Vom Grenzen überqueren und Grenzen setzen, wo es keine gibt (und keine wirklich geben kann)
Sprachdidaktik ist eine faszinierende Disziplin, in der die Verschränkung zwischen angewandter Sprachwissenschaft und den konkreten alltäglichen und sozialen Herausforderungen besonders deutlich wird. Fremd-, zweit- und erstsprachliche schulische Bildung stellen eine zentrale Rolle dar, wenn es darum geht, allen Schüler*innen gute Bildungschancen zu gewährleisten. Da der wichtigste Faktor zum Lernerfolg die Lehrkraft ist, bildet eine exzellente Didaktik der Sprachen einen Schlüsselfaktor für den Erfolg der nächsten Generation von Lehrer*innen und trägt damit zur Chancengleichheit in der Bildung bei.
Als wissenschaftlicher Assistent arbeite ich in engem Kontakt mit (angehenden) Sprachlehrer*innen und bin für die Ausbildung der Lehrkräfte verantwortlich. Neben der Lehre, meiner Fortbildungstätigkeit am Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration in Köln und meiner Forschung zum Fremdsprachenunterricht unter Einfluss der Digitalisierung bin ich für vielfältige Koordinations- und Planungsaufgaben verantwortlich: Unter anderem für die Durchführung der Ringvorlesung „Grenzgänge und Grenzziehungen in der Lehrer*innenbildung“ im SoSe 2021. Seit der erfolgreichen Akquise von Drittmitteln für das vom BM für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft geförderte Programm „Digitalisierung und Informationsextraktion für die Digital Humanities“ (DI4DH) im SoSe 2020 leite ich ein didaktisches Projekt. In diesem Rahmen koordiniere ich mit Studierenden und externen Partner*innen (z.B. Dr. Joseph Wang-Kathrein, Forschungsinstitut Brenner-Archiv) die Erstellung des Corpus LADDER[i] für die Erforschung pragmatischer Kompetenzen in online Medien.
Den sicheren Umgang mit Sprachdidaktik in Theorie und Praxis gründe ich auf den Erfahrungen und Kenntnissen, die ich mir bereits im Studium durch die Zusatzqualifikation DITALS (Qualifikation in Didaktik des Italienischen-als-Fremdsprache der Universität Siena) erarbeitet habe. 2005 zog ich mit einem Stipendium der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für eine Promotion im Zweitspracherwerb nach Heidelberg. In dieser Zeit konnte ich Erfahrungen als Dozent für Italienisch am Robert-Mayer-Gymnasium Heilbronn sowie als Veranstaltungsmanager am Italienzentrum der Universität Heidelberg sammeln. Später, als Lektor an der Bosporus-Universität Istanbul (2009–2012), lernte ich, in Hörsälen, Plenarsitzungen und Gremien für meine didaktischen und organisatorischen Entscheidungen einzustehen und Verantwortung für diese zu übernehmen.
Die Bildungsinitiative Teach-First-Deutschland GmbH überzeugte mich mit ihrer Vision von Chancengleichheit derart, dass ich nach meinem Aufenthalt in der Türkei wieder nach Deutschland zurückkehrte. In einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Kreuzberg engagierte ich mich über zweieinhalb Jahre in Bildungsprojekten, vor allem in der Lehre moderner Fremdsprachen. Bei der Gründung der Schwesterorganisation Enseña por México, habe ich talentierte Quereinsteiger*innen als Lehrkräfte im Bundesstaat Puebla, einer Region mit den geringsten PISA-Durchschnittswerten unter den Ländern der OECD, ausgebildet und mit Ihnen kompetenzorientierte didaktische Ansätze in einer Sommerschule umgesetzt. Meine sprachdidaktischen Kenntnisse und Erfahrungen in der Ausbildung sind in das Science4Life-Projekt eingeflossen, bei dem ich mit der i-MINT-Akademie des Berliner Senats für Bildung, Jungend und Familie kooperiert habe. Die von meinem Team produzierten Lernmaterialien habe ich mit Prof. Dr. Hartmut Wedekind (Alice-Salomon-Hochschule, Berlin) evaluiert und sie wurden von der Bayer-Stiftung ausgezeichnet.[ii],[iii],[iv]
All‘ diese Grenzgänge habe ich gewählt, weil ich Wissen und Theorie seit jeher in verständlicher Form zugänglich machen und Brücken zwischen Bildungsauftrag und Forschung schlagen möchte. Ich bin gebürtiger Italiener, habe in Deutschland promoviert, in der Türkei die erste Vollzeitanstellung angetreten und seit einem Jahr wohne ich in Innsbruck. Ich habe in den unterschiedlichsten Lehrsettings Fremdsprachen unterrichtet: in einem Gymnasium in Baden-Württemberg, in einer Gemeinschaftsschule in Berlin, in Lehrgruppen der Grund- und Sekundarschule im herkunftssprachlichen Unterricht in Nordrhein-Westfalen und im universitären Bereich in Istanbul und in Heidelberg.
Wann immer ich in meiner Lehrtätigkeit mehrere Staatsgrenzen und Lernorte überquert habe, habe ich feste Wurzeln in der Wissenschaft gesucht und gefunden. In meiner Sprachforschung suche ich nach Grenzen innerhalb sprachlicher Kategorien, die Menschen ermöglichen, sich zu verständigen.
Während meiner Zeit als Doktorand am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg (2005–2009) erforschte ich die Semantik von Präpositionen im L1/L2-Vergleich am Modell der Prototypensemantik. Diese Vorgehensweise wurde durch ein Experiment von William Labov[v] bekannt: Zeigt man eine Palette von unterschiedlichen Gefäßen englischen Muttersprachler*innen und bittet sie, diese zu benennen, so sind die Grenzen zwischen „mug“, „cup“ und „bowl“ fließend, es gibt keine klare Trennlinie. Stellt man die gleiche Frage, wenn die Gefäße jeweils voll mit Kaffee oder Kartoffelpüree sind, wird die Antwort ganz klar: „Cup“ ist jenes Gefäß, aus dem man Kaffee trinkt; „bowl“, jenes, aus dem man Kartoffelpüree isst.
Das Problem mit den Präpositionen ist allen, die eine Fremdsprache gelernt haben, bekannt: Ihre Bedeutung kann kaum wortwörtlich in andere Sprachen übertragen werden. Auf Deutsch können Sie sagen: „Ich bin auf Urlaub“, im Englischen „I am on the line“. Übersetzen Sie diese Sätze aber wortwörtlich ins Italienische (jeweils „*sono sulle ferie “ und „*sono sulla fila“) klingen diese Sätze sehr komisch. Tatsächlich stellen Präpositionen eine der häufigsten Fehlerquellen für Lernende des Italienischen, auch für sehr fortgeschrittene Lernende, dar. Durch eine experimentelle semantische Analyse habe ich die prototypische Bedeutung einiger Präpositionen untersucht[vi]: Im Gegensatz zu über und auf ist der wesentliche Unterschied zwischen su und sopra im Italienischen nicht auf eine räumliche, sondern eine funktionale Komponente zurückzuführen – die Erreichbarkeit. Genau wie bei den Gefäßen ist die Form nicht essentiell für die Zugehörigkeit zu einer Kategorie („mug“, „cup“ oder „bowl“), entscheidend ist ihre Funktion.
In meiner Habilitation suche ich Grenzen in einem weiteren Feld der Linguistik, das sich schwer in Grenzen fassen lässt und sich an Tendenzen oder sozial angebrachten Entscheidungen orientieren muss: die Pragmatik.
Theoretisch kann man das Gleiche in unzähligen Formen sagen: „Salz!“, oder „Haben Sie vielleicht Salz?“, „Die Suppe schmeckt etwas fad…“. Dies sind alles Arten, um Salz zu bitten. „Salz!“ passt gut in einer Küche, wenn der Chefkoch schnell einen Befehl ausspricht. Wenn aber der Gast den Wirt mit „Salz!“ anspricht, klingt dies sehr unhöflich. Wo verlaufen die Grenzen der Höflichkeit in unterschiedlichen Sprechakten im Italienischen? Und welche Rolle spielt das Medium in der Form der Äußerung? Ich untersuche diese Fragen anhand der Kommunikation mithilfe digitaler Medien – etwa in E-Mails, Instant Messaging wie WhatsApp und Microblogging wie Twitter, weil hier viel zu häufig die Interaktion pragmatisch scheitert: Menschen drücken sich aggressiv aus, überlesen die wahre Intention des Senders und sind Manipulationsversuchen ausgesetzt, sie können persönliche Meinungen schwer respektieren oder haben digitales Schweigen nie gelernt. Für Lehrende einer Fremdsprache ist es wichtig, die Formen der Höflichkeit und ihre Grenzen zu kennen, weil zu viel oder zu wenig Höflichkeit bei L2-Äußerungen von Muttersprachler*innen kaum auf mangelnde Sprachkompetenzen zurückgeführt werden, sondern auf persönliche Eigenschaften des Sprechenden. Im Moment ist die Pragmatik noch nicht in der Sprachlernpraxis flächendeckend angekommen und Lehrende einer Fremdsprache haben kaum Modelle, wie eine Interaktion digital zu führen ist.
In meiner Forschung wende ich korpusbasierte, experimentelle oder empirische Ansätze und quantitative sowie qualitative Analysen an. Ich halte auch für lehramtsstudierende die Anwendung von empirischen Methoden für gewinnbringend und ermutige sie, diese als Diagnoseinstrumente für den Lernzustand oder für die Effektivität einer Methode zu nutzen. Die Beherrschung solcher Methoden fließt in meinen Seminaren in die Endbewertung ein. Dabei möchte ich die Selbständigkeit der Studierenden beim Einsatz von sprachwissenschaftlichen Methoden im sprachdidaktischen Alltag anregen. Kompetenzbasierte Ansätze wie diese sind besonders in der empirischen und experimentellen Sprachdidaktik zu befürworten, um selbständige Fragestellungen und innovative Lösungsstrategien zu entwickeln. Der rasche Erwerb von Daten (durch Tests, Fragebögen, qualitative Evaluationen) und die entsprechende Analyse (z.B. mittels statistischer Methoden) sollen in der Praxis didaktische Entscheidung begleiten.
Am Institut für Fachdidaktik sind meine Forschungsinteressen am besten beheimatet, weil ich von meinem Team fruchtbare Resonanz für meine Themen erhalte. Darüber bin ich glücklich und dankbar. An der Fakultät für Lehrer*innenbildung habe ich als Kommunikationswissenschaftler und Romanist mit schulischer Lehrerfahrung einen optimalen Arbeitsort gefunden: An kaum einem anderen Arbeitsort kann ich wie hier Brücken zwischen Disziplinen schlagen, die mein Interesse für Sprachforschung und Schulwelt verbinden. In diesem Zusammenhang organisiere ich für das SoSe 2021 mit den Kolleg*innen priv.-Doz.in Johanna Schwarz (ILS) und Dr. Jonas Kolb (IRP) eine Ringvorlesung an der Fakultät. Diese wird Masterstudierenden die Möglichkeit geben, ihre interdisziplinären Kenntnisse zu vertiefen und ihre Lehrkompetenzen im jeweiligen Bereich zu aktivieren und zu reflektieren. Zudem wird die Verbindung zwischen den Instituten gestärkt werden und die Fakultät kann ihre Funktion als Inkubator für empiriebasierte und bildungspraktisch-orientierte Forschung ausbauen.
[i] https://ladder.hypotheses.org/
[ii] Science4Life-Academy (2016): Experimentieren, Sprachbarrieren überbrücken, Talente fördern. In: Gräfin Beissel von Gymnich J., Schmitt-Lord T.V. (Hrsg.): Mut durch Herausforderung. Pioniere in der Flüchtlingshilfe. Knesebeck: München, S. 122–139.
[iii] Horster Andreas, Katja Lange, Grit Spremberg, Hartmut Wedekind (2017): Mein Forscherheft Wetter. Temperatur, Wind, Niederschlag, Wetterbericht, Wetter erforschen und Deutsch lernen. Langenscheidt, München.
[iv] https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/unterricht/faecher/mathematik-naturwissenschaften/mint/i-mint-akademie/imint-projekte/science4life-academy/material-zum-download/
[v] Labow, William (1973): The boundaries of words and their meaning. In: Bailey C.-J. N. und Schuy, R. W. (eds.), New Ways of Analysing Variation in English. Washington, DC: Georgetown University Press, p: 340–373.
[vi] Brocca, Nicola (2011): La semantica delle preposizioni in Italiano come L2. Un'analisi di sopra e su nell'italiano di germanofoni. heiDOK, Heidelberg. https://doi.org/10.11588/heidok.00012271