durch Karl Rahner - bewirkte Revolution in der Gnadentheologie sich im gesellschaftlichen Leben der Gegenwart merklich wenig auswirkt, vor allem dort, wo die Reflexion über die Erfahrung der Gnade angebracht wäre.
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Natürlich darf jene Logik, aus der das gläubige Bekenntnis zur göttlichen Gnade lebt, nicht mit der Logik oder auch Unlogik der religiösen Psychose des Alltags verwechselt werden, doch muß der Bekenntnissatz: "wir glauben, daß wir im voraus zu unserem Tun, Denken und Leben von der 'Liebe Gottes'" getragen werden, auf die Anhaltspunkte im Alltag hinweisen können, an denen er anschaulich gemacht werden kann. Auch wenn diese Anhaltspunkte das Bekenntnis nicht "beweisen" können, so führt das Fehlen solcher Anhaltspunkte zur Aushöhlung des Bekenntnisses selber. Die in der Dogmatik der letzten dreißig Jahre ausgebliebene Reflexion all jener Erfahrungszusammenhänge, die mit der Rede von den Menschenrechten verknüpft sind, ist nun eines der Gründe, die zu dieser Aushöhlung beigetragen haben.
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Die traditionelle Perspektive hat unser Problem nicht gekannt. Die Logik, aus der die Gnadentheologie lebte, war nicht etwas, was nachträglich anschaulich gemacht werden mußte, sie strukturierte geradezu den Alltag. Tagtäglich buchstabierten die Menschen die Erfahrung durch, wie und bis zu welchem Ausmaß, sie auf andere angewiesen sind und von ihnen auch getragen werden. Die bürgerliche Gesellschaft rückte jedoch, erfolgreich, einen anderen Weltentwurf in den Mittelpunkt. Nicht das Angewiesen sein auf etwas, oder auch jemanden, vielmehr das Recht- und Anspruchhaben wurden zum strukturierenden Impuls des Alltags in all dessen Dimensionen. In diesem Kontext eignet sich auch das europäische Bürgertum die Philosophie der Menschenrechte an. Als sittlich-politische Ansprüche, die jeder einzelne Mensch gegenüber den politischen Autoritäten, aber auch gegenüber seinen Mitmenschen besitzt, eignet in der modernen Staatsphilosophie den Menschenrechten der Stellenwert eines vorstaatlich gültigen Rechtes. Freilich sagt der Status des gültigen Rechtes noch wenig aus über das schon geltende Recht!
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Diese Veränderung der Umwelt, das Sich-Durchsetzen einer Welt, die auf dem System von Rechten und Pflichten aufgebaut ist, entzog der Logik der Gnadentheologie automatisch die alltägliche Plausibilität in vielen Lebensbereichen, Die Gnade wurde - wenn überhaupt - zuerst zu einer Angelegenheit der Festtage: der Durchschnittseuropäer konnte die Anhaltspunkte, die ihm das Reden von der Gnade anschaulich machen könnten, nur noch im Bereich der Freizeitgesellschaft wahrnehmen (wo er sich über dies und jenes, was ihm da widerfuhr, auch freuen könnte); mit der Zeit wurde jedoch auch diese Sphäre - und auch hier auf eine erfolgreiche Art und Weise - durch das Rechts- und Anspruchsdenken strukturiert.
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Diese "Zerstörung der Erfahrungsbasis" des traditionellen Gnadenverständnisses wurde vom kirchlichen Lehramt registriert und instinktiv abgewehrt. Die Ablehnung der Moderne hat neben den unmittelbar politischen Implikationen, vor allem diese tiefer liegenden theologischen Ursachen gehabt. Der Versuch, dieser modernen, wörtlich verstandenen "gnadenlosen" - weil auf Recht und Anspruch bauenden - Welt eine eigene kirchliche Welt entgegenzustellen, scheiterte jedoch kläglich. Und was brachte das "Aggiornamento"? Schrieb es nicht diese "Zerstörung der Erfahrungsbasis" des traditionellen Gnadenverständnisses fort? Und dazu noch: innerhalb der kirchlichen Mauern?
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Das kirchliche Lehramt schien sich tatsächlich - wenn auch nicht hundertprozentig und eben verspätet - nur der "bürgerlichen Revolution" angeschlossen zu haben. Am 11. April 1963 veröffentlichte Johannes XXIII. seine Enzyklika: "Pacem in terris", in der nun ohne die programmatische Skepsis und auf eine umfassende Art und Weise zwar nicht die Logik des Bürgertums, aber doch die Logik der Menschenrechte als jene Logik dargelegt wird, die unser aller Leben strukturiert, ja geradezu strukturieren soll: Der Mensch habe die Pflicht, die ihm zustehenden Rechte, als Zeichen seiner Würde zu beanspruchen . Und warum stehen ihm diese Rechte zu?
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Der Mensch ist eine Person; seine "unantastbare Würde" ist jenes - damals noch von niemandem hinterfragtes - Prinzip der Rechte und Pflichten (DH 3957). Die naturrechtliche Untermauerung dieser ersten Menschenrechtserklärung des katholischen Lehramtes war ihr Gütesiegel und ihr Stolperstein zugleich. Emphatisch konnte man damals auf die allen - auch den Nichtgläubigen - gemeinsame unhinterfragbare Basis dessen vertrauen, was menschliche Natur sei; das Gespräch mit der nicht religiösen Welt konnte seinen Lauf nehmen. Sieht man die Begründung im Kontext der damals noch gängigen neuscholastischen Theologie, so wird man begreifen, daß "Pacem in terris" zwar zu einer sozial-ethischen, kaum aber zu einer theologischen Herausforderung im Katholizismus wurde.
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Der durch Johannes XXIII. erschlossene Zugang zur Frage nach der Gestaltung des menschlichen Lebens war aber nur der Anfang; die Botschaft von den Rechten der menschlichen Person wurde in der kirchlichen Doktrin systematisch ausgeweitet und konkretisiert. Man könnte sogar inzwischen das Urteil wagen: sukzessiv ist die Logik der Menschenrechte zu einem der wichtigsten normativen Rahmen des kirchlichen Handelns und Denkens in der Gegenwart geworden. Dieser Rahmen bleibt auch nicht beziehungslos im theologischen Bereich stehen, er erzwingt Neuformulierungen und Neuregelungen vieler klassischer dogmatischer Topoi. Die spektakulärste Veränderung ist wohl in der Erklärung "Dignitatis humanae" (Über die Religionsfreiheit") des Zweiten Vatikanischen Konzils zu sehen (DH 4240-4245); spätestens dort stellte sich auch die Frage nach der theologischen Tragweite der naturrechtlichen Begründung der ganzen Problematik.
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Die entscheidenden Schritte der Ausweitung, soweit sie das hier zur Diskussion stehende Problem des Anspruchhabens auf etwas betreffen, sollen hier nur kurz genannt werden: "Gaudium et spes" 9 (DH 4309) spricht von der Pflicht zur Veränderung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, damit diese den Menschen, die ihre Rechte haben, besser dienen können. "Populorum progressio" (DH 4440) spricht bereits vom Unrecht des Hungers, des Elends, der Krankheit und der Unwissenheit; die Bischofskonferenzen von Medellin (DH 4480-4496) und Puebla (4610-4635) leiten daraus nicht nur konkrete pastorale Folgen ab, sondern vor allem neue Impulse für das Verständnis der kirchlichen Gemeinschaft. Johannes Paul II. sieht in seinen Sozialenzykliken in der Logik der Menschenrechte die einzige menschenwürdige Lösung der gesellschaftlichen Probleme und den vom Evangelium für unsere Gegenwart vorgezeichneten Weg.
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Welchen Sinn hat aber das Reden von der Gnade, wenn nun die Kirche selber die Rechte der menschlichen Person und damit auch automatisch die Mentalität des Anspruchs auf ein menschenwürdiges Leben zur Basis ihrer Doktrin und ihres seelsorgerlichen Handelns nimmt? Hat nicht die Kirche selber durch diese "Aggiornamento-Strategie" der Logik der Gnade die Erfahrungsbasis entzogen?
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Der verstorbene Erzbischof Marcel Lefèbvre hätte die Frage mit einem: Ja - ohne Wenn und Aber - beantwortet. Sein Urteil, die Menschenrechte seien satanischen Ursprungs, stellt nicht nur die Aussage eines "Ewiggestrigen" dar. Die sog. Ultra-Konservativen spüren die Schwierigkeiten, die das Rechts- und Anspruchsdenken für die religiöse Frage bringt; weil sie aber keine Antwort wissen, verteufeln sie das Problem global.
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Solch radikale Verteufelung findet man in der Kirche nur in Ausnahmefällen.
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Die meisten Christinnen und Christen im mitteleuropäischen Bereich würden die Frage, ob die Zuwendung zu den Menschenrechten die Erfahrungsbasis der Gnade zerstört hat, mit einem eindeutigen "Nein" beantworten. Sie würden aber ihre Antwort auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise begründen. Der Großteil von ihnen würde auch nicht begreifen, warum man da soviel Lärm um diese Problematik macht; für sie ist zwar das Problem wichtig, es hat aber mit Gnade nichts zu tun.
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Die Tatsache, daß die Frage nach den Menschenrechten in den neuesten Handbüchern der Gnadentheologie nicht zu finden ist, stellt keinen Zufall dar; sie läßt sich zuerst als eine Spätfolge der neuscholastischen 2 Stockwerke-Theologie erklären. Deren programmatische Überwindung im Kontext des Gnadentraktates wurde von vielen europäischen Autoren nur im Hinblick auf die klassischen dogmatischen Topoi neu reflektiert, kaum aber im Zusammenhang der neuen, selbst durch das kirchliche Lehramt aufgegriffenen Probleme und Fragen durchdacht.
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Mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen wurde in der Diskussion der letzten dreißig Jahre das Problem der Menschenrechte von vielen Theologen analog zu jenem der Natur in der Neuscholastik behandelt; es leitet keineswegs zur Frage nach der Gnade über, schließt diese aber auch nicht aus. Logisch bestechend, theologisch aber fragwürdig und pastoral auf jeden Fall verheerend - genauso wie dies schon mit dem Begriff der natura pura der Fall war.
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Wie sehen nun diese Argumentationsfiguren aus? Auf der Ebene der Menschenrechtsdiskussion und des Menschenrechtsengagements, in diesem für den Durchschnittszeitgenossen so wichtigen und auch widersprüchlichen Erfahrungskontext, treffe sich der Christ mit jedem Menschen guten Willens; die Ebene des Glaubens und damit auch die der Gnade sei aber dadurch noch nicht tangiert: sie wird dadurch weder behindert noch motiviert. Das spezifisch Christliche werde im einem anderen Kontext, also doch in einem zweiten Stock gesucht und dort auch gefunden und zwar als etwas letztendes Neutrales im Hinblick auf die Ebene des bodenständigen Parterres. Im Parterre geht es um "Ethik", oder höchstens "kirchliche Soziallehre", im - nicht gerade schwindelerregenden, inzwischen durchaus menschenfreundlichen, ersten Stock aber um das eigentliche religiöse Leben: um die Frömmigkeit, die eben in der "Gnadentheologie" und anderen dogmatischen Traktaten mit der ihnen eigenen binnentheologischen Begrifflichkeit reflektiert werden kann.
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Wirft man die Frage auf diese Art und Weise auf, so entledigt man sich des Problems durch dessen Verdrängung: als Dogmatiker wird man problemlos von der Gnade, als kirchlicher Sozialethiker von den Menschenrechten sprechen können. Die Religionslehrerinnen und Lehrer und die Pfarrer können dann, wenn sie wollen, beides in Beziehung zueinander setzen. Die Folge dieser Arbeitsteilung darf nicht übersehen werden: Die atemberaubende kirchliche Vielfalt an Erfahrungs- und Handlungskontexten im Zusammenhang mit der Frage der Menschenrechte wird der religiösen Dimension beraubt; der Bezug der Gnade zu diesen lebensrelevanten Erfahrungen der Zeitgenossen kann eben nur noch nachträglich formuliert werden: und dann eben nur noch in Form der moralischen Imperative! Wundert es noch, daß viele Menschen der Gegenwart das diffamierende Urteil teilen, das von der Auszehrung der Religiosität in der Kirche in den letzten dreißig Jahren im mitteleuropäischen Bereich spricht? Nicht die Auszehrung der Religiosität ist hier allerdings zu konstatieren, vielmehr das Ausbleiben der systematisch-dogmatischen Reflexion, die diesen Lebens- und Glaubenserfahrungen auf einen theologischen Begriff hätte bringen sollen.
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Die bis heute intensiv geführte wissenschaftstheoretische Debatte über die Eigenart der kirchlichen Soziallehre zeigt deutlich, daß die gnadentheologische Überwindung der Neuscholastik noch keineswegs überall Realität geworden ist. Jene Vertreter der kirchlichen Soziallehre, die oberflächlich progressiv auf dem Standpunkt von "Pacem in terris" bleiben und dieses Fach in der Linie des Naturrechtsdenkens konzipieren, wollen bewußt nicht wahrhaben, daß sie der neuscholastischen Gnadentheologie verpflichtet bleiben, auch dann wenn sie die Rahnersche und nachrahnersche Rhetorik beherrschen. Sie tun sich auch vor allem mit Johannes Paul II. und seinen Sozialenzykliken schwer und werfen ihm ein "Übermaß an Theologie" vor.
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So paradox es klingen mag: erst die lehramtliche Tätigkeit dieses Papstes spitzt unsere Grundproblematik zu und macht das Thema Menschenrechte zu einem gnadentheologischen Topos.
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Zerstört die Logik der Menschenrechte die Erfahrungsbasis für eine Logik der Gnade? Oder ist beides möglich? Und wenn ja, ist deren Koexistenz eine unproblematische?
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Nimmt man die lehramtliche Tätigkeit des gegenwärtigen Papstes als Hinweis auf eine Antwort, so wird man keine allzuschnelle Synthese erwarten können.
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Hand in Hand mit der Verkündigung des normativen Rahmens der Menschenrechte, damit aber auch mit der Unterstützung des Anspruchsdenkens geht vom kirchlichen Amt ein - gerade für unsere Breitegrade oft schon als verzweifelt einzustufender - Versuch, die Struktur des Angewiesenseins im eigenen kirchlich institutionalisierten Kontext zu verteidigen. Zwar hat das Lehramt längst Abschied genommen, von der zwielichtigen These, die Menschenrechte seien außerkirchlichen Ursprungs und deswegen auch für die Kirche selber, die ihrerseits göttlichen Ursprungs ist, nicht normativ. Doch mit deren Konkretisierung tut sich das kirchliche Amt weiterhin schwer. Die Kritiker sprechen von zweierlei Maßstab: nach außen hin verkündige die Kirche die Menschenrechte, im kirchlich eigenen Bereich verweigere sie sich oft der Problematik. Geht es dabei bloß um ein veraltetes Feudalsystem, das einer grundlegenden Reform unfähig ist, oder ist das Dilemma tiefer zu orten: im Zusammenhang mit der Gnadentheologie? Worum geht es dabei? Ein paar Beispiele sollen die Schwierigkeit erhellen. Im kirchlich-sakramentalen Kontext ist bisher die Redeweise vom "Anspruch oder Recht haben auf etwas" unangebracht: der Christ hat weder den Anspruch auf die Weihe (sie ist und wird ein Geschenk bleiben - wenn auch oftein begehrtes, v.a. dann wenn es sich um die Bischofsweihe handelt), noch hat der Christ das Recht auf andere Sakramente: sie sind Gnadenerweise par excellence - auch wenn sich im Vatikanum II ein kreativer dogmatischer Ausrutscher einschleicht, wenn davon die Rede ist, daß die Laien das Recht haben auf Wort Gottes und die Eucharistie (LG 37: DH 4163)).
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Solche sakramentstheologischen Vorentscheidungen werden für unsere Frage brisant, wenn wir sie zusammen sehen mit den Folgen in der Alltagserfahrung bei jenen Menschen, deren Existenz durch den Sakramentenempfang begründet wird: Gegen die moderne Arbeits- und Freizeitsrechte bürgerlichen Durchschnitts verteidigt beispielsweise die Kirche die gnadentheologisch strukturierte Lebens- und Existenzweise des Priesters und dies bis in den Bereich der Regelung seiner Freizeit-, seiner Kranken- und Pensionsrechte. Er ist eigentlich aus dem bürgerlichen Gesetzbuch herausgenommen und soll in seinem auch alltäglichen Lebensvollzug durch die kirchliche Gemeinschaft getragen werden; deswegen wird ihm der Lebensunterhalt, oder aber die Pension nach den Maßstäben des Kirchenrechts gewährt. Die Gnade der Weihe begründet seine Existenz - und dies nicht nur in einem metaphorisch-spirituellen, sondern auch juridischen Sinn. Kann er dann aber noch das Subjekt der Menschenrechte sein? Man täuscht sich, wenn man hier einen allzuschnellen Konsens erwartet.
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Nun kann man die gegenwärtige lehramtliche Strategie auf zweifache Weise bewerten:
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Man kann darin die Inkonsequenz sehen und die kirchliche Scheinheiligkeit anprangern; man kann aber in dieser Doppelgleisigkeit auch einen Hinweis auf den unsichtbaren gordischen Knoten sehen, der mehrere miteinander nicht ganz harmonierende Fäden zusammenflicht und einer Lösung harrt.
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Noch ganz oberflächlich geurteilt könnte man vermuten: Auch wenn die Kirche den Faden der Menschenrechte als einen normativen Rahmen ansieht, will sie anscheinend - wenn auch nur selektiv - einige Bastionen und Restbezirke einer Gemeinschaftskonzeption verteidigen, die die traditionellen Anhaltspunkte für die Gnadentheologie veranschaulichen können, vor allem dort, wo das tragende Subjekt solcher gnadenhaften Zuwendung klar definiert ist (im Fall des Priesters ist es die kirchliche Gemeinschaft, durch den Bischof repräsentiert, die den Priester zu tragen hat). Durch diese Bastionen will sie in unserer Welt anzeigen, daß die auf Recht und Anspruch bauende bürgerliche Gesellschaft eine "gnadenlose" Gesellschaft werden kann und in Konsequenz auch das "Recht" nicht garantieren kann. Ob dies in unserem mitteleuropäischen Raum allerdings noch verständlich ist, das ist freilich ein anderes Problem. Nicht nur am Rande sei vermerkt, daß die päpstlichen Schreiben der letzten Jahre zur Frage der Identität des Priesters genau dieser Logik verpflichtet sind. "Priesterexistenz" wird mit den modernen (der Logik des "Presbyterorum ordinis" entsprechenden) Begriffen des Sacerdotium und der Opfertheologie: als Ganzhingabe beschrieben.
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Wir haben gewissermaßen zwei Sprachkulturen bei diesem Pontifikat vor uns. Auf der einen Seite gibt es die christologisch fundierte Sprachkultur der Menschenrechte: Christus habe sich mit jedem Menschen verbunden, deswegen sei der Mensch ein Rechtssubjekt, wobei die Rechte nicht einseitig als Anspruchskultur, sondern zunehmend als solidarische Kultur der ganzen Menschheit gesehen werden. Diese Sprachkultur legt eine zunehmnde Identifizierung der Logik der Gnade mit der Logik der Menschenrechte nahe. Auf der anderen Seite gibt es die sakramentstheologisch fundierte Sprache. Sie rückt die Dimension der Proexistenz in den Vordergrund, spricht deswegen fast nur noch von der Ganzhingabe, begründet diese gnadentheologisch durch den Hinweis auf den "charakter indelebilis", thematisiert die Ebene der Rechte für den Priester selbst nicht mehr, hält v.a. aber daran fest, daß niemand ein "Recht" auf die so verstandene Existenz hat. Es ist also eine Sprachkultur, die die Logik der Menschenrechte und die Logik der Gnade anscheinend auseinanderreißt. Eine tragische Asymmetrie und ein gordischer Knoten?
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Ich habe den Eindruck, daß bei diesem Papst beide Kulturen geradezu einander bedingen, je mehr er im weltpolitischen Kontext das eine einfordert, umso härter hält er an der zweiten Logik im binnenekklesialen Kontext fest, fast so als wäre die opfertheologische Logik der Gnade der Preis für die christologisch fundierte Logik der Rechte.
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Zerstört die Logik der Menschenrechte die Erfahrungsbasis für die Logik der Gnade? Oder sind beide möglich? Weder Verdrängung der Problematik, noch eine Asymmetrie finden wir in all jenen Aufbrüchen, die die Gnade als einen politischen Begriff im weitesten Sinn des Wortes verstanden haben: Recht und Gnade stehen in diesen kirchlichen Aufbrüchen nicht mehr prinzipiell gegenüber! Es sind damit all die Erfahrungen der 70-er, 80-er und auch der 90-er Jahre auch im Kontext der mitteleuropäischen Kirchlichkeit gemeint. Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Frauenbewegung, tausende, abertausende von Initativen, von der Asyl- oder Flüchtlingspolitik, über die Dritte-Welt-Gruppen bis hin zur Hospizbewegung, oder aber AIDS-Hilfe-Gruppen: all diese - für viele nur politische, oder gesellschaftliche Initiativen, sind gnadentheologisch relevant.
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Die theologische Reflexion solcher Aufbrüche findet statt in den vielfältigen Formen der neuen politischen Theologien. Befreiungstheologie, feministische Theologie, kontextuelle Theologien aller Art stellen die Logik des Engagements um die - wie auch immer verstandenen - Menschenrechte als die Logik der Gnade dar. Damit werfen sie die Frage nach dem Zusammenhang von Menschenrechten und Gnade neu auf: Nicht die dem liberalen Europäer spontan sich nahelegende Perspektive, die vom Anspruchsdenken herkommt, bestimmt die Visionen und Analysen dieser Theologien (also nicht die Frage: "Zerstört die Logik der Menschenrechte die Logik der Gnade?"), sondern die Umkehrung derselben bestimmt den Focus: Welche Bedeutung hat Gnade für die Menschenrechte?
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Diese Umkehrung ist von zentraler Bedeutung und dies nicht nur im binnentheologischen Raum! Zuerst arbeiten diese Theologien mit an der Freilegung der verschleiernden Plausibilitätsstrukturen in der Diskussion der Logik der Menschenrechte, wie sie weltweit in den letzten 30 Jahren geführt wurde. Losgelöst von der konkreten gesellschaftlich-politischen Situation und auch der Frage nach dem die politischen Entscheidungsträger prägenden Menschenbild, verkommt die Logik der Menschenrechte zur politischen Rhetorik im machtstrategischen Kontext. Dann liegt ihre bewußtseinsprägende Kraft nur noch im Kontext der moralischen Appelle, der moralisierenden Diffamierungen, oder eben des reinen Anspruchsdenkens.
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Deswegen haben die verschiedenen Formen der Befreiungstheologie und auch das kirchliche Lehramt das Engagement für die Menschenrechte aus einem vermeintlich neutralen Öffentlichkeitsraum in den legitimationstheoretischen Kontext einer befreienden Geschichte Gottes mit den Menschen hineingestellt und damit theologisch auch konkret gemacht: was Gnade und Menschenrechte sind, soll jeweils in einer konkreten Situation begriffen werden. Die Gnade als eine politische Kategorie wird an die Frage der konkreten wirtschaftspolitisch vorgegebenen Strukturen gekoppelt, das Engagement um die elementaren Rechte des Menschen aber mit dem Gottesbild verbunden. Ohne die gnädige Zuwendung Gottes zu den Menschen, die in verhängnisvollen Strukturen des Unheils und der Sünde verstrickt sind, kann es weder die Erkenntnis noch das Engagement für die Menschenwürde und Menschenrechte geben. Gnade wird demnach zur Möglichkeitsbedingung der Menschenrechtsphilosophie und auch der Menschenrechtspolitik: sie ist es, die den Menschen - nicht nachträglich sondern - im voraus auf diese Frage sensibilisiert.
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Ist damit unser Problem gelöst? Kann man ruhigen Gewissens sagen, das Rechts- und Anspruchsdenken habe die Logik der Gnade beerbt? Die Erfahrungen im befreiungstheologischen Kontext legen die Skepsis nahe. Auch wenn man das Unterbinden des Unrechts und die Herstellung des Rechts gnadentheologisch interpretieren kann, so kommt man nicht an der Tatsache vorbei, daß jede solcher Aktionen ihrerseits mit einem Mindestmaß an Unrecht verbunden ist. Der Versuch, den Widerspruch auf der Ebene des Rechts allein zu lösen, verlängert nur die Argumentationsschritte. Und eine Lösung? Kann es diese überhaupt geben?
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Die im theologischen Bereich durch die Befreiungstheologien aller Art stattfindende Problematisierung der Menschenrechtsproblematik findet auch, wenngleich auf eine andere Art und Weise, im gesamt-gesellschaftlichen Bereich statt. Oberflächlich gesehen rückt diese Diskussion nur die "vor-philosophischen" Voraussetzungen der Beschaffenheit unserer Welt ins Zentrum; sie bleibt realistisch und minimalisiert deswegen die Erwartungshaltung, die mit der emphatischen Rhetorik der Menschenrechte verbunden ist; der faktische Zustand unserer Weltgesellschaft und die strukturellen Verflechtungen verhindern eine automatische Verwandlung der Philosophie der Menschenrechte zu einer säkularen Form einer neuen Heilslehre.
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Weil sie das nicht leisten kann, was sie verspricht, pervertiert die Philosophie der Menschenrechte unsere politische Kultur. Der Universalismus der Menschenrechte erweist sich als moralische Falle. Paradigmatisch sei das Urteil von Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a. M. 1993, 74 in Erinnerung gerufen:
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"Die Idee der Menschenrechte erlegt jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist. Darin zeigt sich ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierung überstanden hat. Jeder soll für alle verantwortlich sein. In diesem Verlangen ist eine Pflicht enthalten, Gott ähnlich zu werden; denn es setzt Allgegenwart, ja Allmacht voraus."
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Das Bewußtsein, das alle Lebensbereiche strukturierte und den Anspruch und das Rechthaben ins Zentrum rückte, verwandelt sich in ein Bewußtsein der universalen Pflicht, welches nur noch das Gefühl der Überforderung mit sich bringt; hat das eine scheinbar die Logik der Gnade unmöglich gemacht, so macht das andere die Logik der Politik zunichte. Soll deswegen Abschied von ihnen genommen werden? Was ist dann aber der Preis, den unsere Welt zahlen wird?
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Die Vertreter der sog. "Neuen Rechten" sprechen über den Preis unverblümt offen: auch sie rufen die theologischen Wurzeln in Erinnerung und schlagen eine radikale Umkehr vor: Anstatt der "jüdisch-christlichen Vorurteile" über die "gleiche Würde von Menschen" soll sich Europa an den heidnischen "Wertesystemen" orientieren: der Erweis des Starken als des Wahren soll ins Zentrum der kulturpolitischen Vision rücken: Wahr sei das, was sich in die Lage versetzt, zu existieren und fortzudauern. Das, was verdienen würde zu sein, wird auch sein!
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Nimmt man hinzu die ständig gegebene Faszination, die aus einem modernisierten und technologisch verstärkten Soziobiologismus tagtäglich entgegenkommt, so wird man realistischerweise erwarten müssen, daß das Bedürfnis nach einem neuen normativen Rahmen unserer Staatsphilosophien zunehmen wird.
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Der Preis, den wir zahlen ist also die Auflösung eines normativen Menschenbegriffes zugunsten der wie auch immer neu zu definierenden "Macht der Tatsachen".
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Auf diesem Hintergrund wird die Notwendigkeit der theologischen Problematisierung des Menschenrechtsbegriffes für die christlichen Kirchen von immer größeren Brisanz: Welche Bedeutung hat also Gnade für die Menschenrechte? Eine Antwort habe ich bereits gegeben: Gnadentheologie als Möglichkeitsbedingung der Menschenrechtsphilosophie, Gnadenerfahrung als Möglichkeitsbedingung des Menschenrechtsengagement!
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Ich habe aber die binnentheologische Frage im Raum stehen lassen, ob damit das gnadentheologische Potential bereits eingelöst ist. Stimmt man dem zu, und viele sog. Progressive würden hier zustimmen, so gerät man unwillkürlich in die Gefahr, Gott zur Chiffre für diesen - für viele zweifelhaften - kulturellen Fortschritt zu deklarieren.
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Die zweite Frage, die sich nun aufdrängt, kommt von außen und sie verstärkt die erste:
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Mutet sich da die Theologie nicht allzu viel zu? Kann sie nicht aus ihrer Tradition lernen, daß jeder Versuch, "Gott als Vorteil aller Menschen" zu denken, gerade angesicht des konkret gegebenen Unheils scheitern muß? Man kann die liberale Schwierigkeit eines Enzensberger theologisch radikalisieren und darauf hinweisen, daß nicht einmal Gott den Anspruch einlösen könnte.
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Man braucht da nur an die zahllosen biblischen Sackgassen zu denken, an denen abgelesen werden kann, daß auch die göttliche Zuwendung keineswegs widerspruchsfrei Recht verschafft. Indem sie Recht verschafft, bringt sie auch Unrecht hervor: der Gott Jakobs kann schwerlich als Gott Esaus gedacht werden, jener der Sarai kaum als ein Gott der Hagar, jener der Israeliten, schwerlich als einer der Ägypter. Moralisierende Lösung dieser Schwierigkeit durch die Anklage der biblischen Kulturen löst die Schwierigkeit keineswegs, vielmehr verschleiert sie das Grundproblem.
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Man braucht nur den ehrlichen Realismus eines Augustinus, in: De diversis quaestionibus ad Simpicianum (397) in Erinnerung zu rufen. Seine Beschreibung der "massa damnata" läßt sich durchaus als eine Beschreibung der konkret erfahrbaren Wirklichkeit interpretieren (man muß nur stückweise die sexualneurotisierende Fixierung der Bilder hinter sich lassen, dann wird man den Aussagen einer sich in der Sünde geradezu wälzenden Masse konkrete Aussagekraft abgewinnen können: die Fernsehnachrichten stellen das beste Illustrationsbild dafür). Und die augunstinische Logik: Angesicht der faktischen Ungerechtigkeit läßt Gott, der deswegen auch kaum des Unrechts bezichtigt werden kann, seine rettende Gnade, seinen Vorteil, einem kleinen Teil der Menschheit zukommen, der andere bleibt aber in der Masse des Unheils und kann sich beim besten Willen nicht retten. Die Geretteten sollen froh sein über ihre Rettung; auf die Verdammten niederblickend wissen sie auch, daß sie gnadenhalber gerettet worden sind. Schaut man sich mit dieser eschatologischen Brille des Augustinus die Menschenrechtspolitik der Gegenwart an, so wird man Parallelen entdecken: Bei einer theoretischen Voraussetzung der Universalität kommt die faktische Realisierung den einzelnen - gnadenhalber - zu. Was Augustinus als Logik der Gnade präsentiert, ist faktisch eine ehrliche Resignation vor der Wirklichkeit. Gottes gerechtigkeit und Gnade müssen sich mit den Grenzen des Unheils abfinden. Gott kann nicht als Vorteil aller gedacht werden. Daß Calvin mit seiner Prädestinationsproblematik die Augustinische Not zur Tugend erklärt, sei nur am Rande erwähnt.
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Wirft man die Frage nach der Zuordnung von Recht und Gnade angesichts des konkret erfahrbaren Unheils auf diese von der Gnadentheologie jahrhundertelang behandelte abstrakte Art und Weise auf, so landet man bestenfalls beim ehrlichen Realismus; er ist keineswegs moralisch zu diffamieren: ein so formulierter gnadentheologischer Realismus kann uns vor der apokalyptischen Verzweiflung am Zustand unserer gegenwärtigen Welt bewahren.
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Die gnadentheologische Logik der biblischen Botschaft vermag aber den Augustinischen Realismus in Frage zu stellen: hier darf aber der Preis dafür nicht mehr tabuisiert werden. Wirft man die Frage konkret - dem biblischen Nerv gemäß soteriologisch - auf, so kommt man zu keinem klaren begrifflichen System. Dafür entdeckt man die Dramatik der Gnade neu: Die Gnade verstärkt nicht die vorhandenen Differenzen des Unheils, sondern transformiert diese: durch das Engagement und durch den Preis des stellvertrettenden Erleidens. Diese Dramatik müßte nacherzählt werden durch den Rückgriff auf die biblische Geschichte, die sich analog zum Denken des modernen Menschen als theologisch kodiertes Rechts- und Anspruchsdenken rekonstruieren läßt. Über weite Strecken ist der Glaube der Mentalität von "unserem Gott", der unser Vorteil sei, auf dessen Heilsgüter wir geradezu den Anspruch haben, verpflichtet. Es ist damit das Klima jenes Alltags gemeint, in dem der Glaube an Gott gedeihen kann: das Klima der positiven Lebenserfahrungen, des selbstverständlich gelebten Lebens, mit all dem was zum Leben gehört: miteinander essen, miteinander trinken, miteinander schlafen, das Klima des Lebens und des Glaubens ohne den erhobenen Zeigefinger.
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Wie ein Kontrapunkt, und keineswegs abgehoben, wird dieses Denken von prophetischen Existenzen begleitet, die Schritt für Schritt die "begnadete - auch aus Gott - lebende Existenz" neu definieren. Der Höhepunkt dieser Gnadenlogik ist bei Deutorojesaja (und seinem Universalismus) und beim Bekenntnis zu Jesus zu finden.
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Ecce homo: gilt hier jeweils der geknechteten - seiner elementarsten Rechte beraubten - Existenz. Und er ist v.a. deswegen der Mensch, weil er in seiner entwürdigten und rechtlosen Existenz die Würde der anderen retten kann: ihnen also auf eine neue Weise zum Recht verhelfen kann. "Gott als Vorteil aller Menschen" kann angesichts des konkreten Unheils letzten Endes nicht losgelöst gesehen werden von der dieses Unheil erleidenden Proexistenz. Und Gott selber wird zum Inbegriff dieser Proexistenz in Jesus Christus. Dieser konnte aber so und nicht anders leben, weil seine Existenz der Inbegriff der göttlichen Zuwendung war.
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Wenn Gott nur über den Umweg der Proexistenz zum Vorteil aller wird, so kann der Mensch (und zwar ein jeder:) es auch nur auf diesem: letzten Endes - göttlichen - sprich gnadentheologischen Wege tun. Der theologische Kern der Menschenrechtsproblematik liegt demnach nicht im Gedanken der göttlichen Allmacht und der Allgegenwart; es ist das ihnen zugrunde liegende Menschenbild, das die theologische Herkunft offenbart: die Fähigkeit und die Bereitschaft des Menschen zur Proexistenz. Eine solche Fähigkeit kann niemals abstrakt gedacht werden, sie ist immer schon das Ergebnis der ihr vorausliegenden Erfahrung. Deswegen findet die Artikulation der Bedeutung der Proexistenz Jesu Christi für den Menschen primär nicht im ethischen Kontext statt sondern im sakramentstheologischen: im Zusammenhang mit der Taufe und dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen. Schon hier kann allerdings weder vom Recht noch vom Anspruch auf "Proexistenz" geredet werden, verwandelt doch eine solche Redeweise Gnade zur Pflicht.
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Ist nun damit auch die moderne Frage beantwortet, ob das Engagement zur Herstellung des Rechtes und die Erfahrung der Gnade auswechselbar sind?
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Anstatt einer systematischen Antwort, möchte ich zum Schluß eine literarische geben. Es ist einer der vielen literarischen Versuche, die Logik der Gnade nicht im Gegensatz zur Logik des Rechtes darzustellen. Es handelt sich dabei um den Roman von Herman Melville, Billy Budd . Die Handlung spielt auf einem Schiff und zeigt eine Schicksalgemeinschaft inmitten des Chaos der Naturkräfte. Die Rahmenhandlung spricht vom Krieg zwischen den Nationen; die eigentliche Geschichte erzählt die Konflikte zwischen den Menschen. Die Unentrinnbarkeit der Lebenssituation auf dem Schiff verschärft die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens. Die Menschen können einander nicht entkommen - das Schiff als Spiegelbild unseres Lebens!
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Billy Budd gerät auf dieses Schiff, wie ein Mensch auf die Welt kommt, ohne die Möglichkeit nein zu sagen und er wird konfrontiert mit der Zweideutigkeit des Zusammenlebens dort. Als der Inbegriff des Hasses und der Zerstörungswut wird der Waffenmeister John Claggart gezeichnet. Er sorgt für den Unfrieden: das Böse nimnmt seinen Lauf. Billy Budd verhilft dem Recht zum Recht: er tritt dem Bösen entgegen, setzt sich dadurch aber selber ins Unrecht, weil er nicht anders kann als Claggart erschlagen. Das Urteil des Kapitäns über Billy lautet: "Claggart wurde von einem Engel Gottes erschlagen! Und doch muß der Engel hängen!" Melville zeigt die Tragödie des institutionalisierten Rechtes und er zeigt auch deren Lösung. Und diese ist der Gnadentheologie entnommen. Bei der Verkündigung des Todesurteils vergibt Billy dem Kapitän und er stirbt auch mit dem Gebet: Gott schütze den Kapitän! In der Vergebung durch den in der Herstellung eines Rechtsraumes schuldig gewordenen Bill, kann Gnade als Bedingung der Möglichkeit der Rechte wahrgenommen und erfahren werden. Damit die Ebene des Politischen in der es primär um die Menschenrechte gehen soll nicht der Tragik verpflichtet bleibt, oder sich in die nicht zu verantwortbare Groteske verwandelt, muß sie ständig gnadentheologisch transformiert werden! Letzendes kann der gordische Knoten nur auf diese Weise gelöst werden.
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