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Sandler Willibald: Der verlorene und wiedergefundene Gott
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Der verlorene und wiedergefundene Gott
(Teil 1: Der Mensch im Blick auf Schöpfung und Sündenfall)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2008-01-15

Inhalt

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Die biblische Sündenfallgeschichte erzählt die Geschichte vom verlorenen Gott. Das ist keine Erzählung bloß über den Anfang der Welt.[1] Viele Interpreten sagen, hier drückt sich etwas aus, das immer gilt und damit auch uns jederzeit betrifft. Diese Sichtweise trifft etwas Zutreffendes und sehr Wichtiges,[2] aber sie wirft auch Probleme auf. Wie kann man etwas verlieren, das man nicht schon hat? Die Sündenfallgeschichte ist nicht für jede menschliche Situation gleichermaßen bedeutsam, sondern gewinnt dort an Triftigkeit, wo die Nähe Gottes intensiv erfahren wird. Das war ganz bestimmt für Menschen der Fall, die so, wie es die Evangelien beschreiben, Jesus begegnet sind. In der Begegnung mit Jesus ging ihnen Gott auf: neu und in ungekannter Intensität. Damit konnten Wunder geschehen, und Heil rückte in greifbare Nähe: in all seinen Dimensionen – körperlich, seelisch, geistlich – und in allen Grundbezügen: Gottbezug, Selbstbezug, mitmenschlicher Bezug, Bezug zur ganzen Schöpfung. Dennoch wird Heil damit nicht automatisch verwirklicht, denn das geschieht niemals an der Freiheit der Menschen vorbei. Wenn sich – wie für neutestamentliche Menschen in der Begegnung mit Jesus – der Zugang zu Gott neu öffnet, gewinnen diese Menschen die Freiheit, zu Gott ja zu sagen, – oder auch nein. Die Evangelien berichten uns, dass Menschen auch nein zu Gott sagten, und sie zeigen, welche Gründe dazu beigetragen haben: etwa Oberflächlichkeit und die „Sorgen dieser Welt“[3], Verlustängste und die Sorge, was denn die anderen von einem denken könnten.[4]

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Wo es aber Menschen gelingt, zu Gott ja zu sagen, da wächst ein heiles Gottesverhältnis, das sich im Bezug zu Mitmenschen, zur Schöpfung und zu einem selber auswirkt. Im Alten Testament wird das als Bund entfaltet; im Neuen Testament als Gottesreichs, das von Jesus angekündigt wird. Mit dem Titel dieses Beitrags können wir schlicht sagen: Hier wurde Gott gefunden. Und das ist die Situation, wo Gott auch verloren werden kann. Erst hier, wo Menschen aus der Erfahrung des gefundenen Gottes leben, wird es ein wichtiges Thema, ob und wie Gott verloren gehen kann. Erst hier wird die Geschichte vom Sündenfall aktuell.

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Deshalb bin ich auf den ungewohnten Gedanken verfallen, alttestamentliche Sündenfallgeschichte neutestamentliche Gottesreich-Erzählungen im Zusammenhang anzuschauen. Eine solche Zusammenschau kann nicht nur helfen, die Bibel besser zu verstehen, sondern auch um das eigene Leben im Verhältnis zu Gott zu erhellen: Wie wird Gott gefunden? Wie wird ein glückliches Verhältnis zu Gott verspielt? Wie kann Gott wiedergefunden werden, wenn er verloren gegangen ist? Bei all diesen Fragen geht es nicht nur um das unmittelbare Gottesverhältnis, sondern um das Leben in seiner ganzen Breite und mit all seinen Höhenflügen und Abgründen.

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Wir finden Gott niemals nur unvermittelt, sondern immer auch in Verbindung mit seiner Schöpfung. Wegweisend für Gotteserfahrungen sind zwei Grundausrichtungen: innen und außen. Ich selbst bin Geschöpf Gottes, von meinem Innersten her Gottes Ebenbild in einer unauslöschlichen Weise, und deshalb kann ich Gott innen, in mir selber finden, – etwa wenn ich in Gebet oder Meditation mit mir selbst allein bin. Aber auch alle anderen Dinge – die ganze Welt und alle Menschen – sind von Gott geschaffen; sie sind leibhaftige Gotteswege, und deshalb kann ich Gott auch durch sie finden, – wenn ich also aus mir selber herausgehe und mich anderen und anderem zuwende.

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Wenn ich Gott gefunden habe,[5] dann öffnen sich damit zugleich neue, tiefere Zugänge „nach außen“ – zu meinen Mitmenschen und zur natürlichen und vom Menschen gestalteten Schöpfung – und nach innen: zu mir selber. Und umgekehrt: Wo sich mir ein tieferer Zugang zu einem anderen Menschen erschließt, da ebnet sich mir ineins damit ein Zugang zu Gott und zu mir selber. Und wo ich mich selber finde, kann meine Beziehung zu anderen und zu Gott eine neue Qualität gewinnen. Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe hängen untrennbar miteinander zusammen.

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Dasselbe gilt aber auch für den verlorenen Gott. Wenn ich Gott verloren habe, wirklich verloren habe,[6] dann unterhöhlt das meine Beziehungen zu anderen Menschen und auch mein Selbstverhältnis. Deshalb wird es im Folgenden auch um Fragen gehen wie: Wie schaut ein Verhältnis glückender Liebe zwischen zwei Menschen aus? Wie geht es verloren und wie kann es wieder gefunden werden?

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1. Die biblische Geschichte von Schöpfung und Sündenfall im Kreuzfeuer

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1.1 Biblische Schöpfungsgeschichte

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Drei zentrale Inhalte der biblischen Schöpfungsgeschichten sind besonders wichtig für das Folgende:[7]

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1. Gottes Allmacht: Alles was ist, ist von Gott geschaffen (Gen 1,1).

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2. Die Gutheit von Gott und seiner Schöpfung: Alles was Gott geschaffen hat, ist gut geschaffen: Sechsmal qualifiziert die Bibel etwas Erschaffenes mit den Worten: „Gott sah, dass es gut war“. Das siebte Mal, zusammenfassend und mit besonderem Bezug auf die Erschaffung des Menschen heißt es: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“ (Gen 1,31).

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3. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen: Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen.

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„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,26-27)

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Der Mensch ist nicht Sklave oder Marionette, sondern dazu geschaffen, sich in dieser Welt auf souveräne Weise zu entfalten[8]. Jeder Mensch – und nicht nur ein König oder Pharao, wie in ägyptischen Mythen – ist in diesem Sinn Gott ähnlich, oder „nur wenig geringer als Gott“, wie psalm 8 sagt.

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1.2 Wie kommt das Böse in eine gute Welt?

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Die ersten beiden von diesen drei Aussagen stoßen die Theodizeefrage an: Wenn Gott zugleich allmächtig und gut ist, wie kann es dann Leid und Böses in der Welt geben? Der religionskritische Einwand lautet: Wenn Gott allmächtig ist, dann ist er verantwortlich für Leid und Böses; also kann er nicht gut sein. Wenn Gott aber gut ist, dann kann er angesichts der Realität von Leid und Bösem nicht allmächtig sein.

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Sieht die Schöpfungsgeschichte überhaupt die Realität von Leid und Bösem? Am Anfang kommen Leid und Böses nicht vor. Spätestens jedoch in Gen 6,11f heißt es in voller Schärfe:

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„Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat. Gott sah sich die Erde an: Sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben.“

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Die Geschichtenfolge von Gen 1-2 bis Gen 6 zieht einen weiten Bogen vom anfänglichen „Sehr gut“ bis zur schlussendlichen Disqualifizierung der Welt als „verdorben“ und „voller Gewalttat“. Von Gen 4 (Kain und Abel) an wird das Schlechte noch schlechter.[9] Dass so etwas vorkommt, kennen wir aus unserer Erfahrung. Wie aber kann das Böse anfänglich in einer gute Welt entstehen? Genau an der Stelle, wo diese Frage auftaucht, steht die Geschichte vom Sündenfall.[10]

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Wie kommt das Böse in eine gute Welt? Drei Antwortansätze sind möglich und wurden auch immer wieder versucht:

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1. Das Böse kommt „von außen“: zum Beispiel aus einer Chaoswelt oder einem teuflischen Bereich außerhalb der geschaffenen Welt. – Dieser Antwortansatz wird durch die Bibel versperrt. Es gibt kein Außen, denn alles was ist, ist von Gott geschaffen (Gen 1,1).

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2. Das Böse kommt „von innen“: das heißt, dass die Welt den Keim des Bösen von Anfang an in sich hatte, – im Menschen oder in einer anderen geschöpflichen Wirklichkeit, die durch die Schlange ausgedrückt ist. – Auch diesen Antwortansatz weist die Bibel zurück: Denn: Gott hat alles gut geschaffen.

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3. Das Böse kommt „von oben“: Wenn das Böse weder von außen noch von innen kommt, dann ist offenbar nur noch diese Alternative denkbar: Gott selbst hat es in eine ursprünglich gute Schöpfung hineingepflanzt. – Das entspricht natürlich auch nicht der Sichtweise der Bibel. Nach ihr ist Gott allmächtig und gut zugleich. Es ist aber die Antwort, welche die Schlange nahelegt. Sie beschreibt Gott als einen eitlen Despoten, der nicht zulassen will, dass auch seine Geschöpfe ihm gleich, also „wie Gott“ werden.

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Wenn jede dieser drei Antwortmöglichkeiten ausfällt, woher kann das Böse dann kommen? Die Bibel erzählt eine Geschichte, in der die Menschen – verführt durch die Schlange – in winzigen Schritten von einem ursprünglich ungetrübten Gottesverhältnis abrutschen: Zunächst wird – durch die Schlange – Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ein klein wenig verfälscht („daran dürft ihr nicht rühren“). Daraus keimt ein Misstrauen gegen Gott auf. Das Misstrauen lässt die Begierde groß werden, Gottes Verbot zu übertreten. So kommt es zum Sündenfall. Dieser wirkt sich aus als Zerrüttung des menschlichen Vertrauens gegenüber Gott (Adam und Eva versteckten sich vor ihm: Gen 3,8), gegenüber dem Nächsten (Adam rechtfertigt sich, indem er Eva beschuldigt: Gen 3,12) und gegenüber sich selbst (sie schämten sich wegen ihrer Nacktheit: Gen 3,7).

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1.3 Ist Gott schuld am Sündenfall?

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Aber ist nicht letztlich Gott für all das verantwortlich? Er hat doch den verbotenen Baum in die Mitte des Paradieses gestellt! Hat er die Menschen damit nicht in eine Falle gelockt? Hat er sie denn nicht den zur freien Weltgestaltung geschaffen – mit der dazu gehörigen Neugierde –, um dann mit einem verbotenen Baum in der Mitte des Gartens diese Neugierde anzustacheln? In diese Richtung zielt die wütende Kritik von Alice Miller, einer streitbaren Pädagogin und Schriftstellerin:

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„Warum hat Gott den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse mitten in den Garten Eden gepflanzt, wenn er nicht wollte, daß die beiden von ihm geschaffenen Menschen dessen Früchte aßen? Warum hat er seine Geschöpfe in Versuchung geführt? Warum hat er das nötig, wenn er doch der allmächtige Gott ist, der die Welt erschaffen hat? Warum hat er es nötig, die beiden Menschen zum Gehorsam zu zwingen, wenn er der Allwissende ist? Wußte er nicht, daß er mit dem Menschen ein Wesen ins Leben rief, das neugierig ist, und daß er es gezwungen hat, seiner Natur untreu zu werden? [...] Ihr Gott dachte sich ein grausames Szenario aus, schenkte Adam und Eva den Baum der Erkenntnis, verbot ihnen aber ausgerechnet dessen Früchte zu essen, das heißt zu wissenden und autonomen Menschen aufzuwachsen. Er wollte sie ganz von sich abhängig machen. Ein solches Vorgehen eines Vaters bezeichne ich als sadistisch, weil es die Freude am Quälen des Kindes enthält. Das Kind dann auch noch für die Folgen des väterlichen Sadismus zu bestrafen, hat nichts mit Liebe, sondern eher mit der Schwarzen Pädagogik zu tun. Aber so haben die Bibeldichter unbewußt ihre angeblich liebenden Väter gesehen.“[11]

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Der Angriff könnte erschrecken. Darf man denn so mit der Bibel umgehen? Aber es ist wichtig, dass wir uns offen der Kritik stellen. Wenn man sie nur verbietet, dann wirkt sie unterschwellig weiter und vergiftet das Gottesverhältnis. Es bleibt dann ein Verdacht zurück, dass Gott es vielleicht doch nicht so gut mit uns Menschen meint, dass ich meine Freiheit verliere und vielleicht meinen Verstand, wenn ich mich rückhaltlos auf ihn einlasse. Eine solche Verdrängung mit ihren schleichend-giftigen Folgen ist in den vergangenen Jahrhunderten passiert, mit fatalen Folgen bis in die Gegenwart.

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Versuchen wir also, die Kritik von Alice Miller ernst zu nehmen. Stellen wir uns dazu einen Vater (oder eine Mutter) vor und ein kleines Kind. Das Kind ist von Natur aus neugierig. Gewiss entspricht es einem guten Erziehungsprinzip, wenn der Vater das Kind nicht in eine Gehschule einsperrt, sondern ihm die Möglichkeit gibt, seiner Neugier zu folgen, indem es seine kleine Welt erkundet. Ähnlich hat auch Gott gemäß der zweiten Schöpfungsgeschichte den Menschen in einen Garten gesetzt, in dem er sich frei bewegen kann und auf dessen Gegenstände – die Bäume – er freien Zugriff hat. Allerdings ist es auch selbstverständlich, dass ein verantwortlicher Vater alle gefährlichen Gegenstände aus der Reichweite seines Kindes entfernt. Was würden wir dazu sagen, wenn ein Vater in der Mitte des Spielzimmers einen gefährlichen Gegenstand platziert, ihn dem Kind verbietet, und dann das Kind mit seiner natürlichen Neugierde allein lässt? Wir würden einen solchen Vater als unverantwortlich und boshaft verurteilen. Wir würden uns fragen, was sich denn der Vater dabei gedacht hat, und der Verdacht würde sich in uns regen, dass der Vater dem Kind mit seiner Aktion jede „autonome“ Eigeninitiative austreiben wollte. Wenn das Kind sich am verbotenen Gegenstand gehörig die Finger verbrennt, wird es künftig nur mehr ängstlich Papa fragen, bevor es etwas Neues probiert.

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Im 18. Jahrhundert hat Reimarus, einer der Väter der Aufklärung, diese Kritik scharf zugespitzt. Hören wir uns ihn im Originalton an:

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„Gesetzt, ich weis [zum] voraus, daß Simplicius sich wird voll sauffen, und sich sowohl als seinen Nachkommen eine unheilbare Krankheit, die schwere Noht, zuziehen, wenn man ihm einen schönen Römer mit Wein vor Augen setzt, und einen schlauen Menschen dabey stellet, der ihn zum Trunke nöhtigen wird. Ich mache mein bestes Zimmer im Hause zurecht: setze zwar hin und wieder allerley Eßwaren, auch Wasser, Bier, Thee, Caffee herum, in der Mitte aber setze ich einen grossen Römer auf dem Tische, dessen Wein mit seinem glüenden Glantze und erquickenden Geruche einen desto angenehmern Geschmack verspricht. Unter dem Tische liegt ein Anthal von demselben Weine, woraus mehr zu zapfen ist; ich gebe ihm den Namen Vin de joie. Nun lasse ich Simplicium zu mir bitten, führe ihn in dies Zimmer, und spreche: Hört, ich kann für eine Weile nicht bey euch seyn; wenn ihr aber unterdessen Appetit bekommt, so steht da allerley Essen und Trinken zur Erfrischung im Zimmer herum; aber nehmt euch in acht für den Vin de joie in der Mitte, daß ihr nicht davon trinket; denn wo ihr das thut, so werdet ihr euch eine unheilbare Krankheit zuziehen. Hierauf gehe ich weg; lasse aber Cacochartum alsobald hinein, ohne daß der da was zu schaffen hat. Ich weis es unterdessen wohl, daß der eine Freude daran zu haben pflegt, wenn er jemand zum Argen verleiten kann, und daß er dem Simplicio viel zu schlau ist. Dieser fängt ein freundschaftlich Gespräch mit Simplicio an, kommt endlich auf den Wein und nöhtiget ihn zum Trinken. Simplicius weigert sich, mit wiederholter Warnung des Wirts. Ey, sagt Cacochartus, merkt ihr denn nicht, daß der Wirt diesen Wein nur für sich allein behalten will? Riecht nur den Wein einmal, und seht wie er im Glase spielt: er heist nicht umsonst Vin de joie: wenn man den trinkt, so wird man so vergnügt als immer ein König seyn kann. Last uns heute lustig seyn; ich will den ersten Trunk thun, ihr sollt sehen, daß es mir nicht schadet. Mein Simplicius läst sich bereden, trinkt, kommt in den Geschmack, berauscht sich, daß er allen Verstand verliert, und kriegt die schwere Noht; da liegt er! Nun komme ich wieder dazu, wie Simplicius sich etwas wieder erholt, schmäle ich mit Cacocharto sowohl als Simplicio, daß sie beide ihr Unglück zur Strafe davon tragen würden. Endlich jage ich Simplicium aus dem Zimmer und Hause, verschließe das Zimmer und stelle ein Paar Diener mit bloßen Degen davor, daß niemand weiter hineinkommen und von dem Wein trinken solle.“[12]

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Und in Bezug auf den Engel mit dem Flammenschwert, der die Rückkehr in das Paradies verhindert (Gen 3,24), legt Reimarus noch eins drauf: „Würden die Cherubim mit ihren blitzenden Schwertern nicht bessere Dienste bey dem verbotenen Baum gethan haben?“[13]

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1.4 Sündenfallgeschichte ohne Gott – oder gegen Gott

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Damals versuchten Philosophen, der Schärfe solcher Kritik durch das Kunststück zu entgehen, dass sie die Sündenfallgeschichte erzählten, ohne dass Gott darin vorkam: Am Anfang waren die Menschen wie die Tiere gebunden an ihre Triebe. Sie aßen, was sie gewohnt waren und was ihnen auch nicht schadete. Die Menschen aber ließen diese Instinktsicherheit hinter sich und verdarben sich so gehörig den Magen.[14] Vieles Schlechte und Problematische entstand so, aber auch das überaus Gute, dass sie begannen, ihren Weg eigenverantwortlich zu gehen. „Aude sapere – hab Mut dich deiner Vernunft zu bedienen.“ Immanuel Kant erhob diesen Wahlspruch zum Programm[15] und begründete damit die Epoche einer zunehmend religionskritisch ausgerichteten Aufklärung. Diese Leitprinzipien hatten eine ungeheure Wirkungsgeschichte und prägen bis heute unser Bildungsverständnis an Schulen, Universitäten und in den „gehobenen“ Bereichen von Presse und Medien. „Autonomie“ – im Sinne einer moralischen Selbstbestimmung – ist das bestimmende Schlagwort.

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An sich sind Autonomie und Eigenverantwortlich nicht schlecht. Im Grunde vertragen sie sich bestens mit dem Judentum und Christentum: Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte hat Gott den Menschen Gott nicht zu einer Marionette gemacht, sondern ihn daraufhin geschaffen, dass er eigenverantwortlich die Welt zu gestaltet. In diesem Sinne konnte das Zweite Vatikanische Konzil die Gewissensfreiheit verteidigen[16] und das Wort Autonomie in positiver Weise gebrauchen.[17]

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Gefährlich irreführend war aber, dass die Philosophen der Aufklärung dieses Ideal der Autonomie in einen Gegensatz zu Gott stellten. Auch wenn sie – wie Kant – versuchten, Gott aus dem Spiel zu lassen, verkehrten sie doch den Sinn der Sündenfallgeschichte in ihr Gegenteil. Der Griff nach der verbotenen Frucht wurde für sie zum großen Symbol der werdenden Selbstbestimmung des Menschen. Was viele damals dachten, formulierte Friedrich Schiller in scharfer Zuspitzung:

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„Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte, der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget.“[18]

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So verstand die Aufklärung – jene folgenschwere philosophische Strömung des 18. Jahrhunderts – die Sündenfallgeschichte als eine Geschichte der Emanzipation: Sie erzählt, wie die Menschenkinder erwachsen – und damit eigentlich erst im Vollsinn Menschen – wurden; wie sie den Mut aufbrachten, sich aus ihrer anfänglichen Unmündigkeit und Fremdbestimmung zu lösen. Die Menschen ließen sich nicht mehr bestimmen von äußeren Geboten und Verboten, sondern machten sich bereit, selber zu entdecken und zu bestimmen, was gut und was böse ist. Autonomie, die eigenmächtige Erkenntnis „auf“ Gut und Böse,[19] – diese Frucht vom Baum der Erkenntnis durfte dem Menschen nicht vorenthalten werden.

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Was musste all das bedeuten, wenn man Gott nicht mehr – wie es Kant tat – vornehm aus der Sündenfallgeschichte heraushielt? Dann konnte Gott nur noch als zweifelhafter Despot erscheinen, der missgünstig den Menschen das vorenthalten wollte, was für sie doch entscheidend war. Einige Jahrzehnte nach Kant hat Heinrich Heine diesen Schluss in einem bösen Gedicht gezogen:

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Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

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Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach and'ren Erdenländern;
Doch daß ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

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Du kannst nicht ändern, daß ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig. [...]

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Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies –
Es gab dort verbotene Bäume.

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Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find' ich die g'ringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.[20]

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Von daher ist es keiner weiter Schritt mehr zum radikalen Atheismus eines Friedrich Nietzsche, für den das Wie-Gott-Sein – das die Schlange mit dem Genuss der verbotenen Frucht versprach– nur gegen Gott verwirklicht werden kann: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein!“[21]

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Immerhin gebührt Heine und Nietzsche das Verdienst, dass sie ein Problem auf den Punkt brachten, die schon lange bestand, aber verschleiert geblieben war. Auch wir leben in einer Zeit der Verschleierung. Scharfer Atheismus ist nicht mehr angesagt, aber das Gift eines tief verwurzelten Misstrauens gegen Gott – jenes Gift der Paradiesesschlange – wirkt dennoch weiter. Es führt nicht nur dazu, dass aufgeklärte Menschen den christlichen Glauben als Zumutung empfinden, es lähmt auch die Lebenskraft der Christen und bewirkt so, was ausgerechnet Nietzsche an ihnen bekrittelt hat: „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!“[22]

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Anstelle aus der tieferen Kraft des Glaubens die größere Weite und Tatkraft im eigenverantwortlichen Weltengagement zu schöpfen, beschränken sich viele Christen auf einen faulen Kompromiss: nicht zu fromm, um nicht als weltfremde Spinner abgestempelt zu werden. Und nicht zu engagiert in der Welt, um noch etwas Spielraum für das Frommsein übrigzulassen. Welt und Glaube werden hier auseinandergehalten: Frommsein erscheint als ungefährlich, wenn man es auf fixe Zeiten und Orte beschränkt. Außerhalb wird's schnell peinlich, wie beim Kreuzzeichen im Restaurant oder beim Gebet, das ein Christ abseits kirchlicher Orte und Anlässe zu sprechen versucht.

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All das ist eigentlich unverständlich, wenn der Mensch wirklich als Gottes Ebenbild geschaffen ist, und wenn folglich „Gottes Ehre der lebendige Mensch“, und „des Menschen Ehre Gott“ ist, wie der Kirchenvater Irenäus gesagt hat.[23] Es wird aber nachvollziehbar für eine Welt, in der Selbstbestimmung und Gottbezogenheit, Autonomie und Theonomie, in einen unversöhnlichen Gegensatz geraten sind. Dann kann Beten nichts anderes bedeuten als Regression auf eine Stufe früher Kindheit, als man noch den Papi bat, er soll's richten, anstatt sich selber die Ärmel hochzukrempeln. Nur wenn wirklich nichts mehr geht, wird die Hinwendung zu Gott toleriert: „Da kann man nur noch beten“. Beten steht hier für Resignation.

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2. Der gefundene Gott in einem positiven Verhältnis von Gottbezug, Selbstbezug und mitmenschlichen Beziehungen

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Wir haben gesehen: In der bis heute maßgeblichen Geschichte der Aufklärung stehen Selbstbestimmung und Gottbezug in einem unaufgelösten Gegensatz zueinander. Von einem biblischen Schöpfungsverständnis her dürfte das nicht so sein! So wie der Mensch von Gott geschaffen ist – „herrlich gestaltet“ in seiner Gottebenbildlichkeit, „nur wenig geringer als Gott“ (Ps 8) – müsste die größere Tiefe der Gottbezogenheit zugleich die größere Freiheit (in Autonomie und Selbstverantwortung) und die größere Weite der Weltzugewandtheit bedeuten können.

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Der Mensch ist von Gott so geschaffen, dass Gottbezug, Selbstbezug und Weltbezug (inklusive Bezug zu Mitmenschen) in einem positiven Verhältnis zueinander stehen, – genauerhin in einem Verhältnis positiver Proportionalität: je mehr das eine desto mehr auch das andere. Versuchen wir, diese Zusammenhänge mithilfe einiger Skizzen zu erschließen.

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2.1 Der Mensch als unauslotbares Geheimnis

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Der Mensch ist von Gott geschaffen. Diese Aussage bezieht sich nicht bloß auf einen zeitlichen Anfang, sie ist eine Wesensaussage. Sie besagt, dass der Mensch in Gott gründet, dass er in Gott seine Wurzeln hat. Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist von daher nicht ein bloß äußerliches. Er ist von seiner innersten Mitte her mit Gott verbunden. Augustinus hat das mit den Worten ausgedrückt: „Gott ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst.“[24] Dieser Zusammenhang lässt sich mit folgender Skizze ausdrücken:

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Skizze 1: In seiner Mitte wurzelt der Mensch in einer unergründlichen und unverfügbaren Tiefe

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Je näher man sich der Mitte, dem Wesenszentrum eines Menschen nähert, als desto tiefer erweist er sich. Wenn wir einen Menschen nur äußerlich kennen, können wir ihn mit wenigen Worten beschreiben. Wir haben schnell ein Urteil über ihn fertig. Wenn wir mit dieser Person aber näher vertraut werden, wenn wir uns wirklich auf sie einlassen, dann kann sich uns ein unerschöpflicher Reichtum öffnen. Menschen können ein ganzes Leben miteinander verbringen, ohne dass sie einander langweilig werden.

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Versuchen wir nun, in einer Selbstreflexion die Tiefe der eigenen Personmitte zu erkunden. Wo der Ursprungspunkt, von dem her ich „Ich“ sage und aus dem meine Entscheidungen entspringen? Machen wir dazu ein kleines Experiment:

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Was tun Sie gerade jetzt, in diesem Augenblick? Sie werden antworten:

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„Ich lese diese Zeilen“.

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Versuchen Sie nun, den Ursprungspunkt dieses Ihres Tuns zu fassen. Sie werden vielleicht sagen:

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„Ich bin der, der in diesem Augenblick diese Zeilen liest.“

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Aber das stimmt schon nicht mehr genau. Denn indem sie das sagen, haben Sie sich gerade entschieden, sich selbst dabei zu beobachten, wie Sie diese Zeilen lesen. Um die Mitte Ihrer Person wirklich zu erfassen, müssen Sie also die Beschreibung korrigieren:

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„Ich bin der, der sich im Moment dabei beobachtet, wie er diese Zeilen liest.“

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Haben Sie damit nun die Mitte Ihrer Person wirklich erfasst? Nein, sie haben sie wieder um ein kleines Stück verfehlt. Denn in dem Augenblick, wo sie diese Worte sagen, sind Sie die Person, die sich dazu entschieden hat, sich selbst dabei zu beobachten, wie Sie sich beobachten, wie Sie diese Zeilen lesen. Haben Sie mit dieser Beschreibung nun endlich die Mitte Ihrer Person restlos beschrieben? Sie werden schon ahnen, dass das wieder nicht zutrifft. Jede Selbstbeschreibung, auch wenn sie noch so kompliziert ist, weist so etwas wie einen blinden Fleck auf. Wenn Sie das beschreiben, was Sie tun, tun sie etwas. Und genau das, was Sie tun, wenn Sie etwas beschreiben, können Sie nicht zugleich in ebendieser Beschreibung einfangen.[25]

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Dieses Gedankenexperiment lässt sich mit unserer Skizze bildlich veranschaulichen:

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Skizze 2: Wir können den Ursprungspunkt unserer personalen Vollzüge niemals vollständig in den Griff bringen.

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In dieser Skizze stehen die waagrechten Pfeile für das, was ich gerade tue. Zum Beispiel a1: Ich lese diese Zeilen. Die waagrechten Pfeile stehen für meine Beobachtung von dem was ich tue. Für jede Beobachtung gilt: Sie hat nicht nur ein Ziel, nämlich das, was ich beobachte – dargestellt durch die Pfeilspitze –, sondern ist zugleich ein neuer Akt, der nochmals beobachtet werden kann: dargestellt durch den Pfeil in seiner gesamten Länge. Die strichlierten Linien, die senkrecht von den Pfeilanfängen nach unten reichen, stehen für den Entschluss, diesen Akt des Beobachtens zum Gegenstand einer erneuten Beobachtung zu machen. Der fortgesetzte Versuch, den Ursprungspunkt meines Tuns erkennend in den Griff zu bekommen, führt so zu zunehmend komplizierten Beschreibungen:

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a1 ... Ich lese diese Zeilen

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a2 ... Ich beobachte mein Lesen dieser Zeilen

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a3 ... Ich beobachte meine Beobachtung ...

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...

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In diesem Prozess der fortgesetzten Selbstbeobachtung zeigt sich immer neue Inhaltlichkeit, die aber immer weniger, immer „dünner“ wird. Das wird durch die immer kürzeren Pfeile angezeigt. Es entsteht eine endlose, unabschließbare Folge von Versuchen der Selbstbeobachtung. Ich komme an kein Ende. Im Bild: Es gibt nicht den abschließenden Pfeil der mich in die Mitte und den Grund meiner Subjektivität führt.

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Unser philosophisches Gedankenexperiment hat etwas sehr Grundsätzliches gezeigt. Die Mitte unserer Person, aus der unsere Entscheidungen entspringen, ist uns selber nicht verfügbar. – Heißt das nun, dass wir gar nicht frei sind, sondern fremdgesteuert? Manchmal haben Menschen diesen Schluss gezogen. Aber diese Annahme widerspricht unserer Selbsterfahrung. Besser passt mit unserer Erfahrung zusammen, wenn wir in Bezug auf die Mitte unserer Person ein unauflösbares Paradox annehmen:[26] – im Sinne eines Zusammenspiels von zwei Aussagen, die wir nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen können, auch wenn sie sich nicht notwendig widersprechen: Der Mensch ist frei, er kann über sich selbst verfügen (zumindest innerhalb gewisser äußerlich vorgegebener Grenzen). Dennoch kann er auf den Ursprungspunkt dieser Selbstverfügung nicht eigenmächtig zugreifen. Mit einem griffigeren Wort können wir das so ausdrücken: Im tiefsten Grunde ist der Mensch ein sich selbst unverfügbares Geheimnis. Genau das drückt Skizze 1 aus: Je mehr der Mensch sich seiner Mitte nähert, desto tiefer kommt er, – und desto schwieriger wird es für ihn, seine Tiefe auszuloten. Im Blick auf diese Erfahrung wird es sinnvoll zu sagen: In der Mitte des Seins hat der Mensch eine unendliche, unergründliche Tiefe.

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Von daher kann nun ein religiöser Mensch, der an Gott glaubt, sagen: In der innersten Mitte des Menschen ist Gott, – so wie Augustinus gesagt hat: „Gott ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst.“

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Heißt das nun, dass der Mensch Gott ist? Oder theologisch gesprochen: Ist das nicht die Häresie eines Pantheismus? Wir können antworten: Nein! Denn in dieser Mitte, die Gott ist, ist der Mensch ja sich selbst nicht verfügbar! Gott verfügt über den Menschen, nicht der Mensch über Gott. Und dennoch gilt: Gott verfügt über den Menschen so, dass der Mensch über sich selbst verfügen kann. Gott ist der ermöglichende Grund der Freiheit des Menschen.

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All das ist damit gemeint, wenn es biblisch heißt, dass der Mensch gottebenbildlich, als zur Herrschaft berufenes Wesen geschaffen ist. Herrschaft besagt ja wesentlich nicht nur: Herrschaft über andere,[27] sondern auch Herrschaft über sich selbst,[28] – Autonomie.

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2.2 Menschliche Identität als Widerschein der göttlichen Herrlichkeit

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Wenn wir von dieser Unerschöpflichkeit und Unverfügbarkeit des Menschen in seinem Wesensgrund ausgehen: Was ist dann die Identität des Menschen? Worin besteht seine personale Einmaligkeit und Unvertretbarkeit?

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Wenn wir die Identität eines Menschen beschreiben wollen – von anderen oder von uns selbst –, werden wir bestimmte Merkmale aufzählen, die ihn oder sie von anderen unterscheiden. Wie jemand ausschaut, wo er herkommt, was er geleistet hat usw. – Das sind eher äußerliche Bestimmungen, die wir in unserer Skizze im flachen Randbereich eintragen würden. Wenn wir einen Menschen näher kennen lernen, erweisen sich diese „Identitätsmarker“ als unzulänglich. Dem Menschen, der liebt, erschließt sich ein tieferer Grund der Identität des geliebten Anderen.

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Anhand unserer Skizze: Das, was die Einmaligkeit und Unvertretbarkeit eines Menschen ausmacht – in diesem Sinne: seine Identität – wird nicht so sehr bestimmt durch sein äußeres Profil, durch das er sich von den anderen unterscheidet, sondern durch seine Personmitte.

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Aber in dieser Personmitte ist doch, wie wir gesehen haben, letztlich Gott! Können wir denn sagen, dass Gott die Personmitte eines Menschen ist? Würden sich damit die Menschen nicht in Unterschiedslosigkeit auflösen, wenn man sagen müsste: Im Grunde ist jeder Mensch Gott??

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Wir müssen korrigieren: Auch wenn die äußeren Unterscheidungsmerkmale – das, wie ein Mensch ausschaut, was er geworden ist und zu was er sich gemacht hat – nicht den letzten Grund der Identität eines Menschen ausmachen, so sind sie dennoch unverzichtbar. Wenn wir sie als überflüssig wegzustreichen versuchen, damit wir den innersten göttlichen Wesensgrund allein fassen, dann verlieren wir sowohl den Menschen als auch Gott, der seinen Grund ausmacht. Anhand der Skizze: Wenn wir die äußeren Linien als unzulänglich zur Personbestimmung wegstreichen, um die unendlich tiefe Mitte pur zu haben, dann haben wir gar nichts mehr: wir haben die ganze Skizze ausgelöscht.

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Was das eben Gesagte bedeutet, können wir am besten an der Liebe eines Menschen zu einem anderen verdeutlichen: Liebe bleibt nicht an den äußeren Erscheinungsformen hängen, sondern erreicht den geliebten Menschen (näherungsweise) in seiner Mitte. Konkret: Wir lieben einen Menschen nicht bloß um seiner äußeren Eigenschaften willen, sondern um seiner selbst willen.[29] Das ist ja das Wesen der Liebe, im Unterschied zu Zweckbeziehungen. Und dennoch ist die Konkretheit des anderen für die Liebe nicht gleichgültig. Wir lieben den anderen Menschen gerade in seiner Eigenart, mit den schwarzen Haaren, der vielleicht leicht pummeligen Figur, seinen attraktiven aber auch nicht so anziehenden Eigenschaften.[30]

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Auch hier stoßen wir also auf ein Paradox: Die Identität eines Menschen wird tatsächlich durch seine unterscheidenden Merkmale – in der Skizze: die äußeren Bereiche – bestimmt; man erfasst sie aber ungenügend, wenn man die Mitte weglässt. Konkret heißt das: Wo die Personmitte aus dem Blick bleibt – die nie fassbar ist, aber in Glaube, Hoffnung und Liebe „offengehalten“ werden kann – wird der Mensch zum verwechselbaren und ersetzbaren Wesen degradiert.[31]

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Von der biblischen Schöpfungsgeschichte her lassen sich diese Zusammenhänge folgendermaßen beschreiben:

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Jeder Mensch ist in einer bestimmten Besonderheit – mit bestimmten Merkmalen und Anlagen, in einer bestimmten ihn prägenden Situiertheit (Familie, Herkunft...) – geschaffen und dazu berufen, diese Vorgaben aus Eigenem heraus zu entfalten. Seine Voraussetzungen und das, was er daraus macht, sind durchleuchtet von der ungreifbaren Wesensmitte, in der er aus Gott entspringt. Was das bedeutet, öffnet sich wieder am deutlichsten dem liebenden Blick: Das Gesicht eines Menschen mit seinen reizenden Zügen, aber auch mit seinen Runzeln und Deformationen ist von Gott her dazu bestimmt, einen Widerschein von Gottes Wesen zu bilden. In der Konkretheit dieses Gesichtes werden Gottes Liebe, Gottes Gutheit, Gottes Schönheit und seine Wahrhaftigkeit konkret. An solcher Konkretheit vorbei sind sie uns nicht zugänglich. Diese Konkretheit von Gottes Eigenschaften wird biblisch als Herrlichkeit (hebräisch: Kabod) bezeichnet: Sie ist der Widerschein von Gottes Schönheit, Güte, Größe und Wahrhaftigkeit in seiner Schöpfung. Sie spiegelt sich – in Ansätzen und mehr oder weniger gebrochen – in allem, was Gott geschaffen hat.

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Gottes unendliche Tiefe und Größe zeigt sich in seiner Konkretheit. Analoges gilt für seine Schöpfung. Des Menschen Tiefe zeigt sich in seinen konkreten Eigenschaften, nicht einfach nur jenseits davon. Was Gott dem Menschen vorgegeben hat und was der Mensch daraus aus Eigenem heraus entfaltet hat, ist geeignet, seine unfassbare Mitte – und damit zugleich: Gottes Herrlichkeit – widerzuspiegeln. Bereits für seine äußeren Merkmale, die sich einer oberflächlichen Betrachtung öffnen – in der Skizze: die Außenbereiche des „Trichters“ – gilt, dass sie etwas von jener Tiefe wiederspiegeln, die aus der Mitte hervorstrahlt, – und das heißt: zugleich von des Menschen Personmitte (seiner tiefsten, unvertretbaren Identität) und von Gott selber. Je mehr wir uns der Mitte einer Person nähern, umso deutlicher wird dieses paradoxe Verhältnis: umso mehr zeigt sich von der personalen Mitte, und zugleich: umso mehr zeigt sich von Gott, in dem die Person gründet.

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2.3 Alles was ist, ist von Gott geschaffen und gründet in Gott

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Was wir soeben für einen einzelnen Menschen entfaltet haben, gilt für alles, was Gott geschaffen hat:[32] Geschaffensein bedeuten nicht nur „Herkommen von Gott“, sondern ein bleibendes In-Gott-Gründen.

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Von daher können wir unsere erste Skizze erweitern zu einer skizzenhaften Darstellung der Welt als Kreisoberfläche oder Kugeloberfläche, an der jeder Punkt – alles was ist – in Gott verwurzelt ist.

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Skizze 3: „Alles, was geschaffen ist, gründet in Gott“.
Kreisumriss (bzw. Kugeloberfläche) ... Welt
Kreismitte ... Gott
A,B,C,... ... Seiende, exemplarisch
A,C ... Gottbezug als Verwurzelung in der Mitte, exemplarisch dargestellt an zwei Geschaffenen

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Wenn alles was ist, in Gott verwurzelt ist, dann ist es die größte und schönste Herausforderung für einen religiösen Menschen, „Gott in allen Dingen zu finden“.[33]

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Überdies zeigt sich in dieser Skizze, dass Gott vom Menschen grundsätzlich in zwei Richtungen gefunden werden kann: von innen oder von außen, das heißt: durch Vertiefung in die Gottverwurzeltheit des eigenen inneren Selbstseins (etwa in Gebet, Meditation oder stille Achtsamkeit) oder durch ein liebendes Sicheinlassen auf andere Seiende.[34] Beide Grundrichtungen hängen untrennbar miteinander zusammen. Wer Gott wirklich in sich selber findet, dem erschließt sich zugleich eine verborgene Tiefendimension von allem anderen Seienden. Und wem Gott an irgendeinem anderen Seienden aufgeht, dem öffnet sich damit zugleich die vertiefte Möglichkeit, Gott in beliebigen anderen Seienden und auch in sich selber zu finden.

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Für die Beziehung zu etwas anderem Geschaffenen – vor allem: zu einem anderen Menschen – gibt es zwei Wege, die ebenso eng miteinander verschränkt sind: einerseits im direkten, leiblich vermittelten Austausch; das lässt sich in der Skizze durch Pfeile längs der Kreisoberfläche darstellen. Anderseits über den Bezug zur göttlichen Mitte: Wer auf Gott hin geöffnet ist, hat damit die Möglichkeit, anderen Menschen nicht nur äußerlich – vermittelt durch äußere Erscheinungsformen und Verhaltensweisen –, sondern zugleich von innen her zu begegnen.[35]

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Wie eine Beziehung zwischen zwei Menschen zugleich eine Gottesbeziehung beinhaltet, werden wir im nächsten Kapitel mit Hilfe einer weiteren Skizze genau anschauen. Vorher aber will ich dem Modell einer kreisförmig dargestellten Welt mit Gott in der Mitte eine weitere – komplementäre – Skizze zur Seite stellen:

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2.4 Ehre sei Gott in der Höhe, – und Weite

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Skizzen haben den Vorteil, dass sie bestimmte Teilaspekte von komplizierten Zusammenhängen wirkungsvoll veranschaulichen können. Das geschieht durch starke Vereinfachungen, wobei vieles weggelassen wird. Deshalb ist es möglich, die gleiche komplexe Wirklichkeit mit sehr unterschiedliche Skizzen zu beschreiben. Ich habe bis jetzt den eher ungewohnten Weg gewählt, den Gottesbezug durch die Grundrichtungen unten und innen zu beschreiben. Gewöhnlich gehen wir den umgekehrten Weg: Wir beten „Ehre sei Gott in der Höhe“ und nicht „Ehre sei Gott in der Tiefe“. Beides schließt sich aber nicht aus.[36]

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Wenn wir uns Gott „oben“ vorstellen, sind wir in größerer Gefahr, Gott auf einen bestimmten Ort festzulegen, – als ob er an einem bestimmten Ort wäre und an anderen nicht. Das ist der Grund, warum ich die Skizze mit Gott in der Kreismitte bevorzugt habe. Hier wird sofort klar, dass es keinen Sinn hat zu sagen: „Gott ist unser Gott und nicht euer Gott“. Vielmehr gilt: Je näher wir Gott kommen, einen desto tieferen und innigeren Zugang gewinnen wir auch zu allem anderen was ist.

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Diese Einsicht können wir aber auch mit der Vorstellung verbinden, dass Gott über uns ist. Wir müssen uns dazu nur vorstellen, dass unser Horizont umso weiter wird, je höher wir kommen, das heißt desto stärker wir uns Gott annähern. Versuchen wir, diese nicht ganz einfache Vorstellung mit folgender Skizze zu veranschaulichen:

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Skizze 4: „Alles was geschaffen ist, gründet in Gott über uns
Kreisumriss (Kugeloberfläche): .... Welt
A,B ... Seiende, exemplarisch
„Trichter“ über A,C ... Gottesbezug als „Verwurzelung nach oben“, exemplarisch dargestellt an zwei Geschaffenen

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Die Gesamtheit von dem was ist und geschaffen ist, wird hier wieder durch eine Kreisoberfläche (oder Kugeloberfläche) symbolisiert. Die Verwurzelung in Gott – exemplarisch dargestellt an den Personen A und C – erfolgt in dieser Darstellung nach oben. Mit dem eigenartigen Ergebnis, dass die Wurzeln nach oben immer weiter werden. Würde ein Mensch Gott ganz erreichen – was nach unserem Glauben ausschließlich für Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes zutrifft – würde er damit den ganzen Horizont – buchstäblich den gesamten Himmel – umfassen. Damit wäre er zugleich mit allen Menschen und der gesamten Schöpfung in deren Innerstem verbunden.

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In dieser Darstellung ist Gott nicht – wie in der vorigen Skizze – an einem Punkt angesetzt. Er umfasst vielmehr die gesamte Umgebung des Kreises. Das entspricht der Aussage von Paulus: „In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28). Jesus Christus würde in dieser Skizze als einmaliger „Punkt“ auf dem Kreisumriss erscheinen, von dem eine alles umfassende Wurzel ausgeht. Die Gesamtheit Gottes würde demnach an einem Punkt in der Schöpfung kulminieren. Dieser bildlichen Vorstellung können wir die Worte des Kolosserhymnus zuordnen:

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„Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen“ (Kol 1,16).

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Diese Skizze kann auch unmittelbar veranschaulichen: Je höher ich mich zu Gott erhebe – zum wahren Gott und nicht einer einschränkenden Vorstellung von ihm – desto weiter werde ich. Oder, weil sich Höhe und Tiefe entsprechen: die größere Tiefe ist die größere Weite. Eine tief in Gott verankerte Frömmigkeit macht nicht eng, sondern weit! Dass es faktisch oft umgekehrt läuft, hängt mit problematisch verzerrten Gottesvorstellungen zusammen.

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Unserer Skizze veranschaulicht zudem die Bedeutung der klassischen kirchlichen Gebetshaltung (Orantenhaltung), bei der die betende Person beide Hände nach oben hin ausbreitet. Die doppelte Grundbewegung zugleich nach oben zu Gott und in die Weite der Menschheit und Schöpfung wird hier leibhaftig vergegenwärtigt.

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Skizze 5: Der Mensch, der Gott lobpreist, vollzieht die Höhe und Weite seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung.

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2.5 Gottesbezug aus zwischenmenschlicher Beziehung: Der „Zirkel der Liebe“

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Wie können wir durch Beziehungen zu Menschen in der Welt Gott selber erreichen, ohne dass wir den Mitmenschen mit Gott verwechseln? Das lässt sich am besten am Verhältnis der glückenden gegenseitigen Liebe zwischen zwei Menschen aufzeigen. Nehmen wird dazu folgende Skizze zu Hilfe.

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lika einlässt: Liebt er sie dann um ihrer selbst willen oder darum, selbst von ihr geliebt zu werden? Beide können sich einigen, sich gegenseitig Zeit, Aufmerksamkeit und Geschenke zu zuzuwenden. Und damit können sie unter Umständen auch in einen Zirkel der Liebe hineinwachsen. Aber machen lässt es sich nicht. Angelika kann

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Skizze 6: Der Zirkel der Liebe

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A (Andreas) und B (Barbara) seien darin zwei Menschen, die sich lieben. Stellen wir uns idealtypisch[37] vor, dass diese gegenseitige Liebe ohne Abstriche rein und geglückt ist. Das heißt Barbara liebt Andreas nicht bloß um seiner äußeren Vorzüge willen, sondern um seiner selbst willen. Und auf dieselbe Weise soll gemäß unserer Annahme Andreas Barbara lieben. Was wird diese gegenseitig glückende Liebe bei Barbara und Andreas bewirken?[38]

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2.5.1 „Danke, dass du mich so liebst“

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Dort wo ein Mensch sich um seiner selbst willen angenommen und geliebt erfährt, erwachen in ihm Staunen und Dankbarkeit. In diesem Sinn kann Andreas zu Barbara sagen: „Danke, dass du mich so liebst.“ Wie wird Barbara auf diesen Dank antworten? Einerseits wird sie ihn annehmen können, – denn sie weiß, dass es stimmt. Sie liebt Andreas tatsächlich so wie er ist, nicht bloß aufgrund äußerer Vorzüge, sondern um seiner selbst willen. Anderseits weiß sie aber auch: Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie ihn so lieben kann. Bei vielen anderen Menschen ist ihr eine solche Liebe nicht – oder zumindest nicht im gleichen Ausmaß – möglich. Warum kann sie Andreas so lieben? Sie wurde dazu befähigt, weil sie sich ihrerseits als von Andreas geliebt erfahren hat. Liebe hat die wunderbare Wirkung, dass sie die geliebte Person dazu ermächtigt, ihrerseits zu lieben. Die solcherart freigesetzte Liebe kann sich auch auf weitere Personen beziehen – in einer ehelichen Liebesbeziehung paradigmatisch auf die gemeinsamen Kinder. Auf diese Weise ist eine echte Liebe zwischen zwei Menschen keinesfalls exklusiv. Liebe schenkend und Liebe ermöglichend strahlen einander Liebende auf die sie umgebende Welt aus. Im Folgenden werden wir diesen wichtigen Aspekt der Fruchtbarkeit von Liebe nicht weiter verfolgen, sondern uns auf die Auswirkungen gegenseitiger Liebe innerhalb einer Paarbeziehung konzentrieren. Barbara weiß also, dass ihre Fähigkeit, Andreas wie er ist zu lieben, durch dessen Liebe ermöglicht ist. Wir können das so ausdrücken, dass sie den Dank von Andreas mit dem Satz beantwortet:

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„Ich kann dich so sehr lieben, weil du mich liebst. Danke dass du mich so liebst und mich damit befähigt hast, selber zu lieben, – dich zu lieben.“

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Dieselbe Verdanktheit des Liebenkönnens gilt auch für Andreas. So befinden sich beide in einem Zirkel glückender Liebe. Jeder kann zum/zur anderen sagen: „Ich kann dich so lieben, weil du mich so liebst.“ Unsere Skizze drückt diesen Zirkel der gegenseitig verdankten Liebe mit zwei Pfeilen aus, die sich gegenseitig schließen.

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2.5.2 „Danke dass wir einander so lieben können“

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Andreas und Barbara wissen nicht nur, dass ihr Lieben durch die Liebe des jeweiligen anderen ermöglicht wird. Sie wissen auch: Es ist nicht selbstverständlich, dass sie sich in einem positiven Wechselverhältnis gegenseitiger Liebe befinden. Dort, wo ein solcher Zirkel der Liebe nicht vorhanden ist, kann er nicht einfach gemacht werden.

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Machen lässt sich nur etwas, das sehr ähnlich wie der Zirkel der Liebe ausschaut. Charakteristisch für den Zirkel der Liebe ist ein freier Austausch gegenseitigen Schenkens, wobei Schenken in einem weiten Sinn zu verstehen ist: nicht nur materiellen Geschenke, sondern auch die Gabe von Aufmerksamkeit, Zeit und Zuwendung. Geschenke sind sichtbare Symbole für die gegenseitige Liebe und Dankbarkeit. Am Austausch solchen Schenkens ist der Zirkel der Liebe von außen erkennbar. Und dieser Gabentausch ist auch machbar. Zwei Menschen können versuchen, Liebe zu machen, indem sie sich auf einen gegenseitigen Austausch von Gaben einlassen. Nur führt das nicht automatisch in den oben beschriebenen Zirkel der Liebe.

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Die Problematik, die sich hier zeigt, lässt sich auf überspitzte Weise folgendermaßen ausdrücken: A (nehmen wir an: Angelika) sagt zu B (z.B. Benno): Ich fühl mich nicht genügend geliebt, dir geht es auch so. Tun wir uns also zusammen: Ich nehme dich um deiner selbst willen an und du nimmst dafür mich um meiner selbst willen an.“ – Wie soll das gehen? Wenn Benno sich auf den Vorschlag von Angenicht Benno so lieben wie in unserem vorigen Beispiel Barbara den Andreas. Denn um das zu können, müsste sie sich erst von ihrem Partner ganz angenommen wissen. Angelika und Benno können äußerlich einen ganz gleichen Geschenketausch vollziehen wie Barbara und Andreas, – und dennoch kann es etwas ganz anderes bedeuten. Wendet Benno sich Angelika zu, um auch von ihr Zuwendung zu erhalten, oder um sich für bereits erhaltene Geschenke zu revanchieren? Wenn eine dieser beiden Möglichkeiten zutrifft, dann ist Bennos Geschenk jedenfalls nicht ein „Realsymbol“ dafür, dass er Angelika liebt, das heißt dass er sie um ihrer selbst willen annimmt.

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Kehren wir zu unserem glücklichen ersten Paar zurück. Andreas und Barbara wissen also, dass der Zirkel der Liebe, mit der gegenseitigen Erfahrung, um ihrer selbst angenommen zu sein, nicht selbstverständlich ist, – dass sie es aus Eigenem heraus nicht machen konnten. Daraus erwächst eine gemeinsame Dankbarkeit, die sich mit den Worten ausdrücken lässt: „Danke, dass wir einander so lieben können.“ Diese Dankbarkeit hat mit dem Dank aneinander zu tun, reicht aber darüber hinaus. Gläubige Menschen benennen das, woraufhin sich dieser Dank richtet, als Gott.[39]

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Wir können uns diesen Zusammenhang in einer weiteren Skizze veranschaulichen:

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Skizze 7: „Danke, dass wir einander so lieben können“
Der Zirkel der Liebe – hier als zwei gegenläufige Pfeile dargestellt – erweitert sich zu einer gemeinsamen Hinorientierung auf den verbindenden göttlichen Grund. Gott als Woraufhin des gemeinsamen Dankes dafür, „dass wir einander so lieben können“

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„Danke, dass du mich so liebst“ – „Danke, dass wir einander so lieben können.“ Die Bewegung des Dankes, der aus der mitmenschlichen Liebe entspringt, ist ganz auf die andere Person gerichtet und erreicht doch vermittels dieser anderen Person Gott. Gott eröffnet sich dem Liebenden zugleich in und über der geliebten Person. Indem eine Person den geliebten Anderen findet, findet sie Gott. So zeigt sich an der gelingenden zwischenmenschlichen Liebe am deutlichsten ein positives Wechselverhältnis von Gottesbeziehung und zwischenmenschlicher Beziehung: Je mehr ich beim Anderen bin – in dessen personaler Einmaligkeit, die nur die Liebe erreicht – desto mehr bin ich bei Gott.

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2.6 Gottbezug – Weltbezug – Selbstbezug

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Eine solche Gottesbeziehung ist sie von Grund auf weltoffen. Es gilt: Je mehr ich bei Gott bin, desto mehr bin ich bei meinen Mitmenschen, – oder noch allgemeiner: desto mehr bin ich mit der Welt verbunden.[40] Von einer solchen Sichtweise her erweisen sich Christen nicht als weltfern, sondern sogar als tiefer mit der Welt verbunden. Sie sind „in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“. Und gerade weil sie „nicht von dieser Welt sind“, sondern in Gott, der die Welt transzendiert, verwurzelt sind, haben sie einen Blick für die Tiefendimension der Welt, – für ihre unverfügbare Geheimnishaftigkeit. Sie können sich tiefer auf die Welt und auf die Menschen einlassen.

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In der gelingenden Beziehung zum Mitmenschen erfahre ich mich als geliebt und als zur Liebe befähigt. So eröffnet sich mir durch die zwischenmenschliche Liebe mein tiefstes Geheimnis, meine Verwurzelung in Gott. Der mich liebende Mensch vermag mir zuzusagen:

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„Du bist ein unerschöpfliches Geheimnis, in dir eröffnet sich mir Gott. Meine Liebe zu dir ist für mich ein Gottesdienst.“

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Gottbezug, Selbstbezug und Weltbezug – der in mitmenschlichen Beziehungen gipfelt – sind damit untrennbar gefunden. Wer Gott findet, dem erschließt sich zugleich die Welt mit den Mitmenschen und dem öffnet sich die Geheimnishaftigkeit der eigenen Subjektivität. Wer wirklich sich selber gefunden hat, findet darin Gott und ist damit befähigt, den Nächsten zu lieben. Und wer ganz einen anderen Menschen gefunden hat, dem geht in dieser Tiefe die ganze Weite der Mitmenschen und der Welt aber auch der eigenen Subjektivität auf. Es gilt: Die größere Tiefe ist die größere Weite.

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3. Der verlorene Gott: Phänomenologie des Sündenfalls

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Wenn Gottesbeziehung, mitmenschliche Beziehung und Selbstbezug so eng miteinander verwoben sind, dann muss auch negativ gelten: Wer Gott verliert, verliert eben dadurch seinen Mitmenschen und auch sich selbst. Die biblische Sündenfallgeschichte ist die exemplarische Geschichte vom verlorenen Gott. Von unseren Analysen der mitmenschlichen Liebe her können wir nun besser erschließen, wie diese Geschichte zu verstehen ist.

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3.1 Sündenfall als (versuchte) Abnabelung von der göttlichen Mitte

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Auch wenn der Mensch über den göttlichen Grund, in dem er wurzelt, nicht nochmals verfügen kann, so kann er doch in seiner Freiheit dazu Stellung beziehen. Er kann zu seinem wurzelhaften

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Gottbezug Ja oder auch Nein sagen. Ein Ja bedeutet hier, dass der Mensch dankbar seine Begründetheit annimmt. Wer auf diese Weise dankbar ist, dankt Gott für seine ganze Existenz. Er dankt also nicht nur dafür, dass ihm dieses und jenes geschenkt wurde, sondern für alles, was er auch selber tut. Denn wie wir gesehen haben, steht Gott hier am Ursprungspunkt des eigenen Tuns.[41] Ein Nein zum eigenen wurzelhaften Gottbezug bedeutet hingegen, dass ich mein Dasein an seinem Wurzelgrund niemandem verdanken will. Dazu kann es kommen, wenn ich mich selber selbstherrlich absolut setzen will. Mit dieser Haltung sehe ich mich selbst als absoluten Ursprung von den Leistungen, die mir als gelungen erscheinen. Damit verändert sich die Erscheinungsform meines Verhaltens in radikaler Weise. Dort, wo ich aus reiner Dankbarkeit bereit bin, Gottes Herrlichkeit widerzuspiegeln, werden meine Schönheit und das Gute, das ich vollbringe, durchscheinend auf Gottes Herrlichkeit. Wenn Menschen mir begegnen, haben sie so die Möglichkeit, dadurch Gott zu erfahren. Entsprechend geht ihnen das Herz auf und sie werden selber dazu angeregt, Gottes Schönheit und Gutheit widerzuspiegeln. Wahre Schönheit und authentische Gutheit wirken ansteckend. Wenn ich nun aber ausschließlich aus mir selbst heraus scheinen möchte, dann wird meine Erscheinungsform undurchsichtig. In meiner Verweigerung zu verdanken verhalte ich mich selbstherrlich; ich will ein Licht sein, das ausschließlich aus sich selbst heraus strahlt. Man kann auch damit einen faszinierenden Glanz an Schönheit oder auch an Leistungsfähigkeit entwickeln. Aber die Wirkung ist hier eine ganz andere: Menschen werden dadurch irritiert und beunruhigt. Eine dermaßen glänzende Attraktivität ist exklusiv; sie gibt anderen Menschen das Gefühl, im Vergleich dazu hässlich und minderwertig zu sein. Auf diese Weise wirkt auch die Selbstherrlichkeit ansteckend: Menschen werden dazu verführt, ihrerseits eine selbstherrliche Attraktivität vorzuspielen, um nicht vergleichsweise als minderwertig zu erscheinen. Beides – die reine durchscheinende Schönheit und die selbstherrliche Brillanz sind idealtypische Extreme, denen wir nur in seltenen Fällen in auffälliger Reinform begegnen: manchmal einer aus Liebe strahlenden Person – oft sind es alte Menschen – die nach äußerlichen Kriterien hässlich sein müssten, aber doch eine warme Schönheit ausstrahlen, die berührt; auf der anderen Seite zum Beispiel manche Fotomodelle, mit einer glatten Schönheit ohne Makel, aber zugleich in einer kalten Sterilität wie Barbiepuppen. Meist aber wirken Menschen ambivalent. Durchscheinende Schönheit und glattes Brillieren sind miteinander vermischt; sie überlagern sich zu einem Zwielicht. Es hängt dann von der Herzensreinheit eines Menschen ab, ob er hier noch staunend die Spuren von authentisch Schönem aufnehmen kann oder vom falschem Glanz irritiert wird.

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3.2 Ambivalenz des Wie-Gott-Seins

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Von daher können wir nun eine seltsame Ambivalenz der biblischen Sündenfallgeschichte deuten: nämlich die Ambivalenz des Wie-Gott-Seins: Im Blick auf die schöpfungsmäßig dem Menschen gegebene und aufgegebene Gottebenbildlichkeit ist das Sein wie Gott die schönste Gabe und höchste Verheißung, die dem Menschen gegeben ist.[42] Anderseits gilt das Streben, wie Gott zu sein, als Inbegriff der Versuchung, als eigentlichster Ursprungsort des Sündenfalls:

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„Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ (Gen 3,4-5)

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Gemäß unserer Analyse gibt es ein dankbar angenommenes Wie-Gott-Sein, in dem der Mensch die Schönheit seines göttlichen Grundes dankbar widerspiegelt. Anderseits gibt es ein selbstherrliches Wie-Gott-Sein, aus dem heraus der Mensch seine ursprungshafte Abhängigkeit zu verbergen sucht, um selbst wie ein Gott zu erscheinen. Der Unterschied zwischen beiden besteht in der vollzogenen oder verweigerten Dankbarkeit. Das Sein ist dem Menschen als Geschenk gegeben. Er ist dazu berufen, dieses Geschenk in Freiheit dankend als Geschenk anzunehmen. Dankend verweist er in seinen Vollzügen auf eine Dimension, die ihn transzendiert. Es wächst eine Grundhaltung der Demut, die mit einem Wissen um die eigene Würde im Sinne von Selbstvertrauen, Selbstgewissheit und Selbstachtung nahtlos zusammengeht. In diesem Fall ist der Mensch durchscheinend auf Gott hin, – die Eigenschaften Gottes spiegeln sich in ihm und erschließen sich durch ihn. Man kann sagen: Er ist mit Gott wie Gott.

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Der Mensch hat aber auch die Möglichkeit, das Geschenk, als das er sich selbst von Gott gegeben ist, nicht als Geschenk anzunehmen. Dann verdeckt er seine wurzelhafte Verdanktheit, schämt sich ihrer und verhält sich in einer selbstherrlichen Weise: Er versucht, ohne Gott wie Gott zu sein.

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Die Ambivalenz des Wie-Gott-Seins können wir also folgendermaßen auflären: Schöpfungsmäßige Gottebenbildlichkeit besagt, dass der Mensch berufen ist, in dankbar auf Gott verweisender Weise er selbst zu sein. Positives Sein wie Gott besagt damit: mit Gott wie Gott sein. Der Sündenfall besteht hingegen in dem absurden, faktisch nicht durchführbaren aber doch anstrebbaren Versuch, auf selbstherrliche Weise ohne Gott wie Gott zu sein.

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Im Sündenfall ereignet sich ein Übergang von einer Lebensform des Mit-Gott-wie-Gott-Seins zum dem zum Scheitern verurteilten und entsprechend verzweifelten Lebensprojekt eines Ohne-Gott-wie-Gott-Seins.

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3.3 Der verbotene Baum

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Erinnern wir uns an die massive Kritik am Gott der Sündenfallgeschichte, die wir im ersten Kapitel dargestellt haben. Mit Reimarus und Alice Miller fragten wir: Warum hat Gott den ersten Menschen verboten, von dem Baum in der Mitte des Paradieses zu essen? Hat Gott sich damit nicht zwangsläufig als böse disqualifiziert?

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Wir können hier die Problematik des verbotenen Baumes im Sinne der Theodizeefrage zuspitzen: Entweder Gott hat verboten, von dem Baum zu essen, weil er wusste, dass die Menschen dann sterben würden. Mit einer solchen Warnung hätte sich Gott bestimmt als gut erwiesen, – vorausgesetzt es wäre nicht er gewesen, sondern jemand anders, über den er keine Macht hat, der den Baum ins Paradies gestellt und die aus dem Genuss resultierende Todesfolge verfügt hätte. Gott wäre demnach gut, aber nicht allmächtig. — Wenn wir aber annehmen, dass Gott allmächtig ist, dann ist Gottes Warnung, dass das Essen vom Baum zum Tod führt, nur die Konsequenz eines göttlichen Willküraktes: nämlich, dass er den gefährlichen Baum den Menschen vor die Nase gesetzt hat.

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Gibt es überhaupt eine Deutung des verbotenen Baumes, die Gott nicht als missgünstigen Willkürgott erscheinen lässt?

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Ich werde im Folgenden eine solche Deutung versuchen, und zwar mit Hilfe eines Gedankenexperiments bzw. einer Grenzüberlegung. Stellen wir uns vor, Gott habe dem Menschen an allem Anteil gegeben ohne ihm auch nur irgend etwas vorzubehalten. Wir können das mit folgender Skizze darstellen, in der die verschiedenen Punkte für Eigenschaften Gottes stehen. All diese Eigenschaften würden gemäß unserem Gedankenexperiment auch dem Menschen zuschreibbar sein, weil Gott ihnen daran Anteil gegeben hat.

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Skizze 8: Gedankenexperiment und Grenzüberlegung: Gott gibt dem Menschen an allem Anteil, worüber er auch selber verfügt. Er behält ihm nichts vor.
a, b, c ... sind bestimmte Eigenschaften, die für Gott gelten. Gemäß unserer hypothetischen Annahme einer grenzenlosen Freigebigkeit Gottes sind sie dann auch dem Menschen zuzuschreiben.
u ... Eigenschaft „Unverdanktheit“. Diese Eigenschaft trifft nur auf die erste Figur, nicht aber auf die zweite zu.
Die rechte Figur kann auch als Skizze des Gartens Edens gelesen werden.

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Das wäre nun sicher eine Situation, in der man Gott nicht Missgünstigkeit vorwerfen könnte, so wie die Schlange in der Sündenfallgeschichte es getan hat. Und auch die Kritik von Reimarus und Alice Miller würde angesichts einer solchen Annahme haltlos. So etwas wie ein verbotener Baum scheint ja im Rahmen dieser Vorstellung keinen Platz zu haben.

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Fragen wir nun: Bleibt im Rahmen dieser Grenzüberlegung vielleicht doch noch ein Unterschied zwischen Gott und Mensch übrig, der sich nicht wegnehmen lässt? Gibt es hier noch etwas, für das wir sagen können: Es ist Gott zuzuschreiben, nicht aber dem Menschen? – Im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften gewiss nicht. Dennoch: Aus einer gewissen Perspektive bleibt ein Unterschied bestehen, und zwar ein ganz entscheidender: Für all die Eigenschaften a, b, c, d, ... die wir Gott zuschreiben und deshalb auch dem Menschen zuerkennen, können wir sagen: Gott hat sie aus sich heraus. Beim Menschen jedoch müssen wir sagen: Der Mensch hat sie nicht aus sich heraus, sondern als von Gott verdankt. Damit hat Gott also immer noch etwas, was der Mensch nicht hat. Nichts Inhaltliches zwar, aber diesen „Vorzug“: dass Gott es aus sich selbst heraus hat und der Mensch nicht.

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Könnte Gott den Menschen an diesem Vorzug nicht auch teilhaben lassen? Ganz offensichtlich nicht. Gott kann dem Menschen nicht schenken, dass der Mensch das, was er von Gott hat, nicht von Gott, sondern ausschließlich aus sich selbst heraus hat. Dass Gott das nicht kann, ist logisch zwingend und deshalb keine Beschränkung seiner Allmacht.

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Dennoch ist es vorstellbar, dass der Mensch danach strebt, „wie Gott“ alles aus sich selbst heraus zu haben. Allerdings ist das ein grundsätzlich unerfüllbares Streben, das den Menschen in die Verzweiflung treibt. Der Mensch kann Gott nur verneinen mittels einer Freiheit, die Gott ihm eröffnet. So kann der Mensch niemals Gott los werden.

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Deshalb ist es höchst angemessen, dass Gott den Menschen vor einem solchen Streben warnt.

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Von daher erschließt sich nun ein tiefer Sinn des Paradiesverbots:

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„Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16-17)

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Tatsächlich wäre der Tod die äußerste Konsequenz des menschlichen Strebens, sich von der Verwurzelung in Gott zu „emanzipieren“. Dieses Streben, ins Letzte durchgeführt, wäre der ins Unendliche fortgesetzte Selbstwiderspruch, – die ewige Verzweiflung. Mit einem Bild der Johannesapokalypse gliche es dem Sturz in den Feuersee; es wäre der zweite Tod.[43] Wenn Gott dem Menschen sagt: „Nimm dir, was du willst, aber nimm es als Geschenk! Versuch nicht, es ausschließlich aus dir selbst zu haben.“ – dann ist das kein willkürliches Verbot. Und die Folge von der Übertretung – nämlich der Tod – ist keine willkürlich verfügte Strafe. Tod liegt in der inneren Konsequenz dieser Übertretung. Wenn der Mensch versucht, sich aus der Verwurzeltheit in Gott abzuschneiden, stürzt er in Nichtigkeit.

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Damit haben wir nun eine Deutung des verbotenen Baums gefunden, in welcher Gott nicht mehr als Fallenstellergott erscheint. Wenn wir nun den verbotenen Baum als Symbol für diese Eigenschaft der Unverdanktheit verstehen – die rechte Figur der Skizze wäre dann eine Darstellung des Gartens Eden –, dann ergibt der verbotene Baum auf einmal einen tiefen Sinn. Gott gibt den Menschen viele Gaben[44] – symbolisiert durch die Bäume des Paradieses mit ihren köstlichen Früchten. Ja als höchste Gabe bietet er ihm sogar die Gabe des Selbergebenkönnens, – als Fruchtbarkeit, Kreativität und Herrschaftsauftrag.[45] Verbunden damit ist die Gabe der Freiheit: Der Mensch ist nicht Marionette, sondern kann sich selbst entfalten, über sich selber herrschen. Mit dieser Gabe der Selbstgestaltung ist ihm nun aber auch die verhängnisvolle Möglichkeit eröffnet, die Gaben, die Gott ihm gegeben hat, als exklusiven Eigenbesitz zu beanspruchen, – die Möglichkeit also, die Verdanktheit dieser Gaben zu verweigern. Dass der Mensch in diesem Punkt der Unverdanktheit Gott gleich sein will, ist eine verhängnisvolle Fehlinterpretation und Entstellung der Gabe der Gottebenbildlichkeit. Die Möglichkeit dieser Perversion ist mit der geschöpflichen Freiheit unvermeidlich mitgegeben. Wenn Gott dem Menschen diese fatale Möglichkeit prinzipiell verstellt hätte, wäre der Mensch kein freier Partner Gottes mehr. Er wäre unfähig dazu, aus sich heraus zu agieren, Beziehung zu stiften und Gott in Dank und Lobpreis zu antworten.[46] Von daher ist es angemessen, dass Gott den Menschen den Griff nach dieser Frucht nicht grundsätzlich unmöglich macht, sie aber vor diesem Griff warnt. Das Verbot entspricht einem göttlichen Appell, den wir uns am besten als Bitte eines Liebenden vorstellen können: „Nimm alles, was ich dir angeboten habe, aber bitte versuche eines nicht: versuche nicht, das alles ausschließlich aus dir selbst zu haben. Versuche nicht, dir diese Eigenschaft des Seins-wie-Gott anzueignen.“

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3.4 Verdankte und selbstherrliche Autonomie

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Wir haben unsere Deutung des verbotenen Baums aus einem Gedankenexperiment gewonnen: nämlich der versuchsweisen Annahme, Gott hätte dem Menschen alles gegeben, worüber er auch selber verfügt. Diese Annahme ist nun allerdings weder aus unserer Erfahrung noch durch den biblischen Befund gedeckt. Die meisten Eigenschaften, die wir Gott zuschreiben – wie Allwissenheit, Allmacht, Unendlichkeit, Ewigkeit als Anfangslosigkeit und Unsterblichkeit – können dem Menschen auch für seinen paradiesischen Ursprung nicht zugesagt werden. Wir müssen anerkennen: Es gibt eine grundsätzliche Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, die sich in vielen Eigenschaften niederschlägt. Wenn wir unsere Erklärung des verbotenen Baums aus einer solchen unmöglichen Voraussetzung bezogen haben, ist diese Deutung dann nicht völlig haltlos? – Das ist glücklicherweise nicht der Fall. Unsere extreme Annahme, dass Gott dem Menschen alles geben wollte, hat uns gezwungen, eine Deutung für den verbotenen Baum zu finden, die in keiner Weise als eine Beschränkung menschlicher Autonomie zu verstehen ist. Und wir haben eine Erklärung gefunden, die diese Bedingung erfüllt. Gottes Warnung, dass wir nicht versuchen sollen, das was uns von Gott gegeben ist, ohne Dank ausschließlich als unseres Eigenes zu beanspruchen, beschränkt die menschliche Autonomie in keiner Weise. Sie nimmt weder eine bereits gegebene Gabe wieder zurück, noch legt sie dem Menschen eine prinzipielle Schranke für seine Selbstentfaltung auf.

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Um Letzteres zu konkretisieren: Wenn in Bezug auf die Genmanipulation argumentiert wird, dass es dem Menschen nicht zusteht „Gott zu spielen“, dann kann sich ein solches Verbot nicht auf das Paradiesverbot berufen, – zumindest nicht, wenn wir den verbotenen Baum so deuten, wie ich es hier vorgeschlagen habe. Vielmehr ist grundsätzlich zuzugestehen: Dass der Mensch sich die Gesetze der Natur auch zur weitestgehenden Selbstgestaltung aneignet, ist im Schöpfungsauftrag begründet und deshalb zunächst positiv zu bewerten. Entscheidend ist allerdings das Wie dieser Selbst- und Weltgestaltung. Es muss in einer behutsamen, menschliche Freiheit nicht zerstörenden sondern freisetzenden Weise geschehen, und in diesem Hinblick sind scharfe Vorbehalte angebracht. Grundsätzlich dürfen wir an der Autonomie des Menschen nicht rütteln, – solange sie in der Weise einer verdankten Autonomie vollzogen wird, die aus dem Dank, selber empfangen zu haben, auch die Verpflichtung übernimmt, dem Geber gemäß diese Autonomie in einer heilvollen, freisetzenden Weise zu gebrauchen.

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Autonomie – im Sinne einer eigenverantwortlichen Selbstgestaltung – ist deshalb grundsätzlich als positiv zu bewerten, solange sie in der Weise einer verdankten Autonomie praktiziert wird. Das heißt: Es gibt den Punkt nicht, an dem Gott im Hinblick auf unsere in verdankter Autonomie versuchte Selbst- und Weltgestaltung uns grundsätzlich Einhalt gebieten würde mit dem Warnruf: „Hier halte ein, das geht zu weit.“ Eine solche kategorische Begrenzung wäre willkürlich; sie würde den Menschen in ein Dilemma bringen zwischen grundsätzlich unbeschränktem Auftrag eigenverantwortlicher Weltgestaltung und einem Verbot, das diesen Auftrag an einer bestimmten Stelle willkürlich begrenzt. Es war ein solches Willkürverbot, das die Kritik von Reimarus und Alice Miller an einem Fallenstellergott auf den Plan rief.[47] Aber als ein solches Willkürverbot haben wir den verbotenen Baum nicht gedeutet.

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An keiner Stelle verbietet uns Gott schlechthin Autonomie; er warnt uns nur vor einer selbstherrlichen, Dank verweigernden Autonomie. Selbstherrliche, unverdankte Autonomie birgt den Keim der Gewalt in sich. Sie nimmt ein Geschenk nicht als Geschenk, sondern als einen Raub: in dem Sinn, dass sie sich weigert, die Gegebenheit der Gabe anzuerkennen.[48] Damit verliert der Mensch auch den Auftrag aus dem Blick, seine Autonomie-Macht auf heilvolle und freiheitsstiftende Weise einzusetzen. Er verfällt in die Praxis einer ausbeuterischen Herrschaft.

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Mit der Autonomie verhält es sich also so wie mit der biblischen Rede vom „Sein wie Gott“: es ist dem Menschen nicht schlechthin verboten, sondern nur insoweit es eigenmächtigen und selbstherrlich als „Sein wie Gott ohne Gott“ vollzogen wird. Wenn die Schlange im Hinblick auf den verbotenen Baum verheißt:„Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott ...“, könnte Eva antworten: „Wir sind ja schon wie Gott, – in dankbarer Weise dürfen wir Gottes Herrlichkeit widerspiegeln.“ Aber dieser Blick ist durch das Vorausgehende bereits verstellt. Evas Blick ist bereits fixiert auf den verbotenen Baum als das Symbol der Unverdanktheit. So wie Gott sich niemandem verdankt, so will der Mensch nun auch danach verlangen, sich niemandem zu verdanken.[49]

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3.5 Die verbotene Erkenntnis von Gut und Böse

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Die Bibel verbindet das Paradiesverbot nicht nur mit einem verbotenen Baum, sondern mit zwei verbotenen Vollzügen: Erkenntnis von Gut und Böse und „Sein wie Gott“. Zum „Sein wie Gott“ haben wir das Nötige bereits geklärt. Wie aber ist die untersagte „Erkenntnis von Gut und Böse“ zu verstehen?

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Der verbotene Baum wird von der Bibel als „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ bezeichnet (Gen 2,17). Und die Schlange verspricht dann auch: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5) Was heißt es, dass den Menschen eine bestimmte Erkenntnis untersagt ist? Ist das nicht doch das Willkürverbot eines eifersüchtigen Gottes?[50]

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Exegeten weisen hier darauf hin, dass Erkenntnis nach biblischem Verständnis in hohem Maße als aktiv-gestaltend zu verstehen ist. So kann das hebräische Wort für Erkennen auch für den geschlechtlichen Zeugungsakt stehen: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain“ (Gen 4,1). Es wurde deshalb argumentiert, dass es sich hier nicht um ein hinnehmendes, sondern um ein aktives, festlegend-beurteilendes Erkennen handelt. Ähnlich etwa, wie wenn wir in deutscher Sprache sagen: „Der Richter erkannte auf unschuldig“. Für solches urteilend-festlegendes Erkennen würde dann allerdings dasselbe gelten, was wir schon zur Autonomie gesagt haben: Es ist dem Menschen nicht grundsätzlich untersagt, wohl aber in selbstherrlicher Loslösung von Gott.[51] Gott warnt den Menschen davor, ohne dankbar-hörenden Rückbezug auf Gott festlegen zu wollen, was gut und was böse ist.

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Ich möchte dem noch eine weitere Überlegung hinzufügen: Der verbotene Paradiesesbaum bedeutet nach der hier vorgeschlagenen Interpretation Gottes Warnung an den Menschen, seine Gaben unverdankt an sich zu reißen. Dasselbe gilt für die Gabe der Erkenntnis. Was geschieht nun, wenn der Mensch versucht, sich selbst zu erkennen, ohne seine Gottverdanktheit zu berücksichtigen? Greifen wir dazu nochmals auf unsere Skizze vom Menschen zurück:

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ole8.gifSkizze 1: In seiner Mitte wurzelt der Mensch in einer unergründlichen und unverfügbaren Tiefe

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Was bedeutet es im Hinblick auf diese Skizze, dass der Mensch sich ohne Bezug auf Gott zu erkennen versucht? Der Mensch blickt in die Abgründe seines Seins und versucht dieses ohne seine Gegründetheit in Gott zu begreifen. Was sieht er dann? Am Grunde seines Seins gähnt ein Abgrund, ein Loch, ein Nichts. Die Erkenntnis, die von einem solchen Blick freigelegt wird, ist grauenhaft bedrohlich.

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Was das bedeutet, hat Kierkegaard scharfsichtig in seiner berühmten Abhandlung über den Sündenfall – „der Begriff Angst“ – abgehandelt: „Angst läßt sich mit Schwindel vergleichen. Kommt jemand dahin, daß sein Auge in eine gähnende Tiefe hinuntersieht, so wird ihm schwindelig. Aber was ist der Grund, es ist ebensosehr sein Auge wie der Abgrund; denn gesetzt, er hätte nicht hinuntergestarrt. So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran festzuhalten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder. [...] Im selben Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder erhebt, sieht sie, daß sie schuldig ist.“[52]

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Kierkegaard – und mit ihm Drewermann[53] – hat diesen Blick als zugleich verhängnisvoll und unvermeidlich beschrieben. Nach unserem Verständnis können wir hier differenzieren. Nicht im „Dass“, sondern im „Wie“ dieses Blicks gründet die Sünde. Der Blick in die Tiefen des eigenen Seins ist tatsächlich zutiefst menschlich. Dass der Mensch ihn tun kann und unvermeidlich auch tut, gehört zum Adel seiner Existenz – als geistiges Wesen „wie Gott“. Und dieser Blick ist dem Menschen auch nach biblischem Schöpfungsverständnis nicht untersagt. Das „Erkenne, wer du bist“ liegt durchaus in der Reichweite seines Schöpfungsauftrags. Wovor Gott den Menschen aber warnt, ist, diesen Blick selbstherrlich – unter Absehung seiner Verwurzelung in Gott – zu unternehmen. Dann und erst dann wird seine Freiheit von jenem Schwindel befallen, den Kierkegaard beschreibt. Der glaubende Mensch ist vor diesem Schwindel bewahrt, – denn er weiß: wenn er fällt, dann fällt er in Gottes Hand. Und dieses Wissen beruhigt den bedrohlich-lockenden Zug nach unten, ja lässt ihn gar nicht erst aufkommen.

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3.6 Ambivalenz der Nacktheit

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Der sündige Mensch versucht also, entgegen Gottes Warnung eine Erkenntnis unter Absehung von Gott. So blickt er in die Tiefen seines Seins und erschaudert vor der aufklaffenden Nichtigkeit am Grunde seines Seins. Diese Deutung der „verbotenen Erkenntnis“ passt bestens zusammen mit dem, was gemäß biblischer Erzählung als erstes nach dem Sündenfall passiert:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schutz“ (Gen 3,7)

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„Sie erkannten, dass sie nackt waren“ kann sich sowohl auf die eigene Nacktheit als auch auf die Nacktheit des anderen beziehen. Beides ruft Scham hervor: Sie schämen sich ihrer selbst und sie schämen sich für einander. Und diese Scham treibt sie geradezu reflexhaft dazu, ihre Blöße vor sich und voreinander zu verdecken.

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Allerdings weist die Sündenfallgeschichte nachdrücklich darauf hin, dass Nacktheit nicht an sich schlecht ist. Unmittelbar vor Beginn der Sündenfallgeschichte heißt es:

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„Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2,25)

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Was hat sich durch den Sündenfall verändert? Wenn die Nacktheit schon von Anfang an da war, wie kam dann die Scham in die Welt? Die Erzählung macht den Unterschied, dass die ersten Manchen nach dem Sündenfall „erkannten, das sie nackt waren“. Heißt das, dass sie vorher nackt waren, ohne es zu erkennen? Ist Erkenntnis hier die Wurzel allen Übels? Damit wären wir zur Deutung des verbotenen Baumes als Willkürverbot und Falle zurückgekehrt: Grundsätzlich ist dem Menschen das Erkennen – als Teil des Herrschens – aufgetragen, ab einem bestimmten Punkt aber wird es verhängnisvoll, – mit dem höchst verführerischen Verbot: „Hier – auf diese deine Nacktheit – darfst du auf keinen Fall hinschauen.“ – Wir können dieser verhängnisvollen Deutung entkommen, wenn wir – wie schon mehrfach bewährt – nicht Erkenntnis als solche kompromittieren, sondern einen bestimmten Modus der Erkenntnis: nämlich eine Erkenntnis unter Absehung der verdankenden Beziehung auf Gott. Danach hätten die Menschen vor dem Sündenfall sich sehr wohl als nackt gesehen und auch erkannt. Aber das hätte sie nicht im geringsten beunruhigt, denn sie wussten sich in Gott geborgen. Die fatale, verbotene und von der Schlange angestachelte Erkenntnis ist ein Erkennen ohne Gott. Mit diesem Blick „gingen ihnen die Augen auf“, und mit dieser Erkenntnis „erkannten sie, dass sie nackt waren“. Die Nacktheit, um die es hier geht, ist eine entsetzliche Ahnung von der eigenen Nichtigkeit, die dann aufbricht, wenn man in den Grund seines Seins unter Absehung von einer verdankenden Gottesbeziehung blickt. Diese Ahnung eigener wurzelhafter Nichtigkeit löst eine furchtbare Scham aus. Der Mensch will selbstherrlich „ohne Gott wie Gott sein“ und entdeckt seine eigene Nichtigkeit. Er schämt sich bis in den – grundlosen – Boden.

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Nicht nur auf sich, auch auf den Mitmenschen schaut der in Sünde fallende Mensch mit dem entblößenden Blick der Gottlosigkeit. So gewinnt er den Eindruck einer erbärmlichen Nacktheit des anderen und beginnt sich des anderen zu schämen. Diesen schamerfüllten Blick fängt wiederum der Mitmensch auf. Eva spürt, dass sich Adam ihrer schämt – und umgekehrt – und das steigert ihre eigene Scham.[54] Abgrund der Bloßstellung! Abgrund der Demütigung! – Die anfänglich unschuldig-glückliche Beziehung zwischen Adam und Eva ist aufs Tiefste entstellt.

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“ (Gen 3,7).

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Wegen ihrer Scham versuchen die Menschen, ihre Nacktheit zu verdecken. Aber was bedeutet das? Nackt kommen sich die Menschen dort vor, wo sie in Gott gründen. Diesen Wurzelgrund, die eigentlich ihre Schönheit, Herrlichkeit ausmacht, versuchen sie nun zu verhüllen. Von daher ergibt sich der folgende Satz der Sündenfallerzählung geradezu von selber:

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„Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn...“ (Gen 3,8).

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Mit den Feigenblättern verdeckt sich der Mensch den Zugang zu Gott – für andere und für sich selbst. Wie sich diese Verstellung für die Menschen und ihre Welt auswirkt, hat einst in ergreifender Weise ein chassidischer Rabbi ausgerufen:

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„Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand“[55]

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3.7 Eine Welt voller Feigenblätter

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Die Feigenblätter der Sündenfallerzählung sind das schlichte Symbol für weitreichendste Mittel, mit denen die Menschheit in Geschichte und Kultur versucht, ihre existentielle Nacktheit vor anderen zu verdecken und damit sich selbst und anderen den Zugang zu Gott zu verstellen. Von der Schöpfung her wäre dem Menschen eine Herrlichkeit verliehen, die er in Transparenz auf den göttlichen Seinsgrund hin vor sich und anderen entfalten darf. „Aber der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand.“ Die Feigenblätter stehen für zahllose glänzende und doch erbärmliche Kompensationsversuche einer Nacktheit, die aus dem Verlust Gottes resultiert. Anstelle der gewaltigen göttlichen Lichter und Geheimnisse sucht der Mensch den matten Glanz seiner Selbstherrlichkeit zu entwickeln. Damit täuscht er zugleich sich und andere. Kinder werden hineingeboren in eine Welt, in der das durchscheinende Licht Gottes weithin verdeckt ist. Anstelle Gott in seiner lebensspenden Herrlichkeit kennenzulernen, werden sie geblendet durch den Glanz von Menschen, die ausschließlich auf sich selbst verweisen wollen. Und wo sie nicht selber lernen, genauso zu tun, stoßen sie auf entwertende Blicke von Menschen, die sich ihrer schämen. Von Kindesbeinen an lernen sie, sich zu schämen und zu blenden, um nicht durch ihre eingebildete Erbärmlichkeit das vernichtendende Schamgefühl derer zu provozieren, von denen sie abhängen.

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Scham, Schein und Täuschung sind tief in unsere Kulturen hineingewoben. Weithin leitendes Prinzip ist: Unter keinen Umständen dürfen die anderen von der eigenen Nacktheit erfahren, die man beschämend am Grunde seines Seins erahnt. Also muss man sich hinter „Feigenblättern“ – Masken und Fassaden – verstecken. Eine imposante Erscheinung, ausstaffiert mit Besitz, Macht und Brillanz soll helfen, ein abgrundtiefes Minderwertigkeitsgefühl zu verhüllen, – vor anderen und vor einem selber. Wer damit durchkommt, erhöht zugleich den Druck auf die anderen. Wer nicht als „Looser“ erscheinen will, muss mithalten. Es kommt zu einem Konkurrenzkampf, in dem derjenige mit der besten Ausstattung siegt: ein aufwendiger Kampf um Prestigegüter beginnt. Hat der andere einen Sportwagen, brauche ich auch einen. Hat der andereeinen Spitzenjob, darf ich nicht zurückstehen. Spielt der andere Golf oder fährt im Urlaub in die Karibik, so darf ich nicht zurückbleiben. Es leicht festzustellen, wie viel Problematisches unserer heutigen Welt in dieser wahnwitzigen Logik gründet: die Fortschrittsideologie, die Vermarktung aller Lebensbereiche, der Wettbewerbsdruck mit Rankings und Evaluationen, die gesundheitliche Stressüberlastung, die unsinnige Verschwendung von Rohstoffen aus der Natur. Wie viel braucht der Mensch wirklich, und wie viel verpulvert er im eitlen Bemühen, sich eine gute Position zu sichern?

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Und die großen Gewinner? Diejenigen, die es geschafft haben, die Kings und Queens der Unterhaltungsindustrie oder der Wirtschaftsjournale? In gewisser Weise haben sie es am teuflischsten erwischt. Ganz oben bleibt ihnen nichts mehr zu erringen, alles liegt ihnen zu Füßen. Was sie nur wünschen an materieller Ausstattung oder an Bewunderung von Anderen, steht zu Ihrer Verfügung. Und so verwöhnt stellen sie fest: Sie sind trotzdem nicht glücklich. Sie fühlen sich ausgebrannt, leer und enttäuscht. Nach kurzem Erfolgsrausch ist das nagende Gefühl wiedergekehrt, dass Sie im Grunde Ihres Wesens immer noch ein Nichts sind, dass Sie das Entscheidende des Lebens verpasst haben. Im Spiel um den Platz an der Sonne haben Sie zwar gewonnen. Aber gerade dadurch haben Sie umso schlimmer verloren, – nämlich die Illusion, dass die Erfüllung Ihrer Wünsche Sie glücklich macht. Wer nicht am Ziel ist, kann wenigstens noch träumen. Sie aber haben alles was etwas gilt, an sich gerissen, nur um festzustellen, dass es wertlos ist. Gewiss: Solche Enttäuschung enthält die Chance zur Umkehr, – in der Besinnung auf wahre Werte. Nur, das Teuflische ist: Gerade an den Spitzenpositionen ist die Chance zur Erfahrung echter Werte, – der unberechenbaren Liebe, des absichtslosen Schönen – gering. Liebt sie mich oder nur mein Geld, fragt misstrauisch der Millionär. Und wir müssen zugestehen: er hat allen Grund zu diesem Misstrauen.

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Der sich beschleunigende Wettbewerb aller gegen alle produziert zunehmend Verlierer. Da sind jene, die nicht mehr mithalten können oder wollen: Menschen, die sich gerade noch mitschleifen lassen und ihr Heil in Konsum und Rausch suchen, – am Feierabend, im Urlaub und in länger werdenden Krankheitszeiten; dann die Aussteiger, „Dropouts“, die gerade noch Sozialhilfe beziehen, – solange die Reste des Sozialstaates noch nicht der neoliberalen New Economy gewichen sind. Und es gibt die Verlierer auf globaler Ebene: Staaten und Weltregionen mit Wettbewerbsnachteilen und Überschuldung. Immer muss es welche geben, die die Zeche bezahlen für die rasanten Höhenflug der Gewinner. Gewiss gibt es Bemühungen zum Ausgleich, zu mehr Gerechtigkeit. Das liegt schon allein im Interesse zur Selbsterhaltung von jenen, die ungestört von Aufruhr ihren Reichtum genießen wollen. Aber die Bemühungen um Gerechtigkeit müssen halbherzig bleiben. Verlierer wird es immer geben, es muss sie geben. Denn der Blick der Gewinner auf die Verlierer gehört zum System, – als Lohn für diejenigen, der sich die Seele aus dem Leib rackern, um jemand zu sein. Man sähe sich betrogen um seinen redlichen Gewinn, wenn andere ohne Mühe dasselbe erreichen: der Einwanderer mit dem Golf-Cabrio, die Aussteigerin mit dem arbeitslosen Grundeinkommen. So bereiten die Horrormeldungen von der steigenden Zahl von Rauschgifttoten, von Kriminalität, von Katastrophen und Kriegen, auch einen verstohlenen Genuss, solange es einen nur nicht persönlich bedroht. Ein Unglücksfall in der Nachbarschaft kann auch mit uneingestandener Genugtuung erfüllen. Alles das hat auch sein Gutes, denn es hängt die anderen ab und steigert die Distanz, zwischen mir, der ich es zu etwas gebracht habe und den anderen, die halt versagten oder Pech hatten. Irgendwie muss man sich doch entschädigen für diese Schinderei, mit der man Position und Güter erreicht hat, die man doch nicht recht genießen kann. Wie viele Medienberichte zehren von solchem Verlierervoyeurismus.

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Und was hat all das mit der Sündenfallgeschichte zu tun? Es ist nur die traurige Entfaltung des Bibelverses:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“ (Gen 3,7).

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3.8 Die Hülle über den Menschen und Nationen

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Die Menschen schauen auf sich und andere mit der Frage, was sie aus sich selbst ohne Gott sind. Was sie derart entdecken ist Nichtigkeit, die sie in Scham stürzt. So versuchen sie diese Scham zu verbergen. Diese Verhüllungen sind Selbstheilungsversuche, die die Krankheit nur verschlimmern. Das Wesen der Krankheit ist Gottesverlust, und die Menschen versuchen deren Symptome – vor allem die Scham – zu kurieren, indem sie den Zugang zu Gott noch mehr verstellen. Die Feigenblätter, mit denen sie sich umgeben, erweisen sich als alles andere denn als Ruhmesblätter. Ansehnlicher Besitz wird mit Unfrieden und Ungerechtigkeit erkauft. Eigener Glanz kommt zustande durch die Unterdrückung anderer. Die Folgen zweifelhafter Selbstheilungsversuche müssen nochmals verborgen werden. Es genügt nicht, als erfolgreicher Strahlemann oder Strahlefrau zu erscheinen, man muss sich auch noch den Touch von Humanität und Mitgefühl verleihen. Jesus hat das angeprangert, als er die Pharisäer und Schriftgelehrten als übertünchte Gräber bezeichnete.[56] Wir sprechen von Leichen im Keller.

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Von daher können wir den von Gott entfremdeten Menschen als ein Wesen mit drei Schichten skizzieren. Außen umgibt er sich mit einer strahlenden, attraktiven Hülle, mit der er sich und andere zufriedenstellt und blendet. Darunter befindet sich eine dicke Schicht von unschönen und verdrängten Anteilen. Zuinnerst, doppelt verborgen durch diese beiden Schichten verbirgt sich die Herrlichkeit der gottgegebenen Gottebenbildlichkeit: eine Herrlichkeit, die der Mensch während seines Lebens furchtbar verstellen, aber niemals vollständig auslöschen kann.

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Skizze 10: Der in Sünde verstrickte Mensch, der Gott verloren hat, lässt sich mit drei Schichten skizzieren. Eine äußere attraktive Schale verbirgt hässliche Tiefenschichten. Das innerste Zentrum des Menschen ist das Licht seiner gottebenbildlichen Herrlichkeit. Es wird durch die beiden äußeren Schichten doppelt verstellt.

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Das Verhängnis der Sünde besteht in der Dynamik von Selbstheilungsversuchen, die das Übel nur verschlimmern. Der von Gott entfremdete Mensch ist ständig damit beschäftigt, seine Fassade für sich und andere aufzupolieren. Was er damit erreicht, ist einerseits mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden, die verdrängt werden müssen, anderseits hat es auch in sich keinen Bestand. Was eben noch glänzte, verrät seine Hohlheit und muss mit weiteren Glanzschichten überzogen werden. So wächst die zweite, unattraktive Schicht immer weiter und macht weitere Übertünchungsversuche nur noch dringlicher. Die verborgene authentische Strahlkraft der verdankten Gottebenbildlichkeit wird immer mehr verstellt.

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Der Mensch gewinnt auf diese Weise eine glänzende, harte, und zugleich hohle Identität. Was wir an uns selber und an anderen wahrnehmen, ist manchmal Glanz, – dann sind wir stolz, fasziniert oder neidisch. Und manchmal erahnen wir die darunter verborgene dunkle Tiefenschicht. Dann sind wir enttäuscht, ernüchtert, mitunter aber auch befriedigt. Denn nun haben wir eine Wurzel des allgemeinen Unheils entdeckt. Wir können es ausreißen mit Stumpf und Stil, indem wir diesen Unmenschen abservieren, entlarven, abwählen, zum Rücktritt zwingen. Die Entdeckung dieser Abgründigkeit in einem selber, – ohne das warme Licht der inneren Gutheit, ist hingegen unerträglich. Um nicht in Selbstekel und Selbstzerstörung zu verfallen, muss man den Blick abwenden, – am effektivsten, indem man sich ablenkt durch die wohlfeilen Enthüllungsangebote in Bezug auf andere, die offenbar noch schlechter sind.

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Diese wachsende, starre Hülle, die den Menschen ihr Schönstes und Wertvollstes verstellt, liegt nicht nur über Einzelpersonen, sondern über die Menschen in ihren gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Mächtige und attraktive Strukturen werden errichtet, mit Nebenwirkungen und unschönen Seiten, die durch aufwendige Verschleierungsmechanismen und Propagandaapparate kaschiert werden müssen.

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Angesichts dieser Unheilsmächte ist im alttestamentlichen Israel die Hoffnung gewachsen auf eine gewaltige Selbstoffenbarung des wahren, herrlichen Gottes, – eine Selbstoffenbarung, die die Hülle über den Menschen und Nationen zerreißt:

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„Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen. Er zerreißt auf diesem Berg die Hülle, die alle Nationen verhüllt, und die Decke, die alle Völker bedeckt. Er beseitigt den Tod für immer. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht. Auf der ganzen Erde nimmt er von seinem Volk die Schande hinweg. Ja, der Herr hat gesprochen. An jenem Tag wird man sagen: Seht, das ist unser Gott, auf ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt, er wird uns retten. Das ist der Herr, auf ihn setzen wir unsere Hoffnung. Wir wollen jubeln und uns freuen über seine rettende Tat. Ja, die Hand des Herrn ruht auf diesem Berg. Moab aber wird an Ort und Stelle zerstampft, wie Stroh in der Jauche zerstampft wird. Wenn Moab darin auch mit den Händen rudert wie der Schwimmer beim Schwimmen, so drückt er den Stolzen doch nieder, auch wenn seine Hände sich wehren. Deine festen, schützenden Mauern werden niedergerissen; der Herr stürzt sie zu Boden; sie liegen im Staub.“ (Jes 25,6-12)

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Das ist einer jener Bibeltexte, zuerst geeignet, unsere verborgene Sehnsucht jubeln zu lassen, bis uns angesichts der folgenden Versen der Jubel in der Kehle erstickt. Sollen, dürfen, ja müssen wir denn hoffen auf die Vernichtung der anderen? Rückblickend von der Gotteserfahrung des Neuen Testaments können wir sagen: Diese Vision der Jesajaapokalypse sieht Entscheidendes, und dennoch bleibt Manches in gefährlicher Weise unklar: Die Hülle, die über den Nationen liegt, liegt auch über Israel. Moab ist Israel! An diesem feindlichen Land werden nur jene Mächte und Gewalten besonders sichtbar, die auch Israel selber lähmen: als Wirkungen jener unheilen Selbstheilungsversuche, mit denen die Menschen, Gemeinschaften, Gesellschaften und Völker Schicht über Schicht errichten, um sich so vom wahren, erlösenden Gott immer unerbittlicher abschneiden.

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Erlösung kann nicht anders erfolgen, als dass diese Schichtenwerke der Gottentfremdung zerbrechen. Das ist aber ein höchst bedrohliches Geschehen, das nicht anders denn als Zorngericht empfunden werden kann. Wurden diese Schichten doch aufgebaut, um die eigene Nacktheit zu verbergen. Und nun sollen sie weggerissen werden! Wenn der wahre, heilvolle Kern der wurzelhaften Gottebenbildlichkeit wieder frei werden soll, muss Schicht um Schicht abgetragen werden, und damit erscheint nicht gleich die größere Herrlichkeit, sondern zunächst die dicken, verborgenen und ängstlich verdrängten hässlichen Schichten. Der Mensch, dem die äußere attraktive Fassade entzogen wird, hat zunächst allen Grund sich zu schämen. Diese Scham kann nur bestanden werden, wenn dem Menschen zugleich das Licht der inneren Geliebtheit und damit Gutheit aufleuchtet. Hier wurzelt das Geheimnis des wiedergefundenen Gottes. Damit dürfen wir uns in den folgenden Kapiteln noch gründlicher befassen. Zunächst aber gilt es, das Bedrohliche dieser heilvollen Demaskierung zu sehen. Sie erscheint wie eine totale Vernichtung:

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„Moab aber wird an Ort und Stelle zerstampft, wie Stroh in der Jauche zerstampft wird. Wenn Moab darin auch mit den Händen rudert wie der Schwimmer beim Schwimmen, so drückt er den Stolzen doch nieder, auch wenn seine Hände sich wehren. Deine festen, schützenden Mauern werden niedergerissen; der Herr stürzt sie zu Boden; sie liegen im Staub.“

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Moab steht für die strahlende, harte und hohle Identität, die ganz Schale ist. Damit das wurzelhafte Heil wieder freiwerden kann, muss diese Identität aufbrechen, zerbrechen, zerstampft werden. Sie kann nicht sanft weggezogen werden, denn der Mensch, der auf sie gebaut hat, meint ohne sie nicht leben zu können. Wird sie ihm entzogen, wird er „rudern wie der Schwimmer beim Schwimmen.“ Damit die wahre Würde des Gotteskindes zutage treten kann, muss der Stolz zerbrochen werden: „so drückt er den Stolzen doch nieder, auch wenn seine Hände sich wehren.“ – Nicht anders können die Schichten der Gottentfremdung entfernt werden: „Deine festen, schützenden Mauern werden niedergerissen; der Herr stürzt sie zu Boden; sie liegen im Staub.“

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Alles wird missverstanden, vollständig pervertiert, wenn man diese Worte auf die Feinde münzt, die Gott zertreten wird, um die Seinen unbehelligt zu lassen! Das trifft nicht die Anderen, sondern gerade jene, die Gott retten will. Moab ist Israel! Wir sehen das deutlicher, wenn wir diesen Text vergleichen mit dem zentralsten Geschehen der Gottesüberantwortung, die das Neue Testament kennt: der Taufe. In ihren Ursprüngen ist sie ein rückwärtiges Untergetauchtwerden ins Wasser, ein archetypisch bedrohliches Geschehen, für das es angemessen ist, dass der Täufling „mit den Händen rudert wie der Schwimmer beim Schwimmen“, sodass er niedergedrückt wird, „auch wenn seine Hände sich wehren“. Wie Paulus betont hat, ist die Taufe ein Tod, sie ist Taufe auf den Tod,[57] – Tod des alten Menschen,[58] der glänzenden, harten und hohlen Identität, auf dass der neue Mensch aufleben kann in seiner ursprünglichen Schönheit und Herrlichkeit, von der Paulus sagt:

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„Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn“ (2 Kor 3,18)

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3.9 Vertreibung aus dem Paradies

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Kehren wir zurück zur biblischen Erzählung und zu den Folgen des Sündenfalls, die die Bibel nennt. An keiner Stelle erscheint Gott hier als knausriger Herrscher, der den Menschen etwas vorenthält. Und nirgends erscheint er als Richter, der den Menschen willkürlich mit Strafen überhäuft. Gott hat den Menschen die Fähigkeit verliehen, in verdankender Herrlichkeit „wie Gott zu sein“ und sie davor gewarnt, „ohne Gott wie Gott sein zu wollen“. Er hat ihnen jede Möglichkeit zu erkennen eröffnet, aber sie davor gewarnt, unter Absehung von Gott „Gut und Böse erkennen zu wollen“. Denn der Versuch, ohne Gott wie Gott zu sein und unter Absehung Gottes zu erkennen, reißt den Menschen zwangsläufig in eine abgrundtiefe Entfremdung nicht nur von Gott, sondern zugleich von den anderen Menschen, der Welt und einem selber. Die Welt wird so unwirtlich und feindlich. Der Mensch muss dann hart arbeiten, denn er muss der Welt nicht nur den Lebensbedarf, sondern all die Mittel für seine elaborierten Feigenblätter entringen, – und das in ständiger Konkurrenz mit unendlich vielen Menschen, die den Boden längst schon zur eigenen Selbstverherrlichung ausbeuten. So erweist sich die Strafe, die Gott gegen Adam verfügt, als innere Konsequenz seines Abfalls von Gott. Sie ist Selbstgericht:

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„Zu Adam sprach [Gott]: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück“ (Gen 3,17-19).

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Dass der Mensch Staub ist und zu Staub zurückkehrt, bezieht sich nicht nur auf ein hoffnungsloses Lebensende. Es kennzeichnet die fortgesetzte Frustration im Versuch der eigenmächtigen Herrlichkeitsgewinnung. Wonach der Mensch gierig greift, um die Löcher seiner Transzendenz zu stopfen, erweist sich, wenn er es erreicht hat, als nutzlos und wertlos. Nichtiger Staub ist, was er eigenmächtig schafft; Staub ist, was er ohne Gott wird: Verurteilt zum Untergang, – zur Vernichtung. Auch wenn diese Vernichtung, – wie nur der Blick der Gnade erahnt – eine Vernichtung zur Rettung ist: Vernichtung der Schale harter Identität, auf dass die verdeckte Herrlichkeit zum Vorschein kommt.

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Von daher erweist sich schließlich auch die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies als Selbstaustreibung. Nicht Gott verbannt den Menschen, sondern der Mensch verbannt Gott. Er tut das, weil Gott ihm als feindlich erscheint. Denn der Ort, wo Gott sich dem Menschen offenbaren kann, ist genau jener, an dem der Mensch in unerträglicher Weise auf seine eigene Nacktheit stößt. Gott erscheint so als demütigend, als peinigend und peinlich.

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Und der Engel mit dem Flammenschwert, über den sich Reimarus so erregt hat?

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„Gott der Herr, schickte [den Menschen] aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten“ (Gen 3,23f).

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Reimarus hatte ja gelästert, Gott hätte besser daran getan, diesen Engel vor den verbotenen Baum zu stellen als vor den Eingang des Paradieses. Versuchen wir eine zufriedenstellende Deutung.

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Nicht Gott hat den Menschen vertrieben, sondern der Mensch hat sich selber ausgetrieben. Und immer wieder hat Gott dem Menschen die Hand entgegengestreckt, um ihn in das Paradies zurückzuführen, das heißt in eine Welt, die rückhaltlos und ganz in Gott gründet: Im Alten Testament sprechen die Bundesschlüsse Gottes mit seinem Volk davon, und im Neuen Testament die Botschaft Jesu vom Reich Gottes.

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Dass der Mensch diese Heilsangebote Gottes annimmt, ist allerdings an eine Bedingung geknüpft: Er muss bereit sein, sich von seinen Schalen, die er aus Stolz und Angst über seiner eingebildeten Nacktheit errichtet hat, zu lösen. Diese Loslösung ist aber, wie wir gesehen haben, ein höchst bedrohlicher Prozess, der mit Untergang und Tod zu vergleichen ist. Wie das Sakrament der Taufe symbolisiert: ohne Bereitschaft zu diesem Tod kann das Reich Gottes nicht betreten werden. So erscheint dem in Sünde verstrickten Menschen der Zugang ins Paradies tatsächlich verstellt durch Kerubim und ein loderndes Flammenschwert. Wir alle leben an der Schwelle zum Paradies, und das Tor ist offen. Doch der Durchgang scheint tödlich zu sein. Erst wer dennoch hindurchgegangen ist, erfährt, dass es ein Tod zum neuen, wahren Leben ist. Was aber hilft das dem in Sünde verstrickten Menschen, der noch vor dem Tod steht und von diesem Heil nichts ahnt? Wie kann Gott wiedergefunden werden, wenn er verloren gegangen ist?

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Anmerkungen:

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[1] Exegeten weisen darauf hin, dass in der hebräischen Sprache und Denkwelt Wesensaussagen in der Form von Anfangsaussagen ausgedrückt werden. Versucht man die Sündenfallerzählung geschichtlich zu verstehen, im Sinne einer Beschreibung des Anfangs der Welt, dann ist sie mit heutigen Vorstellungen der Evolution nicht vereinbar. Setzt sie doch buchstäblich-historisch gelesen ein Paradies voraus, das als historische Wirklichkeit nicht mehr vorstellbar ist.

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[2] Wenn Sie nicht zumindest ahnen würden, dass es hier auch um unser Verlieren und Finden Gottes geht, wären Sie wahrscheinlich gar nicht zu diesem Studientag gekommen.

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[3] Vgl. das Gleichnis vom Sämann, Mk 4,3-32.

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[4] Zusätzlich zur vorigen Anmerkung vgl. Joh 12,42f: „Dennoch kamen sogar von den führenden Männern viele zum Glauben an ihn; aber wegen der Pharisäer bekannten sie es nicht offen, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie liebten das Ansehen bei den Menschen mehr als das Ansehen bei Gott.“ (Joh 12,42-43).

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[5] Genauer müsste man sagen: Wenn ich Gott näher gekommen bin. Gott ist unendlich und unfassbar, sodass er in keiner Lebenssituation vollkommen gefunden werden kann.

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[6] Ob ein Mensch Gott verloren oder gefunden hat, lässt sich nicht einfach an dem festlegen, was er oder sie bekennt oder behauptet. Wir können nicht ausschließen, dass ein Mensch sich als unreligiös versteht aber wirklich gute und tiefe Beziehungen zu anderen Menschen unterhält. Hier ist zu vermuten, dass das, was er/sie unter dem Namen „Gott“ ablehnt oder für uninteressant hält, – sich von dem unterscheidet was Gott wirklich und im Tiefsten ist. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich ihm/ihr irgendwann ein authentischeres Gottesverständnis erschließt und dadurch zum Glauben kommt, ohne deshalb auf der Ebene seines/ihres Verhaltens radikal umkehren zu müssen. Das Finden zum Glauben würde in diesem Fall aber dennoch einen bedeutenden Gewinn bringen, die alles gegenüber früher verändern könnte: Die Liebe, die bereits früher gelebt wurde, findet nun einen tiefen Grund und Anhalt in einer glaubenden Grundüberzeugung. Das kann dann auch die gelebte Liebe noch einmal zu neuer Stärke entbinden.

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[7] Ich beschränke mich hier auf die erste Schöpfungsgeschichte (Gen 1,1-2,4a). Das Gleiche kann auch für die zweite, ältere Schöpfungsgeschichte gezeigt werden. Nur der erste Punkt von der universalen Schöpfung und von Gottes Allmacht wird erst in der später verfassten ersten Schöpfungsgeschichte voll ausdrücklich.

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[8] Die Bibel spricht hier sogar von Herrschen (Gen 1,26). Dabei ist der Maßstab, wie der Mensch herrschen soll, an Gottes gütiger und freilassender Herrschaft abzulesen.

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[9] Vgl. etwa die Eskalation zu einer maßlosen Rache unter Lamech: „Lamech sagte zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach." (Gen 4,23f)

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[10] Vgl. Willibald Sandler, Hat Gott dem Menschen eine Falle gestellt? Theologie des Sündenfalls und Sündenfall der Theologie. In: ZkTh 129 (2007), 437-458, im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/700.html.

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[11] A. Miller, Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit, Frankfurt a.M. 2001. Prolog.

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[12] Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, herausgegeben von G. Alexander, Frankfurt 1972, Bd. 2, 463f. Die erste Publikation dieses Textes erfolgte 1787 oder früher.

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[13] Ebd., Bd. 1, 461.

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[14] Vgl. Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Kant\'s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 8 . Abhandlungen nach 1781. Berlin - New York 1923.

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[15] In seinem Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ (1784). Der Spruch geht auf den lateinischen Dichter Horaz zurück.

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[16] Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae".

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[17] vgl. 2. Vatikanum, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 20, 36.

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[18] F. Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft, in: ders., Sämtliche Werke. Vierter Band. Historische Schriften, München 1958, 767-783, hier: 769.

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[19] Zur eigenmächtig festlegenden Erkenntnis „auf“ gut und böse vgl. unten, Kapitel 3.5.

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[20] H. Heine, Adam der erste, in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von Klaus Briegleb, München 1971, Bd. 4, S. 412f.

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[21] F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Augsburg 1979, 70 (= Zweiter Teil: Auf den glückseligen Inseln).

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[22] F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, ebd. 75 (= Zweiter Teil: Von den Priestern).

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[23] Irenäus, Adversus haereses III 20,2.

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[24] Vgl. Augustinus, Bekenntnisse 3,11.

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[25] Aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte schrieb der deutsche Philosoph Dieter Henrich von einer „ursprünglichen Selbstvertrautheit, die ihrer selbst nicht mächtig ist.“ Vgl. dazu Willibald Sandler, Subjektivität und Alterität. Vorsichtige Brückenschläge zwischen den Welten von Dieter Henrich und Emmanuel Levinas, ausgehend von einer Kontroverse zwischen Klaus Müller und Thomas Freyer. In: http://theol.uibk.ac.at/itl/736.html.

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[26] Unter Paradox verstehe ich hier einen scheinbar unauflöslichen Widerspruch, – in dem Sinn, wie Henri de Lubac vom „Paradox des Menschen“ gesprochen hat. Vgl. Henri de Lubac, Die Freiheit der Gnade, II. Band: Das Paradox des Menschen. Übertragen von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1971.

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[27] Herrschaft über andere ist dem Menschen so gegeben, wie Gott herrscht. Das heißt, der Mensch soll so über andere herrschen, dass er die Freiheit der „Beherrschten“ nicht beschränkt, sondern unterstützt. Ein zentrales Prinzip des Herrschens ist somit das Subsidiaritätsprinzip: Hilfe zur Selbsthilfe.

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[28] Vgl. in diesem Zusammenhang Gen 4,6f.

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[29] Immanuel Kant hat das als ethische Grundnorm oder kategorischen Imperativ (in einer von mehreren Formulierungen) so ausgedrückt: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Akademie-Ausgabe IV, 444. Um nicht in uneinlösbare Idealvorstellungen zu geraten, ist die Formulierung „niemals bloß als Mittel“ bzw. oben im Haupttext „auch um seiner selbst willen“ wichtig. Dass wir andere Menschen gebrauchen, ist weder vermeidbar noch unmoralisch. Es geht darum, dass wir die Beziehung zu anderen Menschen (und auch zu uns selber!) nicht auf den Gebrauchsaspekt beschränken.

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[30] Gerade im Hinblick auf letztere bewährt sich Liebe. Im Bezug auf sie gilt nicht einfach nur: „Ich liebe dich trotzdem“, sondern auch diese Eigenschaften sind in die Liebe mit hineingenommen: „Ich liebe dich mit diesen Eigenschaften.“ Das zeigt sich konkret daran, dass der wirklichen Liebe auch diese Eigenschaften sich verändern. Sie gewinnen eine liebenswerte Färbung, die einem Außenstehenden unbegreiflich bleiben wird.

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[31] Das heißt umgekehrt: Dort wo ein Mensch einen anderen als unverwechselbar und ersetzbar behandelt, achtet er/sie dessen unverfügbare Mitte, sein Geheimnis. Und das gilt auch dann, wenn er/sie eine solche Geheimnishaftigkeit mit bärbeißigen oder zynischen Worten in Abrede stellt. Und es heißt: Dort wo ein Mensch mit schönen Worten die Geheimnishaftigkeit des anderen beschwört und sich nicht entsprechend verhält, degradiert er sein Wortbekenntnis zum Lippenbekenntnis, und bringt damit zugleich die – romantische oder religiöse – Sprache, mit der er von der Geheimnishaftigkeit des anderen spricht, in Misskredit. Das ist dann auch oft der Grund dafür, dass Menschen – bärbeißig und scheinbar zynisch – ein worthaftes Bekenntnis zu einer vollzogenen Wertschätzung des anderen (oder auch: Gottes) verweigern.

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[32] Und weil alles, was der Mensch hervorgebracht hat, eine Modifikation von Geschaffenen ist, wobei diese Modifikation auch von Gott mitgetragen ist – weil alles menschliche Schaffen in des Menschen Verwurzeltheit in Gott gründet –, kann gesagt werden: Für alles was es überhaupt gibt.

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[33] In dieser Formulierung, die bei Ignatius von Loyola ausdrücklich vorkommt, stehen die „Dinge“ im ganz weitesten Sinn für alles, was geschaffen ist, – also auch für Menschen.

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[34] Wie wir gesehen haben, ist die Bezeichnung dieses Sicheinlassens als Liebe keinesfalls zufällig: Es geht um die Annahme des Anderen um seiner selbst willen. Damit und nur damit wird das innere Personzentrum erreicht, – der Ort, an dem er/sie an Gott grenzt und von dem her Gott im Anderen erfahren werden kann.

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[35] Das hat vor allem dann eine große Bedeutung, wenn diese äußeren Erscheinungsformen und Verhaltensweisen sündig entstellt sind, – worauf wir später eingehen werden.

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[36] In vielen Formulierungen ist „hoch“ und „tief“ geradezu austauschbar. Zum Beispiel kann eine Aussage, die sehr tief ist, zugleich als hoch bezeichnet werden. Entsprechend kann im Lateinischen das Wort „altus“ sowohl hoch als auch tief bedeuten.

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[37] Mit dem Begriff idealtypisch (der vom Soziologen Max Weber entwickelt wurde) will ich meine Absicht verdeutlichen, mithilfe einer idealen Vorstellung einen Zusammenhang zu erschließen, der in der Realität nie rein, sondern stets näherungsweise auftritt.

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[38] Im Folgenden entwerfe ich also in skizzenhafter Weise eine Phänomenologie glückender Liebe. Wieweit diese Ausführungen plausibel sind, kann der Leser / die Leserin auf der Grundlage eigener Liebeserfahrung bzw. auch Sehnsucht nach gelingender Liebe beurteilen.

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[39] Danken will „Du“ sagen; von daher wird durch die glückende zwischenmenschliche Beziehung die Ausrichtung auf einen personalen Gott unterstützt.

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[40] Was ich für die zwischenmenschliche Liebe aufgezeigt habe, lässt sich grundsätzlich auch für den Bezug zu nichtpersonalen Gegenständen zeigen. Auch sie sind von Gott geschaffen – was auch für vom Menschen verfertigte Kunstgegenstände gilt, insofern sie Manipulationen geschaffener „Materie“ darstellen – , gründen deshalb in Gott und verweisen auf sie. Das heißt es wohnt ihnen ein Geheimnis inne, das im Hinblick auf schöne Natur- und Kunstdinge von Dichtern immer wieder besungen wurde.

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[41] Mit dieser Grundhaltung des Danks kann ich nicht nur danken für das, was mir gelungen ist, sondern auch für das Negative, in dem sich vielleicht Scheitern äußert. Der Glaube, dass ich von Gott getragen bin, äußert sich hier in der vertrauenden Hoffnung, dass auch das, was zunächst negativ ausschaut, sich letztendlich von Gott her als etwas Positives erweisen wird.

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[42] In diesem Sinn haben viele Kirchenväter Erlösung als Vergöttlichung verstanden.

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[43] Vgl. Offb 21,8.

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[44] Um von unserem Gedankenexperiment zu einer sinnvollen Deutung der Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte zu gelangen, müssen wir nur unsere Annahme, dass Gott dem Menschen alles schenkt, zurücknehmen zur Aussage, dass Gott dem Menschen vieles schenkt. Viele Bäume, aber nicht alle möglichen und denkbaren Bäume. – Weshalb dann das Gedankenexperiment mit einem Gott, der dem Menschen alles schenkt? Mithilfe unserer Annahme (im Sinne eines Gedankenexperiments), dass Gott den Menschen ohne solche Grenzen geschaffen hat, war es uns versperrt, das Paradiesesverbot als Versuch, die geschöpflichen Grenzen zu überschreiten, zu deuten. Wir waren gezwungen, den Sinn des verbotenen Baums in eine ganz andere Richtung festzulegen. Nicht dass der Mensch versucht, seine geschöpflichen Grenzen zu überschreiten, ist dem Menschen verboten. Gott warnt ihn nur davor, seine übernommenen und neu hinzu erworbenen Eigenschaften ausschließlich als eigene Errungenschaft zu beanspruchen. Er ist vielmehr gehalten, sich selbst in einer Grundhaltung der Dankbarkeit zu entfalten, indem er das, worüber er selber verfügt und was er selber erworben hat, zugleich als Geschenk Gottes anerkennt.

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[45] In unserer Skizze: Auch der Pfeil, der von Gott ausgeht, kann als göttliche Eigenschaft begriffen werden, die auch dem Menschen übergeben ist. Man könnte also auch von der Figur des Menschen einen nach rechts weitergehenden Pfeil zeichnen.

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[46] Das ist der berechtigte Kern des Arguments: „Gott musste dem Menschen ein Verbot geben, damit der Mensch frei ist, – damit er auch die Möglichkeit hat, zu Gott nein zu sagen“. Problematisch an diesem Argument ist, dass Freiheit hier negativ festgelegt scheint: als Freiheit, nein zu sagen. Es gibt aber auch eine Freiheit, die sich im Rahmen eines Ja zu Gott entfaltet. Wäre das nicht so, dann könnte der Mensch im Himmel nicht frei sein. – In dem hier vertretenen Ansatz gilt zwar auch, dass geschöpfliche Freiheit verloren ginge, wenn die Möglichkeit zu Gott nein zu sagen, von vornherein ausgeschlossen wäre. Ich versuche hier aber, diese Freiheit zunächst positiv zu bestimmen: Als Gabe einer Selbstentfaltung, der von Gott grundsätzlich keine Grenzen auferlegt sind, – solange nur diese Selbstentfaltung im Geist einer dankenden Anerkennung des Empfangenhabens erfolgt.

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[47] Vgl. oben, das erste Kapitel.

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[48] Paulus beschreibt hier Christus als positives Gegenstück zur Ursünde der ersten Menschen: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein“ (Phil 2,6) Im Griechischen heißt es hier: „harpagmón hegesato“, d.h. er hielt nicht wie ein Raub daran fest, wie Gott zu sein.

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[49] Ist ein Gott, der sich niemandem verdankt, nicht eine gefährliche Herausforderung für Menschen, die dazu geschaffen wurden, sich als Gottes Ebenbild zu verwirklichen? Durch Jesus Christus offenbart sich Gott als ein „demütiger“ Gott, der in seinem Wesen – als trinitarischer Gott – durch und durch empfangend ist. Hans Urs von Balthasar hat aufgezeigt, dass unter gewisser Rücksicht selbst von Gott-Vater gesagt werden kann, dass er empfangend ist: Er verdankt seine Vaterschaft dem sich zeugenlassenden Sohn. Die Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus erweist sich so die verführerische Vorstellung eines Gottes, der sich niemandem verdankt, als unangemessen.

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[50] Vgl. das Zitat von Alice Miller oben, Kapitel 1.3.

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[51] Im Kommentarteil der Neuen Jerusalemer Bibel heißt es: „Die Erkenntnis von Gut und Böse ist ein Vorrecht, das Gott sich vorbehält und das der Mensch durch die Sünde an sich reißen wird. Sie ist [...] die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, was gut und böse ist, und entsprechend zu handeln, also eine Beanspruchung sittlicher Autonomie, durch die der Mensch seine Geschöpflichkeit ablehnt.“ (zu Gen 2,17). Hier möchte ich genauer unterscheiden: „Selbst zu entscheiden, was gut und böse ist“, ist an sich noch nicht schlecht, ebensowenig wie „eine Beanspruchung sittlicher Autonomie“ grundsätzlich verwerflich ist. Beides ist mit Gottebenbildlichkeit und Herrschaftsauftrag dem Menschen mit aufgegeben und in diesem Sinn gut. Der Sündenfall beginnt erst mit einer „Beanspruchung sittlicher Autonomie, durch die der Mensch seine Geschöpflichkeit ablehnt“.

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[52] Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Hrsg. von H. Rochol. Düsseldorf 1984, 64.

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[53] Vgl. Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Band III. Die jahwistische Urgeschichte aus philosophischer Sicht, Paderborn. Paderborn, Wien u.a. 1978, 438-441.

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[54] Vgl. dazu die Analysen von Jean-Paul Sartre über den Blick, in ders., Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek b. Hamburg 1993, 457-538.

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[55] Nach Martin Buber, Chassidische Geschichten.

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[56] „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz“ (Mt 23,27f)

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[57] Vgl. Röm 6,1-14.

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[58] Vgl. Eph 4,22: „Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22). Vgl. auch Kol 3,9.

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