Wer erinnert sich nicht an die finnische Heavy-Metal-Band Lordi, die in Monsterkostümen den Eurovision Song Contest 2006 für sich entschieden hat. Oder an Nicole, die 1982 mit „Ein bisschen Frieden“ den ESC erstmals wieder nach Deutschland holte. Österreich konnte den Sieg bereits 1966 mit „Merci, Chérie“ von Udo Jürgen einheimsen. Diesen Erfolg wiederholte Conchita Wurst 2014 mit einem starken Statement für Toleranz und Diversität. Was der ESC über die europäische Identität, die kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche Entwicklungen in Europa aussagt, erzählt Silke Meyer.
Kulturelle Gemeinsamkeiten und Bürgerbeteiligung
Der ESC wurde von der Europäischen Rundfunkunion 1956 ins Leben gerufen. Welche Rolle spielt dieser Musikwettbewerb in der europäischen Identitätsbildung?
Silke Meyer: Der ESC lässt sich als ein Versuch verstehen, die europäischen Integrationsprozesse aus dem Bereich der Politik in die Populär- und Unterhaltungskultur zu verlagern und damit bei den Menschen ein Bewusstsein für das Zusammenleben in Europa zu wecken. Es ist sicherlich eines der größten Livemusik-Events, das eben nicht nur europäische Staaten zusammenbringt, sondern auch Millionen von Europäer:innen vor dem Fernseher und in einer Wahl vereint. Man könnte sagen, es ist eine Art Europäisierung von unten, wir sprechen auch von einer kulturellen Governance zusätzlich zur politischen und ökonomischen Governance. Das ESC-Komitee hebt hervor, dass beim ESC kulturelle Gemeinsamkeiten sowie Bürgerbeteiligung im Vordergrund steht, also ganz im Sinne der Europäisierung.
Der ESC zeigt sich gerne als Plattform für Vielfalt und Selbstinszenierung, greift zugleich aber auch auf nationale Klischees und Stereotype zurück. Ist es gerade dieses Spannungsverhältnis, das seinen Reiz und Erfolg ausmacht?
Meyer: Ja, es ist ein Wettbewerb, bei dem nationale Vertretungen gegeneinander antreten, das heißt bei aller Europäisierung steht das Nationale im Vordergrund, und das Publikum fiebert auch in erster Linie für ‚seine‘ Nation mit. Der Kontext der Populärkultur erlaubt aber einen spielerischen Umgang mit nationalen Stereotypen und Klischees, vielfach wird das Nationale in den Kostümen und in den Liedtexten mit einem Augenzwinkern präsentiert. Das EU-Motto ist schließlich „In Vielfalt vereint“, die kulturelle Diversität soll im Verbund der EU erhalten bleiben.
Und: Im ESC gibt und gab es immer auch Allianzen, und zwar auch solche, die historisch quer zur Politik stehen, zum Beispiel das Block Voting der Balkan-Staaten oder auch der östlichen Mittelmeerstaaten. Der ESC ist zwar offiziell unpolitisch, und die Liedtexte dürfen nicht politisch sein. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass die kulturellen Verbindungen stärker als politische Konflikte sein können. Und auch die Liedtexte haben durchaus Politik zum Inhalt und machen den ECS zur Bühne für politischen Protest, z.B. gegen Putin und Russland. Öfter wird auch diskutiert, ob manche Staaten aus politischen Gründen boykottiert werden müssten. Hier sagt das Organisationsteam aber, dass es ein Wettbewerb zwischen den Mitgliedern der Europäischen Rundfunkunion und nicht zwischen Regierungen ist. Das ist übrigens der Grund, warum auch nicht-europäische Länder wie Israel teilnehmen können, weil sie Stationen in den Sendezonen der Europäischen Rundfunkunion haben.
Wie beeinflussen diese zum Teil widersprüchlichen Inszenierungen die Alltagskultur der Menschen in Europa?
Meyer: Ich glaube, dass die Menschen gut unterscheiden können zwischen einer ironischen Inszenierung und dem Alltag in anderen Ländern. Was in meinen Augen einen größeren Einfluss auf die Alltagskultur und auf die Selbstwahrnehmung als europäisch hat, ist die Möglichkeit, Diversität, Menschenrechte und den Umgang mit sexuellen Orientierungen zu feiern. Europäisch heißt hier, sich einer Wertegemeinschaft zugehörig zu fühlen und diese in der Begeisterung für das Event zum Ausdruck zu bringen. Deshalb ist die Möglichkeit zum Wählen als Mittel der Partizipation ja auch so wichtig. Conchita Wurst ist eine Symbolfigur geworden hierfür, und es ist kein Zufall, dass der ESC in der LGBTQ+ Community so beliebt ist, denn er ist – neben viel Spektakel – auch ein Schaufenster für die europäischen Werte der Menschenrechte und ihrer Akzeptanz.
Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dem Eurovision Song Contest?
Meyer: Am liebsten habe ich den ESC geschaut, als ich als erasmus-Studentin in Großbritannien war. Da war der ESC eine gelebte Praxis des Europäisch-Seins im Alltag, sozusagen ‚doing Europe‘. Es gab eine große Party, viele Nationalflaggen und gegenseitige Sticheleien, besonders für uns Deutsche. Mit einer furchtbaren Liebesschnulze sind wir auf dem letzten Platz gelandet, mit einem Punkt! Was für eine nationale Schmach!

Silke Meyer ist Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. Sie studierte Kunstgeschichte, Anglistik und Volkskunde/Europäische Ethnologie in Tübingen, Münster und Sheffield und forscht zu Ökonomischer Anthropologie, Remittances, Geld als soziale und kulturelle Praxis, Stereotypen, Nation und nationale Identität, Migration und Diversität. Meyer ist Sprecherin des Forschungsschwerpunktes Kulturelle Begegnungen – kulturelle Konflikte.