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Sandler Willibald: Credo - Einführung in den christlichen Gottesglauben
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Credo - Einführung in den christlichen Gottesglauben
(Skriptum zur Studieneingangsphase (Version 2004))

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Originalbeitrag für den Leseraum.
Datum:2008-01-14

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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1. Ich glaube an Gott

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1.1 Die Kunst des Glaubens

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Was heißt das: „Ich glaube an Gott“? Wenn Sie an Gott glauben, wie können Sie das einem Menschen erklären, der sich für ungläubig hält? Und wie kommt man zum Glauben?

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Seinem Wesen nach ist Glauben ein interpersonales Beziehungsgeschehen. Dass Christen sagen können, sie glauben an Gott, hängt damit zusammen, dass sie Gott als personal verstehen, – damit also, dass sie im Gebet zu Gott du sagen.

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Was Gottesglaube ist, hat deshalb viel mit jenem „Glauben“ zu tun, das Menschen miteinander verbindet. Um zu verstehen, was Glauben wesentlich bedeutet, kann man gut beim zwischenmenschlichen Glauben ansetzen.

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Glauben an einen Menschen

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Nicht nur zu Gott, auch zu einem Menschen kann ich sagen: „Ich glaube an dich“. Damit meine ich mehr als „Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst“ oder „Ich glaube dir“. Wenn ich zu einer Person sage: „Ich glaube an dich“, dann will ich ihr mitteilen, dass ich ihr traue, ihr vertraue und ihr eine gute Entfaltung zutraue. Auf einen Menschen, an den ich glaube, verlasse ich mich, und zwar nicht nur in bestimmten Dingen sondern im Wesentlichen. Was das bedeutet, erfährst du, wenn dich ein Mensch, an den du glaubst, enttäuscht. Es ist, als bräche der Boden unter dir ein. Du hast das Gefühl, ins Leere zu fallen.

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Solche Erfahrung lässt bereits erahnen, was es im Letzten bedeutet, wenn eine Person sagt: „Ich glaube an Gott“: Das heißt, sie bindet ihre ganze Existenz, den Sinn ihres Lebens, alles, was ihr etwas bedeutet, zurück an Gott. Damit werden viele Halteseile überflüssig, mit denen wir unsere Existenz absichern. Zum Beispiel ein gutes Image, dessen Pflege so viel Kraft und Sorge kostet. Das Halteseil „Gott“ ist nach außen unsichtbar. Man erkennt Menschen, die wirklich an Gott glauben, an der Art ihrer Bewegung durch das Leben: Sie klettern mit großer Kraft und Beweglichkeit „frei“.

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Aber bleiben wir noch beim Glauben zwischen Menschen. Denken Sie an eine Person, zu der Sie sagen können: „Ich glaube an dich“. Ich meine, dass Sie das wirklich sagen können. Nicht bloß: „Ich glaube trotzdem an dich“, sondern: „Ich glaube an dich“, – ganz einfach, ohne Bedingungen, egal was kommt.

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Wenn Sie einen Menschen kennen, auf den das restlos zutrifft und Sie denken an ihn, dann wird Sie ein Gefühl von Glück erfassen, eine stille, dankbare Freude.

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Womöglich fehlt Ihnen ein solcher Freund, und Traurigkeit erfasst Sie. „Nein, so kann ich zu niemandem sagen.“ Die Traurigkeit verweist auf eine Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem Sie alles teilen können, vor dem Sie sich nicht zu verstellen brauchen. Dem Sie sich ganz anvertrauen. Zu dem Sie sagen können: „Ja, ich glaube an dich.“

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Vielleicht spüren Sie nicht Traurigkeit, sondern Ärger. An jemanden glauben? – So einen kannten Sie schon mal. Und dann hat er Sie einfach fallen lassen. „An jemanden glauben! Süßliches Gewäsch!“ – Auch die Wut ist hilfreich zum Verstehen von dem, was Glaube ist. Sie reißt nieder was sich nur Glaube nennt und nicht wirklich Glaube ist.

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Vielleicht spüren Sie weder Freude noch Trauer und auch keine Wut. Was ich da angesprochen habe, erreicht Sie nicht wirklich. Das kann an den Begriffen liegen. Ersetzen Sie das Wort „Glaube“ durch das Wort „Liebe“ und lesen Sie den Abschnitt noch einmal. In der Tiefe berühren sich die Begriffe Glaube und Liebe. Wo liegt der Unterschied? Wenn ich an jemanden glaube, dann beziehe ich mich stärker auf sein Selbstsein im Unterschied zu mir. Im Glauben liegt eine Haltung der Achtung und eine Bewegung des Loslassens. Liebe betont stärker die Bindung. Aber wahre Liebe respektiert dennoch das Selbstsein des Anderen. Sie will seine Unabhängigkeit und glaubt in diesem Sinn an den anderen.

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Glauben als Erkennen

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Stellen Sie sich also einen Menschen vor, an den Sie glauben. Warum glauben Sie an ihn?

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Zunächst: Glauben gründet in der Glaubwürdigkeit des Menschen, an den Sie glauben. Sie erkennen, dass er vertrauenswürdig ist, und deshalb lassen Sie sich vertrauend auf ihn ein.

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Lässt sich damit Glauben einfach auf Erkennen zurückführen? Woran erkennen Sie, ob jemand vertrauenswürdig ist? Offenbar ist so etwas nicht mit einer „objektiven“ Erkenntnis auszumachen, – man kann es nicht austesten. Glauben gründet in einer tieferen, intuitiven Form des Erkennens, in einer „Herzenserkenntnis“, die selber erst durch eine Haltung des Glaubens freigesetzt wird.

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Wenn Sie an eine Person glauben, dann kann sich Ihnen das Geheimnis offenbaren, das in ihr verborgen ist. „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, sagt Exuperys kleiner Prinz. Die Bibel spricht von den „Augen des Herzens“ die Gott den Menschen öffnen möge, damit sie die Größe ihrer Berufung erkennen (Eph 1,18).

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Wenn der Volksmund sagt: „Glauben heißt nicht wissen“ oder „Liebe macht blind“, dann bezieht er sich auf ein äußeres, oberflächliches Wissen oder Sehen. Tatsächlich gibt es eine bestimmte Art vordergründiger Erkenntnis, die im Abenteuer des Glaubens und der Liebe zerbricht. Liebe lässt den augenscheinlich hässlichen Menschen schön erscheinen, und Glauben traut selbst einem Versager Großes zu. Das Wunder von Glauben und Liebe besteht darin, dass es die Kraft hat, im Anderen Schönheit und Größe zu erwecken. Wer sich als geliebt erfährt, wird schön, und wer Glauben erfährt, kann Größe gewinnen. Der in Liebe glaubende Mensch vermag durch das armselige Faktische der anderen Person hindurchzuschauen auf die herrlichen Anlagen, die in ihrem Innersten verborgen sind, – auf die „Größe ihrer Berufung“, wie der Epheserbrief sagt.

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Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt. Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid, welchen Reichtum die Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen schenkt und wie überragend groß seine Macht sich an uns, den Gläubigen, erweist durch das Wirken seiner Kraft und Stärke. (Eph 1,17-19)

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Wenn ich an einen Menschen glaube, dann heißt das nicht, dass ich angesichts seiner Unverlässlichkeit „beide Augen zudrücke“. Ich darf nicht einfach blind vertrauen, sondern muss die Tatsachen zur Kenntnis nehmen, auch dann, wenn sie das Vertrauen gefährden. Das schulde ich nicht nur mir, sondern auch der Person meines Vertrauens. Wenn ich alles, was meinen Glauben an sie enttäuschen könnte, ignoriere, dann nehme ich sie nicht wirklich ernst. Wenn ich hingegen mein Vertrauen Erschütterungen aussetze, eröffne ich die Chance, dass es durch Krisen hindurch tiefer wird. Vielleicht lerne ich, dass ich mein heranwachsendes Kind zu viel kontrollierte, und dass es sich durch seine Lügen aus dieser Schlinge zu ziehen versuchte. Dann stehe ich vor der Entscheidung, ihm das Vertrauen zu entziehen oder – im Gegenteil – mein Vertrauen entscheidend zu vertiefen: indem ich meinem Kind mehr Spielraum zur Selbstentfaltung lasse.

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Wenn ich von den Enttäuschungen, die mir der Mensch meines Vertrauens bereitet, gar nicht wissen will, so beweist das nicht einen großen sondern einen schwachen Glauben. Ich will meinen Glauben nicht der Wahrheit aussetzen, weil ich Angst habe, er könnte daran zerbrechen. Wenn ich an einen Menschen wirklich voll glaube, dann kann ich zulassen, dass er sich von dem Bild unterscheidet, das ich mir von ihm mache. Erst wenn ich bereit bin, meine Vorstellungen von der Person meines Vertrauens zerbrechen zu lassen, traue ich ihr und nicht nur dem Bild, das ich mir von ihr mache.

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Glauben als Geschenkserfahrung

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Wenn Glauben in einer Herzenserkenntnis gründet, die das Geheimnis des Anderen offenbart, dann ist Glauben so wenig verfügbar wie solche Erkenntnis des Herzens. Da geht man achtlos mit einem Menschen um, bis einem ein bestimmtes Ereignis die Augen öffnet. Sie sehen ihn nun „mit ganz anderen Augen“. Man kann sich um solche tiefere Sicht bemühen, aber man kann das nicht aus eigener Kraft machen. Womöglich kennen Sie einen Menschen, der Ihr Vertrauen auf ganzer Linie verdient. Das wissen Sie. Sie haben auch den besten Willen, sich ganz auf ihn einzulassen. Und dennoch: Es geht nicht!

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Ein Mensch fragt Sie: „Wie kommt man zum Glauben an einen Menschen?“ Das ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht werden Sie antworten: „Das passiert einfach. So etwas kann man nicht planen.“ – Das kann sich ganz kontinuierlich entwickeln, unmerkbar Schritt für Schritt (Der Fuchs in Exuperys Kleinem Prinz spricht hier von Gewöhnen), oder es kann auf einen Schlag geschehen. Wie wir schon oben gesagt haben: Plötzlich sieht man einen Menschen mit anderen Augen. Um das Wesentliche, das zum Glauben führt, deutlicher zu sehen, wollen wir uns im folgenden auf ein solches schlagartiges Ereignis beziehen.

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An der Schwelle zum Glauben liegt ein Abgrund. Bis zu dieser Schwelle kommen Sie mit Verstand und gutem Willen voran. An dieser Schwelle hat alles Leisten ein Ende. Da kommt das Fallen, die Ergebung. „Du musst dich fallen lassen“ ist schon zu viel gesagt. Gar nichts musst du! Gar nichts kannst du! Es fällt dich.

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Wenn Sie's mit Verstand und gutem Willen probieren, können Sie möglicherweise so etwas wie Glauben – oder Liebe – simulieren. Sie finden schöne Worte und eindrucksvolle Gesten für den Anderen. Das sieht dann vielleicht ganz gut aus. Aber es ist nicht Glaube. Es ist ein kraftloses Substrat, ein Ersatz für das was Glauben eigentlich ist. Dieser Ersatz steht dem wahren Glauben im Wege. Er muss zusammenbrechen, damit echter Glauben wachsen kann.

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Wir kennen Ähnliches in der Liebe, beim Akt der sexuellen Vereinigung. Was in den letzten beiden Absätzen über den Glauben gesagt wurde, gilt auch für den sexuellen Höhepunkt. Im Fallen liegt seine Schönheit, seine Symbolkraft, die das Wunder der ehelichen Liebe in ein einziges Wort, eine einzige Bewegung, einen einzigen Blitz konzentriert. „Der ehelichen Liebe“? – ja, denn es braucht ein ganzes Leben, um diese Bewegung und das Versprechen das sich in ihr verbirgt einzulösen. So liegt in diesem Fallen nicht nur etwas Beseligendes, sondern auch etwas Erschreckendes, ein ungeheurer Ernst. Das Gefühl dafür ist uns heute weitgehend verloren gegangen. Jedes Wort, jedes Symbol kann inflationär entwertet werden. Das gilt selbst für die stärkste Geste, die dem Menschen gegeben ist: die sexuelle Vereinigung. Aber das Schreckliche kehrt in anderer Form zurück: In unserer Welt, die mehr noch als von Zügellosigkeit von einem Machbarkeitswahn besessen ist, wird die Schwelle, an der man nichts mehr tun kann, zur beklemmenden Bedrohung. Mit sexuellen Techniken und potenzsteigernden Mitteln versucht man, auch noch den Abgrund, an dem man nichts mehr tun kann, verfügbar zu machen. Impotenz ist das Beste, was dann noch passieren kann. Sie signalisiert, dass da eine Sackgasse ist. Wenn's aber funktioniert, dann ist das Resultat doch nur ein schaler Ersatz für das eigentlich Gemeinte: eine Durchflutung des Körpers, die durch den Adrenalinschub am Bungee-Seil oder durch den Kokainkick effektiver erzeugt würde. Am Ende steht auf jeden Fall Enttäuschung. „War das denn schon alles?“

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So flüchtet man in die Quantität und treibt sich gegenseitig immer weiter. Das steigert aber nur die Angst. Kann ich noch mithalten mit den Ansprüchen meiner Partnerin im Bett oder meiner Kollegen beim neuen „Funsport“?

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Solche Raserei führt zu nichts. Aus ihr gibt es nur zwei Auswege, entweder den Zusammenbruch – zurück zum Nullpunkt, an dem das Wesentliche wieder offensteht – oder die freiwillige Umkehr zu einer radikalen „Entschleunigung“. In einer langsamen und achtsamen Lebensform werden die Abgründe wieder sichtbar, die vorher sinnlos übersprungen wurden. Abgründe, die ängstigen, aber auch die Chance des selig-schrecklichen Fallens bieten. Eines Fallens, in das man sich verliert und aus diesem Verlieren beschenkt wiederfindet. Echtes Fallen führt in die Stärke.

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Ein Gleichnis dafür gibt die Kunst des Bogenschießens, die in Japan von Zen-Mönchen gepflegt wird. Eugen Herrigel hat ein Buch darüber geschrieben (Zen in der Kunst des Bogenschießens). Als westlicher Leistungsmensch wollte er die Bogenkunst erlernen und fand einen japanischen Meister, der ihn darin einführte. Von Anfang an stieß er auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Der Bogen war so groß und seine Spannung so hoch, dass er lange unfähig war, ihn ohne Gewalt auseinanderzuziehen. Dagegen stand die strenge Anweisung, das Instrument nur mühelos und ohne Absicht zu bewegen. Nach langem üben gelang ihm wenigstens das Spannen des Bogens, aber die Pfeile flogen kurz und ziellos in alle Richtungen. Da packte ihn der Ehrgeiz. Er begann die Bewegung erfolgreichen Schießens zu analysieren. Bald meinte er den entscheidenden Punkt gefunden zu haben. Nach einiger Übung gelangen auch ihm passable Schüsse. Stolz präsentierte er dem Meister das Ergebnis. Dieser stutzte, ließ ihn nochmals schießen, dann wandte er sich brüsk von ihm ab. Der Schüler hatte versucht, den Meister zu täuschen. Eine Bewegung, die authentisch nur aus dem Inneren heraus erfolgen kann, indem man sich ganz in sie hinein fallen lässt, hatte er äußerlich nachgeahmt und so bloß vorgetäuscht. Nur mit großer Mühe gelang es Herrigel, vom Meister wieder als Schüler aufgenommen zu werden. Erst nach Jahren erreichte er das Ziel. Es war die Verkörperung einer mystischen Erfahrung: Ohne Anspannung von Willen und Sinneswahrnehmung werden Bogen und Sehne zurückgezogen. Der Schuss wird nicht geleistet, sondern er fällt, – absichtslos, mühelos.

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Das Resultat solchen Fallens ist alles andere als kraftlos und ziellos. Aus der mystischen Einheit von Schütze, Bogen und Ziel resultieren die kräftigsten und zielsichersten Schüsse. Solche Erfolge, die jeden Sportschützen begeistern, sind aber nur das Nebenprodukt einer Bewegung, die die entscheidende Grundbewegung des menschlichen Selbst darstellt. Es ist die Bewegung, die zu lernen wir auf der Welt sind. Die Bewegung des Lebens, wie sie im sexuellen Höhepunkt kulminiert, es ist die Bewegung des Sterbens – im Lassen, das den friedlichen Tod einleitet – und es ist die Bewegung des Glaubens, jenes Glaubens, der an der entscheidenden Schwelle Geschenk ist: Geschenk, in das man jenseits von allem Leistbaren fällt.

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Was wir hier als Fallen beschrieben haben – jenseits des mit Verstand und gutem Willen Leistbaren – wird in christlicher Sprache Gnade genannt. Gnade ist eine innere Befähigung des Menschen, die über das hinausgeht, zu was er aus bloß eigener Kraft imstande wäre. Gnade wird dem Wirken Gottes zugeschrieben, so sehr, dass letztendlich Gott selber als Inbegriff der Gnade begriffen wird. In der Erfahrung von Gnade gibt Gott nicht nur etwas von sich Verschiedenes, sondern offenbart den Menschen sich selber.

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Obwohl wir bis jetzt über den Glauben nur „horizontal“ gesprochen haben – d.h. in der Beziehung zwischen Menschen untereinander (und nicht „vertikal“, d.h. in der Beziehung vom Menschen-herunten zu Gott-oben) – kommt diese göttliche Dimension von Gnade hier bereits in den Blick. Denn die Beziehung zwischen Gott und Mensch erschließt und bewährt sich in der Beziehung zwischen Menschen untereinander. Gott offenbart sich in seinem Wort und seiner Gnadengabe nicht an der Welt vorbei, sondern in der Welt und durch die Welt. Tiefster Grund dieses Zusammenhangs ist die das Christentum konstituierende Erfahrung, dass Gott sich in Jesus Christus, dem Menschgewordenen und in die Welt gekommenen, vollkommen erschlossen hat.

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Deshalb können Geschenkserfahrungen, wie ich sie als Fall in den Glauben skizziert habe, als Gnadenerfahrungen bezeichnet werden. Und weil darin Gott dem Menschen nahekommt, kann man sogar von Gotteserfahrung sprechen. Unser Reden vom Fallen mit den Vergleichen aus Sexualität und Zen-Bogenkunst sollten nur eine erste Idee vom Wesen einer Gnadenerfahrung vermitteln. Im folgenden Kapitel (1.2) werden wir verschiedene Konkretisierungen von solcher Gnadenerfahrung untersuchen.

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Glauben als freie Entscheidung

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Am Anfang des Glaubens steht somit eine Gnadenerfahrung, d.h. eine geschenkhafte Erfahrung von zentraler Bedeutung, die für uns dennoch nicht verfügbar ist. Im Blick auf massive Erlebnisse haben wir vom Fall in den Glauben gesprochen. Das ist auch beim kontinuierlichen Hineinwachsen in den Glauben nicht grundsätzlich anders. Ein solcher Prozess besteht aus einer Vielzahl infinitesimal kleiner Erfahrungen eines solchen Fallens. Für jede von ihnen gilt: über das eigene Tun und Können hinaus wird man von jemand Anderem oder von etwas Anderem ein kleines Stückchen weiter getragen, man fällt ein klein wenig tiefer in den Glauben.

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Ob großer oder kleiner Fall, stets fällt man wieder auf die Füße. Es kehrt der Moment wieder, an dem man – um eine Erfahrung reicher – frei entscheiden kann, ob man die Bewegung, in die man hineingerissen wurde, weiterführen oder abbrechen will.

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Stellen Sie sich ein solches Erlebnis vor: Soeben erlebten Sie einen Moment, in dem eine große Wärme und ein großes Vertrauen in eine andere Person Sie angerührt hat. Nun haben Sie wieder Abstand zu Ihrem Erleben gewonnen. Sie können neu entscheiden, wie weit Sie sich auf den anderen Menschen einlassen wollen. Aber das eben Erlebte hat Ihren Entscheidungsspielraum erweitert. Sie haben die Möglichkeit, sich weiter als bisher für den Anderen zu öffnen oder sich dieser Bewegung zu verweigern. – Wenn Sie sich dafürentscheiden, dann ist das Glauben.

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Glauben besteht also in der freiwilligen Weiterführung einer Geschenkserfahrung, die Ihr Herz für eine andere Person geöffnet hat. Glauben ist in diesem Sinn Antwort auf eine Erfahrung. Und damit ist sie Antwort auf eine Person, die sich Ihnen in solcher Erfahrung offenbart hat.

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Der Fall des Glaubens ist eine Schlüsselerfahrung für das Lebens. Man kann geradezu sagen: Der Sinn des Lebens liegt im Glauben, – oder in der Liebe. Wer das nicht lernt, verfehlt das Leben, selbst wenn er alles andere gewinnt. Das Leben selbst gebietet uns, das Glauben zu lernen: immer weiter, immer vollkommener. In diesem Sinn ist Glauben eine Pflicht. Versäumen Sie diese Pflicht, dann laufen Sie am Sinn des Lebens vorbei. Zwar gilt, dass Sie gar nicht nicht glauben können. Ohne Glauben können Sie über keine Brücke gehen, – sie könnte einstürzen. Sie können kein Stück Brot essen, – es könnte vergiftet sein. Aber solches zwangsläufiges Glauben genügt nicht. Es braucht die freie Zustimmung, die Einstimmung in das Fallen. Sonst wird das Leben zum endlosen Kampf, zur Hölle.

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Von daher bedeutet eine Gnadenerfahrung immer auch einen konkreten Auftrag zu glauben. Wenn sich Ihnen in einer Erkenntnis des Herzens erschlossen hat, wie liebenswert und glaubwürdig der Andere ist, dann ersticken Sie etwas in sich und für den Anderen, wenn Sie dieser Bewegung keinen Raum geben.

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Glauben ist nicht nur eine Verpflichtung, die ich mir selbst gegenüber habe. Ich schulde sie auch anderen. Der Mensch kommt als unfertiges Kind zur Welt, das der Zuwendung anderer Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Mit der Muttermilch saugt es ein Urvertrauen ein, das ihm auf dem Weg der Selbstwerdung Halt gibt. Was passiert, wenn die Mutter dem Kind das Vertrauen, den Glauben an es, versagt?

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Das Kind hat einen Anspruch auf Vertrauen, Liebe, Glauben, und die Eltern stehen unter diesem Anspruch. Ihr Glaube an das Kind ist freie Gabe – es kann nicht anders sein – und dennoch schulden sie ihn dem Kind. So gilt in mehrfacher Weise: Glauben ist eine Schuld, eine Pflicht, ein Auftrag, dem wir „mit ganzem Herzen, ganzer Seele und aller Kraft“ folgen müssen.

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Und dennoch: Glaubenkönnen ist eine Haltung, die so tief in meiner Personalität wurzelt, dass ich sie mit dem bloßen Willen nicht herstellen kann. Wenn ich es gewaltsam versuche, laufe ich Gefahr, unecht zu werden. Dann vertraue ich nicht wirklich, sondern gebe nur vor zu vertrauen. Ich täusche die anderen und vielleicht auch mich selber. Unvermeidlich wird die Ent- Täuschung kommen und die Fassade falschen Glaubens niederreißen.

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Glauben als Kunst

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Was ist also Glauben? – Ein Gnadengeschenk? Eine Leistung des Willens? Oder ein Akt der Vernunft, der in der Erkenntnis von Glaubwürdigkeit gründet? – Drei Erklärungen, die sich auf den ersten Blick ausschließen. Und dennoch können sie im Leben bruchlos zusammengehen. „Ich glaube an dich“, das ist zugleich Geschenk und Auftrag. Zwischen beidem liegt eine Spannung, aber das ist die Spannung des Lebens. Nicht zum Auflösen ist diese Spannung da – das ist unmöglich –, sondern zum Durchschreiten. Wir müssen den schmalen Weg immer neu finden, den Gratweg zwischen dem Glauben, der als Leistung krampfhaft erzwungen wird, und dem Glauben, für den ich nichts tun will und kann, bis er mir vielleicht von selber in den Schoß fällt. Es ist eine Kunst, diesen Weg zu gehen. Das ist die Kunst des Glaubens.

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Wie aber soll Glauben eine Kunst sein, wenn sich sein Wesentliches nicht im Tun ereignet sondern im Empfangen, im Fallen, im Gefälltwerden? Der Abgrund, aus dem das Geschenk des Glaubens hervorbricht, ist keiner Kunst zugänglich. Es hat aber mit unserem Tun in Erkenntnis und Wollen zu tun,

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– ob und wie wir uns diesem Abgrund nähern,

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– und was wir aus diesem Abgrund mitnehmen, wenn wir aus ihm wieder hervorgehen.

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In diesen beiden Bereichen setzt eine Kunst des Glaubens an. Unverfügbare Glaubenserfahrungen können zwar nicht aus eigener Fertigkeit geleistet werden, aber man kann sie mit großem Geschick im Leben auffinden und sie dort, wo sie sich – unerwartet – ereignen, fruchtbar machen. All das ist nicht selbstverständlich. Zwar kommt es auch vor, dass eine Gnadenerfahrung einen Menschen so spektakulär überfällt, dass er unmöglich daran vorbeigehen kann, – so war es bei der Bekehrung des Saulus zum Paulus. Aber gewöhnlich ist das unvermutete Glaubenkönnen ein eher beiläufiges Ereignis, das in unserer hektischen Welt leicht übersehen wird. Kunst des Glaubens ist zuerst eine Kunst der Wahrnehmung, sie ist Ästhetik.

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Erst an zweiter Stelle bezieht sich die Kunst des Glaubens auf das Tun. Es geht dann darum, wie ich die kleinen Impulse des Glauben- und Liebenkönnens am Leben halte und für die verschiedenen Bereiche meines Lebens wirksam mache. Die geschenkhafte Glaubenserfahrung vermittelt die Gabe des Könnens: Glauben können, Lieben können, Hoffen können. Erst auf der Grundlage solcher Ermächtigung werden moralische Gebote sinnvoll: Du sollst glauben, weil du glauben kannst. Du sollst lieben, weil du lieben kannst. Für christliches Verständnis gründen alle anderen Gebote – zum Beispiel die zehn Gebote des alttestamentlichen Dekalogs – in diesem einen Glaubens- und Liebesgebot. Und dieses Liebesgebot ist verankert in der Geschenkserfahrung einer ursprünglichen Befähigung.

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Zwei große Felder gibt es somit für eine Kunst des Glaubens: eine Ästhetik des Glaubens, die den geschenkhaften Erfahrungen des Glaubenkönnens im persönlichen und gemeinschaftlichen Leben nachspürt, und eine Ethik des Glaubens, die sich mit dem Auftrag des Glaubensollens bis in alle Bereiche menschlichen Handelns auseinandersetzt. Das erste ist dem zweiten vorgeordnet. Die Ethik gründet in der Ästhetik.

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1.2 Wo Gott erfahrbar wird

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Wir haben gesprochen von Abgründen, aus denen das Geschenk des Glaubens hervorbricht. Was heißt das konkret? Wo stoßen wir auf solche Abgründe? Orte der Gnadenerfahrung sind die zwischenmenschlichen Liebe, die Erfahrung des Schönen, aber auch des Scheiterns und des Leidens. Wenn wir solche Erfahrungsorte genauer untersuchen, können wir in ihrem Grunde Spuren von Gott auffinden. Der Glaube an den Mitmenschen, an das Schöne oder an den Sinn, der sich im Leiden durchhält, erschließt den Glauben an Gott.

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Gott in der Liebe zweier Menschen

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Stellen Sie sich vor, Sie haben mit allen Mitteln versucht, auf einen anderen Menschen, in den Sie sich verliebt haben, Eindruck zu machen. Auf einmal trifft Sie seine Liebe. Wenn es echte Liebe ist, dann wissen Sie: er liebt Sie nicht, weil Sie so eindrucksvoll sind. Er liebt Sie nicht einmal, obwohl Sie sich so affektiert benahmen. Er liebt Sie einfach. In dieser Erfahrung wissen Sie um die Nutzlosigkeit Ihres Bemühens, die Liebe des Anderen auf sich zu ziehen. In der Erfahrung wahrer Liebe zerbricht Ihre Fassade, mit der sie vor Anderen ein gute Figur machen wollen. Sie zerbricht, weil sie nutzlos und hinderlich geworden ist. Durch dieses Zerbrechen werden Möglichkeiten des wahren Guten und Schönen in Ihnen freigesetzt: eine absichtslose Schönheit, eine nicht berechnende Güte, ein Sein in Wahrhaftigkeit.

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Mit solcher „Ausstattung“ werden Sie fähig, den liebenden Anderen selber wahrhaftig zu lieben. Seine äußere Attraktivität und seine sinnlichen Reize sind für Sie nicht mehr maßgeblich. Es gelingt Ihnen, mit Ihrer Liebe ihn selbst zu meinen. Und Sie wissen, dass Sie das nicht aus eigener Kraft vollbringen. Nicht nur das Empfangen von Liebe ist unverdientes Geschenk, mehr noch gilt das für die Erfahrung des Liebenkönnens.

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Das macht Sie dankbar.

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Ihre Dankbarkeit richtet sich zuerst auf den Anderen, der Sie liebt und dessen Liebe Sie zu einem wahrhaftigeren, besseren und liebesfähigen Menschen macht. Vielleicht können Sie in einer seligen Stunde zur Geliebten sagen: „Danke, dass du mich so sehr liebst.“ Aber in diesen Worten wissen Sie, dass diese Liebe nicht einfach im Ermessen Ihrer Partnerin liegt. Sie wissen, dass auch Sie sie mit gleicher Liebe lieben, und dass das bei Ihnen nicht aus eigener Kraft geschieht, sondern aus der Erfahrung des Geliebtwerdens. Sie erkennen: Ein Kreis schließt sich um die Liebe zweier Menschen. Der Andere vermag Sie zu lieben, weil er sich von Ihnen als geliebt erfährt. Und Sie vermögen ihn zu lieben, weil Sie sich von ihm als geliebt erfahren.

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Deshalb lässt sich die Liebe nicht auf die Leistung oder die Fähigkeit eines der Liebenden zurückführen. Der sich schließende Kreis um zwei Liebende, von denen jeder echt zu lieben versteht, weil er sich als geliebt erfährt, ist selber ein unfassbares Wunder. Kein Abkommen ermächtigt zwei Menschen, zu beiderseitigem Vorteil diesen Kreis zu betreten. Kein romantischer Sandstrand und kein Kerzenscheindinner geben die Eintrittskarte dafür. Das Wechselspiel der zirkulierenden Liebe verweist auf eine Quelle, die der Verfügung von Menschen entzogen ist. So erwächst in zwei Menschen, die sich voneinander geliebt und zur Liebe befähigt erfahren, eine Dankbarkeit, die über ihren Kreis der Liebe hinausreicht. Sie staunen, dass es möglich war, dass sie beide einander gefunden und dass ihre Liebe auf eine nicht geringere Gegenliebe traf. Dankbarkeit richtet sich auf etwas Großes, Schönes und Wahres, das sich ihnen gewährte und an dem sie nun Anteil haben. Die gemeinsame Erfahrung gegenseitiger Liebe erschließt eine Quelle, die in den Geliebten und doch über ihnen steht. Diese Quelle wird seit jeher und immer wieder Gott genannt. Dankbarkeit richtet sich auf diese göttliche Quelle ...

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... und Dankbarkeit will Du sagen.

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So ist die Erfahrung gemeinschaftlicher Liebe eine der bleibenden Wurzeln für die Vorstellung von einem personalen Gott, auf den man sich in dankbarem Gebet ausrichtet. Mit Gott wird dabei die Quelle jener Wahrhaftigkeit, Gutheit und Schönheit gemeint, die die Liebend-Geliebten in sich und einander finden. Der Zugang zum personalen Gott, den man dankbar mit „Du“ anspricht, gründet wesentlich in der Erfahrung glückender Gemeinschaft.

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Ich habe zu zeigen versucht, dass sich in der Beziehung zwischen Menschen eine Beziehung zu Gott öffnen kann. Ich habe das so zeigen versucht, dass Gott dabei mehr ist als bloß die respektvolle Umschreibung des liebenden Anderen. Dabei bin ich von einer sehr speziellen und idealen Erfahrung ausgegangen: einer vollkommenen, „gleichgewichtigen“ Liebe zwischen zwei Menschen.

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Oft ist das anders: für ihn ging nach langem Werben eine große Sehnsucht in Erfüllung, während sie irgendwann seinem Drängen nachgegeben hat, – oder umgekehrt. Dann besteht in der gegenseitigen Liebe kein Gleichgewicht. Das macht die Beziehung schwierig, und die gemeinsame Erfahrung von Dankbarkeit kommt schwerer zustande. Aber auch in solchen Beziehungen ist das, was ich beschrieben habe, ahnungshaft erfahrbar. Es kann glückliche Augenblicke geben, wo die Ausgeglichenheit etwas mehr gegeben ist und beide Menschen sich wunderbar beschenkt erfahren. Und vor allem gibt es die Sehnsucht, es möge so sein. So ist es vielleicht nicht die Erinnerung, sondern die Sehnsucht, die einer Analyse wie ich sie versucht habe, zustimmt.

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Was ich an der Liebe eines Liebespaars aufzeigte, lässt sich auch – mit den nötigen Abänderungen – an anderen Arten der mitmenschlichen Liebe zeigen: an der Liebe zwischen zwei Menschen wie Mutter und Tochter, Bruder und Schwester oder zweier Freunde in einer nichterotischen Beziehung. Und in der Liebe zwischen mehreren Menschen: in einer Familie, einem Freundeskreis oder einer großen Gemeinschaft. Entscheidend ist immer die gemeinschaftliche Erfahrung des Beschenkt- und Ermächtigtseins, die Erfahrung, dass jeder mehr an Liebe, Glauben und Achtung in die Gemeinschaft einzubringen vermag, als ihm oder ihr für sich allein möglich wäre.

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In unseren Ausführungen über die Liebe sind wir einem „positiven Extrem“ gefolgt und haben systematisch von allem Negativen abgesehen. Nach dem jetzigen Stand unserer Untersuchung stößt der Liebende wie selbstverständlich durch die eitle Fassade des Anderen zu dessen wahren und guten Wesenskern durch. Der andere stimmt solchem Durchschauen glücklich zu und wird dadurch befähigt, auch selber in wahrer Liebe zu lieben. Und so entstehen Kreisläufe gegenseitiger Liebe, die frei sind von aller eigennützigen Berechnung. – Nichts davon ist selbstverständlich! Beziehungen können jahrelang bestehen, ohne dass die Partner ihre Masken vor einander ablegen. Dasselbe gilt für jede andere Form von Gemeinschaft. Viele Ehen und Partnerschaften sind das genaue Gegenteil: wirtschaftliche Beziehungen zur wechselseitigen Maximierung der Vorteile. Und es gibt keine Gemeinschaftsform, in der dieses ökonomische Muster nicht leitend sein kann. Das gilt auch für „asymmetrische“ Beziehungen wie jene zwischen Eltern und Kindern. Die Eltern investieren in den Erfolg und das Ansehen ihrer Kinder; dafür dürfen diese ihre Eltern nicht enttäuschen und müssen ihnen das Gefühl geben, gute Eltern zu sein. Hinter dem Bild von selbstloser Hingabe und Aufopferung lauert der „Deal“: Geld für Ansehen. Und dieser Deal macht erpressbar.

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Müssen wir vor all diesen Fehlformen die Augen zudrücken, um Gott in der Beziehung zwischen Menschen finden zu können? – Im Gegenteil! Der realistische Blick auf die unvollkommenen und pervertierten Formen mitmenschlicher Beziehungen verstärkt die Einsicht, dass Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit und echte Liebe nicht das Selbstverständliche sind. In einer Welt, in der nichts umsonst ist und alles seinen Preis hat, sind Wahrhaftigkeit, uneigennützige Güte und absichtslose Schönheit ein unfassbares Wunder. Solche Erfahrung entwaffnet und beschämt den berechnenden Menschen. Und sie befähigt und verlockt ihn, aus der Welt des Tausches auszubrechen, um nun selber absichtslos zu schenken, – dem selbstlosen Geber oder irgendeinem anderen.

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Das Problem mit solchen Ereignissen ist, dass sie nicht beweisbar sind. In einer Welt der Berechnung lässt sich alles simulieren. Selten treten Egoismus und Berechnung offen auf, denn das würde ihre Effektivität vereiteln. Sie tarnen sich mit den Mustern der Absichtslosigkeit. „Ich liebe dich nicht wegen deiner Millionen, sondern wegen deiner inneren Schönheit“, flötet der Gigolo. Auch die scheinbar selbstlose Tat kann geschicktes Manöver sein. Wo der Andere beschämt und beglückt sein Herz aufschließt, kann er manipuliert und ausgebeutet werden. Selbst dort, wo kein Gewinn erwartbar ist, weil der Andere scheinbar nichts zu geben hat, sind subtile Kalküle nicht ausgeschlossen. Der Fünf- Euro-Schein, den ich dem Bettler in den Hand drücke, gibt mir das Gefühl, ein guter Mensch zu sein. Der Bettler weiß um den Deal, und deshalb hat er keine Hemmungen, meine Gutmütigkeit auszunutzen. Aus all dem resultiert: Das eindeutig Gute ist in unserer Welt nicht vorfindbar. Wenn wir dem Guten, dem Schönen, der Liebe begegnen, dann müssen wir daran glauben, um es annehmen zu können.

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Gott in der Erfahrung des Schönen

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Das großartige Panorama bei einer Bergwanderung, die unverschämte Farbenpracht auf einer Mittelmeerinsel, die monumentale Wucht antiker Bauwerke, die unfassbare Fülle menschlicher Schaffenskraft zusammengepfercht in ein berühmtes Museum: Alles das zusammen können wir schon in einem einzigen Urlaub erleben. Reisen, Fotos, Bildbände, Illustrierte, Natur und Kultur im Fernsehen oder interaktiv am Computer. Wir werden heute geradezu ertränkt von Schönheit. Kaum mehr die Chance, uns auf eine Begegnung mit Schönem einzustimmen, durch einen langen Anmarsch, durch Vorfreude und wachsende Erwartung! Kaum mehr die Zeit, das Erlebte nachwirken zu lassen, sodass es seine verwandelnde Kraft in uns entfalten könnte! Man lässt das Schöne nicht an seinem Ort, sondern reproduziert es und macht es zur Massenware in Souvenirläden, Touristikkatalogen oder den privaten Film- und Fotosammlungen. Wir meinen alles bereits zu kennen und pflegen den Ehrgeiz, alles auf den ersten Blick zuzuordnen, einzuordnen und mit dem rechten Namen zu versehen.

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Auf diese Weise können wir vieles fassen. Aber was wir so fassen, ist gerade nicht das Schöne, sondern dessen äußere Fassade. Das Schöne bestimmt sich dadurch, dass es sich dem respektlosen Zugriff entzieht. Schön ist etwas dann, wenn es sich als mehr und tiefer erweist als das, was wir davon meinen begriffen zu haben. Ob ein Musikstück, ein Buch, ein Gemälde oder ein Film wirklich schön ist, erfassen wir oft erst, wenn wir uns seiner Gegenwart für längere Zeit ausgesetzt haben. Manchmal braucht es viel Zeit, um den Unterschied zwischen wahrhafter Schönheit und schöner Fassade zu erkennen. Die hübsche Fassade, die dem Empfinden schmeichelt, die reizvolle musikalische Verzierung, der blendende Stil im Roman, – all das wird durch genaues und wiederholtes Hinsehen als unaufrichtig entlarvt. Echte Schönheit ist hingegen wahrhaftig. Sie bleibt.

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Von daher hat wahre Schönheit – im Schönen der Natur ebenso wie beim Kunstschönen – etwas Unbequemes. Die kompromisslose Wahrhaftigkeit des authentischen Schönen duldet nichts Falsches in seiner Umgebung. Wer sich seinem Eindruck aussetzt, beginnt an der eigenen Unwahrhaftigkeit zu leiden. Das wahre Schöne weckt im Betrachter eine Sehnsucht, das Unvollkommene, Schwächliche und Kompomisshafte des eigenen Lebens auszumerzen. Die heutige an- ästhetische Reizüberflutung erschwert zwar diese schmerzhaft-bewegende Erfahrung, aber manchmal bricht sie dennoch durch.

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In solchen Ausnahmemomenten kann es uns gehen wie Rilke, der unter dem Eindruck einer antiken Skulptur die folgenden Zeilen dichtete:

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Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

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Wahrhaftes Schönes versetzt in Schwingung. Es erzeugt in uns eine Resonanz, die längst vergessenes Wahres wachruft und das Unechte unerträglich macht. Aus dem Abgrund des Schönen hallt ein Ruf: „Du musst dein Leben ändern.“

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Woher kommt dieser Ruf?

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Der Anruf des wahrhaftigen Kunstschönen, wie es Rilke am archaischen Torso vernommen hat, spiegelt gewiss zunächst den Anspruch seines menschlichen Schöpfers.

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Aber wusste nicht dieser in der Erfahrung des Schaffens sich selber unter einen Anspruch gestellt, der mehr war als er selbst? Immer wieder haben Künstler ihr Schaffen als Inspiration, als Indienstnahme durch eine höhere Macht beschrieben, die sie in ihren Bann zog. Ist nicht Rilkes Gedicht ein deutlicher Beleg auch dafür? Die Begegnung mit der antiken Skulptur war ein Ruf für ihn, der ihn forderte, dem Eindruck mit seinen künstlerischen Mitteln zu entsprechen. So wurde dem plastischen Kunstwerk ein dichterisches Kunstwerk zur Seite gestellt, – ein Kunstwerk, das seinerseits andere Menschen in die Pflicht ruft.

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Auch im Schönen der Natur liegt ein Ruf, der auf eine höhere Macht verweist, die uns in Anspruch nimmt. Aus den gewaltigen Felsformationen der Hochgebirgslandschaft, mit ihrer unerbittlichen Schönheit, die sich nirgends anbiedert, – aus der stillen Schönheit der verborgenen Silberdistel, die einfach ist, egal ob jemand hinschaut oder nicht, – aus der unsinnigen überfülle von Schönheit, die uns in mancher Landschaft umgibt erwächst die unbezweifelbare Gewissheit, dass all das mehr ist als ein selbstorganisiertes Zufallsarrangement, dass dafür eine schöpferische Macht verantwortlich ist, die nicht anders als göttlich genannt zu werden verdient.

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Gott in der Erfahrung von Leid und Zerbrechen

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Verbreitet ist die Auffassung, Gotteserfahrungen müssten „positiv“ sein. Auch wir haben hier bei positiven Erfahrungen – von der Liebe und vom Schönen – angesetzt. Dabei wurde aber bereits deutlich, dass erfahrene Liebe und Schönheit nicht nur angenehm, sondern in hohem Maße fordernd und in diesem Sinne sogar schrecklich sein kann.

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Das Zusammentreffen mit dem Wahren ist immer auch ein Zusammenprall, der das eigene Unechte zum Einsturz bringen kann. In sehr glücklichen Fällen ist solches Zerbrechen beinahe schmerzlos. So habe ich es bei der Erfahrung des Geliebtseins beschrieben: ein seliges Zerbrechen der eitlen Fassade. Das tut kaum weh, wenn man sich rückhaltlos darin hineinfallen lässt. Schmerzhaft wird es, wenn man sich ängstlich vor diesem Zerbrechen wehrt. Das kann so weit gehen, dass jemand lieber die geliebte Person von sich stößt oder ein Kunstwerk zerstört.

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Allerdings ist ein so extremes Verhalten heute nicht gerade in Mode. Es setzt nämlich immer noch einen Sinn für Wahrhaftigkeit voraus, – den sicheren Instinkt dafür, dass der Genuss der Liebe (oder des Schönen) und die Verweigerung einer inneren Wandlung nicht zusammen gehen. Da ist immer noch ein heiliger Ernst drinnen. Wenn der verloren gegangen ist, dann kann man gewissenlos die Liebe und das Schöne genießen. Und wenn das Gewissen doch noch juckt, dann kann das nochmals als besonderer Reiz genossen werden. Das gehört dazu zum richtigen Kick! Die Folge ist ein unerhörter Zynismus. Ein solcher Mensch kann einer Geliebten lebenslange Treue versprechen und sie zwei Wochen später achselzuckend dem Untergang überlassen. Und das alles kann ganz freundlich verlaufen, ohne erkenntliche Bosheit.

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Franz Werfel beschrieb so etwas auf beklemmende Weise in seiner Erzählung „Eine blassblaue Frauenschrift“. Es ist die Geschichte von einem äußerlich erfolgreichen Menschen, den der Anspruch auf Wahrhaftigkeit beinahe noch eingeholt hätte. – Aber eben nur beinahe. Hart am Abgrund, an dem sein ganzes hohles Lebensgebäude zusammengebrochen wäre, schafft er gerade noch die Kurve. Das Ende der Erzählung spielt nicht zufällig in der Oper. Der Anspruch des Schönen in der Musik vermag ihn nicht mehr zu beunruhigen. Selig schläft er ein. Das Schöne mit seinem fordernden Ruf nach Wahrhaftigkeit ist hier wirkungslos geworden. Ästhetik wurde zur An-Ästhetik, – zum Schlafmittel für ein ruhiges Gewissen.

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„Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, dass heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, dass ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.“ (Schlusssatz aus: Franz Werfel, Eine blassblaue Frauenschrift)

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Was wäre geschehen, wenn Leonidas die Kurve nicht geschafft hätte und in den Abgrund geschlittert wäre? Die gewaltige, eindrucksvolle Fassade seines Lebensgebäudes – in Beruf und Familie – wäre spektakulär zusammengebrochen. Aber damit hätte Leonidas erstmals wieder der Wahrheit ins Gesicht schauen können, und erstmals wäre er wieder zum echten, nicht berechnenden Guten fähig gewesen. Letztendlich hätte der Zusammenbruch für Leonidas eine Befreiung bedeutet.

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Man kann ein Leben auf Unrecht und Lüge aufbauen. Das muss nicht spektakulär sein. Vielleicht hat man sich nur immer ein bisschen besser dargestellt als man war und konnte auf diese Weise Vorteile einheimsen. Doch es ist mühsam, eine Fassade hochzuhalten, hinter der man seine Mickrigkeit verbirgt. Es kostet Kraft und Angst. Und es stellt selbst das in Frage, was echt ist, zum Beispiel die Liebe. „Liebt meine Frau mich, wie ich bin oder nur das an mir, was ich ihr und allen vorspiele? Würde sie mich noch lieben, wenn sie wüsste, dass...?“

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Ein Lebensgebäude, in das die Unaufrichtigkeit eingewoben ist, wird zur unerträglichen Last. Der Blick auf die Wahrheit, das Gute und das Schöne ist systematisch verstellt, und es kann nicht im eigenen Leben Wurzeln schlagen. Je länger und je mehr man in ein unaufrichtiges Lebensgebäude investiert hat, desto verlustreicher und furchtbarer ist sein Einsturz. Doch ohne ihn kann kein wirkliches Wachstum erfolgen. So kann der Zusammenbruch eine richtige Erlösung sein. Solcher Zusammenbruch ist nicht selbst Gotteserfahrung, aber durch ihn wird Gotteserfahrung wieder möglich.

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Gewiss gibt es solche spektakulären Zusammenbrüche. Eine Firma geht bankrott. Eine Familie bricht auseinander. Aber auch wenn kein komplettes Lebensgebäude einstürzen muss, wenn vieles auch wahrhaftig ist und weiter bestehen kann: dann sind es die kleinen Zusammenbrüche, die wir wie den Tod fürchten. Einmal die eigene Schwäche, ein Versagen, Verletzlichkeit zugeben! Wenn es endlich passiert, kann es für alle Beteiligten wie eine Erlösung sein.

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Nicht immer sind es die eigenen hohlen Fassaden, die einstürzen. Wir erleiden auch schuldlos Unrecht: wenn wir nicht Liebe erfahren, sondern Hass; wenn wir das Opfer von Intrigen wurden; wenn wir uns für einen anderen Menschen einsetzten und dafür nur Undank ernteten. Eine Person, auf die wir voll vertrauten, hat uns bitter enttäuscht. Das zieht uns den Boden unter den Füßen weg.

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Sie kennen vielleicht folgende Erfahrung: Da trifft Sie ein Schlag, von dem Sie nie gerechnet hätten, dass sie ihn überleben können. Und nun haben Sie ihn eingesteckt, und verwundert stellen Sie fest, dass sie immer noch stehen. Solche Erfahrungen können Ihnen bewusst machen, dass sie im Leben tiefer verwurzelt sind als sie dachten. Daraus kann ein tieferes Glücksgefühl entstehen als aus einer schönen Erfahrung. Denn Sie fühlen sich in ihrem Frieden unabhängig von unberechenbaren Schicksalschlägen. Solche Erfahrung gibt es, aber sie ist vielleicht selten. Häufiger kommt es zum seelischen Zusammenbruch, zur Verzweiflung, und erst nach langer Zeit ist die Krise überstanden. Dann bleibt eine Verletzung zurück, eine Narbe, aber möglicherweise auch eine Reifung, ein tieferer Ernst im Leben. Man baut weniger auf das Oberflächliche, Vordergründige und ist offener für echte Erfahrungen.

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Gott in „Tun-Erfahrungen“

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Ich sprach von dem verbreiteten Vorurteil, dass Gotteserfahrungen nur beglückend sein könnten. Dagegen stellte ich Leiderfahrungen, die zwar nicht selbst die Erfahrung von Gottes Nähe sind, aber den Weg zu solchen Erfahrungen ebnen können. Ein zweites Vorurteil beschränkt Gotteserfahrungen auf Erfahrungen des Empfangens: Ein Ereignis erfasst mich sozusagen von außen und weckt in mir das Erleben von Gottes Nähe.

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Es gibt aber noch eine andere Art von Gotteserfahrung, die ich als Tun-Erfahrung bezeichnen will: Unvermutet stelle ich fest, dass ich mich auf eine Weise verhalte, die ich mir normalerweise niemals zutrauen würde. Ich ertappe mich dabei, dass ich mit einem Menschen ruhig und geduldig Worte wechsle, auf den ich eigentlich noch ziemlich sauer bin. Solche Erfahrungen sind so gut wie niemals spektakulär. Man stellt fest, dass man ein klein wenig weiter gehen kann als es einem normalerweise möglich ist. Das ist eine ganz minimale Verschiebung, die durchaus auch als Zufall oder Unachtsamkeit verstanden werden könnte. Entscheidend dabei ist: Ich verhalte mich auf eine bestimmte Weise ohne eigentlich zu wissen, was ich da tue. Das mag wenige Augenblicke lang so gehen, dann kommt unweigerlich das Bewusstsein: „Was tue ich da eigentlich? Mit diesem Menschen rede ich auf so freundliche Weise??“ In diesem Augenblick habe ich die Wahl. Ich kann die unwillkürlich gelegte Spur weiter verfolgen. Auf diese Weise ebne ich möglicherweise einen Ausweg aus einem verfahrenen Konflikt. Oder ich kann mich über mich selber ärgern, über meine Gutmütigkeit und darüber, dass ich mich von dem Anderen über den Tisch ziehen ließ. Dann werde ich verschärft gegenlenken, und die Chance zu einer Verbesserung des Verhältnisses ist vertan.

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Ich möchte dazu ein Beispiel aus meinem Leben erzählen. Als Student lebte ich in Miete bei einem alten, querköpfigen Mann. Eine Verlängerung des Mietvertrags lag in meinem größten Interesse, aber der Vermieter wollte nicht. Ich führte ein langes Gespräch mit ihm, das zunehmend freundschaftlich verlief. Dabei kam ich seinen engen Auffassungen weit entgegen und gab mir manche Blöße. Auch er fasste Vertrauen zu mir und erzählte aus seinem Leben. Ich lernte den strengen Herrn von einer sympathischen Seite kennen. Zuletzt war ich sicher, dass ich ihn auch zu einer Vertragsverlängerung gewonnen hätte. Aber er blieb bei seiner Ablehnung. Zu meiner Verwunderung spürte ich keinen Ärger, sondern ein Gefühl warmer Sympathie durchströmte mich. Ich verabschiedete mich herzlich von ihm. Erst später begriff ich die eigenartige Bewegung, die mich erfasst hatte. Wäre ich erfolgreich gewesen, so wäre die freundschaftliche Annäherung als Teil einer erfolgreichen Strategie dagestanden. Gewiss hätte mich Stolz über mein Verhandlungsgeschick erfasst, und die freundschaftliche Annäherung wäre zwielichtig geworden. Dass es mir gelang, die Abfuhr freundlich zu verschmerzen, belegte vor mir und meinem Vermieter die Echtheit unserer Annäherung. Obwohl der Mietvertrag nicht verlängert wurde, blieb das Verhältnis bis zuletzt freundlich und ich bewahre eine gute Erinnerung an ihn.

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Das Gefühl warmer Sympathie, das mich im Augenblick der Ablehnung durchströmte, ist für mich der Inbegriff einer Gnadenerfahrung. Als ich mir dessen bewusst wurde, fühlte ich die Freiheit, dieser Bewegung nachzugeben oder sie in einer Geste verletzten Stolzes zu unterdrücken. Dadurch, dass ich der Bewegung nachgab, wurde eine schwierige Beziehung entscheidend verbessert, und ich konnte an den Vorfall mit Freude anstelle von Groll zurückdenken.

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In solchen Tun-Erfahrungen trägt uns eine Kraft – der Wahrhaftigkeit, der Liebe, der Güte – die nicht unsere eigene ist. Diese Kraft wirkt behutsam und unaufdringlich. Ein Stück weit unterläuft sie unsere freie Entscheidung, aber eben nur ein Stück. Eine neue Möglichkeit erschließt sich uns, die wir in Freiheit annehmen oder ablehnen können. Wenn wir die Quelle von Wahrhaftigkeit, Liebe und Güte, sofern sie nicht unsere ist sondern uns übersteigt, als Gott bezeichnen, dann können wir sagen: Ein göttlicher Keim hat sich in unser Innerstes eingesenkt – und zwar so, dass er von unserer eigenen Wesensnatur unterschieden bleibt! – und wir haben Wahl, ob wir ihn wachsen oder zugrunde gehen lassen. Als Christen sprechen wir von Gott, der in uns wirkt oder vom Heiligen Geist. Demgemäß können wir solche Tun-Erfahrungen als Gotteserfahrungen oder als Erfahrungen des Heiligen Geistes bezeichnen.

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Wie hängt der bereits früher eingeführte Begriff der Gnadenerfahrung zusammen mit der jetztigen Rede von Gotteserfahrung? Gnadenerfahrungen sind ganz allgemein Geschenkserfahrungen, die unser eigenes Leistenkönnen überschreiten. Mitmenschliche Liebe, Begegnung mit dem Schönen, das Leiden und auch die hier besprochenen Tun-Erfahrungen sind von daher Gnadenerfahrungen. Dies insbesondere dadurch, dass wir in all diesen Erfahrungen die Quelle eines göttlichen Wirkens erschlossen. Wenn wir von Gotteserfahrung sprechen, dann geht das einen Schritt weiter, und zwar einen Schritt, der für manche Theologen bereits zu weit geht. Erlaubt die Unfassbarkeit Gottes, mit der wir uns noch eingehender beschäftigen werden, von einer Erfahrbarkeit Gottes zu sprechen? Kann man denn Gott selber erfahren oder nur seine Wirkungen?

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Diese Frage stellt sich verschärft, wenn wir, wie hier, von Erfahrungen sprechen, die nicht notwendig im Namen Gottes erfolgen. Auch ein Mensch, der nicht Christ ist, ja der in ausdrücklicher Form nicht einmal an Gott glaubt, ist fähig, Erfahrungen wie die hier beschriebenen zu machen. Kann ein Mensch im allgemeinen, ein Nichtchrist im besonderen und schon gar ein Atheist Gotteserfahrungen machen? In einer Tradition von Theologen, zu denen in heutiger Zeit vor allem Karl Rahner zählt, vertrete ich hier, dass Gott den Menschen auch in anonymer Gestalt, sozusagen inkognito begegnen kann. Wo sie auf die Dynamik dieser Erfahrung glaubend antworten, haben sie den entscheidenden Schritt zum Glauben an den christlichen Gott schon getan. Mit Karl Rahner kann man sie dann als „anonyme Christen“ bezeichnen. Die schöne und bescheidene Aufgabe einer Glaubenszeugin oder eines Glaubenszeugen besteht gegenüber solchen Personen darin, das, was diese bereits erfahren und sogar bejaht haben, ohne es zu kennen, mit einem Namen zu versehen und so die tiefe Sinnhaftigkeit einer sonst vielleicht grundlos erscheinenden Hoffnung zu erschließen. In Ansätzen finden wir einen solchen respektvollen Umgang mit Andersgläubigen bereits bei Paulus, als er in Athen zu den Menschen auf dem Areopag sprach:

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“Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche er etwas: er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art.“ (Apg 17,22-28)

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„Gott in allen Dingen finden“

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Was können wir nach den bisherigen Überlegungen über Gott sagen? Aus Erfahrungen der Liebe schlossen wir auf Gott als eine Wirkmacht des Wahrhaftigen, Guten und Schönen, die sich in der Wahrhaftigkeit, Güte und Schönheit der Liebend- Geliebten offenbart, aber doch zugleich über ihnen steht und sie begründet. Ähnlich offenbarte sich uns eine göttliche Macht am Wurzelgrund der Erfahrung des Schönen, das uns unter seinen Anspruch ruft. An den Erfahrungen selbstverschuldeten und unverschuldeten Leidens zeigte sich uns, dass Gott unsere eigenen Projekte übersteigt und deshalb durch das Zerbrechen dieser Projekte hindurch möglicherweise besser wahrgenommen wird. „Tunerfahrungen“ verwiesen auf ein subtiles Zusammenspiel von göttlichem Wirken und eigenem Verhalten: Ein Wirken, das wir auf Gott zurückgeführt haben, unterläuft ein Stück weit unser eigenes Wollen und Erkennen, bis wir uns dessen bewusst werden und uns vor die Wahl von etwas gestellt finden, das uns vorher noch unmöglich war. Bei jeder dieser Erfahrungen zeigte sich, dass Gott in den Dingen ist und doch über ihnen steht.

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Die intensive Erfahrung mit einem geliebten Menschen lässt in uns die Ahnung aufkeimen, dass jeder Mensch im Grunde seines Wesens liebenswert und liebesfähig ist. In einer außerordentlichen Liebeserfahrung erstrahlt die geliebte Person in vollkommener Schönheit und Güte. Wenn ich mich auf eine Lebensgeschichte mit ihr einlasse, werde ich unvermeidlich auch Fehler an ihr entdecken. Es besteht aber die Chance, dass ihre Schwächen meine Liebe nicht mindern. Die Fehler des geliebten Menschen werden mich traurig machen, denn ich spüre, dass er damit unter seinen Möglichkeiten bleibt, heil und ganz zu sein. Ich werde seine Schwächen deutlich wahrnehmen, und dennoch werde ich ihn lieben, – nicht trotz sondern mit seinen Schwächen. Ich werde dennoch an ihn glauben, und ich werde hoffen, dass meine Liebe ihm hilft, heil und ganz zu werden.

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Solche Erfahrung erschließt mir die Möglichkeit, auch andere Menschen besser anzunehmen, die mir von Anfang an weniger sympathisch sind. Es kann sein, dass mich das Versagen eines fremden Menschen nicht mehr abstößt, sondern traurig stimmt. Ich leide daran, dass er damit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, heil und ganz zu sein. Und das bedeutet, dass ich seine Fehler im Lichte seiner besseren Anlagen wahrnehme. Ich glaube an das Wahre, Gute und Schöne in ihm, auch wenn es nach außen nicht sichtbar und nicht wirksam wird. Ich finde Gott in ihm.

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So lehrt uns die besondere Liebeserfahrung, jeden Menschen als liebenswert zu erkennen. Ebenso führt uns die Begegnung mit dem außerordentlich Schönen zur Einsicht, dass alles was ist, unter dem Anspruch wahrhaftiger Schönheit steht und einen wenigstens minimalen Anteil an Schönheit bereits in sich trägt. Unsere Spitzenerfahrungen von Liebe und Schönheit wollen uns nur auf die rechte Spur bringen, und diese Spur will uns dahin führen, Gott in allen Menschen und Dingen zu finden.

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1.3 Glauben im Kontext von Gemeinschaft und Geschichte

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Erlebnis und Erfahrung

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Bis jetzt haben wir ausschließlich von singulären Glaubenserfahrungen gesprochen: einzelne zeitlich begrenzte Ereignisse im Leben eines Menschen. Wir können hier von Erlebnissen sprechen im Sinne von Einzelereignissen, die einen Menschen mit Neuem konfrontieren. Erst wenn ein Erlebnis wahrgenommen und in den Gesamtzusammenhang der eigenen Selbst- und Weltdeutung integriert wurde, kann man von einer Erfahrung sprechen. In diesem Sinn ist unsere heutige Welt eher von Erlebnis als von Erfahrung geprägt. Wir leben in einer Erlebnisgesellschaft, die uns mit einer überfülle von neuen Sinneseindrücken, von potentiellem Erfahrungsmaterial konfrontiert: über die Medien von Fernsehen, Kinofilm, bis hin zum „Infotainment“ z.B. in modernen Museen, Unterhaltungsangebote für Urlaub, Einkauf und Arbeitswelt, – alles wird heute mit einem gewissen Unterhaltungswert aufgepeppt, auch z.B. die trockene Powerpoint- Folie mit ein paar anregenden Fotos. Wir können diese Flut von immer wieder neuen, stimulierenden Informationen gar nicht verarbeiten. Wer einen Tag im Erlebnispark Gardaland verbracht hat, hat viel erlebt, aber wahrscheinlich wenig erfahren.

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Erfahrung zwischen passiver Aufnahme und kreativer Sinnstiftung

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Wenn wir diese Unterscheidung zwischen Erlebnis und Erfahrung zugrunde legen, dann haben wir in den vorausgehenden Kapiteln sicher nicht nur von Glaubenserlebnissen, sondern auch von Glaubenserfahrungen gesprochen. Wir sind davon ausgegangen, dass sich uns durch die Begegnung mit einem geliebten Anderen oder mit etwas Schönem Neues erschließt, das unser Leben bleibend beeinflusst. Wir sprachen von einer (Herzens-)Erkenntnis, die durch eine Entscheidung zum Glauben erst freigesetzt wird. Das gehört bereits zur Erfahrung: sie ist niemals bloß passiv- empfangend, sondern enthält ein eigenes sinnstiftendes Mittun, einen Akt der Deutung oder Interpretation. Ich empfange nicht nur die Bedeutung (im weiten Sinn, auch von Lebensrelevanz) eines Ereignisses, sondern gebe ihm eine bestimmte Deutung.

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Die richtige Einschätzung von Erfahrung in der rechten Balance zwischen bloß passiver Rezeption (wie ein Foto eine Landschaft abbildet) und subjektiver Re-Konstruktion (von Kants Erkenntnistheorie bis zum radikalen Konstruktivismus) ist ein zentrales Thema der philosophischen Erkenntnistheorie. Ihre Bedeutung für die Theologie – etwa für unseren Zusammenhang in der Deutung der Glaubens- und Gnadenerfahrung – kann kaum überschätzt werden.

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Wir können das hier nicht weiter verfolgen. Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass Erfahrung immer auch ein Akt eigener, „kreativer“ Deutung ist, der durch die sinnlich wahrgenommenen Einzelgehalte nicht schon eindeutig festgelegt ist. Das gilt nicht nur für Glaubenserfahrung, sondern für jede Form von Erfahrung. Schauen wir uns das ein Stück weit im Hinblick auf Erfahrung im Allgemeinen an. Von daher kann sich uns dann eine vertiefte Sicht der Glaubenserfahrung erschließen.

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Der „rote Faden“ in der Lebensgeschichte

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Wie also beeinflussen einzelne Erlebnisse das, was wir als unsere Erfahrung im Allgemeinen – z.B. unsere Lebenserfahrung, unsere Sicht der Dinge, auch unser Selbstbild – bezeichnen können? Begonnen von der einfachsten Sinneserfahrung bis hin zu fundamentalen existenziellen Sinnerfahrungen vollziehen wir unwillkürlich Akte der Abstraktion oder Synthese: Wir reduzieren eine überfülle von Einzeleindrücken auf überschaubare Muster und Strukturen. Gewisse Wahrnehmungen scheiden wir als irrelevant aus, anderen schreiben wir ein größeres oder geringeres Gewicht zu. So kommen wir zu Urteilen über die Wirklichkeit, die immer auch unsere eigenen Wahrnehmungsformen widerspiegeln. Wir sehen Wolken und Sonne, spüren Wärme, Kälte und Wind, – und kommen zum Urteil: „Das Wetter ist schön“. Sie haben Jahre mit Ihrer Lebensgefährtin zusammengelebt, mit vielen Höhen und Tiefen in Ihrer Beziehung, und – gefragt von einem Freund – ziehen Sie das Resümee: „Meine Ehe ist glücklich“. Wie vieles an enttäuschenden Erfahrungen haben Sie dabei unter den Tisch fallen lassen oder vielleicht mit Hilfe eines wohlwollenden Prinzips entschärft (z.B.: „Ausnahmen bestätigen die Regel“ oder „Wir mussten uns halt zusammenstreiten“)? Mehr oder weniger unwillkürlich haben Sie einen roten Faden durch eine Vielzahl unterschiedlicher und gegensätzlicher Einzelerfahrungen in Ihrer Partnerschaft gelegt. Dieser rote Faden berücksichtigte die glücklichen Erfahrungen stärker als die Enttäuschungen. Vielleicht spüren Sie irgendwann, dass Sie mit ihrem roten Faden – mit Ihrer Gesamtinterpretation von Ihrer Partnerschaft – allzuviel Entgegenstehendes unberücksichtigt ließen. Irgendwann machen Sie eine Erfahrung, die „das Fass zum überlaufen bringt“. Sie werfen Ihre Gesamtinterpretation um, legen den roten Faden neu und sagen: Ich bin unglücklich mit meiner Partnerin. Auch diese Sicht wird vieles unberücksichtigt lassen. So gibt es Menschen, die Ihre Gesamtsicht zweimal täglich wechseln, – oder die dann vielleicht Schluss kommen: Meine Partnerschaft ist eine ständige Berg- und Talfahrt. (Was dann auch wieder unterschiedlich gewertet werden kann: „Das ist mir zu stressig“ oder: „eigentlich ganz spannend!) ...

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Wie der „rote Faden“ zustande kommt

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Hatten Sie eine glückliche Kindheit? Sind Sie mit Ihrem Beruf zufrieden? Sind Sie ein glücklicher Mensch? Glauben Sie an Gott? – Solche Fragen können Sie nur durch extreme Reduzierung einer unüberschaubaren Fülle von Einzelerfahrungen beantworten. Ihre Antwort hängt davon ab, wie Sie „den roten Faden gelegt haben“.

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Wie aber kommt dieser „rote Faden“ zustande? Welcher Art sind unsere Vollzüge, durch die wir den roten Faden – mehr oder weniger unwillkürlich – weiterspinnen?

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Wesentlich ist zunächst, dass wir uns an Ereignisse erinnern. Sie sind einem Menschen für etwas sehr dankbar und sagen zu ihm „Das werde ich dir nie vergessen“. Oder umgekehrt: Ein Mensch trägt es Ihnen ewig nach, dass Sie seinen Geburtstag übersehen haben. Durch regelmäßig wiederholte und aufgefrischte Erinnerung kann sich die Bedeutung von Ereignissen tief in unsere Gesamterfahrung eingraben. Es gibt eine Kultur der Erinnerung, zu der die Feier von Jubiläen gehört, das Aufstellen von Erinnerungsstücken und die Bildung von Symbolen, die Erinnerung wachrufen: der sprichwörtliche Blumenstrauß, ein bestimmte Geste bei der Begrüßung, oder die Entwicklung von Sonderwörtern, – z.B. ein Kosename. Nicht anders ist es bei religiösen Erfahrungen: sie überleben durch die Erinnerung daran, – in der persönlichen geistlichen Praxis (z.B. im Tagesrückblick beim täglichen Gebet), im Umgang mit Symbolen im privaten Leben (z.B. im besinnlichen Anzünden einer Kerze, oder bei einem Tischgebet), beim Mitleben in jener Kultur der Erinnerung, die einen wesentlichen Bestandteil einer lebendigen Religion ausmachen: in der Mitfeier der Liturgie, im bewussten Mitleben der Zeiten des Kirchenjahres ...

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Erinnerung ist nie nur ein individuelles Geschehen. Sie lebt von Sprache und Formen, die wir im Austausch mit anderen Menschen gebildet haben. Das gilt bereits von dem Erinnern, das wir für uns allein vollziehen. Wir erinnern uns aber auch an Erlebtes, indem wir anderen davon erzählen. Das Erzählen ist nicht nur die Weitergabe von etwas bereits fertig Erinnertem; es ist selber ein produktiver Akt des Erinnerns, der Einzelereignisse wertend in einen weiteren Kontext stellt. Indem wir von uns erzählen, knüpfen wir den „roten Faden“ unserer Lebensgeschichte weiter.

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Dazu kommt, dass unsere Erfahrung erweitert wird durch die Erzählungen, die wir von anderen Menschen empfangen. Jemand erzählt uns von einem Naturerlebnis, und im Lichte dieser Erzählung erinnern wir uns an eigene Erlebnisse, und wir beginnen sie neu zu gewichten. Jemand erzählt von einer guten Erfahrung mit einer Person, die wir auch selber kennen; und vielleicht fangen wir dadurch an, diese Person selber „mit anderen Augen“ zu sehen. Ein Mensch erzählt uns von seinem Glauben an Gott ... – Glauben wird in einem hohen Maße beeinflusst durch das Glauben-Erzählen oder Glaubenszeugnis anderer Menschen.

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Der Akt des Erzählens stellt zugleich Gemeinschaft und Geschichte her. In ihm verbinden sich die beiden Grunddimensionen unserer Existenz (innerhalb der Grundkoordinaten Raum und Zeit).

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Durch die Bildung von Geschichten können wir unüberschaubare Mengen von Erfahrungen bündeln. Einzelerfahrungen werden in der Weise von Geschichten organisiert: Ich „mache mir einen Reim auf eine Sache“. Und viele einzelne Geschichten tragen bei zur Erzeugung von „Meta-Erzählungen“, die Grundsatzfragen beantworten wie „Lebe ich eine glückliche Partnerschaft?“ oder: „Was für einen Mensch bin ich?“ oder eben: „Glaube ich an Gott?“. Erzählungen stiften Identität. Das gilt nicht nur für die Identität eines einzelnen Menschen, sondern auch für die „corporate identity“ einer Gemeinschaft, eines Unternehmens (z.B.: „die Coca-Cola-Story“), eines Volkes, einer Kultur oder einer Tradition. Biblische Erzählungen waren identitätsstiftend für das alttestamentliche Israel und für die werdende Kirche.

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Unsere Erinnerung ist selber in der Form anfangshafter Erzählungen organisiert. Danach gefragt, wie es uns in diesem oder jenem Lebenszusammenhang geht, verwenden wir bereits vorhandene Erzählmuster, wir erzählen dieselbe Geschichte immer wieder neu. Dabei greifen wir auf feste Formen und Formeln zurück, z.B. wenn jemand resigniert von seinem Arbeitsplatz erzählt: „Da war ich wieder der Depp für alle“, oder wenn ein „Freikirchler“ erzählt: „Und da sprach Gott zu mir...“. Zur Darstellung und Strukturierung von selber Erlebtem verwenden wir Formeln, Stereotype, die wir von anderen übernehmen (aus Erzählungen, die uns „eingeleuchtet“ haben), die sich aber auch durch unseren eigenen Gebrauch zu ganz bestimmten Bedeutungen gebildet oder weiterentwickelt haben.

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Solche Beeinflussung unserer Erfahrungsbildung durch andere erfolgt zugleich in einer viel tieferen Weise. Das beginnt auf fundamentalster Ebene bereits mit der Sprache, die wir verwenden. Es macht einen großen Unterschied für unsere Wahrnehmung von Schnee, ob wir dafür nur das eine Grundwort „snow“ haben oder die zehn Fachbegriffe eines Bergführers oder die 50 Worte dafür, über welche die Grönländer verfügen. Für religiöse Erfahrungen sind zudem entscheidend die Begriffe, Formen und Symbole, mit denen wir von Kindheit an vertraut wurden. Längst bevor wir es theologisch analysieren konnten, sprechen wir selbstverständlich von Gott, Gnade, Gebet. Und, was noch mehr zählt: wir sind – mehr oder weniger – in eine gewisse Praxis des von-Gott-Redens, des Betens usw. hineingewachsen. Wir haben das Vaterunser gelernt, das Glaubensbekenntnis und das Kreuzzeichen. Wir konnten das schon auswendig, bevor wir den Sinn davon begriffen haben. Bereits als Kinder haben wir Gottesdienste mitgefeiert, und mit diesen Feiern hat sich ein Grundgefühl der Geborgenheit oder vielleicht auch der Verlorenheit verbunden, ohne dass wir im Detail verstanden hätten, was da abgelaufen ist. Die feierliche Zusammenkunft, der kunstvoll gestaltete Kirchenraum mit Bildern und Plastiken, die festliche Kleidung, die Dramaturgie des Gottesdienstes, die gehobene Sprachform der biblischen und liturgischen Texte und die feierliche Form ihres Vortrags, die musikalische Gestaltung, die Verwendung von Weihrauch u.v.a wirken zusammen zu einem Gesamteindruck, der all unsere Sinne erreicht. Nur einen Teil davon nehmen wir bewusst und ausdrücklich verstehend wahr. Das gilt für jeden Erwachsenen, aber mehr noch für die teilnehmenden Kinder.

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Die sonntägliche Messfeier bildet so eine vieldimensionale Symbolwelt, in der sich die religiöse Erfahrung hunderter Generationen von Christen mit ihren bis in die Anfänge der Geschichte Israels reichenden Erfahrungswurzeln räumlich und zeitlich verdichtet. Jede Skulptur, jedes Bild, jeder sakrale Gegenstand, jedes Kirchenlied, ein jeder Satz der biblischen und liturgischen Texte ist eine Verdichtung umfangreicher gewachsener Erfahrungen. Es ist unmöglich und auch nicht notwendig, all das bis zur Bewusstwerdung zu entschlüsseln. Allerdings: Wenn das Verstehen der symbolischen und dramaturgischen Formen aber weitgehend ausfällt, dann wird das, was seinem Wesen nach Verdichtung von religiöser Erfahrung ist, zur unverständlichen und bedeutungsleeren Chiffre. Der Gottesdienst wird zu einem fremdartigen, vielleicht sogar anrührenden Erlebnis, von dem aber die persönliche Welt- und Selbsterfahrung unberührt bleibt.

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Deshalb ist ein Verstehenkönnen der religiösen Symbole, Texte und Abläufe von unverzichtbarer Bedeutung. Dem Kind beginnen die Heiligendarstellungen im Kirchenraum zu sprechen, wenn man ihnen die Geschichten, die ihnen zugrunde liegen erzählt. Und auch für erwachsene Christen ist es wichtig, die Erfahrungen und Geschichten zu erschließen, die komprimierten Texten wie etwa dem Glaubensbekenntnis zugrunde liegen. Es ist dann nicht mehr notwendig, ja sogar hinderlich, dieses Wissen durch Nachdenken oder gar durch begleitende Erklärungen des Zelebranten im Verlauf der Feiern wachzurufen. Bereits das Wissen um die Lebensrelevanz dieser Symbole unterstützt den spontanen Prozess der Verknüpfung von Tradition und unserer je persönlichen Erfahrung (theologisch als Korrelation bezeichnet), – einen Prozess, der die Formen der Tradition mit neuem Leben erfüllt und der meine subjektiven Erfahrungen in einen epochalen, Raum und Zeit übergreifenden Erfahrungsraum einbettet. Meine Einzelerfahrung gelingenden Lebens (in der Liebe oder der Begegnung mit Schönem) oder eines Lebens, das sich auch noch angesichts des drohenden Scheiterns als tragfähig erweist (in der Erfahrung bestandenen Leidens oder eines Handelnkönnens, das meine durchschnittlichen Möglichkeiten übersteigt) erweist sich dann nicht nur als riskante Deutung, die ich einsam für mich allein verantworten muss, sondern als Verwirklichung eines Heilsgeschehens, das unzählige Menschen vor mir, in anderen Kulturen und Zeiten erfuhren und bezeugen.

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Lebendige Erfahrung oder erstarrte Formen?

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Zwar verhindert auch das nicht einfach Fehlinterpretationen mit verzerrten Auffassungen von Glauben, Gott und Welt, aber der lebendige Austausch mit einer breiten Erfahrungsgeschichte

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In den ersten Kapiteln haben wir versucht, Quellgebiete von lebendiger Erfahrung aufzuspüren, – Orte, wo Grundworte wie Gott, Glaube, Liebe, Schönheit in neuem, unverbrauchtem Glanz zu strahlen beginnen. In diesem Kapitel haben wir den Prozess der Formung von Erfahrungen untersucht. Wir sprachen von der „Verdichtung“ komplexer Erfahrungen zu bündigen Geschichten oder zu Symbolen, durch welche singuläre Erfahrung geschichtlich wirksam und gemeinschaftlich kommunizierbar werden. Dabei werden Formen nicht einfach neu erzeugt, sondern wir greifen immer schon zurück auf vorhandene Formen: Begriffe und geformte Erzählungen, Symbole, Riten und Traditionen.

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Solche feste Formen erweisen sich mithin als unverzichtbar, damit lebendige Einzelerfahrungen auch lebenswirksam werden können. Anderseits kennen wir das Problem, dass feste Formen die lebendige Erfahrung behindern können. Besteht nicht geradezu ein Gegensatz zwischen lebendiger Erfahrung und erstarrten Formen? Leiden die etablierten Religionen nicht an Erstarrung und Verstaubung, die das Leben ersticken anstatt es zu befördern?

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Der Prozess der Formung von Erfahrung ist immer ambivalent. Das beginnt bereits bei den ersten Ansätzen der Erfahrungsbildung, wenn man ein Erlebnis in Worte fasst um es erinnern, erzählen und in die Gesamterfahrung integrieren zu können. Es ist riskant, eine bewegende Erfahrung in Worte zu fassen. Es drohen „Schubladisierung“ und Klischeebildung. Bereits unsere Urworte, mit denen wir Lebensbestimmendes ausdrücken – Liebe, Glaube, Hoffnung, Heimat – sind vielfältig missbraucht durch Müllberge unechter Erfahrungssubstrate. Aber trotzdem: Nur indem wir unsere ursprünglichen Erfahrungen dem Prozess der Formung aussetzen, können diese unsere Welt und Geschichte verändern. Was passiert zum Beispiel, wenn ich meine Dankbarkeit für die Erfahrung glückender Liebe in ein traditionelles Gebet fasse, – indem ich zum Beispiel ein Vaterunser bete? Was sind die Chancen? Was die Gefahren?

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Oder was geschieht, wenn ein Mensch die glückliche Erfahrung seiner Bekehrung immer wieder als öffentliches Zeugnis anderen Menschen erzählt? Was sind hier die Chancen? Und wo liegt die Problematik?

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Der Prozess der Erfahrungsbildung überbrückt eine Grundspannung von Leben und Form. Diese lässt sich mit Bildern verdeutlichen, zum Beispiel im Bild von Wasser und Krug. Die lebendige Erfahrung ist das Wasser. Die Formen von Sprache, Symbol und Tradition sind der Krug. Erstarrte Traditionen sind wie ein Krug ohne Wasser. Wer aber – in glücklicher Begegnung mit einer unverfügbar aufsprudelnden Quelle – über keine Krüge verfügt, kann das Wasser nicht weitertragen, er kann es weder aufbewahren noch an andere weitergeben. Das dürre Land und die dürre Zeit bleiben ohne Bewässerung.

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Was bedeutet unsere religiöse Tradition? So viele Krüge und so wenig Wasser? Vieles, was auf den ersten Blick wie ein leerer Krug erscheint, erweist sich als verschlossener Krug. Traditionen mit ihren Verdichtungen lange gewachsener Erfahrungen können Zugänge erschließen zu verborgenen Quellen. Sie sind wie Landkarten. Was soll die verstaubte Tradition von irgendeinem Heiligenfest, oder die kitschige Form irgendeiner Heiligenverehrung. Und wenn man diesem Leben nachspürt, die Geschichten und Erzählungen dahinter – aus ferner Zeit und ferner Kultur – mühsam erschließt, dann können sich Quellen öffnen für lebendige Glaubenserfahrung, die erstaunlich fruchtbar sind auch für die heutige Zeit.

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Ein einfaches Beispiel soll die Extreme verdeutlichen. Liebe braucht Zeichen und kann doch durch Zeichen nicht ersetzt werden. Frauen haben mit ihren Ehemännern oft das Problem (nicht selten auch umgekehrt), dass Ihnen Aufmerksamkeiten, als Zeichen ihrer Liebe fehlen. Kann da die Antwort befriedigen: „Du weißt doch ohnehin, dass ich dich liebe?“ Lässt sich denn die unfassbare Essenz der Liebe abfüllen in stereotype Bräuche, am Valentinstag Blumen zu schenken und den Hochzeitstag nicht zu vergessen? Aber wo bleibt die „wahre Liebe“, wenn sie nicht durch Zeichen immer neu vergegenwärtigt wird? Anderseits sind bloße Formen wirklich unzulänglich. Das zeigt sich am sprichwörtlichen Verdacht, wenn er nun doch endlich aus eigenen Stücken Blumen nach Hause bringt: „Hat er etwa ein schlechtes Gewissen?“

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Auch starre Traditionen sind nicht einfach überflüssig. Der Zugang, der Schlüssel (um das Wasser in den verschlossenen Krügen zugänglich zu machen) kann über Zeiten verloren sein. Aber spätere Zeiten können den Schlüssel wiedergewinnen, und dann kann das scheinbar Erstarrte unvermutet neues Leben entfalten. Das ist dann wie mit dem botanischen Phänomen der „Rose von Jericho“. Völlig vertrocknet kann sie lange Zeiten überdauern, und wenn dann die Lebensbedingungen wieder günstiger werden, beginnt sie wie ein Wunder zu blühen.

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Rose

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Von daher ist ein vorschnelles Verwerfen von Traditionen höchst problematisch. Es gibt das Problem eines zeitgeistigen Ausverkaufs von Traditionen, den Kardinal Ratzinger mit der Geschichte von „Hans im Glück“ illustriert hat.

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„Die Frage, was eigentlich Inhalt und Sinn christlichen Glaubens sei, ist heute von einem Nebel der Ungewissheit umgeben wie kaum irgendwann zuvor in der Geschichte. Wer die theologische Bewegung des letzten Jahrzehnts [Text wurde verfasst im Jahr 1968] beobachtet hat und nicht zu jenen Gedankenlosen gehört, die das Neue unbesehen jederzeit auch schon für das Bessere halten, könnte sich wohl dabei an die alte Geschichte vom 'Hans im Glück' erinnert fühlen: Den Goldklumpen, der ihm zu mühsam und schwer war, vertauschte er der Reihe nach, um es bequemer zu haben, für ein Pferd, für eine Kuh, für eine Gans, für einen Schleifstein, den er endlich ins Wasser warf, ohne noch viel zu verlieren – im Gegenteil: Was er nun eintauschte, war die köstliche Gabe völliger Freiheit, wie er meinte. Wie lang seine Trunkenheit währte, wie finster der Augenblick des Erwachens aus der Geschichte seiner vermeinten Befreiung war, das auszudenken überlässt jene Geschichte, wie man weiß, der Phantasie ihrer Leser. Dem besorgten Crhisten von heute aber drängen sich nicht selten Fragen wie diese auf: Hat unsere Theologie in den letzten Jahren sich nicht vielfach auf einen ähnlichen Weg begeben? Hat sie nicht den Anspruch des Glaubens, den man allzu drückend empfand, stufenweise herunterinterpretiert, immer nur so wenig, dass nichts Wichtiges verloren schien, und doch immer so viel, dass man bald darauf den nächsten Schritt wagen konnte? Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen ließ, nicht wirklich bald statt des Goldes, mit dem er begann, nurnoch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?“ Aus dem Vorwort von Josef Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968.

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Solche Kritik ist kein Plädoyer für einen unkritischen Traditionalismus. Nicht um starres Bewahren von Traditionen geht es, sondern um deren Neubelebung. Indem man die Geschichten herausarbeitet, die den verdichteten Formen zugrunde liegen, werden Erfahrungswelten zugänglich, die nicht unkritisch zu übernehmen sind, sondern die uns in einen Prozess der Auseinandersetzung hineinziehen. Anstelle unsere höchst beschränkten Einzelerfahrungen absolut zu setzen, bringen wir sie in einen dialogischen und dramatischen Austausch mit der Erfahrung anderer. Dass diese anderen nicht nur jene Menschen sind, mit denen wir zufällig zu tun haben, sondern Menschen anderer Orte und Zeiten mit ausgewählten Erfahrungen, die sich bereits vielfach bewährt haben, das ist der Reichtum, der sich durch die Kenntnisnahme von Traditionen erschließen kann.

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Von daher erweist es sich auch als völlig unzulänglich, Tradition und Dialog gegeneinander auszuspielen. In einem richtigen Verständnis bieten Traditionen die Chance, den Dialog über die eigene Epoche hinaus auszudehnen.

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Was ich hier zeigen wollte, ist die Unverzichtbarkeit von festen Formen und Traditionen, aber auch die Chance, die in ihrer Neuerschließung und im engagierten Umgang mit ihnen liegt. Dass der faktische Umgang mit Traditionen oft ein anderer, starrer und autoritärer ist, steht auf einem anderen Blatt. Solcher Missbrauch wird durch unsere traditionsbejahenden überlegungen keineswegs gedeckt, sondern vielmehr gebrandmarkt.

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1.4 Der Glaube der Kirche in ihren Glaubensbekenntnissen

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Was ist der Glaube der Kirche? Worauf genau beziehe ich mich, wenn ich meinen Glauben im Zusammenhang einer Gemeinschaft zu artikulieren versuche, die gegenwärtig über eine Milliarde Menschen umfasst und deren Wurzeln tausende von Jahren zurückgreifen? Trotz dieser unüberschaubaren Erfahrungsgeschichte ist das, was wir als „Glauben der Kirche“ bezeichnen, in ungeheurer Schlichtheit zugänglich über kurze Texte, die unter dem Titel „Glaubensbekenntnisse“ weitergetragen werden. Gemäß dem Zugang, den wir im vorigen Kapitel erschlossen, können wir diese Texte als äußerste Verdichtungen (als Verdichtungen von Verdichtungen von Verdichtungen...) lebendiger Erfahrungsgeschichten begreifen.

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Das apostolische Glaubensbekenntnis

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Schauen wir uns das apostolische Glaubensbekenntnis an, als Beispiel eines Textes, den wir gewohnheitsmäßig in fast jeder Sonntagsmesse beten, ohne uns allzuviele Gedanken darüber zu machen.

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Ich glaube an Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
den Schöpfer des Himmels und der Erde,
und an Jesus Christus,
seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben,
hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in den Himmel;

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er sitzt zur Rechten Gottes,
des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen,
zu richten die Lebenden und die Toten
Ich glaube an den Heiligen Geist,
die heilige katholische Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden,
Auferstehung der Toten
und das ewige Leben.
Amen.

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Der Text ist kunstvoll gestaltet. Augenfällig ist die triadische, trinitarische Struktur: ein erster Teil, der Gott-Vater zugeordnet wird; in der Mitte des Textes dann Schlüsselstellen in der Geschichte Jesu Christi: Empfängnis und Geburt; Tod Auferstehung, Himmelfahrt und Erwartung seiner Wiederkunft (wobei oft kritisch bemerkt wurde, dass Jesu öffentliches Wirken ohne eigene Nennung bleibt); im dritten Teil der Glaube an den Heiligen Geist, dem auch ein Bekenntnis zur katholischen Kirche zugeordnet ist.

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Das von diesem dreifaltigen Gott ausgehende Heil wird auf umfassendste Weise der Welt in Raum und Zeit zugeschrieben: zeitlich von der Erschaffung der Welt bis zu ihrer Vollendung im ewigen Leben, und räumlich bezogen auf alles was ist – kurz umschrieben in der Wendung „Himmel und Erde“. Das Glaubensbekenntnis zentriert alles, was war, ist und sein wird, um die eine Mitte des dreieinen Gottes, der sich in liebender Selbstgabe – bis zum Äußersten des Kreuzestodes Jesu – auf die Menschen eingelassen hat.

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Das Glaubensbekenntnis ist somit die äußerste Verdichtung der Glaubensgeschichte, die sich über viele Generationen in zahllosen einzelnen Glaubenserzählungen und -artikulationen ausgeformt hat, wie wir sie in vielen Texten der Bibel des Alten und Neuen Testaments finden.

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„Nicht menschliche Willkür hat diese Zusammenschau des Glaubens verfasst, sondern die wichtigsten Lehren der ganzen Schrift sind in ihr zusammengestellt zu einer einzigen Glaubenslehre. Gleichwie der Senfsamen in einem kleinen Körnlein die vielen Zweige birgt, so enthält diese Zusammenfassung des Glaubens in wenigen Worten alle religiösen Kenntnisse des Alten und des Neuen Testamentes.“ (Cyrill v. Jerusalem. Vgl. KKK 186).

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Die triadisch-trinitarische Struktur und der Ausgriff auf die Gesamtheit von Welt in Raum und Zeit (begriffen als Heilsgeschichte) hat das Apostolische Glaubensbekenntnis gemeinsam mit einer größeren Zahl von Glaubensbekenntnissen, die in den ersten Jahrhunderten der frühen Christenheit entstanden sind. Das Apostolische Glaubensbekenntnis wurde in der heutigen (lateinischen) Textgestalt im 6. Jahrhundert in Südwestfrankreich verwendet und geht auf ein römisches Taufbekenntnis zurück, das in ausgebauter Form im 4. Jahrhundert und in einer Urform bereits im 2. Jahrhundert bezeugt ist. Seine frühesten Formen sind noch dialogisch gehalten. Der triadischen Struktur entsprechen drei Fragen, die vom Täufling jeweils mit Ja zu beantworten sind. Wir finden eine solche Form noch bei der Erneuerung des Taufversprechens in der liturgischen Feier der Osternacht:

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Priester: Glaubt ihr an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde?
Alle: Ich glaube.
Priester: Glaubt ihr an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, der geboren ist von der Jungfrau Maria, der gelitten hat und begraben wrude, von den Toten auferstand und zur Rechten des Vaters sitzt?
Alle: Ich glaube.
Priester: Glaubt ihr an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben?
Alle: Ich glaube.

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Eine Auswahl von Glaubensbekenntnissen ist zugänglich im Anfangsteil von: Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Wichtige Ausschnitte davon finden Sie auch online im Innsbrucker Theologischen Leseraum http://theol.uibk.ac.at/itl/250.html).

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Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel

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Die ausführlichere der beiden verbreitesten Fassungen des Glaubensbekenntnisses ist das so genannte „Große Glaubensbekenntnis“, – das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel.

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Wir glauben an den einen Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
der alles geschaffen hat, Himmel und Erde,
die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Und an den einen Herrn Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn,
aus dem Vater geboren vor aller Zeit:
Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater;
durch ihn ist alles geschaffen.
Für uns Menschen und zu unserem Heil
ist er vom Himmel gekommen,
hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist
von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.
Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
hat gelitten und ist begraben worden,
ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift

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und aufgefahren in den Himmel.
Er sitzet zur Rechten des Vaters
und wird wiederkommen in Herrlichkeit,
zu richten die Lebenden und die Toten;
seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Wir glauben an den Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht;
der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht,
der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,
der gesprochen hat durch die Propheten,
und die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.
Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden.
Wir erwarten die Auferstehung der Toten
und das Leben der kommenden Welt.
Amen.

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Im direkten Vergleich zum apostolischen Glaubensbekenntnis fallen die ausführlicheren Aussagen einerseits zu Jesus Christus, anderseits zum Heiligen Geist auf. Diese Einfügungen, die auf die beiden ersten Konzilien (Nizäa 325, Konstantinopel 381) zurückgehen, spiegeln massive Konflikte wider, die um das rechte Verständnis Jesu Christi und des Heiligen Geistes entstanden sind. Wenn es von Jesus Christus heißt, dass er „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“ ist, dann ist das eine äußerste Verdichtung, sozusagen das Extrakt aus einer dramatischen Geschichte, in der gegensätzliche Auffassungen über die Person Jesu Christi die Kirche spalteten. Der neu gewonnene Bekenntnisteil soll Einigungsformel sein, die den Streit beendet und im Zweifel verschiedener Meinungen die verbindliche Auffassung wiedergibt. Zugleich ist sie Sprachregelung, wie und mit welchen Worten das „rechte Bekenntnis“ wiedergegeben und kommuniziert wird. Man muss die spannende Geschichte des Ringens um den Arianismus kennen – die gegensätzlichen Auffassungen und die Tragweite, die sie für den Gottesglauben haben –, dann wird auch dieser Teil des Glaubensbekenntnisses lebendig.

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Zur Eigenart von Glaubensbekenntnissen

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In der Zeit der frühen Kirche, als die Erinnerung an die Quellen des Glaubens und seine ersten Zeugen zu verblassen begann und gegensätzliche Glaubensinterpretationen in Streit miteinander gerieten, entstanden so die Glaubensbekenntnisse als Zeichen der Vergewisserung des „wahren Glaubens“. Das Credo gilt als Richtschnur („regula fidei“; vgl. hier auch die obige Formulierung vom „roten Faden“) oder Symbol („symbolon“) für einen Glauben, der stets mehr ist als die ausdrückliche Formulierung von Sätzen. Indem ich das Glaubensbekenntnis mitspreche, stelle ich meinen Glauben, der mein Selbst- und Weltverständnis trägt, in den übergreifenden Erfahrungszusammenhang der christlichen Heilsgeschichte hinein. Ich erkläre den Glauben der Kirche zugleich als meinen Glauben. Dieser Glaube der Kirche ist zusammengefasst im Glaubensbekenntnis, das wie ein roter Faden (vgl. oben...) die grundlegende Glaubenserfahrung der Christen und ihrer bestimmenden Ur-Zeugen (z.B. der heilsgeschichtlichen Personen im Alten Testament) zusammenknüpft. Mit dieser Verdichtung der Glaubenserfahrungen vieler Generationen bejahe ich diese Glaubenserfahrungen selber. Da mir diese nie in ihrer Gesamtheit zugänglich sind, wird mit dem Glaubensbekenntnis vor allem auch die Bereitschaft ausgedrückt, die eigenen Glaubenserfahrungen immer neu vor dem – niemals voll einholbaren – Hintergrund dieser leitenden jüdisch-christlichen Glaubenserfahrungen zu verstehen.

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Wir haben damit zwei Aspekte, die bestimmend sind für ein Glaubensbekenntnis:

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1. „inhaltlich“, – den Inhalt des Glaubensbekenntnisses betreffend: die bis zu festen Sprachformen erfolgte Verdichtung einer religiösen Glaubensgeschichte (mit jenen Momenten, die wir Anfangs am Akt des Glaubens bereits erschlossen haben: Erkenntnis, Entscheidung und Erfahrung von Gnade)

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2. „performativ“, – den Vollzug des Glauben- Bekennens betreffend: Ein durch das Nach- und Mitsprechen dieses Bekenntnisses erfolgendes Sichhineinstellen in diese religiöse Glaubensgeschichte

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Biblische Glaubensbekenntnisse

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Nehmen wir diese beiden Punkte als Kriterien für Glaubensbekenntnisse, dann finden wir Glaubensbekenntnisse schon in früherer Zeit, nämlich in biblischen Texten.

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So ist für die frühesten Christen – mit Paulus – das Bekenntnis zum Gott Jesu Christi maßgeblich. Und dieses Bekenntnis konkretisiert sich im Bekenntnis zu Jesus Christus, und zwar nicht nur zur Gott- erschließenden Bedeutung seines irdischen Wirkens, sondern mehr noch in seinem Tod und in seiner Auferstehung, – Ereignisse, die gemeinhin als Beweis des Scheiterns bzw. als völlig unglaubwürdig verstanden wurden. Gerade in seiner Auferstehung würde sich das machtvolle Handeln des Gottes Jesu Christi bestätigen. Und von daher konnte Jesu Kreuzestod nicht mehr als Scheitern, sondern als sinnvoller Teil von Gottes Heilsplan verstanden werden: Jesus ist zu unserem Heil gestorben. Damit wurde das Bekenntnis zu Tod und Auferstehung Jesu Christi zum unterscheidenden Spezifikum christlichen Glaubens.

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„Denn wenn du mit deinem Mund bekennst: «Jesus ist der Herr» und in deinem Herzen glaubst: «Gott hat ihn von den Toten auferweckt», so wirst du gerettet werden. Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird gerechtigkeit und Heil erlangen.“ (Röm 10,9f)

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Oder in einer geformten Bekenntnisrede, auf das bereits Paulus zurückgegriffen hat:

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„Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der «Missgeburt».“ (1 Kor 15,3-8)

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Diese neutestamentlichen Bekenntnisse stehen ganz selbstverständlich im Rahmen des alttestamentlich vorgeprägten Gottesverständnisses. Sie sind nicht Ersatz, sondern Weiterbestimmung jenes Glaubens, den das Alte Testament tradiert.

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Die Texte des Alten Testaments bezeugen durchgängig einen Gott, der allmächtig und beschützend zugleich ist. Immer wieder erweist Gott sich als allen anderen bedrohlichen und faszinierenden Mächten überlegen. Und es ist dieser souveräne Gott, der sich in freier Initiative Israel als sein Volk erwählt hat und es einen Weg der Befreiung führt. Das wird in zahllosen Geschichten des Alten Testaments immer neu erzählt. Die bedeutendste Erzählung ist jene von der Herausführung Israels (bzw. seiner in losen Verbänden organisierten Vorfahren) aus der Knechtschaft in Ägypten. Die frommen Juden wurden angehalten, dieses Ereignis in ihren Familien über die Generationen weiterzutradieren. So wurde es Teil jenes roten Fadens, mit dem Israel die Fragen beantwortete, wer es sei und wer sein Gott ist.

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„Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten und die Stärke des Herrn, die Wunder die er getan hat.“ Ps 78,3f; vgl. Dtn 4,9f.

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Die über Generationen weitergetragenen Glaubensgeschichten verdichteten sich zu Glaubensbekenntnissen, die in fester Form zu besonderen Anlässen bekannt wurden. Sie wurden Teil einer geformten Liturgie, die das religiöse Selbstverständnis einer religiösen Gemeinschaft über viele Generationen hinweg bestimmen konnte.

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Eine solche Urform eines Glaubensbekenntnisses, die noch stark erzählerisch ausgerichtet ist, ist das kleine heilsgeschichtliche Credo im Alten Testament:

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„Du aber sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen.“ (Dtn 26,5-9)

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Die Erfahrung der Befreiung führte zur Selbstverpflichtung. Diesem allmächtigen und beschützenden Gott sollten sich die Israeliten restlos ausliefern, mit allen Kräften und mit allen Mitteln der Erinnerung und Symbolbildung, die ihnen zur Verfügung standen. Zweimal täglich, jeden Morgen und jeden Abend, sollte der fromme Jude das „Schema Israel“ beten:

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„Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.“ Dtn 6,4-9; vgl. Dtn 11,13-21 und Num 15,37-41.

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Zusammenfassung

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Wir versuchten Glaubensbekenntnisse zu begreifen als Identität stiftende Verdichtungen von Glaubenserzählungen. Die zugrunde liegende Erzählform ist in den „Credos“ des Alten Testaments noch deutlich wahrnehmbar. Auch die Credos des Neuen Testaments sind Verdichtungen einer Geschichte, – hier der Geschichte des Jesus von Nazareth. Dieses Bekenntnis wollte den alttestamentlichen Glauben an Gott keineswegs ersetzen, sondern konkretisieren. Der Gott, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat, hat sein Heilshandeln fortgesetzt und vollendet in der Auferweckung des gekreuzigten Jesus, – zugleich Urform der Hoffnung auf die Auferweckung aller Toten. In der frühen Kirche wurde das neutestamentliche Bekenntnis zum Gottesmittler Jesus Christus zusammengeführt mit dem alttestamentlichen Bekenntnis zum geschichtlich handelnden Gott – ausgedrückt im bereits alttestamentlich vorhandenen Bekenntnis zum Gott als Schöpfer von Himmel und Erde.

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1.5 Wie von Gott reden?

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Gott in und über der Welt

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Was können wir nach dem Bisherigen über Gott sagen? Wo finden wir Gott? Zwei entgegengesetzte Aussagen drängen sich auf. Einerseits der faszinierende Gedanke, dass Gott in allen Menschen und Dingen gefunden werden kann. Anderseits die demütige Einsicht, dass nichts was wir in dieser Welt finden, einfachhin Gott ist. Wir finden Gott in der Welt, aber zugleich so, dass er über der Welt steht. Wir finden ihn in unseren Erfahrungen, aber zugleich so, dass er sich über diesen Erfahrungen (oder: jenseits dieser Erfahrungen) als der niemals ganz Fassbare verbirgt.

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Um die Tragweite dieses „in-über“ zu erschließen, wollen wir es an einem Beispiel verdeutlichen. An der Erfahrung der glückenden Liebe zwischen zwei Menschen haben wir gezeigt: Aus dieser Liebe erwächst eine Dankbarkeit, die ein Ziel, ein Du sucht, das sie zunächst im Liebend-Geliebten Anderen findet. Aus meiner eigenen Erfahrung des Liebenkönnens weiß ich aber, dass wir unser Liebenkönnen selbst nochmals einer Macht verdanken, die über uns steht. Diese Macht haben wir Gott genannt. Damit finden wir Gott als das Ziel der eigenen Dankbarkeit nicht einfach im Anderen, aber auch nicht einfach an ihm vorbei. Wir finden Gott in und zugleich über der geliebten anderen Person.

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Zwei Extreme oder Straßengräben sind durch dieses „In-über“ zurückgewiesen.

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Erstens ein „Supranaturalismus“, der Gott nur über und nicht in der erfahrbaren Welt zu finden meint. Welterfahrung und mitmenschliche Erfahrung sind in solcher Position entwertet gegenüber einem vermeintlichen Direktzugang zu Gott, – entweder in weltlos begriffener mystischer Erfahrung oder in fundamentalistisch verabsolutierten Offenbarungsquellen. Es gibt auch eine moralische Variante dieser Extremposition, die ich an einem Beispiel verdeutlichen will:

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Ein Kranker war tief berührt durch die liebende Fürsorge, die ihm eine Krankenschwester zukommen ließ. Er fragte sie, wie sie zu solch aufopfernder Liebe zu einem Fremden fähig wäre. Die Schwester antwortete, das habe sie allein um Gottes Willen getan.

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Das kann auch in einem akzeptablen Sinn gemeint werden. Dem Kranken kam aber der enttäuschende Verdacht, dass es der Pflegerin überhaupt nicht um ihn gegangen sei, sondern dass er von ihr zu einem Objekt degradiert wurde, an dem sie ihre Gottesliebe erproben konnte.

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In den entgegengesetzten Straßengraben fährt eine Auffassung, nach der Gott ausschließlich in und nicht über der erfahrbaren Welt zu finden sei. Glaube an Gott wird damit restlos zurückgeführt auf einen Glauben zwischen Menschen. Das Wort „Gott“ dient dabei nur mehr zur respektvollen Umschreibung des Guten und Schönen in der Welt und im Menschen. Lassen Sie mich die Problematik einer solchen Position am Erfahrungsbereich zwischenmenschlicher Liebe verdeutlichen: Was bedeutet es, wenn meine Dankbarkeit für mein Geliebt- und Getragenwerden sich ganz und ausschließlich auf den geliebten Anderen richtet? Damit räume ich ihm einen Stellenwert ein, den er für mich auf die Dauer nicht erfüllen kann. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Soziologen weisen darauf hin, dass die hohe Scheidungsrate auch mit übersteigerten Erwartungen zusammenhängen, die an den Partner im Sinne eines romantischen Liebesideals gestellt werden. Wer die geliebte Partnerin vergöttert, wird es ihr auf lange Sicht nicht verzeihen können, dass sie für ihn nicht Gott ist.

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Wir können dieses In-über-Verhältnis auch ausdrücken, indem wir sagen: überall in der Welt („in allen Dingen“) sind Spuren von Gott. Alles kann uns zum Gleichnis, zum Hinweis, zum Verweis auf Gott werden. Aber, und das war die zweite, gegenläufige Einsicht: Nichts von alldem ist Gott selber, es ist nur Spur! Aber immerhin, es ist Spur. Nirgends ist der Verweis auf Gott selbstverständlich gegeben; aber überall und immer besteht die Chance, Gott zu finden.

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Die drei Wege in der Rede von Gott: affirmativ - negativ - überbietend

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Unsere Erfahrung gibt uns kein abschließendes Wissen von Gott. Aber es stellt uns Spuren dafür zur Verfügung. Was wir an Wahrem, Schönem und Gutem in der Welt vorfinden, weist uns die Richtung, wie wir von Gott denken können. Wir haben Gottes Spuren aus Spitzenerfahrungen der Liebe und des Schönen erschlossen. In solchen Erfahrungen wird das, was wir von Wahrhaftigkeit, Güte und Schönheit immer schon kennen, überstiegen und erscheint uns in vollkommenerer Form. Wir sind einer Bewegung gefolgt vom Durchschnittlichen zum Vollkommeneren. Diese Bewegung gibt eine Richtung vor, von der wir sagen können, sie weist uns zum vollkommenen Wahren, Guten und Schönen. Und das meinen wir, wenn wir von Gottes Wahrheit, Güte und Schönheit sprechen.

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Damit sind wir in der Rede von Gott einem klassischen Dreischritt gefolgt: Zuerst schreiben wir Gott Eigenschaften zu, die uns aus unserer Welterfahrung zugänglich sind. Zweitens müssen wir sie Gott absprechen, weil Gott sich von allem in unserer Welt Erfahrbaren nochmals unterscheidet. Drittens sprechen wir Gott diese Eigenschaften nochmals zu, aber auf eine höhere, vollkommenere Weise, wie sie uns in unserer Erfahrung greifbar ist.

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In der Tradition der Theologie wird dementsprechend in Bezug auf eine angemessene Gottesrede von drei Schritten gesprochen:

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1. Positiver Zugangs-Weg (lateinisch: via affirmativa): Gott ist gerecht. – So wie ich geglückte Erfahrungen von gerechtigkeit gemacht habe, so stelle ich mir auch Gottes gerechtigkeit vor.

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2. Negativer Korrektur-Weg (lateinisch: via negativa): Gott ist nicht gerecht. – Jede Erfahrung von gerechtigkeit ist auch begrenzt, da ist immer auch ein gewisses Maß von Unrecht oder von einem dem-Anderen-nicht-gerecht- Werden dabei. Und im Blick auf diese Begrenztheit real erfahrener gerechtigkeit muss ich sagen: Nein, so ist Gott nicht. In diesem Sinn: Gott ist nicht gerecht.

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3. überbietender Weg (lateinisch: via eminentiae): Gott ist mehr als gerecht, oder: Gott ist in einer höheren Weise gerecht. – Damit sind nun die beiden ersten Ansätze miteinander in eine Übereinstimmung gebracht.

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Diese „drei Wege“ haben eine lange Tradition in der Geschichte der Theologie. Thomas von Aquin sprach von ihnen, wobei er selber auf Dionysius Areopagita zurückgriff. In der Form eines Gebetes finden wir die „drei Wege“ schon bei Augustinus:

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Du also, Herr, hast Himmel und Erde erschaffen,
der du schön bist – denn sie sind schön;
der du gut bist – denn sie sind gut;
der du bist – denn sie sind.
[... = via affirmativa]

Doch sind sie nicht in der Weise schön
und sind nicht in der Weise gut
und nicht in der Weise sind sie,
wie du, ihr Schöpfer,
[... = via negativa]

mit dem verglichen sie weder schön sind
noch gut sind
noch sind
[... = via eminentiae]
Augustinus, Bekenntnisse 11,4,4.

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Die Begriffe, mit denen wir von Gott sprechen, sind unscharf (analog)

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Wir haben die „drei Wege“ in der Gottesrede am Beispiel der gerechtigkeit verdeutlicht. Der Dreischritt „gerecht“ – „nicht gerecht“ – „in höherem Maße gerecht“ ist nur möglich, wenn das Wort gerechtigkeit auf eine unscharfe Weise verwendet wird. Er wäre unmöglich mit einem „technischen“, trennscharfen Begriff von gerechtigkeit, mit dem wir für jeden konkreten Fall eindeutig festlegen könnten: „Das ist gerecht“ oder „Das ist nicht gerecht.“ In einem solchen Fall hätte die Rede von „in höherem Maße gerecht“ keinen Sinn. Wenn wir aber von gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Liebe, Güte oder Schönheit sprechen, dann sind das Begriffe, die eine Grundqualitäten unseres Daseins ansprechen, von denen wir immer schon eine Ahnung haben und von der wir in der konkreten Wirklichkeit feststellen, dass sie mehr oder weniger verfehlt wurden. Es sind unscharfe, oder – in der philosophischen Fachterminologie – analoge Begriffe. Nur mit solchen Begriffen ist der Dreischritt zur Gottesrede möglich.

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Ist damit Theologie unwissenschaftlich, weil sie mit unscharfen Begriffen arbeitet? Die Naturwissenschaften arbeiten weithin (aber nicht ausschließlich!) mit trennscharfen – oder in philosophischer Fachterminologie – univoken Begriffen. Wirklichkeit wird quantifizierbar und manipulierbar, und daraus ergibt sich ein ungeheures technisch-weltgestaltendes Potential. Die faszinierenden technischen Fortschritte haben immer wieder dazu verführt, dieses naturwissenschaftliche Ideal als Maßstab für alles Wissen und für alle Wissenschaft zu bestimmen. Dabei wird übersehen, dass die technische Weltgestaltungsmacht erzielt wird durch eine konsequente Reduzierung auf jene Wirklichkeitsbereiche, die tatsächlich quantifizierbar sind. Der Versuch, trennscharfe Begriffe in andere Bereiche (der Humanwissenschaften, der Philosophie oder der Theologie) einzuführen, ist nicht wissenschaftlich, sondern ausdrücklich unwissenschaftlich, weil nämlich damit Wirklichkeit mit Methoden angegangen werden, die dieser Wirklichkeit nicht entsprechen. Das wäre so, als versuchte jemand, mit einem Mikroskop das Weltall zu erforschen, oder – mit einem sachgemäßeren Vergleich – mit einem Dezibel-Messgerät das Wesen einer Symphonie zu erfassen.

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In der Rede von Gott arbeiten wir also mit „unscharfen“ Begriffen, die für Wirklichkeiten stehen, die einander ähnlich oder mit dem philosophischen Fachwort „analog“ sind. Deshalb nennen wir diese Weise, von Gott durch Zusprechung, Absprechung und überbietender Zusprechung von Eigenschaften zu sprechen, analoge Rede von Gott. Wenn wir den Begriff „gerecht“ einmal auf Menschen und ein anderes mal auf Gott anwenden, dann haben wir damit zwei Bedeutungen von gerechtigkeit, die nicht identisch, aber auch nicht völlig verschieden sind, sondern einander ähnlich, oder eben: analog.

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Gefahr von analoger Gottesrede: Abgründe werden leicht überbrückt

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Das Verführerische an den Regeln einer analogen Gottesrede ist, dass sie so einfach handhabbar sind. Gott ist gerecht – Gott ist nicht gerecht – Gott ist auf eine höhere Weise gerecht. Damit werden geradezu spielerisch die Abgründe der negativen Theologie umschifft mit ihrer tiefen Einsicht, dass alles was wir von Gott aussagen unzulänglich ist, und dass es deshalb oft besser ist zu schweigen als mit viel Gerede das unfassbare Geheimnis Gottes zu verwässern. Aber wir können uns nicht leisten, einfach über Gott zu schweigen. So müssen wir das ganze Gewicht unserer Erfahrungen diesem so leichtgewichtig erscheinenden Sprachspiel auflasten. „Gott ist gerecht – Gott ist nicht gerecht – Gott ist auf eine höhere Weise gerecht“.

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In solchem schnell dahingesponnenem Dreischritt sind Abgründe zusammengefasst, die Menschen in äußerster Verzweiflung durchschritten haben. Was sich da so leichthin sagen lässt, ist die Bewegung des Wachsens, Zerbrechens und vertieften Wiederfindens von Gottesbildern. Das schreibt sich in Lebensgeschichten ein, wenn ein an Gott glaubender Mensch – wie Ijob– mit einem Leid konfrontiert wird, das er nicht versteht und nicht verdient hat. „Warum, o Gott!?“ schreit er hinaus, und mit diesem Schrei zerbricht ihm die vertraute Gewissheit, dass da ein Gott ist, der allmächtig, allwissend und gut ist. Das ist das ganze Gewicht des zweiten Schrittes, der sich so einfach in die vier Worte fassen lässt: „Gott ist nicht gerecht.“ Es gehört zum Schlimmsten, was einem derart Verzweifelten noch zustoßen kann, wenn ein wohlmeinender Christ und Theologe ihm dann noch erklärt, dass das ganze ja gewiss einen tieferen Sinn hat, und dass Gott nicht einfach ungerecht ist, sondern auf eine höhere Weise gerecht. Das mag stimmen, aber es kann nicht durchdacht, es muss durchschritten werden! Am Anfang dieses Weges ist solche Auflösung der blanke Hohn. So stolpert die verzweifelte Person durch ihre Verzweiflung. Die Werte ihres Lebens werden ihr durchgerüttelt, und irgendwann, vielleicht nach Jahren, hat sie – möglicherweise – den Punkt erreicht, wo sie sagen kann „es war gut“. Erst dann kann sie den dritten Satz sagen: „Gott ist auf eine höhere Weise gerecht.“

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Nicht anders verhält es sich mit Gottesbezeichnungen, zum Beispiel mit der Rede von Gott als Vater oder als Mutter. Einem Menschen kann Gott erscheinen wie eine liebende Mutter. Durch harte Erfahrungen kann dieses Gottesbild zerbrechen. Das ist möglich durch große Enttäuschungen mit der eigenen Mutter, die den Begriff der Mutterliebe kaputt macht. (Wie viele Menschen haben etwa riesige Probleme zu beten „Vater unser“, weil sie tief von ihrem leiblichen Vater enttäuscht sind!). Oder durch schwere Schicksalsschläge, die an der Güte, Macht und Hilfsbereitschaft Gottes zweifeln lassen. Manchmal allerdings können Menschen erzählen, dass sie durch schwere Schicksalsschläge zu tieferen, stärkeren Formen des Glaubens hindurchgereift sind. Das Leben hat an Gewicht und Schwere gewonnen (was für ein Glück ist es auf einmal, nur gesund zu sein!); zweifelhafte Lebensziele haben ihre Bedeutung verloren; neue, tiefere Werte beginnen das Leben zu bestimmen. Das frühere Gottesbild bleibt zerbrochen (etwa: Gott als die Mami, die immer da ist, wenn man sie braucht). Aber durch die Reifungserfahrung hindurch ist ein neues, tieferes Gottesbild gewachsen, das auch Elemente der früheren Vorstellungen beinhaltet (Gott ist wieder liebende Mutter, aber die Vorstellung der beliebigen Verfügbarkeit Gottes ist geschwunden). Der Prozess des Entstehens, Zerbrechens und vertieften Neuentstehens von Gottesbildern entspricht den drei Wegen in der Gottesrede, die wir oben behandelten: positive Zusprechung – negative Absprechung – überbietende Neu- Zusprechung. Nur ist das, was ursprünglich wie eine harmlose Begriffsübung erschien, nun mit dem ganzen Gewicht menschlicher Schicksale belastet. über solche Wege offenbart Gott sich als der unfassbare, immer Größere, der durch keine Vorstellung eingefangen werden kann. Das gilt für das Leben einzelner Menschen, aber auch für den heilsgeschichtlichen Weg, den ganze Völker durchgegangen sind, – maßgeblich das israelische „Volk Gottes“ im Alten Testament.

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Was so für die Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen gilt, gilt in umfassender Weise auch für die gemeinschaftliche Glaubensgeschichte, exemplarisch für das Volk Israel. In dem Ereignis des Auszugs aus Ägypten mit dem Durchzug durch das Rote Meer hat Israel gelernt: „Gott ist mit uns“. Das gemeinschaftliche und geschichtliche Weitertragen dieses Glaubens diente nicht nur seiner Bewahrung, sondern auch seiner Bewährung angesichts von Erfahrungen, die zunächst als das blanke Gegenteil erscheinen mussten. Als Israel nach dem Höhepunkt politischer Machterfahrung (zu Davids und Salomos Zeiten) zunehmend Misserfolge einstecken musste, bis zuletzt seine Führer ins Exil verbannt wurden, da zerbrach zunächst die Glaubensgewissheit. Das war die Zeit des zweiten Satzes, des Gegen- Satzes: „Gott ist nicht mit uns“. Es gehört zur Größe Israels, dass es sich diesem Einwand offenen Auges stellte. Es war ein dramatischer, grundstürzender Prozess, bis Israel zum Bekenntnis des dritten Satzes gelangte: „Gott ist mit uns, aber auf eine andere, höhere Weise als wir uns das bisher vorgestellt hatten.“ Bis das erreicht war, geriet ungeheuer viel in Bewegung. Und von hintennach kann man sagen. Gott sei Dank ist der Glaube an das „Gott ist mit uns“ des ersten Satzes zerbrochen. Denn so konnte vieles höchst Uneindeutiges überwunden werden. Die Verwechslung Gottes mit einem Siegergott, der das eigene Volk rettet und die Fremden mühelos über die klinge springen lässt. Das präpotente Überlegenheitsgefühl über die anderen, nicht Erwählten. Die Einsicht in die eigene Machtlosigkeit, den Bund mit Gott zu halten. Und was resultierte, war der Glauben an einen Gott, der nicht nur Herrscher des eigenen Volkes ist, sondern Herr der ganzen Welt. Es gibt sehr zu denken, dass die tiefsten Aussagen über Gott – vom Monotheismus bis zum Vertrauen, dass Gott den Menschen in jeder Situation nahe ist, in der Fremde und selbst im Tod – in der Phase der äußersten Entmächtigung Israels entstanden sind, in der Zeit des Exils.

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Problematik der „3-Wege-Analogie“

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Man kann sich die analoge Gottesrede mit dem Dreischritt positiv- negativ- überbietend mit dem Bild eines Pfeiles veranschaulichen. Der Pfeil weist von Situationen, die weniger gerecht sind, hin zu Situationen die eher mehr gerecht sind. Diesen Pfeil können wir nun verlängern, über den Bereich unserer konkreten Erfahrungen hinaus, – hin in Bereiche von vorstellbaren aber nicht erfahrenen Formen noch größerer gerechtigkeit. Und wir können uns vorstellen: In äußerster Verlängerung weist dieser gerechtigkeits- Pfeil auf den fernen, unsagbaren Gott mit seiner gerechtigkeit, die größer ist als alle vorstellbare gerechtigkeit.

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Analogie1

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Die „Pfeil-Form der analogen Gottesrede“ macht allerdings auch ein Problem deutlich. Woher will ich wissen und mich mit anderen darüber verständigen, was „mehr gerecht“ bedeutet. Der eine stellt sich darunter mehr Strenge vor, die andere mehr Genauigkeit bei der Urteilsverkündigung, der dritte vielleicht mehr Menschlichkeit, indem man auch der Schwäche der betroffenen Menschen „gerecht“ wird. Im Bild gesprochen: Es ist keineswegs klar, in welche Richtung der Pfeil weisen soll, und so gehen dann auch die Vorstellungen vom gerechten Gott auseinander.

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Gottesrede als „Schnittpunkt von verschiedenen Aussage-Linien“

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Diese Unbestimmtheit der 3-Wege-Analogie lässt sich niemals ganz in den Griff bekommen, aber es gibt eine zweite Form der analogen Gottesrede, die ein wenig weiter hilft. Bleiben wir dazu beim Bild mit dem Pfeil. Nun berücksichtigen wir, dass es ja auch andere Werte und damit: „Pfeile“ gibt, die sozusagen quer stehen zur erstgenannten von der gerechtigkeit. Etwa Gottes Barmherzigkeit. Dass sie in unserer Welterfahrung oft „quer“ steht zur gerechtigkeit, zeigt zum Beispiel die Aufforderung: „Lass Gnade vor Recht ergehen!“. Zeichnen wir also nun einen zweiten Pfeil, der für die Barmherzigkeit steht. Auch hier gibt es die Möglichkeit der Steigerung von kleinerer zu größerer Barmherzigkeit. Und in der äußersten Verlängerung des Pfeiles über das begrenzte Feld unserer Erfahrungen hinaus würde dann Gottes Barmherzigkeit stehen.

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Analogie2

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Nun zu unserer Frage, in welche Richtung größere gerechtigkeit oder größere Barmherzigkeit gehen soll. Hier gibt es nun folgende naheliegende Annahme: Gottes gerechtigkeit ist auf diese Weise bzw. in dieser Richtung größer als die gerechtigkeit, die wir kennen, dass vollkommene gerechtigkeit und vollkommene Barmherzigkeit ohne Widerspruch zusammengehen. Wenn ich mich also von unseren begrenzten Vorstellungen von gerechtigkeit hin zu Gottes gerechtigkeit vorarbeite, werde ich irgendwann mit Erstaunen feststellen: Diese gerechtigkeit ist ja zugleich auch die vollkommene Barmherzigkeit. Und umgekehrt: Wenn ich mich von meinen Vorstellungen mittelmäßiger Barmherzigkeit (etwa: „Da drücken wir beide Augen zu“) vortaste zu der Barmherzigkeit, die ich (z.B. aus der Bibel) von Gott mitbekomme, stelle ich voll Staunen fest, dass sie dem Anderen zugleich auf eine vollkommenere Weise gerecht wird als ich es für möglich gehalten hätte. Im Bild: Die Pfeile für „gerechtigkeit“ und „Barmherzigkeit“ treffen sich in einem für unsere Erfahrung direkt nicht zugänglichen Bereich, der für Gott steht. Und durch dieses Zusammenfallen (Konvergieren) der Pfeile wird den Pfeilen zugleich eine bestimmte Richtung vorgegeben.

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Eine solche Form der analogen Gottesrede hat Anselm von Canterbury im Mittelalter versucht. In seinem berühmten Buch „Warum Gott Mensch wurde“ (Cur Deus homo) versuchte er zu zeigen, dass in der Erlösung, die Jesus Christus für die sündigen Menschen bewirkt hat, auf eine unausdenkbare, staunenswerte Weise die größere gerechtigkeit zugleich die größere Barmherzigkeit ist. So zeigt sich, dass Gott größer ist als all unsere Vorstellungen von ihm, indem bei ihm gerechtigkeit und Barmherzigkeit ganz zusammenfallen. Die Durchführung dieses Programms war Anselms Lehre von der Genugtuung, die Jesus mit seinem Kreuzestod für die Sündenschuld der Menschen leistete. So beeindruckend die Grundidee war, gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammenzudenken, – die Weise seiner Durchführung erschloss doch wieder nur eine Spur von Gott. Und Spuren können immer auch in die Irre führen. So war es dann auch mit Anselms Lehre von der Genugtuung. Sie hat in den folgenden Jahrhunderten bis heute zu schlimmsten Missverständnissen geführt: durch sie erschien unzähligen Menschen nicht als grenzenlos barmherzig, sondern im Gegenteil als höchst unbarmherzig, ja geradezu als blutrünstig. Vergröbernde Weiterführungen von Anselms Lehre erweckten den Anschein, als ob Gott Vater sich nur durch das Kreuzesopfer seines Sohnes von seinem Groll gegen die Sünder besänftigen ließ. Ein solches Verständnis ließ Gott nicht nur als unbarmherzig, sondern auch als ungerecht erscheinen. Zwar kann man Anselms Genugtuungslehre auch ganz anders verstehen: Vor mehr als 800 Jahren entwickelte sie bereits ein bemerkenswertes Gespür für die aktuelle Einsicht, dass Barmherzigkeit und Vergebung den Menschen nicht einfach übergestülpt werden können (indem einer einfach beide Augen zudrückt), sondern dazu befähigen muss, dass ein Mensch sich aus dem Innersten heraus neu verhält. Recht verstanden geht es Anselm mit seiner Lehre von der Genugtuung um die Einsicht, dass man Schuld nicht einfach unter den Teppich kehren darf, sondern dass sie aufgearbeitet werden muss (eine höchst aktuelle Einsicht für die heutige Kirche, die allzuoft dazu neigte, das Versagen ihrer Vertreter unter den Teppich zu kehren; - vgl. die aktuellen Pädophilieskandale von Priestern). Und dazu ist eine ernsthafte Konfrontation mit ihr unerlässlich. Wenn Menschen selber dazu beitragen können, dass sie ihre schuldhafte Entfremdung vom göttlichen Sinnziel des Lebens überwinden, dann ist das eben die größere Barmherzigkeit, gerade weil sie dem Menschen in ihrer Freiheit und Würde mehr gerecht wird als es ein bloßes Augenzudrücken vermöchte.

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Damit bietet Anselms Lehre von der Genugtuung (mit dem theologischen Fachwort: Anselms Satisfaktionslehre) ein Beispiel für eine analoge Rede von Gott, die durch das Gegenseitig- Annähern von zwei oder mehreren Begriffen für Gott erreicht wird. Und die traurige Wirkungsgeschichte dieses theologischen Versuchs zeigt, dass auch hochtheologische Versuche der Gottesrede nur Spuren vom wahren Wesen Gottes liefern und deshalb hochgradig missverständlich bleiben.

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Anselms Vorgangsweise zeigt uns, dass wir es in der Rede von Gott mit widersprechenden Aussagen zu tun bekommen (hier: Barmherzigkeit und gerechtigkeit), und dass diese Widersprüche uns dazu herausfordern, unsere gewohnten Begriffe (von Barmherzigkeit und gerechtigkeit) zu überdenken und zu korrigieren, – so lange, bis die Aussagen über Gottes Barmherzigkeit und über seine gerechtigkeit miteinander in Übereinstimmung gelangen. Wenn uns das gelingt, haben wir zwar immer noch keine Sicherheit, dass wir Gottes Wesen voll erfasst haben, aber wir haben guten Grund zur Hoffnung, dass wir dem wahren Wesen Gottes etwas näher gekommen sind. Durch diese Vorgehensweise vertiefen wir nicht nur unser Verständnis von Gott, sondern verbessern zugleich unsere Vorstellungen von dem, was gerechtigkeit und Barmherzigkeit bedeuten kann. Und das hilft uns beim Verständnis unserer innerweltlichen Wirklichkeiten, bei denen es ja immer auch um gerechtigkeit und Barmherzigkeit geht. Theologie führt uns zur Korrektur unserer leitenden Begriffe, (durch eine richtiggehende „Bekehrung des Denkens“) und ermöglicht uns damit nicht nur ein verbessertes Gottesverständnis sondern zugleich und ineins damit ein verbessertes Weltverständnis (bzw. es zeigt uns, in welche Richtung wir uns bemühen könnten, damit unsere Welt ein klein wenig besser wird). Um diese Doppelwirkung und Wechselwirkung werden wir uns in diesem Kurs immer wieder bemühen.

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Entscheidend dabei wird durchgehend sein, dass wir den Gegensätzen und Widersprüchen nicht aus dem Weg gehen, sondern sie sogar suchen. Denn sie fordern uns zur Korrektur unserer Vorstellungen heraus und führen uns so näher zum Verständnis von Gott. Immer wieder werden wir extreme Gegensätze feststellen, sozusagen Straßengräben, und zwischen ihnen den richtigen Mittelweg suchen. So haben wir es ja bereits am Anfang gemacht, als wir einen Mittelweg suchten zwischen den zwei Extrempositionen oder Straßengräben, dass Gott überall ist und dass Gott nirgends ist.

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Manchmal werden wir auch mit mehreren gegensätzlichen Positionen zu tun bekommen. Zum Beispiel im Versuch, die Bedeutung Jesu Christi zu verstehen. Nach kirchlicher Lehre haben wir es ja dabei nicht bloß mit einem besonderen Menschen zu tun, sondern mit Gott selber. Und deshalb muss das Prinzip, dass wir uns dem Wesen Gottes nur in Spuren annähern können, auch für den Versuch gelten, die Bedeutung Jesu Christi zu verstehen. Und da gibt es verschiedenste Ansätze, die sich auf den ersten Blick völlig auszuschließen scheinen. Den einen ist Jesus Christus mit seinen Worten, seinen Taten und seinem Einsatz für die Außenseiter vor allem ein Vorbild, dem wir nacheifern müssen. Andere betonen das was Jesus für uns gewirkt hat und was wir aus eigenem nie bewirken können: etwa die Überwindung unserer Verstrickung in die Sünde. Da wird dann Jesu Tod am Kreuz ganz in den Mittelpunkt gerückt. Und diese Position wird oft gegen die erstgenannte ausgespielt. Dann gibt es wieder andere, für die das Heil in Jesu Auferstehung liegt, oder in seiner Menschwerdung, – in dem Umstand, dass Gott selber den Menschen in Jesus Christus ganz nahegekommen ist. Solchen verschiedenen Theologien liegen meist auch gegensätzliche Formen von Spiritualität zu Grunde. Herausgefordert durch gesellschaftliche Ungerechtigkeiten oder durch Unglücksfälle und Krankheiten krempeln die einen die Hemdsärmel hinauf und bemühen sich um den tätigen und kritischen Einsatz: Handeln wie Jesus gehandelt hat und gehandelt hätte. Denn „Christus hat keine anderen Hände als unsere“. Andere ziehen sich zurück ins Gebet und erhoffen sich dadurch eine Veränderung. So gibt es die Aktivisten und die Beter – in den Pfarrgemeinden ebenso wie in der Weltkirche, und allzuoft können sie sich gegenseitig überhaupt nicht riechen.

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Jede Position kann genügend Argumente und Bibelstellen für sich vorweisen. Die Bibel ist reich und vielfältig genug, dass für jeden Ansatz etwas da ist. Man kann seine Lieblingsstellen heraussuchen und damit seine Kreuzestheologie oder Befreiungstheologie oder politische Theologie oder tiefenpsychologische Theologie zusammenzimmern, und das Material und die Einsichten sind so reich, dass man damit nie an ein Ende kommt. Damit bleiben aber auch jene Bibelstellen unbehandelt, die dem eigenen Ansatz am wenigsten entsprechen. 'Man kann doch nicht alles behandeln.' Und so ist eine Vermittlung zwischen verschiedenen Ansätzen kaum möglich.

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Nach unserer Methode wollen wir uns vor allem von den Gegensätzen herausfordern lassen. Wenn wir Jesus z.B. als Friedensstifter behandeln, dann wollen wir uns ganz besonders jenen Stellen zuwenden, in denen es von Jesus heißt, dass er nicht gekommen ist Frieden zu bringen, sondern das Schwert... Wir werden uns mit Jesu Vorbildwirken ebenso befassen wie mit seinen Gerichtsworten, mit seinem Kreuzestod und mit seiner Auferstehung. Wieder mit unserem Bild: Wir werden nicht einen Pfeil zeichnen, sondern mehrere. Und wir werden schauen, ob diese verschiedenen Pfeile nicht vielleicht in eine gemeinsame Richtung weisen. Damit hoffen wir, ein vertieftes Verständnis vom Gott Jesu Christi zu gewinnen. Und damit könnten wir dann auch einen vertieften Blick auf die verschiedenen Ansätze gewinnen: auf ihre berechtigten Anliegen und auf ihre Übertreibungen. Eine solche Art von Theologie kann sehr hilfreich sein, um in konkreten Situationen der Zerstrittenheit und Polarisierungen zwischen verschiedenen Theologien Orientierung zu finden und Orientierung zu geben. Eine gute Theologin bzw. ein guter Theologe kann Brücken bauen zwischen den zerstrittenen Parteien, die so oft unsere Pfarren und Diözesen zerspalten.

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Die größere Unähnlichkeit zwischen Gott und den Geschöpfen

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Der Analogie oder Ähnlichkeit der Begriffe liegt eine Analogie oder Ähnlichkeit in der Wirklichkeit zugrunde. Zwischen den uns direkt zugänglichen Wirklichkeiten der Welt und dem unfassbaren Gott gibt es ein Verhältnis der Ähnlichkeit. Wir haben das mit dem Wort „Spur“ ausgedrückt. Die Bibel drückt es mit dem Wort „Ebenbild“ aus: Der Mensch ist nach Gottes Bild und Gleichnis, als Gottes Ebenbild geschaffen (Gen 1,27). Die ganze Schöpfung ist gut, ja sogar sehr gut, weil sich darin die Güte des Schöpfergottes spiegelt. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, sondern mitgesagt, dass Gott als das Urbild der Schöpfung größer und vollkommener ist. So muss im Vergleich von Schöpfer und Geschöpf immer auch eine Unähnlichkeit mitgesagt werden, und das nicht nur, weil die Schöpfung in die Verstrickung der Sünde gefallen ist. Trotz dieses Unterschiedes muss die Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf ausgesagt werden, und das gilt immer noch, trotz des „Sündenfalles“, in dem der Mensch und damit die gesamte Schöpfung sich von der Herrlichkeit des guten Gottes entfremdet hat. Diese Ähnlichkeit oder Analogie zwischen göttlichem Schöpfer und seinem Geschöpf wurde in einem Dogma des Mittelalters mit einem berühmten Satz formuliert:

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„Zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt es keine Ähnlichkeit, von der nicht eine noch größere Unähnlichkeit ausgesagt werden kann.“ DH 806

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Gott als Geheimnis

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Mit diesem Satz wird beides ausgesagt, Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Besonders aber wird eingeschärft, dass Gott immer größer ist als alles was wir kennen und damit auch größer als alle Begriffe, die wir von ihm bilden können. Das kann auch so ausgesagt werden: Gott ist Geheimnis. Und damit ist gemeint, dass Gottes Größe, Fülle und Reichtum durch keine begrifflichen Versuche jemals voll eingeholt und ausgeschöpft werden kann. Wenn wir auch noch so Großes und Vollkommenes von Gott aussagen, es ist immer unzulänglich. Von daher ist auch der Unterschied klar zwischen den Begriffen „Geheimnis“ und „Rätsel“. Ein Rätsel enthält auch etwas Unerklärliches, das aber wenigstens prinzipiell aufgelöst werden kann. Ein Geheimnis ist grundsätzlich unauflösbar. Was damit gemeint ist, können wir durch Erfahrungen etwa der zwischenmenschlichen Liebe annähern. Ein geliebter Mensch hat ein Geheimnis in sich, das ein letztes Durchschauen unmöglich, ja geradezu verboten macht. Wenn zwei Menschen ein Leben miteinander teilen, lernen sie sich immer besser kennen. Zugleich aber offenbart sich ein Reichtum im Anderen, der dennoch niemals Langeweile aufkommen lässt.

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2. „..… den Vater, den Allmächtigen“

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Vater und Allmächtiger!

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Mancher ist vielleicht versucht, das „allmächtig“ dem Alten Testament und das „Vater“ dem Neuen Testament zuzuordnen. Hat nicht der allmächtige Gott sich in der Schöpfung manifestiert, wie sie am Anfang des Alten Testament thematisiert wird? Und ist nicht die vertraute Anrede von Gott als Vater das eigentlich Neue, was Jesus praktizierte und uns im „Vater unser“ weitergegeben hat? Damit wäre dann der „Allmächtige“ der ferne, unnahbare Gott des Alten Testaments, und der „Vater“ der liebend-nahe Gott des Neuen Testaments.

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Mit solcher Aufteilung wird das Gottesbild sowohl des Alten Testaments als auch des Neuen Testaments halbiert. Es stimmt zwar, dass Gott von den Zeugen des Alten Testaments als unnahbare und geradezu bedrohliche Macht erlebt wird. „Niemand kann Gott sehen und am Leben bleiben...“. Aber von Anfang an wird betont, dass dieser große, unfassbare, allmächtige Gott den Menschen nahe gekommen ist. „Ich bin, der ich bin“ – mit diesen Worten sagt Gott dem Mose, wer er ist. Und damit ist weniger eine metaphysische Aussage gemeint („Ich bin, der ist“, der Seiende, der Grund allen Seins), als eine Zusage gemeinschaftlicher Nähe: „Ich bin der, der mit euch ist“, sowie der gemeinschaftlich- geschichtlichen Begleitung: „Ich bin der, als der ich mich [im mit- euch-Mitgehen] erweisen werde. So ist Gott jener, der das werdende Israel aus Ägypten herausführt und mit ihm mitzieht. Und in späteren Krisenerfahrungen, als es so schien als hätte Gott sein Volk im Stich gelassen, sprechen prophetische Trostworte dem entmutigten Volk erneut Gottes Nähe zu:

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„Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt. Ich baue dich wieder auf, du sollst neu gebaut werden.“ Jer 31,3f

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In solchen Situationen beschreiben Propheten Gott wie einen barmherzigen Vater oder mehr noch wie eine liebende Mutter:

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Gott als Vater im AT:
„Blick vom Himmel herab und sieh her / von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer / und deine Macht, dein großes Mitleid und dein Erbarmen? / Halte dich nicht von uns fern! Du bist doch unser Vater; / denn Abraham weiß nichts von uns, Israel will uns nicht kennen. / Du, Herr, bist unser Vater, / «Unser Erlöser von jeher» wirst du genannt. Warum lässt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren / und machst unser Herz hart, / sodass wir dich nicht mehr fürchten? Kehre zurück um deiner Knechte willen, / um der Stämme willen, die dein Eigentum sind.“ Jes 63,15-17

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„Weinend kommen sie / und tröstend geleite ich sie. Ich führe sie an Wasser führende Bäche, / auf einen ebenen Weg, wo sie nicht straucheln. Denn ich bin Israels Vater / und Efraim ist mein erstgeborener Sohn.“ Jer 31,9

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Gott als Mutter im AT:

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„Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, / ich rief meinen Sohn aus Ägypten. Je mehr ich sie rief, / desto mehr liefen sie von mir weg. Sie opferten den Baalen / und brachten den Götterbildern Rauchopfer dar.
Ich war es, der Efraim gehen lehrte, / ich nahm ihn auf meine Arme. Sie aber haben nicht erkannt, / dass ich sie heilen wollte.
Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, / mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die (Eltern), / die den Säugling an ihre Wangen heben. / Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.
Doch er muss wieder zurück nach Ägypten, / Assur wird sein König sein; / denn sie haben sich geweigert umzukehren.
Das Schwert wird in seinen Städten wüten; / es wird seinen Schwätzern den Garaus machen / und sie wegen ihrer Pläne vernichten.
Mein Volk verharrt in der Treulosigkeit; / sie rufen zu Baal, / doch er hilft ihnen nicht auf.
Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, / wie dich aufgeben, Israel? Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, / dich behandeln wie Zebojim? Mein Herz wendet sich gegen mich, / mein Mitleid lodert auf.
Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken / und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, / der Heilige in deiner Mitte. / Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns.“
Hos 11,1-9

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Gottes Allmacht ist ein zentrales und durchgängiges Thema im Alten Testament. Gott hat Israel machtvoll aus seinem Sklavendasein in Ägypten herausgeholt und dabei souverän Israels Feinde niedergeworfen. Immer wieder hat er seinem Volk zu Siegen verholfen, und wenn Israel Niederlagen erlebte, so wurde das von den Propheten nicht auf Gottes Ohnmacht zurückgeführt, sondern auf den Ungehorsam Israels. Gott hat dem ungehorsamen Volk seine Hilfe entzogen.

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Nach einer glanzvollen Epoche (unter David und Salomo) geriet Israel zunehmend unter politischen Druck. Es zerfiel in zwei Teile, von denen das Nordreich im Jahr 722 und das Südreich (mit Jerusalem) im Jahr 587 vor Christus besiegt wurde. Um jeden Widerstand zu brechen, wurde die Elite des Volkes deportiert. Viele Völker hatten solche Erfahrungen von Niederlage und Exil gemacht, und gewöhnlich führte das zum Zerfall des Gottesglaubens und zur Übernahme des Glaubens der Siegermächte. Mit Israels verhielt es sich genau umgekehrt. Der Glaube an die Macht des eigenen Gottes zerfiel nicht, sondern er erreichte eine noch nie dagewesene Tiefe. Fern vom „gelobten Land“, dem Land das Gott den Vätern verheißen hat, und fern vom Tempel, an dem allein Gott würdig verehrt werden konnte, wuchs in den Vertriebenen die Gewissheit, dass Gott sie auch in der Ferne erreichen, beschützen und befreien konnte. Erst zur Zeit des Babylonischen Exils wurde entwickelte sich Israels Gottesverständnis von einer Monolatrie – d.h. dem Anspruch, dass unter den vielen Göttern allein der Gott Israels verehrt werden dürfte – zu einem Monotheismus: Es verdichtete sich die überzeugung, dass es überhaupt nur einen Gott gibt, und dass die von anderen Völkern so genannten Götter nur Götzen sind, – wirkungslose Nichtse (vgl. Jes 44,7-20).

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Gottes Allmacht wurde damit von Israel nicht als bedrohlich, sondern als rettend wahrgenommen. Gott hat die Macht, das zerstörte und zerstreute Israel wieder zu sammeln und zum Leben zu erwecken. Gerade als Allmächtiger erweist Gott sich als liebender und rettender Vater.

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Gottes Transzendenz (seine alles überschreitende Überlegenheit) und Gottes Immanenz (seine bergende Nähe, die er den Menschen gewährt), sind von daher kein Gegensatz. Gottes überlegene Größe und Gottes liebevolle Zuwendung sind zwei Eigenschaften, die miteinander das Wesen Gottes bestimmen.

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Besonders deutlich finden wir das im Psalm 113:

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Halleluja! Lobet, ihr Knechte des Herrn, / lobt den Namen des Herrn!
Der Name des Herrn sei gepriesen / von nun an bis in Ewigkeit.
Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang / sei der Name des Herrn gelobt.

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[Gottes Größe...:]
Der Herr ist erhaben über alle Völker, / seine Herrlichkeit überragt die Himmel.
Wer gleicht dem Herrn, unserm Gott, / im Himmel und auf Erden,
ihm, der in der Höhe thront, / der hinabschaut in die Tiefe,

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[...und Gottes Barmherzigkeit:]
der den Schwachen aus dem Staub emporhebt / und den Armen erhöht, der im Schmutz liegt?
Er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen, / bei den Edlen seines Volkes.
Die Frau, die kinderlos war, lässt er im Hause wohnen; / sie wird Mutter und freut sich an ihren Kindern. / Halleluja!

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Es wäre also völlig verfehlt, den allmächtigen Gott dem Alten Testament zuzuordnen und die Einsicht in Gottes Wesen als dem „barmherzigen Vater“ allein für das Neue Testament zu reservieren. Richtig ist allerdings, dass Jesus in einer ungewöhnlichen Vertrautheit Gott als Abba (Vater, Väterchen) angesprochen hat. Und Jesus hat dieses vertraute Gottesbild mit dem Vaterunser an seine Jünger weitergegeben. Aber es war der Gott des Alten Testaments, der Israeliten und Juden, mit seiner Größe, Unfassbarkeit und Allmacht, den Gott in derart liebende Nähe rückte. Und wie wir sahen, hat Jesus damit nicht etwas völlig Neues angefangen, sondern konnte Bestehendes weiterführen.

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„In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.“ Mt 11,25
„Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ Röm 8,15
„Jesus betete einmal an einem Ort; und als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat.
Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, / dein Name werde geheiligt. / Dein Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.
Und erlass uns unsere Sünden; / denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. / Und führe uns nicht in Versuchung.“ Lk 11,1-4; vgl. Mt 6,9-13

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Wenn wir versuchen, uns am Alten Testament vorbei direkt auf Jesu liebenden Vatergott zu beziehen, dann laufen wir Gefahr, Gott auf das Niveau plumper Vertraulichkeit herabzuziehen. Was dann herauskommt, ist nicht mehr der Gott Jesu Christi, sondern eher der in vielen Witzen und Karikaturen gutmütige und leicht vertrottelte Rauschebart, der niemandem was zuleide tut aber auch niemandem helfen kann. Das ist dann die zahnlose Gott-Vorstellung, mit der Wolfgang Borchert in seiner Kriegsheimkehrer-Tragödie so scharf abgerechnet hat:

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„Ach, du bist alt, Gott, du bist unmodern, du kommst mit unseren langen Listen von Toten und Ängsten nicht mehr mit. Wir kennen dich nicht mehr so recht, du bist ein Märchenbuchliebergott. Heute brauchen wir einen neuen. Weißt du, einen für unsere Angst und Not. Einen ganz neuen. Oh, wir haben dich gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in der Nacht. Wir haben dich gerufen, Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht! Wo warst du da, lieber Gott? Hast du dich von und gewandt? Hast du dich ganz in deine schönen alten Kirchen eingemauert, Gott? Hörst du unser Geschrei nicht durch die zerklirrten Fenster, Gott? Wo bist du? ... Hast du zuviel Tinte im Blut, Gott, zuviel dünne Theologentinte? Geh, alter Mann, sie haben dich in den Kirchen eingemauert, wir hören einander nicht mehr.“ aus: Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür

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Brauchen wir wirklich „einen ganz neuen Gott“, oder hängt diese Misere auch damit zusammen, dass wir uns „einen neuen Gott“ gebastelt haben, indem wir den „lieben Gott“ des Neuen Testaments gegen einen allmächtigen und grausamen Gott des Alten Testaments ausgespielt haben?

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3. „ ... den Schöpfer des Himmels und der Erde“

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3.1 Gott, der Schöpfer

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Der eine Gott

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Bereits im 2. Kapitel (Gottes Allmacht) wurde beschrieben, wie sich durch wechselnde Erfahrungen hindurch in Israel das Vertrauen in einen allmächtigen Gott herausbildete. Aus frühen Formen des Polytheismus und der Monolatrie (vgl. z.B. Gen 15,11) erwuchs die Überzeugung, dass es außer Jahwe, dem einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs keine anderen Götter gibt. Dazu gehörte auch die Gewissheit, dass Gott allen politischen, dämonischen und satanischen Mächten mühelos überlegen ist. In den biblischen Schöpfungsgeschichten ist das ausgedrückt durch die Mühelosigkeit von Gottes Weltschöpfung. In außerbiblischen Schöpfungsmythen, etwa aus Babylon, wird hingegen die Weltschöpfung als Resultat eines Kampfes von Göttern mit Chaosmächten beschrieben.

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Der Glaube an die Einzigkeit Gottes und Seine Überlegenheit über alle Mächte und Gewalten gab den Israeliten eine ungeheure Sicherheit. Auch in den äußersten Notsituationen konnten sie sich geborgen fühlen. War für Nichtgläubige die dunkle Einöde ein grauenhafter Ort der Dämonen, so konnte der gläubige Jude dennoch sicher hindurchschreiten: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, / ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, / dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht“ (Ps 23,4). Das Meer mit seiner unberechenbaren Gewalt – nach zeitgenössischen Auffassungen auch ein Ort der Dämonen – ist in Gottes Hand und verliert deshalb seinen Schrecken:

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„Da ist das Meer, so groß und weit, / darin ein Gewimmel ohne Zahl: kleine und große Tiere. Dort ziehen die Schiffe dahin, / auch der Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen.“ (Ps 104,25f)
„Nehme ich die Flügel des Morgenrots / und lasse mich nieder am äußersten Meer, auch dort wird deine Hand mich ergreifen / und deine Rechte mich fassen.“ (Ps 139,9)
In diesem Zusammenhang der Macht Gottes über Mächte und Gewalten ist auch Jesu Naturwunder von der Stillung des Seesturmes zu verstehen:
„Plötzlich brach auf dem See ein gewaltiger Sturm los, sodass das Boot von den Wellen überflutet wurde. Jesus aber schlief. Da traten die Jünger zu ihm und weckten ihn; sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde! Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen? Dann stand er auf, drohte den Winden und dem See und es trat völlige Stille ein.“ (Mt 8,24-26)

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Dieses Gefühl einer Geborgenheit des gläubigen Menschen ist auch für heutige Zeiten trotz ihrer technischen und institutionellen Absicherungssysteme ein unverzichtbares Gut. Trotzdem sind viele Menschen von abgrundtiefen Ängsten geplagt. Mit vernünftigen Argumenten und Absicherungen (z.B. von Versicherunsginstituten) ist hier nichts auszurichten. Höchst bedenklich sind moderne Formen des Aberglaubens, in die vor allem junge Menschen oft spielerisch im Kontakt mit spiritistischen und satanistischen Praktiken hineingleiten. Die durch zweifelhafte „Beweise“ erhärtete Überzeugung von der Gegenwart und Wirksamkeit zerstörerischer Mächte hat schon viele Menschen in Verzweiflung und Selbstmord gerissen. Auch unter Christen findet sich die Überzeugung, es gäbe Situationen, wo „kein Gott dir mehr helfen“ kann.

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In der Theologiegeschichte wurden immer wieder Lehren zurückgewiesen, die als dualistischzu bezeichnen sind: Danach gibt es zwei Grundmächte, – eine göttliche und eine teuflische; und nur durch Maßnahmen wie Fasten, körperliche Kasteiung und sexuelle Enthaltsamkeit könne man dem Einflussbereich des Teuflischen entkommen. Gnosis und Manichäismus qualifizierten den körperlich- materiellen Bereich insgesamt als minderwertig und letztlich als teuflisch. Leibfeindlichkeit war zwar immer wieder auch eine Schlagseite christlicher Frömmigkeit, aber zusammen mit dem Dualismus wurde sie ausdrücklich zurückgewiesen. Nach christlicher Überzeugung geht alles, was ist, letztlich auf Gott selber zurück und ist deshalb seinem Ursprung nach gut, – so wie es wiederholt im jüngeren Schöpfungsbericht heißt: „und Gott sah, dass es gut war“ (Gen 1,10.12.17.21.25.31). Selbst der Teufel – als Inbegriff gegengöttlicher Mächte - - ist damit als Geschöpf zu betrachten, und zwar von seinem gottgeschaffenen Ursprung her als gutes Geschöpf. Mythologische Vorstellungen vom „Engelsfall“ erhielten sich als Versuche, die ursprünglich gute Schöpfung mit dem Vorhandensein destruktiver, gottfeindlicher Mächte in Einklang zu bringen.

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So stellte das 4. Laterankonzil (1215) fest:

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„Wir glauben fest und bekennen aufrichtig, daß nur einer der wahre, ewige, unermeßliche und unveränderliche, unbegreifliche, allmächtige und unaussprechliche Gott ist, ... ein Anfang von allem: der Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren, des Geistigen und des Körperlichen: er schuf in seiner allmächtigen Kraft vom Anfang der Zeit an aus nichts zugleich beide Schöpfungen, die geistige und die körperliche, nämlich die der Engel und die der Welt: und danach die menschliche, die gewissermaßen zugleich aus Geist und Körper besteht. Der Teufel nämlich und die anderen Dämonen wurden zwar von Gott ihrer Natur nach gut geschaffen, sie wurden aber selbst durch sich böse. Der Mensch aber sündigte aufgrund der Eingebung des Teufels.“ DH 800

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Entscheidend in diesem Text ist die Aussageabsicht: Alles was ist, gründet in Gott: die Welt mit allen Mächten (auch den destruktiven) und mit allen Dimensionen, auch im Menschen: geistig und auch körperlich. Nicht um die Existenz und Seinsweise von Dämonen und Teufeln geht es hier in erster Linie, sondern darum, dass alle Mächte und Gewalten in Gott gründen und damit von seinem Heilswillen umfasst sind. Das gibt Sicherheit und Geborgenheit. Der Apostel Paulus hat eindringlich davon gesprochen:

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„Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Röm 8,38f.

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Gott, Erschaffer der Welt

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Zunächst: Gott hat die die Welt erschaffen, – im Sinne von: anfänglich ins Dasein gesetzt. Der erste, jüngere Schöpfungsbericht betont dabei die Souveränität und Mühelosigkeit. Kein Kampf mit Chaosmächten, sondern einfach: Gott sprach – und es wurde.

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Die kirchliche Lehre spricht davon, dass Gott die Welt aus nichts erschaffen hat. Damit ist zunächst gemeint, dass Gott kein „Material“ brauchte (keine ungeformte Chaosmaterie, kein irgendwie gedachtes vorgegebenes „Nichts“), um daraus die Welt zu schaffen.

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Das ist theologisch stimmig: Denn gäbe es ein solches Material, so würde dieses der Schöpfung durch Gott vorausgehen. Wir kämen zu einem Dualismus (vgl. oben), nach dem es etwas ursprünglich von Gott Verschiedenes gäbe ...

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... oder wir müssten annehmen, dass dieses Material, aus dem Gott, die Welt gemacht hätte, Teil von Gott selber wäre. Ein göttlicher Funke würde damit im Herzen von allem was ist, brennen. Und allem Seienden würde ein solcher göttlicher Funke wesensmäßig zugehören ...

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Zwei Bemerkungen zu dieser Vorstellung: Fürs erste eine terminologische Zuordnung: Eine solche Position wird Pantheismus genannt (aus dem Griechischen: alles [pan] ist Gott [theos]) und wurde in der kirchlichen Lehre abgelehnt. Solche Auffassungen sind sehr verbreitet, – heute vor allem im Umfeld esoterischer Auffassungen.

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Aber – und das ist der zweite Punkt – enthält eine solche Auffassung nicht eine tiefe Wahrheit? Dass in jedem Menschen und überhaupt in allem was ist (in jedem Tier, ja in jedem Gegenstand) ein göttlicher Funke ist, ist das nicht eine Einsicht, die Weise und Mystiker uns lehren, und die wir selber schon angesprochen haben, als wir von dem Ziel sprachen, Gott in allen Dingen zu finden? Was wäre denn, wenn wir das Gegenteil behaupteten? Nichts Göttliches wäre in der Schöpfung zu finden. Gott hätte die Welt zwar ins Dasein gesetzt, aber sie würde unabhängig von Ihm im Dasein bleiben und sich fortentwickeln, – wie ein Uhrwerk, das ohne Zutun des Uhrmachers weiterschnurrt. Eine solche Sichtweise, die als Deismus bezeichnet wird, widerspricht bereits der biblischen Sichtweise vom Schöpfergott; – das wird unser nächster Punkt im Skriptum sein.

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Zunächst aber noch zur Problematik, ob und inwiefern Gottes Funke in allem Geschaffenen vorhanden ist: Offenbar muss die richtige Sichtweise hier in einer Gratwanderung zwischen Pantheismus und Deismus ausbalanciert werden. (Im folgenden Kapitel über den Menschen als Gottes Geschöpf werden wir das noch etwas genauer probieren.) Für eine erste Orientierung lässt sich sagen: Tatsächlich ist im Innersten von allem was ist, Gott. Aber: nicht als Teil seiner Wesensnatur, sondern als Verweis des Geschaffenen auf den Schöpfer. Für den Menschen hat das Augustinus sehr schön ausgedrückt: „Gott ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst.“ Das heißt, die menschliche Natur ist nicht einfach in sich abgeschlossen. Wenn man dem Höchsten in ihr folgt (etwa dem Geist, der über alle Grenzen hinaus fragt, oder der Liebe, die über alle Grenzen hinaus annehmen will), dann gelangt man unversehens über sie hinaus. Man gelangt zu Gott. – Man kann auch sagen: Das innerste Geheimnis des Menschen ist Gott. Und dennoch ist Gott nicht Teil des Menschen.

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Mit diesen Aussagen befinden wir uns an einem wichtigen, spannenden, aber auch schwierigen Ort unseres theologischen Erkundungsganges. Viele Wege gehen von hier aus, die wir nur annähernd in den Blick bekommen können: dass das Wesen des Menschen Überschreitung seiner Grenzen ist, oder mit dem lateinischen Fachwort: Transzendenz. Dass der Mensch von daher Symbol für Gott ist, oder – genauer bezeichnet – Realsymbol: nicht bloß äußerlicher Verweis auf Gott, sondern eine Wirklichkeit, durch die Gott gegenwärtig wird, wenn man sich nur ganz darauf einlässt. Und dass der Mensch im allgemeinen Symbol für Gott ist, weil Jesus Christus das im Besonderen ist: gerade deshalb ganz Mensch, weil (und nicht trotzdem) Gott in ihm gegenwärtig ist. Und dass das, was wir eben vom Menschen sagten, in analoger Weise für alles Geschaffene gilt: dass es Symbol Gottes ist, dass es Gottes Wesen widerspiegelt, (mit biblischen Begriffen:) seine Herrlichkeit und seine Weisheit. All das ließe sich von hier aus in vielen Schritten und verschiedenen Richtungen entfalten. Manches davon wird in diesem Skriptum noch skizziert werden, und auf manches sind wir auch schon in früheren Kapiteln gestoßen (etwa das Verhältnis von in-über zwischen Gott und dem von Gott Verschiedenen in 1.5).

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Versuchen wir, nach diesem Aus- und Rundblick die Orientierung wiederzufinden. Wir waren davon ausgegangen, dass Gott die Welt erschaffen, d.h. anfänglich ins Dasein gesetzt hat. Gott hat die Welt aus nichts geschaffen, aus keinem vorgefundenen Material aber auch nicht als Entfaltung Seiner selbst. Letzteres besagte, dass die Welt von Gott verschieden ist. Dennoch ist sie bleibend auf Gott bezogen. Die Frage, wie beides zusammengeht, hat uns zu unserem Vor- und Rundblick geführt.

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Erschaffer - Bewahrer - Vollender

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Bei „Schöpfung“ denken wir normalerweise nur daran, dass Gott die Welt anfänglich ins Dasein gesetzt hat. Im biblischen Verständnis ist Schöpfung mehr. Sie bedeutet: Erschaffung, Erhaltung und Vollendung.

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Gott hat die Welt nicht nur anfänglich ins Dasein gesetzt, sondern er erhält sie auch im Sein. Das ist eine zentrale biblische Überzeugung. Sehen wir uns als Beispiel die Fortsetzung des bereits zitierten Psalm 104 an:

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Herr, wie zahlreich sind deine Werke! / Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, / die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.
Da ist das Meer, so groß und weit, / darin ein Gewimmel ohne Zahl: kleine und große Tiere.
Dort ziehen die Schiffe dahin, / auch der Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu

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spielen. Sie alle warten auf dich, / dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit.
Gibst du ihnen, dann sammeln sie ein; / öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem.
Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört; / nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin / und kehren zurück zum Staub der Erde. (Ps 104,24-29)

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Schöpfung ist also ein durchgängiger Akt, durch den Gott das was ist, im Sein und am Leben erhält. Die traditionelle Theologie drückt das mit dem Wort „creatio continua“ aus: ein kontinuierlicher, unausgesetzter Schöpfungsprozess.

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Es ist bekannt, dass die Bibel mit Schöpfungsberichten beginnt. Weniger bekannt ist, dass die Bibel auch mit einem Schöpfungsbericht endet. In Offb 21 schreibt der Seher Johannes:

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„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat.“ Offb 21,1f

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In der Folge wird das himmlische Jerusalem beschrieben, und es klingen darin Parallelen zu den Schöpfungsberichten an. So zieht sich das Thema Schöpfung vom Anfang bis zum Ende durch die ganze Bibel. Die stärksten Schöpfungsaussagen finden sich in den Psalmen. Das Staunen über die Schönheit, Größe und Gewalt der Natur führt dort zur Verherrlichung des Schöpfergottes.

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Der lebendige Gott

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den glaubenden biblischen Menschen ist es selbstverständlich, dass Gott das Leben von Anfang bis zum Ende in seinen Händen trägt. Das gilt für das individuelle Leben ebenso wie für das Weltgeschick.

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„Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.“ Mt 10,29-31

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Von daher ergibt sich die Praxis, Gott um alles Nötige zu bitten. Vergleiche die Vaterunser-Bitte: „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Im Alten Testament zeigt sich immer wieder, wie gläubige Menschen in Not zu Gott beten. Zuerst erinnern sie sich an Gottes machtvolle Taten der Vergangenheit. Dann wenden sie das auf die Gegenwart an. Sie beten in der Form: „So wie du damals mächtig und barmherzig geholfen hast, so tu es auch heute“. Vgl. z.B. das Gebet der Ester in Est 4,17.

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Nach biblischer und kirchlicher Auffassung ist Gott ein lebendiger Gott. Er spricht und handelt in der Geschichte. Eine solche Auffassung klingt in einer aufgeklärten, säkularisierten Welt provokant. Ist das nicht ein naiver Anthropomorphismus (nach dem Menschen so von Gott reden und denken, als wäre er ein Mensch neben anderen)? Ist die Rede von Gottes Sprechen und Gottes Handeln nicht mythologisch, in einer Weise, dass sie zwar der eigenen Weisheit von Mythen und Märchen entspricht, aber in einer wissenschaftlichen Welt nichts zu suchen hat? Kann Theologie mit ihrem Anspruch, Wissenschaft zu sein, behaupten, dass Gott spricht und handelt?

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Es gibt verschiedene Wege, dieser Provokation auszuweichen und damit den biblischen Anspruch zu unterbieten:

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Man kann die berechtigte Einsicht, dass Gott durch die Schöpfung hindurch wirkt (und nicht einfach an ihr vorbei, etwa durch Außerkraftsetzung von Naturgesetzen) so absolut setzen, dass man nur noch vom Handeln der Menschen und von innerweltlichen Wirkursachen spricht, wobei man in jenen Handlungen und Wirkungen, die man als wünschenswert bewertet, Gottes Wirken mitmeint. Gott ist dann nur noch eine höfliche Umschreibung für das, was Menschen tun oder tun sollen. Eigentlich kommt dann Gott im Leben gar nicht mehr vor. Praktisch ist das die Position eines Deismus.

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In der alltäglichen Spiritualität zeigt sich eine solche Haltung an absolut gesetzten Sprüchen wie: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, oder „Gott hat keine anderen Hände als unsere“. Beide Aussagen weisen zwar auf eine wichtige Wahrheit hin: Gott wirkt nicht einfach am Tun der Menschen vorbei. Aber man kann diese Einsichten einseitig absolut setzen. Dann hält man die eigenen Bemühungen nicht nur für notwendig, sondern auch schon für ausreichend. Dass Menschen in ganz konkreten Dingen zu Gott um Hilfe bitten, bringt einen dann in Verlegenheit. Gebetet wird allenfalls um das Allgemeine, Grundsätzliche, aber nicht auch um konkretes Einzelnes, etwa um Erfolg bei der Arbeit oder um Heilung in der Krankheit. Die biblische Frömmigkeit ist da viel direkter. Im Vaterunser beten wir um das tägliche Brot, – obwohl dem biblischen Menschen gewiss nicht eingefallen wäre, deshalb nicht dafür zu arbeiten.

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Auch in der Theologie gibt es eine Möglichkeit, der Provokation des Glaubens an einen handelnden Gott zu entkommen. Man beschränkt sich dann einfach auf das Referieren von „Geschehnismeinungen“. Man sagt: „Gott befreite Israel aus Ägypten,“ und meint damit: „Die Autoren dieser biblischen Texte vertraten die Auffassung, dass Gott es selber war, der da gewirkt hat.“ Die Frage, was denn wirklich gilt, ob Gott auch unter Berücksichtigung von modernen Geschichtswissenschaften, von Naturwissenschaften und heutiger säkularer Weltanschauung noch als ein lebendiger Gott, als ein handelnder Gott vorgestellt werden kann, – diese Frage bleibt ausgeklammert.

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Gegen solche Vorsicht (oder Feigheit?) gibt es Gegenbewegungen, die den biblischen Glaubensanspruch wieder unverkürzt zur Geltung bringen wollen. Man möchte wieder zurück zu den Fundamenten, oder: man möchte die zentralen Glaubenswahrheiten, – die „fundamentals“ ohne Rücksichten auf den Zeitgeist verkünden. In diesem Sinne entstanden anfangs des 20. Jahrhunderts vor allem in Amerika Bewegungen, die sich selber nicht ohne Stolz als „Fundamentalisten“ bezeichneten. Das gab einer Ausrichtung den Namen, die auch heute in vielen Bewegungen und Denkformen außerhalb aber auch innerhalb der anerkannten Kirchen bedeutsam ist. Gottes Wirken wird dabei direkt am Wirken der Welt abgelesen, und Gottes Wort direkt in den Texten der Bibel. Jeder Versuch, durch wissenschaftliche Methoden auch innerweltliche Kausalzusammenhänge zu erschließen wird als ungläubig abgewehrt. Evolutionstheorien werden verteufelt, weil sie nicht Gott als den Schöpfer der Welt bekennen. Form- und traditionsgeschichtliche Unterscheidungen der Bibelwissenschaften werden als Relativierungen des Wortes Gottes abgelehnt. Innerweltliche Ereignisse werden oft direkt auf Gott zurückgeführt. Da wird ein Mensch krank, und schon heißt es: das ist eine Strafe Gottes. In skandalös-selbstgerechter Weise wird zum Beispiel von Aids als Strafe Gottes gesprochen.

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Der Leben schaffende Gott

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Ist solcher Fundamentalismus die „frommere Position“? Nur scheinbar wird dabei Gott die Ehre gegeben. Man traut Ihm zwar zu, dass er aktiv lenkend in die Geschicke der Menschen und der Menschheit eingreift. Aber man unterschätzt zugleich die „Qualität“ des von Gott Geschaffenen. Hat Gott Marionetten geschaffen, die er dann – im Verlauf der Geschichte – nach eigener Lust und Laune tanzen lässt? Das biblische Schöpfungsverständnis ist anders. Gott macht die Dinge der Welt nicht einfach, sondern er lässt werden.

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Schauen wir uns dazu den ersten (jüngeren) Schöpfungsbericht an:

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„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde;
die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.
Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis
und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.

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Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser.
Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es
und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag.

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Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es.
Das Trockene nannte Gott Land und das angesammelte Wasser nannte er Meer. Gott sah, dass es gut war.“
Gen 1,1-10

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Mit der Erschaffung von organischem Leben wird der Grad der Selbständigkeit noch höher:

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„Dann sprach Gott: Das Land lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, und von Bäumen, die auf der Erde Früchte bringen mit ihrem Samen darin. So geschah es.
Das Land brachte junges Grün hervor, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, alle Arten von Bäumen, die Früchte bringen mit ihrem Samen darin. Gott sah, dass es gut war.“
Gen 1,11f

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Bei den Tieren mündet dieses Tun-Lassen dann in den Fruchtbarkeitsauftrag:

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„Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und vermehrt euch und bevölkert das Wasser im Meer und die Vögel sollen sich auf dem Land vermehren.“ (Gen 1,22)

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Ein außerordentliches Maß an eigenständiger Gestaltungsmöglichkeit verleiht der Schöpfergott den Menschen:

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„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.
Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.
Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.
Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.
Allen Tieren des Feldes, allen Vögeln des Himmels und allem, was sich auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, gebe ich alle grünen Pflanzen zur Nahrung. So geschah es.
Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag.“
Gen 1,26-31

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Der älteren Schöpfungsbericht (Gen 2,5-25) betont die schöpferische Eigenständigkeit des Menschen durch die ihm von Gott verliehene Vollmacht, den Tieren Namen zu geben. Das Namengeben symbolisiert einen Akt der schöpferischen Gestaltungskraft.

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„Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes.“ (Gen 2,19f)

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Diese textlichen Hinweise verweisen auf eine tiefe Einsicht, dass Schöpfung die Entlassung in eine selbständige Eigentätigkeit besagt. Wenn evolutive Weltanschauung die Selbstentfaltung der Natur von niedereren zu höheren Formen betont, dann widerspricht dies nicht der biblischen Schöpfungsvorstellung, in der Gott schafft, indem er in weitem Maße die Natur selber tun lässt.

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Naturwissenschaftliche Theorien und Modelle können die Verursachungs- und Entwicklungszusammenhänge zwischen verschiedenen Seienden untersuchen. Die Auskunft, dass eine bestimmte Lebensform auf eine andere Lebensform zurückzuführen ist, ist dabei kein Gegensatz zum Glauben, dass Gott diese Lebensform geschaffen hat. Man muss nur sehen, dass Schöpfung von Gott auch mittelbar zu verstehen ist. Schematisch gesprochen: Ein Gegenstand X geht auf einen Gegenstand Y zurück durch bestimmte z.B. evolutive Gesetzmäßigkeiten, die als solches keineswegs selbstverständlich sind. Woher kommen diese Gesetzmäßigkeiten? Hier ist der Punkt, wo Naturwissenschaftler ins Staunen kommen können. Z.B. mit der Einsicht, dass bei einer auch nur minimalen Variation fundamentaler Naturkonstanten niemals Leben, geschweige denn menschliche Existenz hätte entstehen können (= anthropisches Prinzip). Naturwissenschaften können Kausalzusammenhänge erschließen. Die Frage, wie diese Zusammenhänge, die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten entstanden, ist naturwissenschaftlich nicht mehr zu beantworten. Nach einer traditionellen mittelalterlichen (scholastischen) Terminologie betrifft Schöpfung die causa prima, die „erste Ursache“, während die Ursachzusammenhänge, die „causae secundae“ durch empirische Beobachtungen erschlossen und erzeugt werden können. Beides schließt sich nicht aus!

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Abschließend, nach einer komplizierten Thematik, die wir hier nur grob skizzieren konnten, – ein Witz zum Thema:

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Eines Tages kam eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen. Sie fassten den Beschluss, dass der Mensch sich sehr weit entwickelt hätte und dass er Gott nun nicht mehr brauchen würde. So wählten sie einen Wissenschaftler aus, der zu Gott gehen und ihm mitteilen sollte, dass sie mit ihm fertig wären. Der Wissenschaftler ging zu Gott hin und sagte:
„Gott, wir haben beschlossen, dass wir dich nicht mehr brauchen. Wir haben den Punkt erreicht, an dem wir Menschen klonen und viele andere Wunder tun können. Warum machst du nicht einfach, dass du verschwindest?“
Gott hörte dem Mann sehr geduldig und freundlich zu, und nachdem der Mann zu Ende gesprochen hatte, sagte Gott: „Sehr gut, aber wie wäre es damit: sagen wir mal, wir machen einen Wettbewerb im Menschen Machen.“
Darauf antwortete der Wissenschaftler: „O.K., super!“. Aber Gott setzte noch hinzu. „Nun, wir werden es aber genau so machen, wie ich es ganz am Anfang bei Adam gemacht habe.“
Der Wissenschaftler sagte: „Sicher, kein Problem.“ Er bückte sich und nahm eine Hand voll Dreck.
Gott sah ihn einfach an und sagte: „Nein, nein, nein. Geh und mach dir deinen Dreck selber!“

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3.2 Der Mensch als Gottes Geschöpf

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Nicht: „Woher kommt der Mensch?“ sondern: „Worin gründet der Mensch?“

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Das christliche Glaubensbekenntnis spricht von Gott als dem „Schöpfer von Himmel und Erde“. Gemeint ist: Alles, was ist – die Menschen und Dinge in der Welt und alle Kräfte, die sie bestimmen (alles, was nicht Gott ist) – gründen in Gott. Damit ist anderes gemeint als die äußeren Herkunftszusammenhänge, wie sie für den einzelnen Menschen durch die Zellbiologie oder für die Menschheitsgattung durch Evolutionstheorien erklärt werden kann. Konzentrieren wir uns nun auf den Menschen: Der Glaube an Gott als den Schöpfer antwortet nicht auf die Frage „Woher kommt der Mensch?“, sondern auf die Frage: „Worin gründet der Mensch?“

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Die Erfahrung, in Gott zu gründen

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Als wir über die zwischenmenschliche Liebe nachdachten, stießen wir auf Spitzenmomente im Menschen, in denen er – geliebt von einer anderen Person und befähigt sie zu lieben – durch seine eitlen Fassaden hindurch zu seinem Eigentlichen durchstößt. Wir sprachen von Wahrhaftigkeit, nicht berechnender Güte und absichtsloser Schönheit. Wenn Menschen das erleben, haben sie zugleich das Gefühl, bei ihrem Eigensten angekommen zu sein. Es ist, als hätten sie etwas lange Vergessenes und Verlorenes wiedergefunden und als wären sie zu sich selber heimgekehrt. Solche Erfahrung verweist darauf, dass der Mensch seinen Ursprung in jenem Göttlichen hat, das er als Inbegriff von Wahrhaftigkeit, Gutheit und Schönheit begreift. Darin liegt sein Ursprung, und darin findet er seine Erfüllung.

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Der Mensch ist ganz auf Gott bezogen

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Die Bibel drückt das mit den Worten aus, dass Gott den Menschen geschaffen hat, und zwar Ihm ähnlich, als Gottes Abbild. Das bedeutet, dass der göttliche Ursprung den Menschen bleibend bestimmt. Der Mensch ist ständig auf der Suche nach seinem Eigentlichen, und sein Eigentliches ist Gott. Der Mensch kann nur leben, wenn Gott ihm nahe ist; verliert er Gott, so schwindet er dahin (vgl. Ps 104,29). Das alles spiegelt sich in den zentralen Begriffen, mit denen die hebräische Bibel den Menschen beschreibt.

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Nephesch ist die menschliche Seele, und das besagt Begehren, Gier, Leidenschaft. Solche Seele hat der Mensch nicht nur – wie einen Teil neben anderen Teilen – sondern er ist sie, durch und durch. Dasselbe Wort kann auch Kehle bedeuten, und verbunden damit ist die Bedürftigkeit der trockenen Kehle nach Wasser. Ebenso dürstet die menschliche Seele nach Gott. Sie kann aber auch ihre Orientierung verlieren, dann dürstet sie nach irgendetwas anderem, nach Macht oder nach sexueller Befriedigung, in grenzenloser Begierde, die keine Erfüllung findet.

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Der Begriff ruah bezeichnet den Geist im Menschen. Das ist die göttliche Lebenskraft, die im Menschen wirkt, wobei nicht immer klar unterscheidbar ist, ob das nun Gottes Geist ist, der im Menschen wirkt, oder der menschliche Geist ist, der nur begriffen werden kann als bleibende Verbindung zu Gott, die in des Menschen Natur gelegt ist. So weiß sich der biblische Mensch zutiefst abhängig von Gott.

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Mit einem anderen Begriff bezeichnet er sich als basar – Fleisch –, was seine geschöpfliche Hinfälligkeit besagt. Wenn er nicht in Verbindung mit Gott bleibt, schwindet seine Seele dahin und der Mensch stirbt.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

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Der Mensch ist Gottes Ebenbild, das heißt: Seine Größe besteht darin, dass er Gottes Herrlichkeit widerspiegelt, indem er in sich dem Wirken Gottes Raum gibt. Er ist nicht autonomes Ebenbild Gottes, kein zweiter Gott, der dort Herrlichkeit ausstrahlt, wo Gott nicht ist. Vielmehr ist er Hohlform für Gottes Wirken. In dem Maße, in dem er dem Wirken Gottes in sich Raum gibt, wird er selbst lebendig und verwirklicht sich als Ebenbild Gottes. Was das bedeutet, hat der Apostel Paulus eindrucksvoll ausgesagt:

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„Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.“ (2 Kor 3,18)

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Ein Mensch spiegelt Gottes Herrlichkeit wider. Was das bedeutet, erfährt der liebende Mensch am Geliebten. Wir sprachen von Wahrhaftigkeit, nicht berechnender Güte und absichtsloser Schönheit. Und wir versuchten der Spur zu folgen, wie solche Herrlichkeit von Menschen auf die Herrlichkeit Gottes verweist. Davon spricht Paulus, wenn er sagt, dass wir diese göttlichen Eigenschaften spiegeln und so in Gottes Bild verwandelt werden.

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Jeder Mensch spiegelt Gottes Herrlichkeit

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Ausgesagt ist damit nicht etwas, was automatisch immer schon gegeben ist, sondern des Menschen höchste und schönste Möglichkeit. Wenn die Bibel den Menschen – und das heißt: jeden Menschen – als Gottes Ebenbild bezeichnet, dann will sie damit beschreiben, wer der Mensch für Gott ist, oder: wie Gott die menschliche Person ansieht. Es ist der Blick des Liebenden, der durch alle hässliche Fassaden hindurch zu des Menschen innerster Anlage durchblickt. In der Perspektive des Liebenden ist der Mensch Ebenbild Gottes. Die Kunst des Glaubens besteht darin, das ganze Leben von dieser Gottebenbildlichkeit durchformen zu lassen. Und die Kunst des Glaubens besteht darin, diese Gottebenbildlichkeit in jedem Menschen und in allem Geschaffenen – auch durch die hässlichen Hüllen hindurch – wahrzunehmen.

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3.3 „Sein wie Gott“ - Gnadengeschenk oder Inbegriff der Sünde

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Bis jetzt klingt die biblische Sicht vom Menschen ziemlich blauäugig. Doch die Bibel ist fern davon, den Menschen zu idealisieren. Ohne Kompromisse beschreibt sie sein Versagen. Schöpfung und Paradies bilden den Hintergrund für die Erzählung vom Sündenfall.

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Wie kommt das Böse in die Welt?

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Es ist beklemmend, auf den ersten Seiten der Bibel den Abstieg zu verfolgen von dem anfänglichen „Es ist sehr gut“ (Gen 1,31), mit dem Gott sein Schöpfungswerk beurteilt, bis zur resignierten Feststellung: „Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat“ (Gen 6,11). Wenn wir diese Folge von Erzählungen heute lesen, kommen wir nicht darum herum, sie mit der bohrenden Frage zu verbinden: Wie kommt das Böse in eine Welt, die ein allmächtiger Gott gut geschaffen hat? Diese Frage ist alles andere als theoretisch. Immer wieder müssen wir erleben, dass verheißungsvolle Anfänge – gute Vorsätze, eine große Liebe oder ein engagiertes Projekt – aus der Bahn geraten und heillos werden. Der Fall der guten Schöpfung in eine Welt voll von Sünde und Gewalt ist exemplarisch für Erfahrungen, die wir immer wieder machen.

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Die Bibel beschreibt den Sündenfall nicht als Katastrophe, die wie ein Blitz über die gute Welt hereinbricht, sondern als langsames Abgleiten in das Unheil. Wer die Sündenfallerzählung für sich allein betrachtet, wird zögern, den Genuss der verbotenen Früchten als böse zu bezeichnen. Aber dieses Ereignis setzt eine Dynamik in Gang, die die Menschen von der paradiesischen Gottesnähe wegreißt, die zum Eifersuchtsmord Kains an Abel führt, dann bei Kains Nachkommen zur Potenzierung der Rache (Vgl. Gen 4,24) bis zuletzt der von Gott beklagte Zustand eintritt, dass die Erde verdorben, weil voller Gewalttat ist. Angesichts dieser Lawine des Bösen drängt die Frage: Wie konnte all das in Gang kommen? – Davon erzählt die Sündenfallgeschichte.

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Schulderfahrung im Alten Testament

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In dieser Erzählung verdichtet sich die jahrhundertealte Erfahrung des biblischen Israel, dass es aus eigener Kraft den Bund mit Gott nicht halten konnte. Immer wieder stellen die alttestamentlichen Schriftsteller im selbstkritischen Rückblick fest: 'Wir Israeliten haben von Gott alles Notwendige und noch viel mehr geschenkt erhalten. Dennoch genügte es uns nicht und wir hielten nach anderem Ausschau (z.B. nach den Machtinsignien der heidnischen Nachbarreiche). Dadurch entfernten wir uns von unserem Gott. Nichts gewannen wir dazu, sondern wir verloren auch noch das, was wir als Geschenk von Gott erhalten hatten. So stehen wir nackt und machtlos da. Gott aber wird sich unser dennoch erbarmen.' (vgl. z.B. Ps 106) – Diese Grunderfahrung, die von den Propheten in scharfer Kritik immer wieder vorgebracht wurde, ist in der Sündenfallerzählung eindringlich verarbeitet.

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Die Erzählung vom Sündenfall

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Am Anfang von allem steht die Erfahrung des grund- und maßlosen Beschenktseins von Gott: Der Mensch, als Mann und Frau, ist von Gott geschaffen nach Seinem Bild und Gleichnis. Gott sorgte dafür, dass es ihnen an nichts fehlte. Er gab ihnen sogar Anteil an Seiner eigenen Herrlichkeit. Kurz: Gott setzte den Menschen ins Paradies. Das ist die Situation, in der sich die Versuchung zum Sündenfall abspielt.

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„Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben. Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.“ (Gen 3,1-6)

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Das Paradox der Versuchung, zu sein wie Gott

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Die Schlange lockt damit, dass die Menschen wie Gott werden können. Und sie lockt damit im Paradies, wo Gott dem Menschen an all Seiner Herrlichkeit Anteil gegeben hat. Der Mensch ist von Gott geschaffen als Sein Bild und Gleichnis. „Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt“, sagt der Psalmist (Ps 8,6). Er ist doch schon „wie Gott“! Wie kann die Schlange ihn dann noch verlocken mit der Verheißung, er würde sein wie Gott?

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Bleiben wir einen Augenblick bei diesem Rätsel, diesem Paradox, dieser Widersinnigkeit. Hier spiegelt sich die Erfahrung der biblischen Israeliten: Alles hatten sie von Gott erhalten. Da mussten sie doch kapiert haben, dass sie ganz auf Gott vertrauen konnten, darauf, dass sie auch künftig alles Nötige von Gott erhalten würden. Dennoch ließen sie sich blenden von den greifbareren Verheißungen glänzender heidnischer Nachbarvölker. Wir finden dieses Paradox auch in unserer eigenen Erfahrung, etwa der grundlosen Liebe. In solcher Erfahrung weiß ich, dass ich ganz um meiner selbst willen angenommen bin, und dass ich eine blendende Fassade überhaupt nicht brauche, ja dass sie sogar hinderlich ist für die Entfaltung meiner wahren Werte. Dennoch falle ich immer wieder in die Gewohnheit zurück, die anderen durch das was ich kann und habe zu beeindrucken. Wenn der Mensch weiß, dass er am herrlichsten ist, wenn er die Herrlichkeit Gottes widerspiegelt, warum verfällt er dann immer wieder in den Irrsinn, seine erbärmliche Selbst-Herrlichkeit zur Schau zu stellen?

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Warum gingen Adam und Eva der Schlange auf den Leim?

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Kehren wir zurück zur Sündenfallerzählung. Warum also konnten Adam und Eva, denen es doch an nichts mangelte, bei sich auf einmal einen fundamentalen Mangel feststellen: dass sie noch nicht wie Gott waren, und folglich in Gier danach entbrennen, das Wie-Gott-Sein an sich zu reißen?

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Es gibt zwei verschiedene Perspektiven, aus denen die ersten Menschen ihre paradiesische Situation betrachten konnten: Die erste Perspektive ist eine naive: Nach ihr stellen die Menschen fest, dass es ihnen an nichts fehlt. Dankbar und zufrieden leben sie „wie Gott“ im Paradies. Die zweite Perspektive ist eine raffinierte. Mit ihr schaut der Mensch nicht nur auf das, was er geschenkt bekommen hat und auf den Umstand, dass ihm nichts fehlt. Er vergleicht überdies den eigenen Stand mit jenem Gottes. Aufgrund dieses konkurrierenden, rivalisierenden Vergleichens stellt er fest, dass es doch einen Unterschied gibt, und zwar einen gravierenden: „Gott hat alles aus sich alleine heraus. Er verdankt es niemandem. Wie Gott sein heißt also, dass auch ich alles aus mir alleine heraus habe.“

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Es ist diese neue Perspektive, die die Schlange einbringt, – die raffinierte Schlange, die „schlauer war als alle Tiere des Feldes“. Sie kann nicht auf einen real bestehenden Mangel verweisen. Einen solchen gibt es nicht. Alles was sie kann ist, durch raffinierte Verschiebungen Gott und seine Gabe ins Zwielicht zu bringen. Dieses Verwirrspiel wird von der Erzählung meisterhaft in Szene gesetzt.

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„Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ – Eva versucht richtig zu stellen, aber etwas von der Verzerrung bleibt doch an ihr haften: Nur der Baum in der Mitte ist uns verboten, an ihn dürfen wir nicht rühren. Parallel zu dieser Übertreibung verschiebt sich das Bild von Gott. Die persönliche Jahwe-Anrede weicht der distanzierteren Rede von Elohim („Gottheit“), – eine wichtige Nuance, die in der Übersetzung nicht mehr sichtbar ist. Weiters rückt der verbotene Baum in die Mitte. Alles beginnt sich um ihn zu drehen. Das Paradies ist nur noch Verbot!

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Aber hat die Schlange nicht doch Recht? Hat Gott nicht wirklich einen Unterschied zwischen sich und den Menschen aufgepflanzt: den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse? Hat Gott nicht von Anfang an ein willkürliches Verbot aufgestellt, an dem Er jederzeit austesten kann, ob der Mensch noch bereit ist, sich Gott zu unterwerfen?

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Ich bitte Sie, halten Sie hier inne und konfrontieren Sie das hier überlegte mit Ihren eigenen Vorstellungen von Gott!

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Das macht doch vielleicht Sinn: Der Mensch verdankt Gott so viel, dass ein blinder Gehorsam – auch ohne den Sinn des Verbotes zu verstehen – als Zeichen des Vertrauens wohl nicht zu viel verlangt ist. Wer das nicht fertig bringt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er aus dem Paradies fliegt.

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Mit einer solchen Vorstellung von Gott gibt es eine große Schwierigkeit. Vieles in den Schöpfungserzählungen und im christlichen Schöpfungsglauben weist darauf hin, dass Gott den Menschen Selbstbestimmung gegeben hat. Sie sollen den Tieren Namen geben, sie sollen über die Welt herrschen, und sie sollen auf die Dinge selber draufkommen. Wenn Gott dann noch ein Willkürverbot aufstellt, dann nimmt er mit der anderen Hand, was er zuvor mit der einen Hand gegeben hat. Dann stellt er den Menschen ein Bein. Dann lockt er sie in eine Falle.

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Wenn wir Gott so verstehen, erliegen wir einer tragischen Verwechslung. Gott wird dann zum Inbegriff von Geboten und Regeln, denen wir blind gehorchen müssen. Gott wird zu dem, was die Tiefenpsychologie als über-Ich bezeichnet, zu einem Vater-Ideal, von dem sich der junge Mensch irgendwann emanzipieren muss. Eine solche Verwechslung bringt zwei Arten von Menschen hervor: die einen, die Gott als Inbegriff eines festgelegten Gesetzes respektieren und von den anderen gefälligst das Gleiche verlangen. Und die anderen, die sich von dem so verstandenen Gott freikämpfen. Beides sind tragische Gestalten. Die ersten vertauschen den wahren Gott mit ihrer intoleranten Idee davon. Die zweiten gehen dieser Verwechslung auf den Leim und meinen, nur sie selbst sein zu können, wenn sie Gott vom Thron stürzen.

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Von da her ist es nicht verwunderlich, dass Auslegungstraditionen der Sündenfallerzählung immer die Sichtweise der Schlange übernahmen und den Schöpfergott als kleinlichen Tyrannen denunzierten. So finden wir es ausdrücklich in gnostischen Texten aus frühchristlichen Jahrhunderten, die bis in satanistische Ideologien in unserer Zeit weiterwirken. Näher steht uns die verbreitete Interpretation wichtiger deutscher Denker aus dem Anfang der Neuzeit. Kant, Hegel und Schelling vertraten die Überzeugung, dass der Sündenfall eine menschheitsgeschichtliche Notwendigkeit war: Er bedeute die Emanzipation des Menschen nicht zur Unmoral sondern zu einer selbstverantworteten Moral. Erst mit dem Sündenfall wären Menschen so weit gekommen, selber zu denken und selber Verantwortung zu tragen. Erst durch ihn wäre der Mensch wirklich Mensch geworden. Im Gefolge solchen Denkens erscheint es nur als konsequent, wenn Religionskritiker der folgenden Generationen im Namen des Menschen den Tod Gottes proklamierten. Man meint dem Menschen einen Dienst zu tun, wenn man Gott verabschiedet.

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Welch groteske Verzerrung und welch tragisches Missverständnis! Die Autonomie des Menschen, die hier gegen Gott erkämpft werden will, ist doch gerade als Auftrag des Schöpfergottes zu verstehen! Und verwirklicht werden könnte sie nur mit Gott. Dadurch, dass der Mensch Gott in sich Raum gibt – und zwar dem wahren Gott, und nicht einer engen Vorstellung von Ihm. Wenn das stimmt, dann ist das Projekt einer Emanzipation gegen Gott die programmierte Verzweiflung.

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Wofür der Baum der Erkenntnis wirklich steht

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Allerdings dürfen wir dann den Baum der Erkenntnis nicht mehr als Gegenstand eines göttlichen Willkürverbots begreifen. Es muss eine andere Möglichkeit geben.

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Wir haben gesehen, dass auch dann, wenn Gott dem Menschen alles schenken will, dennoch eine Sache übrigbleibt, die Gott dem Menschen nicht schenken kann: Gott kann dem Menschen nicht geben, dass er seine Gaben aus sich selbst heraus hat, ohne sie Gott zu verdanken. Gott kann dem Menschen nicht schenken, dass er das Geschenkte nicht als Geschenk hat. Für dieses Ausschließlich-aus-sich-selber-Haben und Nicht- Verdanken steht der Baum der Erkenntnis. Gott muss dem Menschen verbieten, von diesen Früchten zu nehmen. Denn wenn der Mensch alles ausschließlich aus sich selber heraus haben und niemandem verdanken will, dann muss er zwangsläufig alles andere, was Gott ihm gegeben hat, verlieren. Das heißt, er wird nackt sein, rausgeworfen aus dem Paradies, zurückgeworfen auf das Nichts, das er aus sich selber ist. Er wird sterben.

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Diese Deutung lässt sich bestätigen, wenn wir nachfragen, was denn das heißt: „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“. Wir müssen hier Erkenntnis in der starken biblischen Bedeutung verstehen. So wie es heißt: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain“ (Gen 4,1). Erkennen in der biblischen Bedeutung ist alles andere als das passive Erfasstwerden von etwas Vorgegebenen. Es ist ein kreativer Akt. Gut und Böse erkennen heißt: aus eigener Vollmacht heraus festlegen, was gut und was böse ist. Damit fällt das Erkennen von Gut und Böse der Sache nach zusammen mit dem Sein-wie- Gott. Beidemale handelt es sich um die Loslösung von Gott, um das Eigene aus sich heraus zu haben, ohne es Gott zu verdanken. Darin besteht die Verlockung der Schlange, darin besteht der Sündenfall.

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„Sein wie Gott“ als verdankte Autonomie

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Warum konnte die gute Schöpfung in die böse Gewalt abgleiten? Warum war der Sündenfall möglich? Warum musste der Baum der Erkenntnis – von dem inzwischen feststeht, dass Gott vor ihm warnen muss – im Paradies stehen? Das hat damit zu tun, dass es etwas gibt, was wertvoll ist, unverzichtbar wertvoll, und das unheimlich nahe bei etwas liegt, das verhängnisvoll und verderblich ist. Es gibt eine verdankte Autonomie, eine selbständige Herrlichkeit, die Gott den Menschen nicht vorenthalten wollte, auch wenn damit die Gefahr verbunden ist, dass sie in eine missverstandene, selbst-herrliche Autonomie abgleitet. Beides, das Wahre und das Pervertierte, wird erfasst von den Ausdruck „Sein wie Gott“. „Sein wie Gott“ ist einerseits die höchste Verheißung und Zielbestimmung des Menschen als lebendiges Ebenbild Gottes, das die Herrlichkeit Gottes widerspiegelt, und zwar so, dass diese Herrlichkeit doch ganz seine, des Menschen Herrlichkeit ist. Und „Sein wie Gott“ ist der Inbegriff der Sünde, die Wurzel von allem Bösen, wenn es verstanden und gelebt wird als eigen- mächtiges, selbst-herrliches und unverdanktes Wie-Gott-Sein.

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Minimale Differenz zwischen gesunder Selbstbejahung und Hochmut

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Der Sündenfall ist die Pervertierung vom Sein- wie- Gott als dankbar angenommenem Gnadengeschenk zum Sein-wie-Gott als selbstherrlich vertretenem Anspruch. Er ist die Verkehrung einer guten verdankten Autonomie zu einer eigenmächtigen Autonomie, die sich niemandem verdanken will. Ihrem Wesen nach sind beide Formen vollkommen verschieden. In der Weise, wie sie erscheinen, sind sie aber in hohem Maße verwechselbar. Diese Schwierigkeit ist uns auch aus eigener Erfahrung vertraut. Wir sollen uns unserer Erfolge freuen und auch stolz darauf sein. Das abzulehnen, wäre eine falsche Demut, mit der das Christentum allzuoft verwechselt wurde. Wo aber hört die gesunde Selbstbejahung auf und beginnt der eitle Hochmut?

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Minimale Verschiebungen führen zum Sündenfall

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Im praktischen Leben sind es minimale Verschiebungen, die aus der guten eine schlechte Autonomie machen. Von solchen minimalen Verschiebungen erzählt die Bibel in der Versuchungsgeschichte mit der Schlange, um zu zeigen, wie es zum Fall in die Sünde kam. Wo genau ereignete sich Sündenfall? Als Adam und Eva von der Frucht aßen? Oder schon vorher, als sie begannen, Gott zu misstrauen? Oder noch früher, als sich ihre Perspektive zur raffinierten verschob und sie begannen, sich mit Gott zu vergleichen? Es sind viele einzelne Schritte auf dem Weg in den Sündenfall, von denen jeder so winzig ist, dass gar niemand nötig ist, der diese Verschiebungen von außen anstößt. Dass die Menschen von ihrer ursprünglichen Ausrichtung auf Gott abrutschten, darf deshalb nicht einfach einer bösen, teuflische Schlange angelastet werden. Die Verschiebungen können auch aus den kleinen, zufälligen Schwankungen entstehen, die dem menschlichen Denken und Fühlen eignen. Der Mensch freut sich über die Fülle seiner Gaben, und in spielerischem übermut misst er sie mit der Herrlichkeit Gottes. Auf einmal erhebt sich ein verunsichernder Gedanke: Wäre da nicht doch etwas, was Gott hat und der Menschen nicht? ...

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Solche kleine Verschiebungen bewirken nicht zwangsläufig eine Entfremdung von Gott. Sie führen zu Situationen, in denen eine negative Alternative zur dankbaren Anerkennung Gottes auftritt. Des Menschen Vertrauen zu Gott ist auf die Probe gestellt, und er ist vor die Wahl gestellt, sich für oder gegen Gott zu entscheiden.

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10 Vergleich: die perfekte Spinne

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Der Sündenfall besteht mithin darin, dass der Mensch das Alles, das ihm von Gott gegeben ist, sein Bild-Gottes-Sein und in diesem Sinn sein Wie-Gott-Sein um einen kleinen aber verhängnisvollen Schritt überstrapaziert. Diese Bewegung gleicht dem folgenschweren kleinen Schritt- zuviel, den in einer denkwürdigen Erzählung die perfekte Spinne vollzieht.

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Eine Spinne hatte ein wunderschönes Netz gewoben. Immer wieder kletterte sie hin und her, um sich an ihrem Werk zu freuen, viele Tage lang. Wahrhaftig, ein perfektes Netz! Eines Tages stieß die Spinne auf etwas, das nicht in das vollkommene Bild passte. Da war ein Faden, der reichte von einem Netzknoten aus kerzengerade nach oben. Nur dieser eine Faden war zu viel. Er begann sie zu stören. Wenn sie ihn entfernte, dann erst hätte sie wirklich das perfekte Netz. Schließlich kroch die Spinne zu diesem Faden und biss ihn durch. – Das Netz brach in sich zusammen. Die Spinne hatte übersehen, dass es dieser Faden war, an dem das Netz aufgehängt war.

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3.4 Die Früchte des Bösen / Welt im Zwielicht

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Die Wurzel des Bösen: auf selbstherrliche Weise wie Gott sein wollen

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Die Wurzel des Bösen besteht aus dem Drang, mit Gewalt an sich zu reißen, was man nur als Geschenk haben kann: Die Herrlichkeit Gottes. Das ist die Wurzel der Sünde gegen Gott, denn Gott, der sich selbst verschenken will, wird dabei zurückgewiesen. Es ist die Wurzel der Selbstzerstörung, weil der Mensch ohne Gott sich verliert. Und es ist die Wurzel von Gewalt gegen die Menschen und gegen die Schöpfung insgesamt.

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Eine heillose Überforderung

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Das alles wird ausgelöst von dem, was die Bibel als unmittelbare Folge des Sündenfalls beschreibt:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. ...“ (Gen 3,7)

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Es ist eine heillose Überforderung, wenn der Mensch aus Eigenem heraus wie Gott sein will. Wer sich unter diesen Anspruch stellt, wird seine Nacktheit erkennen und darüber verzweifeln. Er kann sie nicht akzeptieren und muss sie vor den anderen ängstlich verbergen.

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„... Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“ (Gen 3,7)

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Ein Blick in unsere heutige Welt

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Unter keinen Umständen dürfen die anderen von Ihrer beschämenden Nacktheit erfahren, also verstecken Sie sie hinter „Feigenblättern“: Masken und Fassaden. Eine imposante Erscheinung aus Besitz, Macht und Esprit hilft, das abgrundtiefe Minderwertigkeitsgefühl zu verhüllen, – vor anderen und vor Ihnen selber. Haben Sie Erfolg damit, dann erhöhen Sie zugleich den Druck auf die anderen, – jedenfalls auf jene, die ihre Verwurzelung in der göttlichen Herrlichkeit verloren haben. Wer nicht als „Looser“ erscheinen will, darf hinter den anderen nicht zurückstehen. Es kommt zum Konkurrenzkampf, in dem derjenige mit der besten Ausstattung siegt: ein aufwändiger Kampf um Prestigegüter beginnt. Hat der andere einen Sportwagen, brauchen Sie auch einen. Hat der andere einen Spitzenjob, dürfen Sie nicht zurückstehen. Spielt der andere Golf oder fährt auf den Urlaub in die Karibik, so müssen Sie schon mithalten können. Es ist nicht schwer festzustellen, wie viel Problematisches unserer heutigen Welt in einer solchen Logik gründet: die Fortschrittsideologie, die Vermarktung aller Lebensbereiche, der Wettbewerbsdruck mit Rankings und Evaluationen, die gesundheitliche Stressüberlastung, die unsinnige Verschwendung von Rohstoffen aus der Natur. Wie viel braucht der Mensch wirklich, und wie viel verpulvert er in den unsinnigen Kampf, sich eine gute Position zu sichern?

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Und die großen Gewinner? Diejenigen, die es geschafft haben, die Kings und Queens der Unterhaltungsindustrie oder der Wirtschaftsjournale? In gewisser Weise haben sie es am teuflischsten erwischt. Stellen Sie sich vor, Sie sind ganz oben, auf dem Gipfel. Nichts mehr ist zu gewinnen, alles liegt unter Ihnen. Was sie nur wünschen an materieller Ausstattung oder an Bewunderung von Anderen, steht zu Ihrer Verfügung. Und dann fühlen Sie in sich hinein und stellen fest: Sie sind trotzdem nicht glücklich. Sie fühlen sich ausgebrannt, leer und enttäuscht. Nach kurzem Erfolgsrausch ist das nagende Gefühl wiedergekehrt, dass Sie im Grunde Ihres Wesens ein Nichts sind, dass Sie das Entscheidende des Lebens verpasst haben. Im Spiel um den Platz an der Sonne haben Sie zwar gewonnen. Aber gerade dadurch haben Sie umso schlimmer verloren, – nämlich die Illusion, dass die Erfüllung Ihrer Wünsche Sie glücklich macht. Die Verlierer können wenigstens noch träumen. Sie aber haben alles was etwas gilt, an sich gerissen, nur um festzustellen, dass es wertlos ist. Gewiss: Solche Enttäuschung enthält die Chance zur Besinnung auf die wahren, nichtmaterielle Werte. Nur, das teuflische Problem ist: Gerade an den Spitzenpositionen ist die Chance zur Erfahrung echter Werte, – der unberechenbaren Liebe, des absichtslosen Schönen – gering. Liebt sie mich oder mein Geld, fragt misstrauisch der Millionär. Und wir müssen ihm zugestehen: er hat allen Grund zum Misstrauen.

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Der sich beschleunigende Wettbewerb aller gegen alle produziert zunehmend Verlierer. Da sind jene, die nicht mehr mithalten können oder wollen: Menschen, die sich gerade noch mitschleifen lassen und ihr Heil in Konsum und Rausch suchen, – am Feierabend, im Urlaub und in länger werdenden Krankheitszeiten; dann die Aussteiger, „Dropouts“, die gerade noch Sozialhilfe beziehen, – solange die Reste des Sozialstaates noch nicht der neoliberalen New Economy gewichen sind. Und es gibt die Verlierer auf globaler Ebene: Staaten und Weltregionen mit Wettbewerbsnachteilen und Überschuldung. Immer muss es welche geben, die die Zeche bezahlen für den rasenden Höhenflug jener, die man der „erste Welt“ zurechnet. Gewiss gibt es Bemühungen zum Ausgleich, zu mehr gerechtigkeit. Das liegt schon allein im Interesse zur Selbsterhaltung von jenen, die oben sind. Ungleichheit destabilisiert, und wer von den Nutznießern des Systems will schon Destabilisierung? Aber Verlierer wird es immer geben, es muss sie geben. Denn der Blick auf die Verlierer ist der letztlich ausschlaggebende Lohn für denjenigen, der sich die Seele aus dem Leib rackert, um jemand zu sein. Er sähe sich betrogen um seinen Gewinn, wenn neben ihm der andere ohne Mühe dasselbe erreicht: der Einwanderer mit dem Golf-Cabrio, die Aussteigerin mit dem arbeitslosen Grundeinkommen. Er genießt die Horrormeldungen von der steigenden Zahl von Rauschgifttoten, von Kriminalität, von Katastrophen und Kriegen, solange es ihn nur nicht persönlich bedroht. Ein Unglücksfall in der Nachbarschaft erfüllt ihn mit uneingestandener Genugtuung. Alles das ist auch gut, denn es hängt die anderen ab und steigert die Distanz, zwischen mir, der ich es zu etwas gebracht habe und den anderen, die halt versagten oder Pech hatten. Irgendwie muss man sich doch entschädigen für diese Schinderei, mit der man Position und Güter erreicht hat, die man doch nicht recht genießen kann. Wie viele Medienberichte zehren von solchem Verlierervoyeurismus!

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Wo befinden wir uns? Wir haben unser Thema nicht verloren. All das gehört zur traurigen Entfaltung des Bibelverses:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“ (Gen 3,7)

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Man kann sehr viel Aufwand treiben mit den Feigenblättern, die die eigene Nacktheit verbergen sollen. Die Not und auch die Lust an solcher Maskierung sind so groß, dass man Menschen ein Leben lang dafür auf Trab halten kann. Unsere Leistungs- und Konsumgesellschaft ist von Systemen beherrscht, die diese Lust und Not schamlos ausbeuten. Wer davon noch nicht überzeugt ist, braucht nur ein paar Werbespots anzuschauen.

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All die Missstände und Enttäuschungen, von denen in den letzten Absätzen die Rede war, gründen im höchst aufwändigen und letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch des Menschen, der Gott verloren hat, eine Fassade eigener Herrlichkeit aufzubauen. Die Folgen dieser Vertauschung sind deshalb so schwerwiegend, weil sie höchst ansteckend sind. Ein Mensch verbirgt sein Nichtigkeitsgefühl hinter einer blendenden Fassade und provoziert die anderen dazu, dasselbe zu tun. Nach welchen Gesetzen verläuft solche Ansteckung?

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Die Ansteckungskraft des Bösen in „mimetischer Analyse“

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Eine Person, die Gott verloren hat, wird von einem tiefen Mangelgefühl und einer bohrenden Sehnsucht erfasst. Weil sie Gott aus dem Blick verloren hat, weiß sie aber auch nicht, womit sie diese Sehnsucht ausfüllen kann. Deshalb orientiert sie sich spontan an dem, was andere Menschen begehren.

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In prägnanter Kürze lässt sich für die Menschen, die Gott aus dem Blick verloren haben, formulieren

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1. Die Menschen sind erfüllt von Begehren.

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2. Sie wissen aber nicht, was sie wollen sollen.

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3. Also richten sie sich spontan nach dem, was andere Menschen wollen.

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Diese Thesen sind zentral für die Theorie des französisch-amerikanischen Kulturtheoretikers René Girard, mit dessen Thesen sich die Innsbrucker Systematische Theologie eingehend auseinandersetzt. Leitbegriff ist dabei „Mimesis“ bzw. „mimetisch“, womit ein innerer Zusammenhang zwischen Begehren und Nachahmen gemeint ist, der sich in beide Richtungen beschreiben lässt: a) ausgehend vom Begehren hin zur Nachahmung: Die Ausrichtung unseres Begehrens ist nicht einfach naturgegeben und entspringt auch nicht einfach spontan unseren persönlichen Vorlieben, sondern wird stark beeinflusst von dem, was andere Menschen begehren; wobei diese Beeinflussung so unmittelbar und unterschwellig läuft, dass wir es oft selber gar nicht bemerken. b) ausgehend von der Nachahmung hin zum Begehren: Nachahmung ist eine zentrale Eigenschaft für den Menschen. Solche Nachahmung bezieht sich nicht nur auf Verhaltensweisen, sondern in oft folgenschwerer Weise auf Gesten des Begehrens.
Folgenschwer ist Mimesis, bzw. Nachahmung des Begehrens, wenn das Begehren nach dem Besitz eines Gegenstandes, eines Menschen (der dabei leicht zum Gegenstand degradiert wird) oder einer vorteilhaften Position andere Menschen dazu verleitet, spontan dasselbe zu begehren. So entsteht Rivalität, die leicht zu Gewalt führen kann.
Mimesis führt so zu einer allgemeinen Zunahme von Rivalität, Unfriede und Unzufriedenheit in Gemeinschaften und Gesellschaften. Eine überwindung dieses oft bedrohlichen Unfriedens erfolgt oft ebenso spontan (und mimetisch vermittelt) durch die einhellige Ablehnung von Menschen, die als Sündenbock gebrandmarkt werden.

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Diese Gesetzmäßigkeiten lassen sich in verschiedenen Zusammenhängen bestätigen. Vieles in der Werbung funktioniert nach diesen Prinzipien: Will man die Attraktivität eines Produkts erhöhen, so zeige man, wie andere Menschen dieses Produkt begehren. Solche Werbespots bilden Situationen ab, die wir aus Beziehungen und Gemeinschaften kennen, die von Rivalität geprägt sind. Da geht es nicht nur um Luxusgüter. Es geht auch um Menschen, die wie Prestigeobjekte behandelt werden. Dadurch, dass ein Mädchen von einem Burschen begehrt wird, steigt seine Attraktivität auch für andere. Hat das Mädchen das Vertrauen in seinen natürlichen Liebreiz (seine gottgegebene Herrlichkeit) verloren, so wird es solches Prestige als wohltuende Ichstärkung empfinden und es durch Koketterie zu steigern versuchen. Damit liefert es sich einem Prozess aus, der es zur Ware degradiert. Die zerstörerische Wirkung dieses Weges zeigt sich in den Karrieren vieler Models.

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Dass das richtungslos gewordene Begehren ansteckend ist, führt nicht nur zu einer Eskalation des materiellen Mitteleinsatzes. Es treibt Menschen auch in die Rivalität gegeneinander. Das ist dann der Fall, wenn das Begierdeziel sich nicht teilen lässt. Mehrere Menschen bewerben sich um denselben Posten. Oder zwei Freundinnen konkurrieren um denselben Mann. – Die Ansteckungskraft der Begierde kann in Gemeinschaften fortgesetzte Zwistigkeiten heraufbeschwören, die den Hass zwischen einzelnen Mitgliedern anstachelt. Der allgemeine Unfriede steigt, und die Einheit kann oft erst dadurch wieder hergestellt werden, dass man miteinander gegen einen gemeinsamen Feind kämpft. Das kann ein Sündenbock aus den eigenen Reihen sein oder eine feindliche Gruppe. Wir wissen aus Berichten vom Beginn des ersten Weltkriegs, welche Begeisterung, welche Höhenflüge von Kameradschaftsgeist und anderen Werten durch den gemeinsamen Zug gegen einen gemeinsamen Gegner entbunden werden können.

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Die Folgen des Sündenfalls

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Kehren wir zurück zur biblischen Erzählung und zu den Folgen des Sündenfalls, die die Bibel nennt. Die Menschen fühlten sich nackt und schämten sich voreinander. Sie versteckten sich vor Gott, und – zur Rede gestellt – schoben sie die Schuld ab: Adam auf Eva und Eva auf die Schlange; eine der ersten Früchte des Sündenfalls ist der Zusammenbruch der Solidarität. Die Vertreibung aus dem Paradies ist nicht eine willkürliche Strafe Gottes, sondern sie liegt in der Natur der Sache: Wer alles aus eigener Herrlichkeit will, kann nicht mit dem leben, das nur als Geschenk angenommen werden kann. In der Weise eines Selbstgerichts ist auch der Fluch zu verstehen, dass Adam im Schweiße seines Angesichts arbeiten muss.

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Das Wesentliche am Paradies war die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott. Vertreibung aus dem Paradies bedeutet, dass diese Gottesgemeinschaft verloren oder zumindest beeinträchtigt ist.

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Das ist die Ausgangssituation für den Konflikt zwischen Kain und Abel. Kain hat den Eindruck, Abels Gottesverhältnis sei besser als das seine. Und das ist für ihn unerträglich. Das hätte nicht so sein müssen. Kain hätte auch dankbar teilnehmen können am Gottesverhältnis seines Bruders! Aber hier ging es gar nicht um die Nähe Gottes. In diesem Konflikt sind Gott und die Zeichen seiner Zuwendung in Dienst genommen zur Aufmöbelung der eigenen Ich- Fassade. Wie wir es bei Kindern kennen: „Ätsch, mich mag die Mama mehr als dich!“ Ob Abel wirklich eine solche Rockzipfelmentalität gehabt hat oder ob Kain sich das nur so eingebildet hat – jedenfalls war für Kain das Gefühl, von Gott weniger gemocht zu werden als sein Bruder, unerträglich. Für ihn war das eine solche Demütigung, ein solches Zurückgestoßenwerden in Nacktheit und Nichtigkeit, dass er diese Schmähung mit Gewalt auslöschen musste. Es ist eine Eigenschaft von Neid und Eifersucht, dass sie weniger an der Verbesserung der eigenen Verhältnisse interessiert ist als an der Vernichtung des Vorteils des anderen. Dass der Brudermord sein angeschlagenes Gottesverhältnis noch weiter verschlechtern würde, zählt für Kain nicht. Hier geht es nicht um Gott! Es geht um Kains Selbstbild, das durch den Vergleich mit seinem Bruder Schaden genommen hat. So erschlägt Kain seinen Bruder. Und als Gott ihn fragt, wo sein Bruder Abel sei, antwortet er: „Ich weiß es nicht, bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9).

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Am Sündenfall des ersten Menschenpaares konnten wir die Wurzel der Sünde ablesen: das selbstherrliche Wie-Gott-sein-Wollen. Bei Kain finden wir die beiden Früchte der ausgewachsenen Sünde: Es sind Lüge und Mord.

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Im Neuen Testament wird diese Einsicht weitergeführt. Die Evangelien beschreiben, wie die führenden Israeliten von einem Geist des Hochmuts getrieben sind, durch den sie in Jesus einen gefährlichen Rivalen sehen („Er verführt das Volk“). Das was ihrem eigenen Tun zugrunde liegt, werfen Sie Jesus vor: „Du willst dich selbst zu Gott machen“. Jesus deckt diesen Ungeist in ihnen auf und benennt ihn mit zwei charakteristischen Taten: Lüge und Mord.

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„Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Ich bin nicht in meinem eigenen Namen gekommen, sondern er hat mich gesandt.
Warum versteht ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören.
Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“
Joh 8,42-44

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Das selbstherrliche Wie-Gott-sein-Wollen führt zwangsläufig zum ängstlichen Verbergen der eigenen Nacktheit. Unaufrichtigkeit, Täuschung und Lüge trübt das Verhältnis zwischen den Menschen. Sie geben sich anders als sie sind und müssen die Aufdeckung dieser Täuschung um jeden Preis verhindern. Kain fühlte sich durch die eingebildete Besserbehandlung seines Bruders zutiefst bloßgestellt. Seine Fassade drohte einzustürzen, und er fürchtete als Versager dazustehen. Für den Menschen, der Gott aus dem Blick verloren hat, ist der Zusammenbruch des falschen Selbst so bedrohlich, es löst eine solche narzisstische Wut aus, dass er alleszerstören könnte. Da ist sogar Mord möglich.

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Welt im Zwielicht

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Selbstherrliche Menschen verführen andere zur Selbstherrlichkeit. Sie verunsichern und verleiten andere dazu, dass auch sie mehr scheinen wollen als sie sind. Dagegen können Menschen, die Gottes Herrlichkeit in sich Raum geben, auch anderen helfen, Gott wiederzufinden. Sie brauchen dazu weder Worte noch sonstige Anstrengungen. Sie bewirken das einfach durch ihr Sein. Solche authentische Menschen haben eine größere Widerstandskraft gegen die Verlockung zu scheinen. Sie können zugeben, weniger zu haben und weniger zu können und nehmen so dem Rivalen den Wind aus den Segeln. Sie schauen durch die Fassade des eitlen anderen hindurch auf dessen wahres Selbst. Sie können ihn dort annehmen und ihn so stärken.

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Die menschliche Person kann für den Nächsten also zweierlei sein: Ist sie durchlässig – transparent – für Gottes Herrlichkeit, so vermittelt sie für ihn Gottes Nähe. Sie wird für ihn zum Mittler für Gott. Sie spiegelt Gottes Herrlichkeit und wird so zum Symbol für Gottes Gegenwart. Ist sie hingegen undurchlässig – opak – für Gott, indem sie selbstherrlich auf sich verweist, verliert sie nicht nur ihre Mittlerschaft, sie leitet definitiv von Gott weg. Sie ist dann nicht mehr Licht, sondern Irrlicht. Sie ist nicht mehr Symbol für Gott, sondern sie wird zum Diabol: auf diabolische Weise verwirrt sie die Menschen anstelle ihnen Orientierung zu geben.

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Das Kunstwort Diabol bezieht sich auf das griechische Wort diaballein, das das Gegenteil von symballein besagt: auseinanderbringen, entzweien, aber auch: täuschen, betrügen. Mit diesem Wort soll darauf hingewiesen werden, dass der auf sich selbst verweisende Mensch den Gottesbezug auseinanderbringt und die Menschen täuscht. Zugleich erinnert das Wort Diabol (von seiner griechischen Herkunft her) an das Wort diabolisch, teuflisch. Das Wortspiel Symbol-Diabol verweist darauf, dass der Mensch, wenn er die göttliche Macht in sich nicht würdigt, Wirkungen auf andere Menschen ausübt, die gemeinhin dem Teufel zugeschrieben werden.

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Symbol oder Diabol, Gottesmittlerschaft oder diabolische Gottesverwirrung, Transparenz oder Opazität für Gott, Sein-wie-Gott in dankbarer Würdigung Gottes oder als Selbstverherrlichung: In diesen Gegensätzen spiegeln die Abgründe zwischen Gut und Böse, Heil und Unheil, Erfüllung und Zerstörung. Aber nur in abstrakter Entgegensetzung ist die Unterscheidung eindeutig. Wenn wir auf die konkreten Ereignisse unserer Lebenswelt schauen, dann sind uns eindeutige Zuordnungen meistens verwehrt. – Ein Priester predigt leidenschaftlich über Gott. Verweist er auf Gott oder zelebriert er seine eigene Rednergabe? Es mag Extreme geben, wo man eindeutig spürt, dass da einer selbstlos dient oder sich selber verherrlicht. Aber meist liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. – Ein Mensch liebt eine andere Person. Er ist tief überzeugt, dass alles Falsche von ihm abgefallen ist, und dass er die Auserwählte mit reiner Liebe liebt, sie selbst und nicht bloß ihre attraktive Erscheinung. Aber ist er wirklich aufrichtig? Täuscht er sich nicht über sich selber? – Umgekehrt: Ein Großunternehmer und Karrieremensch bietet im Radio für einen sozialen Härtefall seine Unterstützung an. Ist es eindeutig, dass er nur sein Image polieren will?

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Nichts im konkreten Leben ist selbstverständlich eindeutig, nicht das augenscheinlich Gute – in der Erfahrung der Liebe und des Schönen – und nicht das augenscheinlich Heillose. Das gilt auch für die Beispiele, die ich selber angeführt habe. Woher will ich wissen, dass der Superstar ganz oben wirklich unglücklich ist? Mag sein, dass die Luft der Gnade oben dünner ist. Aber allein weil jemand auf den Titelseiten der Illustrierten gefeiert wird, können wir nicht gleich annehmen, dass er seine Seele verkauft hat. Das Beispiel könnte mehr über den Neid der Besitzlosen aussagen als über die Heillosigkeit der Besitzenden.

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4. „Ich glaube an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn ...“

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4.1 Jesus im Licht verschiedener Vorverständnisse und Erwartungen

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Jesus knüpft an an Heilserwartungen aus dem Alten Testament

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Welche Bedeutung hatte es, wenn Jesus den Menschen das nahe Gottesreich verkündete? Was war der Sinn von Jesu Symbolik, wenn er beim letzten Abendmahl seinen Leib für die vielen hingab? Und wie war es zu verstehen, wenn seine Jünger verkündeten, dass er auferstanden ist? Damit die Botschaften von und über Jesus bei den zeitgenössischen Juden ankommen konnten, mussten sie bereits ein Vorverständnis von diesen Begriffen und Symbolen haben. Jesu Botschaft und Wirken kann deshalb nur begriffen werden, wenn wir das Vorverständnis seiner Umwelt berücksichtigen. Dieses wuchs in der jahrhundertelangen jüdischen Tradition, die wir zu großem Teil im Alten Testament wiedergegeben finden.

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Verbunden mit den Begriffen und Symbolen sind Heilserwartungen. Jesus wirkte in einem Land und in einer Zeit, das von jahrhundertealten Heilshoffnungen bestimmt war. Die Israeliten erinnerten sich an große Verheißungen des Alten Testaments (1), aber auch an die Grenzen, auf die diese Verheißungen stießen (2), und sie hofften darauf, dass sich diese alten Verheißungen in neuer, vertiefter und vollkommenerer Form verwirklichen würden (3). Jesus hat an diese Erinnerungen und Hoffnungen angeknüpft mit dem Anspruch, dass sie mit und in ihm in Erfüllung gehen würden (4).

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Das lässt sich an verschiedenen Beispielen verdeutlichen:

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° Nach der Einsetzung und dem Scheitern der alttestamentlichen Bundesschlüsse zwischen Gott und dem Volk Israel erhoffte Israel einen neuen Bund und ein neues Gesetz, das nun aber in die Herzen der Menschen geschrieben würde, sodass sie den Bund halten können.

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° Nach der Korrumpierung von Gottes Schöpfung durch den fortschreitenden Sündenfall erhoffte Israel eine neue Schöpfung; anstelle des dem Tod verfallenen Lebens sollte Gott das ewige Leben schenken.

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° Nach dem Scheitern der verschiedenen Anführer und Könige erhoffte Israel einen königlichen Messias, der den Menschen nicht nur äußerlich vorangeht, sondern sie von innen her mitreißt.

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Zentral für das jüdische Gottesverständnis war der Bund, den Gott mit den Israeliten geschlossen hat.

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(1. Erinnerung:) Gott hat die Israeliten aus ihren politischen und inneren Abhängigkeiten herausgerufen und sie zu einem Volk gemacht. Auf diese Befreiungserfahrung sollten sie mit einer Selbstverpflichtung antworten. Wenn Sie sich ganz dem einen Gott, den sie als Befreienden kennengelernt hatten, verpflichten würden, dann würde auch Er ihnen treu bleiben und sie zu einem großen, glücklichen Volk machen. Die Bundesverpflichtung war in einem göttlichen Gesetz niedergelegt, das im Dekalog, den Zehn Geboten, gipfelte.

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(2. Krise:) In der folgenden Geschichte erfuhren die Israeliten ihre Unfähigkeit, den Bund zu halten. Das zeigte sich schon in der Anfangsgeschichte nach dem Auszug aus Ägypten: Entbehrungen führten wiederholt dazu, dass das Volk seinem Gott und dem Ihn repräsentierenden Anführer Mose die Treue aufkündigten und zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückwollten. In der späteren Geschichte wurden politische Misserfolge (bis zum Verlust der Souveränität im Exil) von Propheten auf das mangelnde Gottvertrauen zurückgeführt. Mehrfach gab es Erneuerungsversuche, mit der reumütigen Rückkehr zum vollen Glauben der Väter, die aber doch nur halbherzig blieben.

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(3. Neue Hoffnung:) Aus diesen Scheiternserfahrungen heraus wuchs die Hoffnung nach einem neuen Bund. Ihm sollte ein neues Gesetz entsprechen, das den Menschen nicht mehr nur äußerlich aufgetragen war, sondern sie von innen her erfassen würde.

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„Seht, es werden Tage kommen - Spruch des Herrn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde,
nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war - Spruch des Herrn.
Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe - Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.“ (Jer 31,31-33)

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(4. Aufgreifen dieser Hoffnungen durch Jesus und die ersten Christen:) Auf diese Erwartungen konnten Jesus und – in Bezug auf ihn – die Evangelisten zurückgreifen. So geschah es bei den Einsetzungsworten der Eucharistie beim Letzten Abendmahl nach Lukas:

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„Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis!
Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ Lk 22,19f

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Nicht nur in Worten, sondern in vielen zeichenhaften Taten macht Jesus deutlich, dass ein neues Gesetz gilt, welches das Gesetz des Alten Testaments nicht ersetzt, sondern vollendet. Was äußerlich wie Gesetzesbruch aussieht (etwa in Jesu programmatischer Übertretung des Sabbatgebotes), erweist sich als eine Erfüllung des Gesetzes in seinem tieferen Sinn, – nicht nach Äußerlichkeiten, sondern von seiner verborgenen Mitte her. Für Paulus wird dieses Thema zentral sein. – Das verheißene, ins Herz geschriebene Gesetz (vgl. oben das Jeremiazitat) wird durch den Heiligen Geist verwirklicht.

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„Er [Gott] hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.
Wenn aber schon der Dienst, der zum Tod führt und dessen Buchstaben in Stein gemeißelt waren, so herrlich war, dass die Israeliten das Gesicht des Mose nicht anschauen konnten, weil es eine Herrlichkeit ausstrahlte, die doch vergänglich war,
wie sollte da der Dienst des Geistes nicht viel herrlicher sein?“ 2 Kor 3,6-8

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Was mit dem Bundesmotiv für Israel galt, wurde mit dem Motiv der Schöpfung für die gesamte Welt ausgesagt. Die (erste) Schöpfung als ein bleibendes Getragensein von Gott – bildhaft mit dem Paradies dargestellt – war durch den Sündenfall aus den Fugen geraten. Diese Erfahrung mündete in die Erwartung einer neuen Schöpfung (vgl. oben das Kapitel über Schöpfung). Die Vorstellung von Jesu Auferstehung wird in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll: Der auferstandene Jesus ist der Anfang einer neuen Schöpfung.

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Gott hat sich im AT vermittelt durch Vorbilder und Führungsgestalten mitgeteilt: Abraham, Mose. Auch die Könige sollten mit gutem Beispiel vorangehen: David, Salomo... . Ab der Reichsteilung wuchs von Königsgeneration zu Königsgeneration die Hoffnung auf einen neuen König, einem königlichen Messias, der die Beziehung des Volkes zu seinem Gott wiederherstellen und das Volk somit zu neuer Größe führen sollte. Jesus hat das aufgegriffen mit seiner Botschaft vom anbrechenden Gottesreich. Er wurde als Messias, als Sohn Davids gepriesen, aber auch als künftiger politischer Herrscher missverstanden (vgl. Joh 6,15). Dagegen machte er deutlich, dass er ein König der inneren Erneuerung ist. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Nicht die eigene Herrschaft, sondern die Herrschaft Gottes.

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Die Hoffnung auf ein neues Eingreifen Gottes mit neuem Bund und neuer Schöpfung verdichtete sich zu unterschiedlichen Vorstellungen:

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(1) Es gab die Vorstellung einer Bekehrung der Völker, indem ein erneuertes, zu neuer Pracht herangewachsenes Israel zum Vorbild und Anziehungspunkt für viele Menschen werden würde. „In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch“ (Sach 8,23). Inbegriff des strahlend erneuerten Israels war der Jerusalemer Zionsberg, zu dem die Völker am Ende der Zeiten pilgern würden.

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„Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn / steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. / Zu ihm strömen alle Völker.
Viele Nationen machen sich auf den Weg. / Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn / und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, / auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, / aus Jerusalem sein Wort.“ Jes 2,2-3

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(2) Dieser Vision einer friedlichen Bekehrung der Völker stand eine kriegerische Vorstellung entgegen. Am Ende der Zeiten werde Gott Gericht halten über die Welt. Die feindlichen Völker würden zerstört werden und Israel aus den Trümmern zu neuem Glanz erstehen (vgl. Ez 37). Allerdings stellte sich angesichts des Versagens Israel die Frage: Würde es bei einem göttlichen Zorngericht bestehen können?

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(3) Es gab noch eine dritte Vorstellung: Israel oder ein Israel repräsentierender Stellvertreter als leidender Gottesknecht, der von den anderen ungerecht abgeurteilt und verstoßen würde. Dieses Leidensschicksal würde aber ein Umdenken verursachen:

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„Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, / sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, / dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, / war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, / wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, / jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn / die Schuld von uns allen.
Er wurde misshandelt und niedergedrückt, / aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, / und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, / so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, / doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten / und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, / bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat / und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), / er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. / Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.“ Jes 53,3-10

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Diese drei unterschiedlichen Vorstellungen vom Anbruch des endzeitlichen Heil standen unentschieden nebeneinander. Alle drei finden sich in Spuren bei Jesu Wirken. Aber es werden die gewaltlosen über die gewalttätig-apokalyptischen Vorstellungen dominieren. Und als Mittel der Verwandlung der Welt wird sich nicht faszinierender Glanz erweisen, sondern der bis in den Tod führende Einsatz von einem, der „keine schöne Gestalt“ mehr hatte. Dem dritten Bild vom leidenden Gottesknecht, das in der vorchristlichen jüdischen Religiosität nur eine Randbedeutung hatte, wird für das Verständnis Jesu Christi zentral werden. (vgl.

497
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Durch Erwählung, Befreiung und Bund hat Gott sich ein auserwähltes Volk geschaffen, das Heilsmittler für die ganze Welt sein sollte. Doch dieses Volk spaltete sich, wurde ins Exil zersplittert und blieb nach seiner Rückkehr wechselnden Mächten unterworfen. Seine Propheten führten dies zurück auf Israels eigenes Versagen. Seitdem wuchs die Hoffnung auf eine neue Sammlung zu einem neuen Volk (vgl. Ez 37). Hier konnte Jesus anknüpfen. wenn er etwa zwölf Apostel berief, so konnte das als zeichenhafte Wiedererrichtung der zwölf Stämme Israels begriffen werden.

498
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Die Beispiele zeigen, dass Jesus – und mit ihm das Neue Testament – die Gotteserfahrungen und -erwartungen des Alten Testaments voraussetzt und weiterführt.

499
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Hat das Neue Testament das Alte Testament überboten? Diese Frage muss differenziert beantwortet werden. Zunächst muss gesagt werden: Nein! Denn der Gott Jesu Christi steht nicht über dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Es ist genau dieser Gott, den Jesus Christus mit dem Wort „Abba/Vater“, anspricht. Anderseits hat dieser Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sich in Formen mitgeteilt (des Bundes, des Gesetzes, der Verheißungen), die ja zugleich die Formen (von Sprache und Symbolen) waren, die den Menschen damals zur Verfügung standen und als solches immer auch unzulänglich und missverständlich waren. Dieses Problem ist zwar grundsätzlich und damit auch für das Neue Testament unüberwindbar. Aber das letzte Wort des Neuen Testaments ist nicht ein geschriebenes oder gesprochenes, sondern das lebendige Wort Gottes, die Person Jesu Christi. Von dieser Person als Vorbild, Mittler und Maßstab bekennt die Kirche, dass sie über dem alten Testament mit seinen Mittlern – Gesetz und Propheten – steht. (Vgl. Mt 12,41: „Hier aber ist einer, der mehr ist als Jona“).

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Das Verständnis von Jesus Christus – in Wort und Schrift, durch uns und durch die Kirche – ist auf die Person von Jesus Christus ausgerichtet, kann diese aber nie vollständig einholen; sonst könnte sie die Person Jesu Christi ersetzen. Insofern kann der überbietungsanspruch, den wir Jesus Christus zuerkennen, nicht automatisch der katholischen Kirche zugesprochen werden. Diese ist immer unterwegs auf das volle Verständnis Jesu Christi, und muss demütig Erfahrungen auch von außerhalb lernen, – nicht nur vom Alten Testament (das nicht für das Christentum ja nicht „außerhalb“ ist), sondern auch von dessen Auslegungen durch das Judentum, und auch von anderen Religionen und nichtchristlichen Menschen.

501
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Wenn Jesus das Alte Testament überbietet, dann im Hinblick auf einzelne Formen, die auch gegenüber dem ursprünglichen alttestamentlichen Anspruch Unterbietungen oder Verengungen darstellen (z.B. ein verengt ausgelegtes Sabbatgebot). Gegenüber dem Gesetz und den Propheten – als Inbegriff alttestamentlicher Heilsvermittlung – beansprucht Jesus nicht Überbietung, sondern Erfüllung:

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„Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.
Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.
Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.
Darum sage ich euch: Wenn eure gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Mt 5,17-20

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Zum Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament sind damit zwei Extreme („Straßengräben“) zurückgewiesen: Einerseits die sogenannte Substitutionsthese, nach der das Neue Testament das Alte Testament einfachhin ersetzen würde; anderseits die Auffassung, dass Jesus gegenüber dem Alten Testament nichts Neues gebracht hätte. Gemäß letzterer Auffassung wäre Jesus nur ein weiterer Prophet nach den alttestamentlichen Propheten.

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Jesus als Spiegel von unseren eigenen Erwartungen

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Auch unsere Jesusbilder sind von unterschiedlichen Vorverständnissen beeinflusst.

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Eine Fülle von Jesusbüchern bringt immer neue, oft modische Jesubilder, die sich nicht selten wie Moden ablösen und gegenseitig ausschließen:

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° Jesus das moralische Vorbild – Jesus als Entlarver aller Scheinmoral,

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° der sanfte Jesus (mit dem triefenden Nazarenerblick) – der wilde Jesus (der „wilde Mann“, vgl. das gleichnamige Buch von Richard Rohr)

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° Jesus der Friedensstifter – Jesus der Revolutionär, der mit den Machthabern abrechnete ...

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Angesichts dieser Überfülle von Jesusvorstellungen stellt sich die Frage, ob die üblichen Jesusbilder nicht viel mehr Projektionen unserer eigenen Wünsche und Erwartungen sind. Lässt sich der „wahre Jesus“ dahinter noch ausmachen?

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Diese Frage ist nicht neu. Bereits vor über 100 Jahren hat der spätere Urwalddoktor Albert Schweitzer einen Überblick über unterschiedlichste Vorstellungen vom historischen Jesus versucht und wäre daran beinahe verzweifelt. In seiner berühmten „Geschichte der Leben-Jesu- Forschung“ kam er zum Schluss, dass die bereits damals existierenden vielen Jeusdarstellungen weniger Ergebnisse seriöser Forschung als vielmehr Projektionen eigener Wünsche waren.

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„Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinen Werken die Weihe zu geben, hat nie existiert. Sie ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde. Dieses Bild ist nicht von außen zerstört worden, sondern in sich selbst zusammengefallen.“ Albert Schweitzer

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Hier geht es nicht nur um wissenschaftliche Redlichkeit. Ein Jesus, den man sich einfach nach persönlichen Vorlieben zusammenkleistert, teilt auch die Schwächen der jeweils eigenen Positionen. Solche Jesusbilder sind nicht imstande, uns über die Aporien unseres Lebens und unserer Lebensprinzipien hinauszuhelfen. Wir müssen damit rechnen, dass sie nur ein schwächlicher Abklatsch sind von jenem Jesus Christus, der über Hunderte von Generationen Menschen in Bewegung zu setzen vermochte.

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Ein halbierter Jesus, der nur jene Eigenschaften widerspiegelt, die mir angenehm sind, hat auch nur eine halbierte Lebensrelevanz. Es mag sympathisch sein, in Jesus ausschließlich als sanften Friedensstifter zu sehen. Aber was hilft einem ein solches Idealbild für einen ganz und gar nicht friedlichen Lebensalltag? Oft erwächst dann der Eindruck, dass dieser Jesus für unser Leben nichts mehr zu sagen habe; dass sich z.B. mit seiner Lehre (der Bergpredigt) keine Politik machen lasse usw. – Lebensuntüchtig ist dann aber nicht Jesus, sondern das Bild, das wir uns von ihm machen.

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Wie aber erreichen wir den ganzen Jesus? Vollständig wird das nicht möglich sein, – nicht nur wegen der geschichtlichen Distanz, die sich immer nur näherungsweise überwinden lässt, sondern noch aus einem tieferen, theologischen Grund. Wenn es stimmt, dass Jesus Sohn Gottes ist – worauf wir in diesem Skriptum noch ausführlich zu sprechen kommen werden – dann muss für ihn auch gelten, was wir bezüglich der analogen Gottesrede gesagt haben: Wir können uns der vollen Bedeutung immer nur annähern; – über die drei Wege von Bejahung, Verneinung und Überbietung, – oder, besser noch, über den Versuch, von verschiedenen Ansatzpunkten her Linien zu ziehen, die an einem unserer Erfahrung nicht direkt zugänglichem Ort zusammenlaufen.

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Anstelle von einem Ansatzpunkt auszugehen (z.B. vom friedenstiftenden Jesus) um dann möglichst viel von Jesus Christus einzubinden und den Rest unter den Tisch fallen zu lassen, wollen wir uns auf gegensätzliche Ausgangspunkte einlassen und schauen, ob wir von diesen scheinbar einander ausschließenden Punkten aus ein stimmiges Jesusverständnis entwickeln können. Wir wollen ansetzen bei Jesu Evangelium der bedingungslosen Gnade, aber uns auch mit Jesu Gerichtsworten konfrontieren und uns darauf einlassen, dass wir durch das Jesu Tod am Kreuz erlöst sind. Wir wollen uns anregen lassen von Jesu Friedensbotschaft, aber auch herausfordern lassen von Jesu Wort, dass er nicht gekommen ist, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). Wir wollen ganz ernst nehmen, dass Jesus Mensch war und dass er Sohn Gottes ist. Und wir wollen diese Gegensätze nicht einfach nebeneinander stehen lassen, sondern versuchen, ob sie nicht Linien anzeigen, die in eine gemeinsame Richtung zusammenlaufen.

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Sollte es uns gelingen, diese scheinbar gegensätzlichen Aussagen zu versöhnen, so dürfte daraus eine Sicht auf Christus erwachsen, die unsere gewohnten Vorverständnisse übersteigt und deshalb dem, was wir immer schon von Friede, Freiheit, gerechtigkeit, erfülltem Menschsein usw. zu meinen wissen, wirklich Bedenkenswertes hinzufügt.

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4.2.1 Im Zentrum von Jesu Wirken: das Gottesreich

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Wer war dieser Jesus von Nazareth? Ein besonderer Mensch? Der Sohn Gottes? Beides? Um das kirchliche Bekenntnis nicht nur zu behaupten, sondern auch zu erschließen, müssen wir genau hinschauen, was Jesus getan hat. Was hat er verkündet, was hat er gelebt, warum ist er auf solchen Widerstand gestoßen, und warum können wir bekennen, dass er durch seinen Tod hindurch Heil gewirkt hat?

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Im Zentrum von Jesu Lehren und Wirken steht die Botschaft vom kommenden Gottesreich. Mk fasst diese Botschaft in drei Punkten zusammen:

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. „Die Zeit ist erfüllt.“
2. „Das Reich Gottes ist nahe.“
3. „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15)

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Gottesreich/Himmelreich =?

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Zentral ist der Begriff „Reich Gottes“. (Mt verwendet gleichbedeutend den Ausdruck „Himmelreich“; vgl. Mt 4,17).

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Mit Gottesreich ist gerade kein geographisch oder politisch abgegrenztes Reich zu verstehen. (vgl. Jesus in Joh 18,36: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“). Vielmehr ist damit ein Zustand der Welt und der Menschen angesprochen, in dem Gottes Herrschaft uneingeschränkt akzeptiert ist.

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Die so verstandene Gottesherrschaft ist nach jüdischer Vorstellung allerdings auch äußerlich sichtbar: Die messianischen Hoffnungen des Alten Testaments werden damit erfüllt sein: Israel wird herrlich wiedererstehen; die Heiden werden sich bekehren; umfassender Friede wird in der Welt sein, der auch das Tierreich erfasst (Friede zwischen Wolf und Lamm... vgl. Jes 11,6).

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Aber nicht nur die äußere Welt wird mit Gott versöhnt sein. Gottesherrschaft bedeutet auch die Versöhntheit des Menschen in seinem Inneren mit Gott. Die Menschen werden fähig sein, Gottes Bund zu halten und seine Gebote zu erfüllen. Nach Auffassung der Pharisäer wird das Gottesreich mit der kompromisslosen Befolgung des Gesetzes durch die einzelnen Menschen anbrechen.

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Berücksichtigt man all das, so erscheint es geradezu als Ungeheuerlichkeit, wenn Jesus das Gottesreich als bereits jetzt anbrechend ankündigt.

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„Das Gottesreich ist nahe“ – Was heißt das??

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Wie hat Jesus es gemeint, wenn er sagte „Das Gottesreich ist nahe“? Und wie konnte er einen solchen ungeheuren Anspruch glaubhaft vertreten?

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Zunächst hat Jesus die Ankunft des Gottesreichs als „anfangshaft“ bezeichnet. In Mk 1,14: „hängiken“: – Das Himmelreich ist nahegekommen. Die Zeitform im Perfekt bedeutet: Das Himmelreich ist in der Schwebe zwischen „schon da“ und „noch nicht da“. Es ist bereits in ersten Ansätzen verwirklicht, aber noch nicht ganz.

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Jesus hat das in zahlreichen sogenannten Wachstumsgleichnissen verdeutlicht. Z.B. Mk 4,30:

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„Er [Jesus] sagte: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben?
Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät.
Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“ Mk 4,30

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Was ist mit diesem Senfkorn gemeint? Worin besteht dieser erste Ansatz, in dem das Gottesreich bereits verwirklicht ist?

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Die Keimzelle des Gottesreich ist zunächst Jesu eigener Gottesbezug. Jesus lebt ganz von Gott her und gibt ihm in seinem Leben ohne jeden Widerstand Raum. Diese unbehinderte Nähe zu Gott schenkt Jesus an die Menschen weiter: Was er zuerst einfach ist und lebt, das kommt in seinen Worten und Taten zum Ausdruck. In großartiger Schlichtheit spricht Jesus vom Gottesreich und lehrt dabei mit einer Klarheit und Sicherheit, die die Menschen in Erstaunen versetzt (Mt 7,29, Lk 4,22). Und mit einer irritierenden Selbstverständlichkeit heilt er Kranke, treibt Dämonen aus, vergibt Sünden und holt Ausgegrenzte in die Gemeinschaft herein.

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All das sind sichtbare Zeichen für die greifbare Nähe von Gottes unbegrenzter Herrschaft. Gottes befreiendes Wirken wird in Jesu Sein, Sprechen und Tun erfahrbar. Damit ist jenes Samenkorn, mit dem das Gottesreich bereits da ist, in Jesu Sein Wirken selber zu finden. Bei Lk heißt es in diesem Sinn: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen.“ (Lk 11,20); und der Kirchenvater Origenes hat das im dritten Jahrhundert mit den Worten ausgedrückt: Jesus Christus ist die „Auto- Basileia“, – die personifizierte Gottesherrschaft oder das Reich Gottes in Person.

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Durch sein Wirken in Sein, Wort und Tat versetzt Jesus Menschen in Situationen, in denen sie mit dem machtvollen Wirken Gottes konfrontiert werden. Entscheidend ist nun, dass sie sich ganz auf dieses Wirken Gottes einlassen. Das ist mit der Aufforderung Jesu gemeint: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“.

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Ist das geschehen? Wie nahmen die Menschen Jesu Botschaft vom Gottesreich auf? Wir werden das an einem Schlüsseltext aus dem Lukasevangelium untersuchen. Es handelt sich dabei um Jesu „Antrittspredigt“ in seinem Heimatort.

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Schlüsseltext: Jesu Antrittspredigt (Lukas 4,16-30)

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An den Anfang von Jesu öffentlichem Wirken stellen die synoptischen Evangelisten (Mt, Mk und Lk) eine summarisch-zusammenfassende Darstellung von Jesu Botschaft. Bei Mk waren das die drei bereits genannten Sätze: „Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15); bei Mt: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“ (Mt 4,17). Lk beschreibt diese Botschaft ausführlicher und unter Einbeziehung der wechselnden Reaktion der Menschen: Als programmatisch und paradigmatisch für alles Kommende stellt Lk an den Anfang seiner Darstellung von Jesu öffentlichem Wirken eine ausführliche Erzählung von Jesu erster großen Predigt in der Synagoge seines Heimatortes Nazareth:

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4,16 So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen,
4,17 reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:
4,18 Der Geist des Herrn ruht auf mir; / denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
4,19 und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
4,20 Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.
4,21 Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
4,22 Seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?
4,23 Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!
4,24 Und er setzte hinzu: Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.
4,25 Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam.
4,26 Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon.
4,27 Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.

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4,28 Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut.
4,29 Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.
4,30 Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg. (Lk 4,16-30)

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Der von Jesus aus dem Jesajabuch ausgewählte Text ist programmatisch für sein Selbstverständnis. Wenn er vorliest „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt“, dann werden die LeserInnen des Lukasevangeliums sofort erinnert an die vorausgehende Erzählung von der Taufe Jesu, wo es heißt, dass der Heilige Geist auf Jesus herabkam. In der Folge beschreibt der Jesajatext die visionäre Erwartung eines messianischen Friedensreichs. Der direkte Vergleich mit dem zugrunde liegenden Jesajatext macht noch auf eine wichtige Akzentsetzung Jesu aufmerksam. Jesus bricht seine Jesajalektüre mitten in einem Satz ab, der fortsetzt mit der Aussage: „einen Tag der Vergeltung unseres Gottes“ (Jes 61,2b). Jesus betont Friede und Befreiung, und er übergeht die Erwartung des Gerichts über die Heiden.

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Nun folgt Jesu Auslegung. In schlichten Worten, mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit sagt Jesus das Ungeheure: Das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, hat sich erfüllt.

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Wie reagieren die Teilnehmer am Synagogengottesdienst? Lk schildert die gespannte Erwartung, bereits als Jesus sich hinsetzt und mit seinen Erklärungen beginnt.

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Zunächst findet Jesus Zustimmung. Die Menschen sind offenbar berührt und betroffen von seiner Lehre. „Seine Rede fand bei allen Beifall, und sie staunten darüber, wie begnadet er redete.“ In der versammelten Gemeinschaft muss etwas passiert sein. Da ist ein Funke übergesprungen; die Hoffnung auf die lebendige, weltverändernde Gegenwart und Herrschaft Gottes beginnt aufzuflammen.

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Doch unmittelbar darauf kommt es zu einem erschütternden Umschlag. Jesus beginnt auf einmal höchst kritisch zu reden. Und die Menschen reagieren mit unverhohlener Aggression. Beinahe kommt es zu einem Lynchmord. Was ist da passiert?

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Lk beschreibt offenbar eine hochgradig ambivalente Situation, die durch Jesu Predigt hervorgerufen wurde; zunächst, wie beschrieben, noch mit einem positiven Übergewicht: „Seine Rede fand bei allen Beifall, und sie staunten darüber, wie begnadet er redete.“ Aber unmittelbar darauf verschiebt sich die in der Schwebe befindliche Atmosphäre in Richtung auf Ablehnung: „... sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?“ – Das könnte noch positiv verstanden werden, als anerkennendes Staunen. Aber es lässt auch bereits einen skeptischen Vorbehalt durchscheinen, der in der Parallelstelle bei Mk ausdrücklich wird:

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„Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Wunder, die durch ihn geschehen!
Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.
Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie.
Und er konnte dort kein Wunder tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie.
Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Jesus zog durch die benachbarten Dörfer und lehrte.“ Mk 6,2-6

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Hier wird die Ambivalenz des Staunens deutlicher. Lk schreibt „ethaumazon“ (sie staunten), und Mk noch schärfer: „exeplässonto“ (sie waren entsetzt, außer sich, bestürzt). Beide Ausdrücke sind ambivalent: Sie können zustimmende Verwunderung oder skeptische Fasziniertheit ausdrücken, – im neidischen Sichvergleichen mit jemandem, den man als seinesgleichen kennt.

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Was die Teilnehmer am Synagogengottesdienst da erfahren, sprengt ihre gewohnten Kategorien. Es ist, als wäre ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Hier ist nun Neues notwendig und auch Neues möglich. Das kann zu einer Initialzündung für eine neue, reinere Ausrichtung auf Gott werden. Oder diese Chance kann verpasst werden. „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ – heute, jetzt und hier. Entscheidend ist, ob die Menschen das Vertrauen und auch den Mut haben, sich darauf ganz einzulassen.

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Stellen sie sich die Herausforderung vor. Offenbar haben die Menschen wirklich etwas erfahren, da muss etwas in der Weise, wie Jesus seine Worte vortrug, gewesen sein, das die ungeheure Botschaft glaubwürdig machte. Aber diese Botschaft wurde von einem Menschen vorgetragen, den sie von klein auf kannten. Kann vom Zimmermannssohn, der um die Ecke lebte, eine so ungeheure Botschaft kommen? Kann jemand unseresgleichen, auf den man vielleicht sogar ein wenig herabgesehen hat, so außerordentlich begnadet sein? Zustimmung war angebracht, aber eine vorschnelle Zustimmung konnte blamabel sein. Vielleicht sind das alles nur Spinnereien, oder schlimmer noch, der selbstherrliche Anspruch von einem, der sich selbst an die Stelle des handelnden Gottes setzt. So ist die Stimmung in der Gemeinschaft von erwartungsvollem und zunehmend skeptischer werdendem Schweigen geprägt. Die einfachen Menschen verhalten sich reserviert, um das Urteil der „Experten“ abzuwarten. Aber Schriftgelehrte, Pharisäer, der Synagogenvorsteher sind nicht weniger überfordert. 'Kann ich mir vor dem Volk durch unbedachte Zustimmung Blöße geben?' – So hält sich die erwartungsvolle, anfangs positiv- offene Stille ein paar Sekunden zu lange: In diesen Sekunden beginnt die anfängliche Offenheit schon wieder zu schwinden. Die Skepsis siegt.

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Das muss Jesus gespürt haben. Nur von daher ist seine scharfe Reaktion zu begreifen. Jesus unterstellt den Anwesenden, Zeichen zu fordern, ein Wunder zur Beglaubigung seiner Botschaft. Und zugleich verweigert er dieses. Wenn die Herzen der Menschen nicht offen sind, können Machterweise nur schädlich sein. Sie würden nicht zum Glauben führen, sondern allenfalls eine vordergründige Faszination verstärken. So kann Jesus in diesem Kreis kein Wunder tun (vgl. Mk 6,5).

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Wie Jesu Gottesreichbotschaft auf die Menschen wirkte

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Der soeben behandelte Text macht bereits einiges deutlich zur Frage, wie Jesu Gottesreichbotschaft auf die Menschen wirkte.

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Wenn wir die vielen anderen Situationen berücksichtigen, in denen Jesus die Botschaft vom Gottesreich in Taten und Worten verbreitete, dann können wir im Groben zwei Wirkweisen unterscheiden.

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Zum ersten eröffnete Jesus den Menschen eine Erfahrung von Gottes Gnadenwirken. Angesagt durch Worte der Befreiung (etwa in den Seligpreisungen) und sichtbar gemacht durch befreiende Taten – Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen, Sündenvergebung – sagt Jesus das beginnende Gottesreich nicht nur an, sondern lässt Gottes Heilswirken zugleich erfahrbar werden. Und zwar ohne vorausgehende Bedingungen! Darin unterscheidet sich seine Botschaft von jener des ihm vorausgehenden Täufers Johannes. Nicht die Forderung der Umkehr ist das erste, auf die dann die Erfahrung des gnädigen Gottes folgen würde. Diese Umkehr – als echte Umkehr des Herzens und nicht bloß als äußerliche Geste – hat die Menschen ja immer wieder überfordert. Darin bestand ja die Ausweglosigkeit der zahlreichen Umkehr- und Sühneversuche des Alten Testaments! Vielmehr stand am Anfang eine ohne Vorbedingungen zugesagte Erfahrung von Gottes Gnade.

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Immer wieder verlief es so: Ein Mensch, offensichtlich Sünder, erfährt durch Jesus Heilung. Und erst nach dieser reinen Geschenkserfahrung folgt die Verpflichtung: „Geh hin und sündige nicht mehr“ (vgl. Joh 5,14). Diese Reihenfolge in Jesu programmatischer Gottesreichbotschaft macht auch Mk deutlich: Am Anfang steht die Zusage: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ Und erst dann kommt die Folgerung: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“. Die Erfahrung des Beschenktseins geht der Aufforderung zur Umkehr voraus. Erst unter dem Eindruck dieser Erfahrung grundloser Gnade werden Menschen befähigt, Gottes Gebote nicht nur äußerlich, sondern ihrem Wesen nach zu erfüllen.

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In diesem Kontext muss auch Jesu radikale Ethik, wie wir sie in der Bergpredigt finden, verstanden werden. Unter dem Eindruck des anbrechenden Gottesreichs mit der entsprechenden Gnadenerfahrung wird es möglich, die andere Backe hinzuhalten, schon die Beschimpfung eines Mitmenschen zu vermeiden oder die Ehe auch „mit dem Herzen“ nicht zu brechen. Die Bergpredigt beschreibt ein radikales Herzensgesetz, das unter der Gnadenerfahrung des anbrechenden Gottesreichs lebbar wird. Davon losgelöst wird es zu einem unerfüllbaren Gesetz. Von daher ist begreifbar, dass die Bergpredigt eine Lebensordnung ist, die zunächst Jesus selber, als personifizierte Verwirklichung des anbrechenden Gottesreichs, gelebt hat, – vor allem auf seinem Weg ans Kreuz. Weiters ist einsichtig, dass die Bergpredigt eine mögliche Lebensordnung für Jesu Jünger und für die früheste Christenheit war, – aus der direkten Gnadenerfahrung des in Jesus anbrechenden Gottesreichs. Wie aber steht es mit uns heute? Wie und wann stehen wir unter der Erfahrung des beginnenden Gottesreichs?

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Der Zusammenhang zwischen Gottesreich und neuer Lebensordnung lässt hier einen Umkehrschluss zu: Wo es vorkommt, dass Menschen – oft spontan, ohne es bewusst zu beabsichtigen – sich gemäß der Lebensordnung der Bergpredigt verhalten, da können wir schließen, dass „das Gottesreich nahe ist“, dass die Kraft Jesu Christi – im Heiligen Geist – in ihnen am Wirken ist. In diesem Zusammenhang gewinnen die Gnadenerfahrungen, die wir im Kapitel 1.2 behandelt haben, an Bedeutung, – insbesondere jene, die wir als Tun-Erfahrungenbezeichnet haben. Wo es uns ansatzweise gelingt, einen Menschen ganz anzunehmen und z.B. auch „die andere Backe hinzuhalten“, da wissen wir, dass das Gottesreich nahe ist. Wozu hilft diese Einsicht? Durch dankbare Erinnerung können wir die Aufmerksamkeit auf solche Ereignisse (die oft bis zum übersehen unspektakulär sind) schärfen und so mehr und mehr lernen, aus der Kraft des Evangeliums heraus zu leben.

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Jesu Gottesreichbotschaft hatte noch eine zweite, unangenehmere Wirkung. Jesus erschloss nicht nur den Menschen die wirksame Liebe Gottes, sondern er legte auch kompromisslos jene Hindernisse bloß, die die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott blockierten. Dies geschah meist gar nicht durch eigene Kritik, sondern durch die bedingungslose Zuwendung zu einzelnen Menschen, die oft genug die unteren Ränge in der Gesellschaft belegten. Dadurch mussten sich andere, die auf ihre eigene Vorrangsposition wert legten, übergangen und herabgesetzt fühlen. Für standesbewusste Juden war es selbstverständlich, dass Gott sein Heil zuerst den Ersten des Volkes zuzuwenden habe, und dass die Verwirklichung des Gottesreichs auch unter vorrangiger Einbindung dieser Ersten erfolgen würde. Jesus aber war wenig interessiert an Sadduzäern, Pharisäern und Schriftgelehrten, sondern wendete sich bevorzugt den einfachen Menschen zu, den Frauen und den Sündern. Das musste für standesbewusste Menschen beleidigend wirken. So hat Jesus schon durch sein barmherziges Wirken Selbstgerechtigkeit und übertriebenes Erwählungsbewusstsein gegeißelt. Er sah sich als Arzt für die Kranken, er pries die Armen und Unglücklichen und warnte die Reichen und Angesehenen.

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Durch die ungeheure Sicherheit, mit der Jesus lehrte, und durch die Machttaten – Heilungen, Dämonenaustreibungen ... – die er wirkte, brachte er Menschen zum Staunen und Erschrecken. Er durchbrach ihre vertrauten Erfahrungen und Vorurteile und zog so ihren gewohnten Vorverständnissen oft genug den Boden unter den Füßen weg. Er versetzte sie in Situationen, in denen sie auf völlig unvorbereitete, direkte Weise mit Gottes Wirken und Willen konfrontiert wurden. So ergab sich die Chance zu Umkehr und Glauben, – d.h. zu einer radikalen Lebenswende und Neuausrichtung auf Gott. Diese Chance konnte ergriffen oder auch verfehlt werden. Jesu Gottesreichbotschaft mit ihren befreienden Worten und Taten bewirkte nicht automatisch den Glauben, sondern versetzte die Menschen in eine Situation, in der sie für oder Gott wählen konnten und auch wählen mussten. So eine Situation ist keine Selbstverständlichkeit. Menschen können jahrelang dahinleben, ohne dass sich ihnen die Wahl für oder gegen Gott, für oder gegen die Liebe, ernsthaft stellt. Unvermutet kommt dann der Ernstfall: Auf einmal zeigt es sich, ob man wirklich zu einem bestimmten Menschen steht, ob es einem wirklich um Wahrhaftigkeit zu tun ist, ob man wirklich an einen Gott glaubt. Solche Situation ist eine große Chance, aber sie birgt auch eine große Gefahr. Wer eine solche Chance verpasst, macht nicht einfach weiter wie bisher. Er oder sie wird weit zurückgeworfen.

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Solche Situationen haben ihren besonderen Ort und ihre besondere Zeit. Die Evangelien haben dafür ein eigenes Wort: kairós. Das bedeutet Zeit, aber nicht einfach in einem quantitativen, chronologischen Sinn, (dafür steht das griechische Wort chrónos), sondern als qualifizierte, besondere Zeit: die Zeit, in der etwas möglich ist, was sonst nicht möglich ist. Mk verwendet dieses Wort, wenn er die Botschaft Jesu umschreibt: „Die Zeit (kairós) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ Gemeint ist die Zeit der Entscheidung für oder gegen Gott, die Zeit des Ernstfalls. Es ist die Zeit, von der Jesu in seiner Antrittspredigt sprach: „Heute hat sich ... erfüllt“. Gemeint ist: hier und jetzt. Und wir haben gesehen, dass diese Zeit, dieser Kairós, die Zeit der Wahl für oder gegen Gott, die Zeit der Annahme oder Verwerfung des herannahenden Gottesreichs, unter Umständen nur einige Sekunden dauern kann. Einen Augenblick zu lange gezögert, ein klein wenig zu lange nach dem Nachbarn geschielt, und vorbei ist die Chance. Jesu bittere Worte machten nur ausdrücklich, was in diesen Sekunden bereits passiert war.

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Von daher werden der Ernst und die Dringlichkeit verständlich, die Jesus an verschiedenen Evangelienstellen den Menschen abfordert:

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„Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes“ Lk 9,62
„Ein anderer aber, einer seiner Jünger, sagte zu ihm: Herr, lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben! Jesus erwiderte: Folge mir nach; lass die Toten ihre Toten begraben!“ Mt 8,21f
„Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde der Dieb kommt, so würde er verhindern, dass man in sein Haus einbricht. Haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.“ Lk 12,39f

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4.2.2 Jesu Gottesreichbotschaft im Konflikt

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Warum verhielt sich Jesus so provokant?

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Nach den Berichten der Evangelien verhielt Jesus sich erstaunlich provokant. Wie viele Wunder hat Jesus ausgerechnet am Sabbat gewirkt? – als ob er es darauf angelegt hätte, die Pharisäer und Schriftgelehrten, die auf peinliche Befolgung des Arbeitsverbotes am Sabbat beharrten, vor den Kopf zu stoßen. Und hat er sich nicht mit Vorliebe von Sündern einladen lassen, – eine Provokation für fromme Juden, die darin eine Verunreinigung sahen? Mit Heiden, Zöllnern und Ehebrecherinnen hat er sich abgegeben; als Fresser und Säufer wurde er denunziert. Warum verhielt sich Jesus dermaßen provokant?

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Der „Community-Test“

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Ich versuche hier eine Erklärung für Jesu Provokanz, die sich schlagwortartig so ausdrücken lässt: „Jesus führte den Community- Test durch“. Lassen Sie mich erklären, was ich darunter verstehe:

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Was schweißt eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft (kurz: eine Community) zusammen? Was gibt und erhält ihren Mitgliedern das Identitätsbewusstsein, d.h. das Bewusstsein davon, wer sie sind und wie bzw. warum sie zusammengehören? Idealtypisch gibt es dafür zwei entgegengesetzte Möglichkeiten, die in der konkreten Realität allerdings meist vermischt auftreten:

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1. positive Identitätssicherung: durch eine gemeinsame Ausrichtung auf Werte und Ziele.

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2. negative Identitätssicherung: durch die Abgrenzung von anderen, die nicht zur community gehören.

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Welche von diesen beiden Formen der Identitätssicherung ist bestimmend für jene „Community“, die das Alte Testament „das Volk Israel“ nennt? Idealerweise muss hier eindeutig Punkt 1 genannt werden: Die Identität des Volkes Israel wird ganz und ausschließlich bestimmt durch die gemeinschaftliche Ausrichtung auf Jahwe, den einen Gott. Faktisch spielte aber immer auch der zweite Faktor eine Rolle. Das identitätsbildende und -sichernde Prinzip lautet hier: „Wir sind wer wir sind, weil wir nicht so sind, wie die anderen sind.“ Die anderen, das sind die Heiden, die Ungläubigen, die Sünder, die Kranken. Für das Identitätsbewusstsein gemäß dem 2. Prinzip ist es unverzichtbar, dass es diese anderen gibt. Die Mitglieder der community schauen – mit Verachtung oder auch mit Mitleid – auf diese anderen herab und sagen sich: „Gott sei dank sind wir nicht so wie diese.“ (vgl. z.B. Lk 18,10- 15) Das schweißt zusammen.

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Dem Wesen nach sind diese beiden identitätsbildenden Prinzipien einander vollständig entgegengesetzt. Eine Gemeinschaft, die sich positiv definiert durch eine gemeinschaftliche Ausrichtung auf gemeinsame Werte und Ziele oder einen gemeinsamen Gott, ist grundsätzlich offen für die Hereinnahme von Außenstehenden. Wenn andere dazukommen, dann ist das ein Grund der Freude.

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Genau umgekehrt verhält es sich, wenn eine Gemeinschaft ihre Identität durch negative Abgrenzung sichert. Wer man ist, stellt man fest durch den Blick auf die Grenzen. Und die Grenzen sind sicher, wenn man klar unterscheiden kann, wer drinnen und wer draußen ist. Eine Öffnung der Grenzen, ein Hereinnehmen von jenen, die draußen stehen, ist dann immer gefährlich. Es droht eine Identitätskrise.

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Im Blick auf diesen Gegensatz sind die eschatologischen Erwartungen des AT widersprüchlich. Es gibt die Vorstellung einer umfassenden Bekehrung der Völker mit dem Bild der Wallfahrt der Völker zum Berg Zion. Alle Völker finden zusammen durch gemeinsame Ausrichtung auf den einen Gott. Das entspricht klar dem positiven Identitätsprinzip. Aber es gibt auch die kriegerischen Bilder von einem göttlichen Zorngericht. Israel wird wieder auf den Thron gesetzt und die Heiden werden vernichtet. Diese Vorstellungen entsprechen dem negativen Identitätsprinzip.

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Die Unterscheidung in positives und negatives Identitätsprinzip ist allerdings idealtypisch. Nur theoretisch – im Sinne grundsätzlicher Überlegungen – kann man so sauber unterscheiden. Die Ausrichtung von real existierenden Gemeinschaften ist immer doppeldeutig: Positive und negative identitätsbildende Prinzipien wirken zusammen. Eine religiöse Gemeinschaft kann die gemeinsame Ausrichtung auf Gott auf ihre Fahnen schreiben und faktisch – teilweise oder sogar weitgehend – einer Einschluss/Ausschlusslogik im Sinne des negativen Identitätsprinzips folgen.

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Dieses Problem zeigt sich etwa bei den Pharisäern, die zur Zeit Jesu eine bereits ca. 200 Jahre alte Erneuerungsbewegung waren. Das Ideal dieser Laienbewegung bestand eindeutig in einer radikalen Ausrichtung auf den einen Gott, gemäß der Idee: Wenn das alle Juden so halten, dann wird das messianische Gottesreich Wirklichkeit werden. Dieses Ideal entspricht klar dem positiven Identitätsprinzip. Faktisch drohte aber ein negatives Identitätsprinzip eine dominierende Rolle zu spielen. Die radikale Ausrichtung auf Gott sollte durch ein möglichst präzises Befolgen der – schriftlichen und mündlichen – Gottesgesetze erfolgen. Und damit lag eine scharfe Grenzziehung nahe: zwischen jenen, die das Gesetz erkenntlich befolgen und den Gesetzesbrechern.

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Auch für Jesu Gottesreichvorstellung war eine radikale Ausrichtung auf Gott entscheidend. Das verband ihn mit dem Ideal der Pharisäer. Zugleich war er überaus sensibel für ausschließende Formen negativer Identitätssicherung. Eine scharfe Grenzziehung zwischen Dazugehörigen und Ausgeschlossenen würde genau das unmöglich machen, was Jesus erwartete: eine Ausbreitung des Gottesreichs, durch eine Ansteckung der Liebe und der Gotteserfahrung. Deshalb hat Jesus die Praxis der pharisäischen Gesetzesfrömmigkeit massiv kritisiert.

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So verfolgte Jesus – wie bereits beschrieben – eine doppelte Vorgangsweise: Er eröffnete den Menschen einen neuen, direkteren Blick auf den liebenden, lebensfreundlichen, rettenden und befreienden Gott. Zugleich deckte er radikal alles auf, was die Menschen von einer reinen Ausrichtung auf den wahren Gott trennte. Wenn Menschen ihre Religiosität selbstgerecht im Sinne eines negativen Identitätsprinzips vollzogen, dann brandmarkte er das mit aller Schärfe. Wie aber kann man sichtbar machen, nach welchem Identitätsprinzip Menschen ihre Religiosität leben, wenn das doch im Konkreten meist uneindeutig und verborgen ist?

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Dafür wandte Jesus ein höchst wirksames Mittel an, das sich als community-Test bezeichnen lässt: Um festzustellen, nach welchem Identitätsprinzip eine Gemeinschaft lebt, hole man einen Menschen, der „draußen“ ist, in die Mitte dieser Gemeinschaft herein. Wenn die Gemeinschaft ihre Identität positiv durch die gemeinsame Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel erhält, dann wird sie sich über den Zuwachs, den sie gewonnen hat freuen und den Hinzugekommenen freundlich aufnehmen. Wenn die Gemeinschaft ihre Identität aber negativ durch Abgrenzung sichert, dann wird sie sich gegen die Hereinnahme eines Außenstehenden massiv wehren. Sie wird ein solches Vorgehen für bedrohlich, für identitätsgefährdend, für ordnungszerstörend oder anarchistisch halten müssen. Denn die Grenzen, die ihre Identität bestimmen, werden dadurch verschwimmen.

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Spontaner Ausdruck solchen Bedrohungsgefühls sind Ausrufe wie: „Wo kommen wir denn da hin, wenn wir den auch noch aufnehmen?“ oder noch schärfer: „Wenn der (oder die) dabei ist, dann: ohne mich!“

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Mit Vorliebe hat Jesus Menschen, die als minderwertig oder unwürdig galten, in die Mitte gestellt:
„Als er ein andermal in eine Synagoge ging, saß dort ein Mann, dessen Hand verdorrt war.
Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn.
Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte!
Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt: Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie aber schwiegen.
Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand war wieder

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gesund.
Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen. „ Mk 3,1-6

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„Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?
Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer (von ihnen) der Größte sei.
Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.
Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen:
Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ Mk 9,33-37

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Identitätsbewusstsein durch negative Abgrenzung folgt nicht nur dem Schema „innen-außen“. Es sichert auch innerhalb einer Gemeinschaft die Ordnung und den Frieden durch ausgeprägte hierarchische Ordnungen. Verdienstvolle Menschen stehen an erster Stelle; die anderen müssen sich mit den hinteren Rängen begnügen. Ordnung und Friede werden nicht erzielt durch den gemeinsamen Blick nach oben (zu Gott), sondern durch den Blick zur Seite: Respektiert der andere auch meine/seine Position oder nimmt er sich zu viel heraus? Nach dieser Logik war es unakzeptabel, dass ein Zimmermannsohn große prophetische Reden schwingt.

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Zu Jesu Gottesreichbotschaft musste es zentral gehören, dieses Schema zu durchbrechen. Der neidische und taxierende Blick zur Seite verhindert den Blick nach oben und blockiert die Sammlung eines Gottesvolkes, das für alle offen ist. So vollzog Jesus in Wort und Tat eine Umwertung der (im Sinne des negativen Identitätsprinzips hochgehaltenen) Werte. „Die ersten werden die letzten sein“ und: „Wer von euch der erste sein will, der sei der Diener aller“.

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Diese Umkehr der Hierarchien mit einer Vorordnung der Letzten ist bereits charakteristisch für das Erwählungshandeln Gottes im Alten Testament. Gott zieht den zweitgeborenen (und betrügerischen) Jakob dem erstgeborenen Esau vor (vgl. Gen 25,29-34 u. Gen 27). – Der Prophet Samuel wird von Gott gesandt, einen von den Söhnen Isais zum neuen König zu salben. Keiner der stattlichen jungen Männer ist es, sondern deren kleiner Bruder David, an den von den Menschen niemand gedacht hätte (vgl. 1 Sam 16). – Nicht anders ist es mit der Erwählung des Volkes Israels. „Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern“ (Dtn 7,7). Und im Magnifikat, dem Lobgesang Marias heißt es: „Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen“ (Lk 1,51-53)

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gerechtigkeitsvorstellungen, die vor allem die angemessenen Ränge sichern wollen, werden von Jesus in anstoßerregender Weise außer Kraft gesetzt, am schärfsten vielleicht im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg:

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„Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben.
Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen

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Weinberg.
Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten.
Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist.
Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso.
Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?
Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg!
Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den

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ersten.
Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar.
Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten nur einen Denar.
Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren,
und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze

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ertragen.
Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart?
Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir.
Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin?
So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten. „ Mt 20,1-16

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Auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn wird der ältere Sohn mit einer „Ungerechtigkeit“ des Vaters konfrontiert. Ich glaube, jeder kann diese „Ungerechtigkeit“ nachfühlen. Aber es dürfte auch nachvollziehbar sein, dass dieser Eindruck der Ungerechtigkeit hinfällig wird, wenn das Prinzip der eigenen Identität (persönlich und gemeinschaftlich) positiv durch die Ausrichtung auf den einen Gott und Vater (anstelle durch Positionsvergleich mit meinen Nächsten und Rivalen) erfolgt. Diese positive Ausrichtung mahnt der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn gegenüber dem protestierenden älteren Sohn ein:
„Der Vater antwortete ihm: Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ Lk 15,31f

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Kein fauler Friede!

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Den beiden Prinzipien der Identitätssicherung entsprechen zwei gegensätzliche Formen der Friedenssicherung. In einer zerstrittenen Gemeinschaft können Friede und Versöhnung erreicht werden.

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1. durch erneute Hinwendung zu den verbindenden Zielen und Idealen (in biblischer Sprache: durch Umkehr)

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2. durch verschärfte Abgrenzung gegenüber gemeinsamen Gegnern.

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Nur die erste Form ermöglicht einen umfassenden Frieden, der für alle Menschen offen steht.

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Eine Friedenssicherung durch Abgrenzung ermöglicht hingegen nur einen unvollkommenen Frieden. Hier lassen sich noch einmal zwei Formen unterscheiden:

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(a) der halbierte Friede: Zwei Gruppen stehen feindlich einander gegenüber; in jeder Gruppe wird Einmütigkeit durch die Feindschaft gegen die andere Gruppe erzeugt.

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(b) der „Friede minus eins“: Friede wird erzielt durch die Verurteilung oder Ausstoßung eines Menschen oder einer Minderheit, die für die Gemeinschaft zum Sündenbock wird.

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Jesus setzte sich kompromisslos für den vollkommenen Frieden ein, der für alle Menschen offen ist. Nur ein solcher Friede entspricht seiner Botschaft vom Gottesreich. Die defizienten Formen eines halbierten Friedens oder eines „Friedens minus eins“ waren für Jesus untragbar. Er brachte sie zum Zusammenbruch. Das passierte, wenn Jesus öffentlich bekannten Sündern Vergebung zusprach und sie so in die Mitte der Heilsgemeinschaft hereinholte. Für eine Gemeinschaft, die ihre Einigkeit von der Ausgrenzung anderer bezieht, ist ein solches Verhalten destabilisierend. Der falsche Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält, löst sich auf und die Gemeinschaft gerät in die Krise. Sie droht auseinanderzufallen. Ein Beispiel: Nachdem Jesus die Steinigung der Ehebrecherin vereitelt hat, löst sich die Meute der Verurteiler auf (vgl. Joh 8,9).

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Man täusche sich nicht: Gerade die freundlichen Gesten Jesu üben eine gefährlich zersetzende Wirkung auf eine Gemeinschaft aus, die ihren Frieden den Prinzipien des Ausschlusses verdankt. Das gilt auch für die 'besonders schönen' Gleichnisse. Sie haben eine Schärfe und Gefährlichkeit, die leicht übersehen wird. Z.B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Gewiss ist es das berührende Gleichnis vom barmherzigen Vater. Aber aus einer nüchtern- realistischen Position, die sich mit defizienten Formen der Friedenssicherung arrangiert, schaut dieses Gleichnis ganz anders aus: Da hat eine von Problemen geschüttelte Familie wenigstens einigermaßen den Frieden wiedergefunden. Zwar ist es schmerzhaft, dass der jüngere Sohn – das Problemkind, das schwarze Schaf – verlorengegangen ist. Aber das Bedauern über diesen Verlust schweißt die Zurückgebliebenen auch ein Stück weit zusammen. Auf einmal will dieser Unglücksrabe wieder zurück in die Familie. Der Vater steht nun vor der Wahl: Entweder er hält die stabilisierende Grenze zwischen trautem Heim und Friedensbrecher aufrecht, oder er riskiert alles. Wenn er den Außenseiter zurück in die Mitte der Familie holt, ist zwar die Defizienz eines „Frieden minus eins“ überwunden, aber es droht zugleich jeder Friede verloren zu gehen. Und so schaut es dann auch aus. Kann denn ein Fest stattfinden, wenn der ältere Sohn die Versöhnung verweigert? So rührend das Gleichnis vom verlorenen Sohn sich anhört, sein Ausgang bleibt ungewiss und bedrohlich.

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Es gibt eine scharfe, irritierende Jesusaussage, die in äußerstem Gegensatz zum wunderschönen Gleichnis vom verlorenen Sohn zu stehen scheint, aber dessen Problematik genau auf den Punkt bringt:
„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.“ Mt 10,34- 36

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Wir können uns vorstellen, dass genau das die Situation ist am Ende des Gleichnisses vom verlorenen Sohn.

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Was Jesus in diesem irritierenden Text ablehnt, ist natürlich der defiziente Friede – der halbierte Friede, oder der „Friede minus eins“. Er muss preisgegeben werden, damit der wahre Friede Raum hat. Denn er lebt von einer Ausrichtung, die den Blick auf Gott verstellt. Und der wahre Friede, der nicht von dieser Welt ist, der himmlische Friede des von Jesus angesagten Gottesreichs ist allein möglich durch eine radikale Ausrichtung nach auf den himmlischen Vater. Dieser Ausrichtung steht die abgrenzende Orientierung an den taxierten und abgeurteilten anderen im Wege.

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Jesu Radikalität in Sachen Frieden erinnert an die Frustrationen, denen wir in manchen Geduldspielen ausgesetzt sind. Wenn im Rubikwürfel alle Steine am richtigen Ort sitzen ausgenommen einen, dann ist noch gar nichts gewonnen. Um die vollständige Ordnung herzustellen, muss die vorläufige Ordnung vollständig aufgelöst werden. Das ist die Herausforderung des vollkommenen Friedens. Wenn man diejenigen hereinholt, die draußen sind, dann sagen andere „ohne mich“ und laufen davon: im Gleichnis (vielleicht) der ältere Sohn, und in der von Jesus erlebten Realität viele der etablierten Vertreter des Judentums.

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4.2.3 „gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ...“

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Warum musste Jesus sterben?

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Jesu Radikalität gehörte wesentlich zu seiner Gottesreichbotschaft dazu. Durch Ausrichtung auf Gott den himmlischen Vater war nur der ganze, unreduzierte Friede zu bekommen (vgl. oben 4.2.2). Und nur der ganze, unreduzierte Friede konnte die Menschen offen halten für den himmlischen Vater. Es gibt Ähnliches, das auch so aussieht wie Friede, wie Gottesreich, wie Frömmigkeit, aber dem Wahren im Wege steht. (Jesu Rede von Teufel und Dämonen müsste in diesem Zusammenhang erschlossen werden.) All das musste von Jesus aufgedeckt, destabilisiert und destruiert werden, damit der Weg zum wahren Gott wieder frei wurde. In diesem Zusammenhang müssen Jesu harte Worte begriffen werden. Viele Menschen bis in die heutige Zeit hinein haben Anstoß genommen an Jesu Gerichtsworten und an seinen Drohungen mit der Hölle (vgl. z.B. Mt 8,12, Mt 13,42, Mt 13,50, Mt 22,13, Mt 23,33, Mt 24,51, Mt 25,30).

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Wenn das Gottesreich eine Gemeinschaftsform ist, die alles der Ausrichtung auf Gott verdankt und die der Entgegensetzung gegen Ausgeschlossene nichts verdankt, wie kann sie dann verwirklicht werden? Wenn Jesus die Ausgegrenzten hereinholt und so die etablierten Juden verliert, dann droht das Ausschlussschema in einer Weise umzukippen, dass es sich unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt. Die neuen Berufenen des Gottesreichs (Arme, Kranke, Sünder) finden nun ihre Identität in Absetzung gegen die Gesetzestreuen, die Pharisäer und die Schriftgelehrten, die damit zu den neuen Gegnern werden. Damit käme es wieder nicht zur umfassenden, für alle offenen Sammlung des Gottesreichs. Es wäre nur eine weitere Partei entstanden.

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So steht Jesus mit seiner Gottesreichbotschaft vor einem Dilemma: Entweder er riskiert eine neue Form einer Ausschlussgesellschaft, indem er die verstockten Vertreter des Judentums aburteilt und sich selber überlässt: das wäre die verhängnisvolle Alternative der Aggression. Oder Jesus beugt sich ihren Erwartungen und lässt sich auf Kompromisse ein: ein bisschen Duldung von halbiertem Frieden und „Frieden minus eins“; ein bisschen locken mit der Kraft der Faszination, dass, wer Jesus nachfolgt, dazugehört zur Elite der Frommen, zu den neuen Ersten im künftigen Reiche Gottes. Das wäre die verlockende, aber genauso unakzeptable andere Alternative des Nachgebens, der Resignation gegenüber den Erwartungen der Menschen. (Von den verschiedenen Varianten dieser Alternative handeln die Versuchungsgeschichten. Vgl. Mt 4,1-11). Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma von Aggression und Resignation?

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Als solchen Ausweg können wir den Weg Jesu, in seiner fortgesetzten Konfrontation mit seinen Gegnern bis zu seinem Tod am Kreuz, begreifen. Zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation gibt es einen Mittelweg; er lässt sich als Weg der kritischen Solidarität bezeichnen. Gegen die Versuchung einer aggressiven Distanzierung verhält Jesus sich solidarisch: er hält Jesus die Verbindung mit seinen jüdischen Gegnern aufrecht. Immer neu versucht er sie zu gewinnen. Aber gegen die Versuchung eines resignativen Nachgebens bleibt Jesus zugleich kritisch: er weicht nicht ab von der Radikalität seiner Botschaft. Es gibt kein Gottesreich zu reduzierten Eintrittspreisen.

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Für seine Gegner ist dieses Verhalten Jesu das denkbar unangenehmste und provozierendste. Wenn er ihren Erwartungen nicht entsprechen will, dann soll er sie wenigstens in Ruhe lassen. Und wenn er sie nicht in Ruhe lassen will, dann soll er wenigstens ihren Erwartungen entsprechen. Aber allein diese Verbindung von Kritik und Solidarität kann Menschen verändern.

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Unausweichlichkeit und Schwierigkeit des Weges kritischer Solidarität zeigt sich für unsere Erfahrung dort, wo Menschen andere begleiten, die sich in einer zerstörerischen Lebensform verfangen haben. Denken wir an eine Person, die einem suchtkranken Freund aus seiner Abhängigkeit heraushelfen will. Das ist nur möglich in einem Verhalten kritischer Solidarität. Zu vermeiden ist der Straßengraben der Aggression: die suchtkranke Person zu verurteilen; sie endgültig sich selber zu überlassen, wenn sie sich nicht an die Abmachungen hält. Demgegenüber ist ein solidarisches Verhalten gefragt. Dabei ist aber zugleich das entgegengesetzte Extrem zu vermeiden: der Straßengraben der Resignation. Er bestünde in einer unkritischen Solidarität, die den selbstzerstörerischen Verhaltensweisen des Suchtkranken keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Es braucht das Verhalten einer kritischen Solidarität.

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Je stärker der begleitete Mensch in seiner Destruktivität gefangen ist, desto schmäler wird der Mittelweg der kritischen Solidarität. Schritt für Schritt ist es beinahe unmöglich kritisch zu sein, ohne unsolidarisch zu sein, oder solidarisch zu sein ohne Kritik vermissen zu lassen.

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Aufs Äußerste herausgefordert durch solche Begleitung ist die verstrickte Person. Was ihr Leben zerstört, ist für sie unverzichtbar geworden, um ein wenigstens halbwegs erträgliches Dahinvegetieren aufrecht zu erhalten. Wer ihr das wegnimmt, wird von ihr zwangsläufig als Bedrohung wahrgenommen. Kritische Solidarität erscheint für sie als Aggression. Und kritische Solidarität fasst sie als Resignation auf im Sinne einer Duldung des eigenen selbstzerstörerischen Verhalten.

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Von solchen Spannungen wurde Jesus zerrissen. Nach beiden Richtungen drohte sein Handeln missverstanden zu werden: Auf der einen Seite wurde er von Menschen begeistert aufgenommen, drohte aber für exklusivistische Erwartungen vereinnahmt zu werden: das Volk wollte ihn zum politischen Messias erheben; und seine Jünger versuchten, sich die besten Plätze zu sichern. Demgegenüber musste er in kritischer Solidarität die falschen Erwartungen der Menschen zurückweisen. Das aber drohte wieder als Totalablehnung missverstanden zu werden, – nicht nur für Jesu Zeitgenossen (vgl. z.B. Jesu Verweigerung von Wundern Lk 4,23-30; Mt 16,1), sondern auch für heutige LeserInnen, wenn sie z.B. in den Evangelien einen latenten Andijudaismus zu finden meinen.

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Gerade sein Verhalten kritischer Solidarität brachte Jesus zunehmend in gefährliche Konflikte. Er sah sich zu den Kindern Israels gesandt, und keine Gefahr konnte ihn davon abhalten, dieser Sendung bis zum bitteren Ende zu folgen. Jesus begann zu erkennen, dass sein Weg ihn das Leben kosten würde.

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Die Heilsbedeutung von Jesu Kreuzestod

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Dennoch verkündete Jesus das Evangelium vom anbrechenden Gottesreich auch dort ohne Kompromisse, wo man es nicht hören wollte. Dass mit seinem Wirken das Gottesreich anbrechen würde, davon war Jesus vom Anfang seines Wirkens bis zum Ende am Kreuz überzeugt. Als Jesus erkannte, dass er sein Wirken unvermeidlich mit dem Tod bezahlen würde, konnte seine Gewissheit vom nahenden Gottesreich nur die Form annehmen, dass dieses Gottesreich über den Weg seines Todes Wirklichkeit werden könnte. Er begann seinen Jüngern seinen Tod anzukündigen (vgl. Mk 8,31), und er verwendete Gleichnisse und Symbole, um ihnen eine positive Bedeutung dieses Todes zu erschließen (vgl. z.B. das Gleichnis vom sterbenden Weizenkorn Joh 12,24). Für die historische Analyse ist es nicht mehr im einzelnen klar, welche Deutungen bereits Jesus selber verwendet hat, und welche sich der auf Jesu Tod zurückblickenden Urkirche erschlossen hat. Das ist auch nicht entscheidend. Wichtig ist, dass diese vertiefenden Interpretationen sich auf Jesus berufen können, der bereits selber mit einer positiven Vorausdeutung seines Todes begonnen hat.

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„Dann begann er, sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen.“ Mk 8,31

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„Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“ Joh 10,11

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„Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es den Jüngern und sagte: Nehmt und esst; das ist mein Leib.
Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet und reichte ihn den Jüngern mit den Worten: Trinkt alle daraus;
das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Mt 26,26-28

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Worin liegt die Bedeutung von Jesu Tod? Entscheidend ist Jesu bedingungslose Ausrichtung auf Gottes Willen. Gott will keineswegs direkt auf Jesu Leiden und Tod, sondern – wie bereits im Alten Testament ersichtlich – will Er die Sammlung der Menschen in reiner Ausrichtung auf Gott. Jesus vermag diesen Sammlungs- und Versöhnungswillen Gottes in befreienden Erfahrungen spürbar zu machen.

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Hier öffnet sich die Möglichkeit zu einer direkten Verwirklichung des Gottesreichs: Wer sich als von Gott bedingungslos beschenkt erfährt, gewinnt selber die Fähigkeit, bedingungslos weiterzuschenken. In einem Schneeballeffekt kann eine Lawine der Gnade ausgelöst werden. (Das hat es in der Geschichte der Kirche immer wieder gegeben: die fast explosionsartige Ausbreitung des frühen Christentums, und immer wieder die rasante Verbreitung von neuen Orden und religiösen Bewegungen).

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Aber es gibt keinen Automatismus der Gnade. Wie wir schon ausgeführt haben, versetzen Gnadenerfahrungen (die durch Jesus ausgelösten Erfahrungen des anbrechenden Gottesreichs) nicht automatisch in den Glauben, sondern in einen Zustand, in dem der Glaube gewählt werden kann. Die Ausbreitung des Gottesreichs ist also immer neu abhängig von einer positiven Entscheidung der beteiligten Menschen.

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Was geschieht, wenn Menschen diese gute Wahl verweigern?

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Dann fallen sie in eine schlimmere Weise in ihre bisherigen Verengungen und Abhängigkeiten zurück. Jesus hat das als Verstockung oder Verhärtung der Herzen beschrieben (vgl. Mk 6,51f; auch: Lk 11,24-26). Welcher Weg zum Heil bleibt für diese verhärteten Menschen noch übrig? An dieser Frage entscheidet sich, ob Jesus mit seiner Botschaft des nahen Gottesreichs Recht behielt.

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Wir sahen, wie Jesu zunehmende Konflikte sich aus dem kritisch-solidarischen Einsatz für die verstockten Menschen erklärten. Dieser Einsatz brachte Jesus letztendlich ans Kreuz. Das Kreuz ist Symbol für den bedingungslosen Einsatz Jesu für das Gottesreich sowie für die Menschen, denen er das Gottesreich erschloss. Die alleinige Alternative zu Jesu Kreuz-Weg hätte im Ausschluss all derer bestanden, die sich Jesu radikaler Botschaft vom Gottesreich verweigerten. Insofern steht das Kreuz für die bis zuletzt offengehaltene Heilsmöglichkeit auch für jene Menschen, die sich Gottes Heilsangebot verweigerten.

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Offen bleibt aber zunächst die Frage, ob mit Jesu Kreuzestod nicht diese offengehaltene Chance für die Verweigerer endgültig verloren geht. Eine Lichtblick zeigt sich vom vierten Lied vom Gottesknecht her:

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„... er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, / wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Jes 53,4f

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Wer die direkte Chance des greifbaren Gottesreichs ausschlägt, gleitet nicht einfach in die vorherige Unentschiedenheit zurück, sondern verfällt in einen Zustand der Verstockung gegen das Gottesreich. (So wie die Nazarener Juden nach der Zurückweisung von Jesu Antrittspredigt für weitere Lehren und Zeichen Jesu gewiss blockiert waren). Unvermeidlich werden sie sich gegen die Verwirklichung genau jener Gottesherrschaft einsetzen, deren Ankunft ja eigentlich ihre tiefste Sehnsucht wäre. Voll Verblendung werden sie sich immer tiefer in Schuld verstricken und gerade das zerstören, was ihnen am wertvollsten ist. Nach einem Akt der Zerstörung kann aber Ernüchterung und ein Umdenken einsetzen. So ist es im vierten Gottesknechtlied beschrieben: „Wir glaubten ..., doch ...“. Es kann die schreckliche Einsicht aufbrechen in das, was man angerichtet hat. Hier öffnet sich noch einmal eine Chance zur Umkehr und zur Annahme des Gottesreichs. Auch in diesem kairós kommt der Glaube nicht automatisch. Es steht nur noch einmal eine Entscheidungsmöglichkeit offen, – angesichts einer bereits gefällten Grundentscheidung gegen Gott eine unerwartbare Erfahrung der Gnade.

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In dieser Situation droht ein endgültiges Nein durch eine Haltung der Verzweiflung. Exemplarisch ist uns das mit Judas vorgeführt (auch wenn wir hoffen dürfen, dass selbst für Judas durch Jesu Kreuzestod nochmals eine neue Möglichkeit zur Annahme Gottes aufgegangen ist). Nachdem er Jesus verraten hat, offenbart sich ihm wie in einem kalten Licht die Ungeheuerlichkeit von dem, was er angerichtet hat. Er erhängte sich.

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Was gibt uns Grund zur Hoffnung, dass in der neuerlichen Wahlsituation jenes Menschen, der sich der Ablehnung des Gottesreichs schuldig gemacht hat, gegenüber der Gefahr der Verzweiflung die positive Möglichkeit der Umkehr dennoch die stärkere ist? Die Gefahr der Verzweiflung wird dort minimiert, wo die schuldig gewordene und ihre Schuld einsehende Person Vergebung erfährt von demjenigen, an dem sie (oder sie) schuldig geworden ist. Es braucht noch ein Wort – ein positives Wort, des Friedens und der Vergebung –, von dem, der in den Fluchtod am Kreuz verstoßen wurde. Dieses Wort hat sich ereignet, nicht nur am Kreuz, wo Jesus ausrief „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, sondern als die erste und zentrale Botschaft des Auferstandenen:

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„Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen.
Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Joh 20,19-21; vgl. Lk 24,36

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Jesus sagt den Frieden zwar nur seinen Jüngern zu, die aber immerhin auch in ihrer Nachfolge gescheitert waren. Diese aber sollen Jesu Botschaft allen Menschen weitertragen: die Zusage des anbrechenden Gottesreichs, der Herrschaft des Friedens.

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Außer dem direkten Weg der Annahme des Gottesreichs – ein Weg, für den exemplarisch Maria mit ihrer Sündenlosigkeit steht – öffnet sich so durch Jesu Kreuzestod ein zweiter Weg. Im Vergleich zur „sanften Tour“ einer direkten Verwirklichung des Gottesreichs ist es die harte Tour: Ein schmerzhafter Weg, ein Kreuz-Weg durch Destruktion und Schuld hindurch, – ein Weg auf dem niederbrennen muss, was ein Mensch in Verstockung gegen Gott aufgebaut hat (vgl. 1 Kor 3,10-15), aber dennoch: es ist ein Weg.

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So wird durch Jesu Kreuzestod die ursprüngliche Ansage des Gottesreichs nicht widerlegt, sondern im Gegenteil bestätigt. Ja, angesichts der harten Realität der Sünde, die stets zur Verstockung anzuwachsen droht, ist erst jetzt überhaupt realistisch zu sehen, dass Jesus mit seiner Gottesreichbotschaft Recht hat. Weil Gott sich – offenbart und vermittelt durch Jesus Christus – in äußerster Radikalität auf die Menschen eingelassen hat, – bis in den Tod. Diese Demut Gottes vermag den Hochmut des mit Gott konkurrierenden Menschen zu unterlaufen. Gott erscheint mit einem demütigen Gesicht. So hat sich der hochmütige Mensch, der Gott nicht Herr seines Lebens sein lassen will, Gott nicht vorgestellt. Mit diesem demütigen Antlitz hat er ihn noch nicht gesehen und deshalb auch noch nicht zurückgewiesen. Und so öffnet sich für ihn (oder sie) auch bei voller Respektierung der freien Ablehnung Gottes durch das Kreuz hindurch nochmals eine neue Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen Gott; weil Gott sich eben als größer – und das heißt hier: als demütiger – erweist, als der Mensch, der meinte, Gott ablehnen zu müssen, angenommen hat.

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Welche Bestätigung gibt es dafür, dass Jesu Kreuzestod tatsächlich die Verwirklichung der eben beschriebenen Heilsmöglichkeiten ist, und nicht etwa doch der tragische Totalabbruch von Jesu Gottesreichinitiative? Die von Gott gegebene Bestätigung liegt in der Auferstehung Jesu. Sie erweist, dass es einen Weg durch den Tod hindurch gibt, dass es ein Licht gibt am Ende des finsteren Tunnels des Nichts- mehr-tun-Könnens, in das Jesu Kreuz-Weg seiner kritischen Solidarität mit den in Sünde verstockten Menschen führte. Können wir aber heute noch nachvollziehen, dass jemand von den Toten auferstehen kann? Auf diese Problematik gehen wir im folgenden Kapitel ein.

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4.2.4 „am dritten Tage auferstanden von den Toten“

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Schwer zu glauben

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„Am dritten Tage auferstanden von den Toten“. Diese Aussage des Glaubensbekenntnisses ist für uns heute nur schwer zugänglich, – ebenso wie die Auferstehungszeugnisse der Evangelien. Widerspricht es nicht völlig unseren Erfahrungen, dass jemand aus dem Tod zurückkehrt? Zudem sind wir stark beeinflusst von wissenschaftlichen Weltbildern, innerhalb derer eine Auferstehung von den Toten unmöglich, ja sinnlos ist.

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Gegenüber dieser Skepsis kann man zunächst ganz einfach feststellen, dass es bei Jesu Auferstehung gar nicht um die Rückkehr eines Toten ins Leben geht. Das würde ja heißen, dass Jesus eine Zeit lang weitergelebt hätte um dann nochmals zu sterben. Die Evangelien sprechen aber völlig anders. Die Gegenwart des Auferstandenen unterschied sich von der gewohnten leiblichen Gegenwart, und anstelle eines nochmaligen Todes wird erzählt von Jesu Himmelfahrt.

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Aber auch das klingt wie ein Märchen. Sind solche Aussagen für unsere heutige, nüchtern und realistisch denkende Welt überhaupt noch zumutbar?

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Minimalistische Deutungen

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Seit dem Beginn der Neuzeit gab es verschiedenste Versuche von Theologen, die Auferstehungsgeschichten zu entschärfen.

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Es gab die Betrugshypothese (von Reimarus vor zweieinhalb Jahrhunderten), wonach die Jünger den Leichnam entwendet und die Auferstehungsgeschichte erfunden hätten um vom Hochkommen einer religiösen Bewegung zu profitieren (ein Verdacht, dem schon die ersten Christen ausgesetzt waren; vgl. Mt 28,13).

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Fünfzig Jahre später erfolgte unter der Feder von David Friedrich Strauß der Versuch, die Auferstehungsgeschichten als Phantasiebildungen der Jünger zu erklären: als Niederschlag ihrer absichtslos dichtenden Jesusverehrung. Mit solchen „Visionshypothesen“ war zwar die persönliche Integrität der Auferstehungszeugen wiederhergestellt. Zugleich stellte sich aber die Aufgabe, unter dem Zierwerk phantastischer Dichtungen den wahren Kern herauszuschälen.

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Dieses Entmythologisierungsprogramm führte zu ziemlich minimalistischen Auferstehungsdeutungen. Eine verbreitete Interpretation aus den 70er Jahren stellte als Kerngehalt der biblischen Auferstehungszeugnisse fest: „Die Sache Jesu geht weiter“ (Willi Marxsen).

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Dass das „Weitergehen der Sache Jesu“ mit Jesu Auferstehung auch gegeben ist, ist nicht zu bestreiten. Der Verdacht einer Verkürzung liegt aber nahe, wenn jemand behauptet, Auferstehung bedeute nichts als die Erfahrung der Zurückgebliebenen, dass die Sache Jesu weiter geht. Dass „seine oder ihre Sache weitergeht“, wurde schon in vielen Nachrufen von Menschen behauptet, ohne allen Anspruch, sie wären auferstanden.

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Von der „dünnen Aussage“ zum vollen Bekenntnis

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Im speziellen Fall Jesu ist aber selbst eine so dünne Aussage ausreichend, um von da aus zu einer wesentlich anspruchsvolleren Deutung der Auferstehung vorzudringen.

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Dazu kann auf folgende Weise argumentiert werden:

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1.: Auferstehung = „Die Sache Jesu geht weiter“
ABER 2.: Die „Sache Jesu“ ist ohne die „Person Jesu“ nicht zu haben.

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.+2. => 3.: Auferstehung = „Die Person Jesu geht weiter“

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„Die Person Jesu geht weiter“ – Gemeint ist mit dieser Schlussfolgerung (in schlechtem Deutsch um der logischen Prägnanz willen so formuliert): Die Jünger kamen im Auferstehungsgeschehen nicht bloß mit einer Idee („Sache“) von Jesus zusammen, sondern sie mussten in einer intensiven Weise Jesus selber begegnet sein. Wie eine solche Begegnung mit einem verstorbenen Menschen genau erfolgt ist, kann in diesem überlegungsgang offen bleiben. Behauptet wird nur, dass das was da passiert ist, ohne einen intensiven Kontakt mit Jesu Person selber nicht erklärbar ist.

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Damit ist unser Argumentationsgang befreit von der Last, etwas unsere Erfahrung Transzendierendes plausibel erklären zu müssen; – in Fragen z.B. nach der Natur eines Auferstehungsleibes. Offen bleibt allerdings noch die Frage, ob ein solcher Kontakt mit einem Verstorbenen durch wissenschaftliche Vorgaben grundsätzlich ausgeschlossen werden muss.

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Entscheidend für die Schlussfolgerung ist die Zusatzbehauptung: „2. Die 'Sache Jesu' ist ohne die 'Person Jesu' nicht zu haben.“ Was ist damit gemeint?

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Wir haben gesehen, dass Jesu Botschaft in einer ganz engen Weise mit seiner Person verbunden war. Er hat verkündet, dass das Gottesreich bereits keimhaft im Anbrechen ist. Und der Keim oder Same des bereits anbrechenden Gottesreichs bestand in Jesus selber, – seinem Dasein, seinem heilenden Tun und Sprechen.

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Jesus versuchte die Menschen auf einen Weg zu führen, den er als Nachfolge bezeichnete (vgl. z.B. Mt 4,19; Mt 9,9). Nicht durch Erfassen einer von Jesus ablösbaren Idee, nicht durch Befolgen von von Jesus ablösbaren Gesetzen und Geboten konnten die Menschen das Gottesreich verwirklichen, sondern indem sie sich ganz auf Jesus selber einließen, der seinen Weg auch nicht in Befolgung abstrakter Regeln fand, sondern durch eine ununterbrochene, radikale Ausrichtung auf Gott und seinen Willen. Damit war das Gesetz nicht überflüssig, sondern konnte seinem Kern nach, „mit größerer gerechtigkeit“ nach befolgt werden, so wie Jesus es in der Bergpredigt vorgelegt hat. Damit diese innere Befolgung des Gesetzes möglich wurde, war es nötig, wie Jesus ganz auf den göttlichen Vater hin und ganz von ihm her zu leben. Das ging nur in einer radikal neuen Lebensform, die nicht verstandesmäßig zu erfassen, nicht willensmäßig zu erzwingen, sondern Schritt für Schritt einzuüben war. Dazu brauchten die Jünger die Gegenwart Jesu: Im Zusammenleben mit Jesus konnten sie sich in die Lebensform einer restlosen Ausrichtung auf den himmlischen Vater einüben.

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Mit seinem Lebensbeispiel ging Jesus den Jüngern voraus. Wir beschrieben Jesu Weg als einen zunehmend enger und beinahe weglos werdenden Kreuzweg kritischer Solidarität, – zwischen den immer enger zusammenrückenden Straßengräben von Aggression und Resignation. Dass Jesus auf diesem schwierigen Weg seiner Botschaft vom anbrechenden Gottesreich treu bleiben konnte, erforderte eine ungeheure „Trittsicherheit“. Es hing von minimalsten Nuancen ab, dass seine kritische Solidarität nicht in den Abgrund aggressiver Aburteilung abglitt, und dass seine kritische Solidarität nicht in den anderen Abgrund eines resignativen Nachgebens gegenüber den problematischen Ansprüchen der Menschen abrutschte. Das war nur möglich, indem Jesus – wie im dritten Gottesknechtlied, vgl. Jes 50,4f – sich in jedem Augenblick ganz von seinem himmlischen Vater führen ließ. Damit erwies sich Jesus als „Meister der Nuancen“, dessen Lebensweisheit in keiner Weise in ein allgemeines Lebensgesetz aufgehoben werden konnte. Nicht um Nachahmung konnte es für die Jünger gehen, sondern um Nachfolge: So wie Jesus seinen Weg in radikaler Treue zum immer neu zu erspürenden Willen Gottes lebte, so mussten die Jünger lernen, ihren jeweiligen Weg im gleichen radikalen Gehorsam immer neu zu finden.

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Immer wieder wird in den Evangelium deutlich, wie sehr die Jünger – trotz ihres Mitlebens mit Jesus – hinter diesem Anspruch zurückblieben. Sie verstanden Jesu Worte nicht (vgl. Mk 4,13; Mk 9,32); auch angesichts Jesu vorbildlichen Beispiels gierten sie nach den ersten Plätzen; sie konnten nicht wie Jesus in der Stunde der Versuchung wach bleiben (vgl. Lk 22,46). Als Jesus gefangengenommen wurde, liefen sie voll Angst davon; und Petrus, der erste von ihnen, verriet seinen Herrn in schmählicher Weise. Das ist nun das Bild der Jünger zum Zeitpunkt von Jesu Kreuzigung. Sie waren demoralisiert und verängstigt. Sie flohen aus Jerusalem und versteckten sich.

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Die „Sache Jesu“ – d.h. seine hoffnungsvolle Botschaft vom anbrechenden Gottesreich – war ihnen also vollkommen abhanden gekommen. Mehr denn je hätten sie der Person Jesu, seines leibhaften Mitlebens bedurft, um wieder Hoffnung zu schöpfen und den Weg der Nachfolge auf sich zu nehmen.

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Soweit die Situation unmittelbar nach Jesu Kreuzigung. Nichts, aber auch gar nichts ließ erwarten, dass sich diese Situation in absehbarer Zeit entscheidend ändern könnte. Und doch kam es zu einem völligen Umschwung. Die Jünger verließen ihre Verstecke und begannen von Christus als dem Auferstandenen zu predigen. Keine Drohung, auch nicht körperliche Gewalt, selbst nicht der Tod durch Martyrium konnten sie – und in späterer Folge die wachsende Zahl von Christen – davon abhalten. Was war da passiert? Es musste etwas Massives, ganz Entscheidendes vorgefallen sein, das diesen Totalumschwung bewirken konnte. Was war es?

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An dieser Frage scheitern alle skeptischen Rekonstruktionsversuche. Angesichts dieser Sachlage erscheint eine Betrugshypothese vollständig absurd; und dass bloße subjektive Visionen eine solche Kraft und Nachhaltigkeit des Glaubenszeugnisses hervorruft, widerspricht aller psychologischer Erfahrung. Eine historische Rekonstruktion des Geschehens im Umfeld von Jesu Tod und Auferstehung muss sich diesem erstaunlichen Umschwung im Verhalten der Jünger stellen.

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Angesichts dieser Sachlage bleibt nur die Annahme, die jener des biblischen Zeugnisses entspricht: den Jüngern muss sich in einer intensivsten Weise die Person Jesu selber neu und in noch ungekannter Tiefe erschlossen haben. Das ist gemeint mit der These: Man kann die „Sache Jesu“ nicht ohne Jesu Person haben.

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In diesem Zusammenhang ist es unverzichtbar, auf jenes Ereignis wenigstens zu erwähnen, das den ChristInnen auch in späterer Folge (ohne persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen) die Möglichkeit eines innerlichsten Bezugs zum lebendigen Vorbild Jesu Christi zu erschließen vermochte: die Übergabe des Heiligen Geistes, – also jenes Mittlers, durch den Jesus seine innigste Verbindung zum Willen des Vaters aufrechterhielt. Vgl. Joh 20,22.

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Und die „wissenschaftlichen“ Einwände?

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Es gibt einen verbreiteten Einwand, der sich auch gegen unsere Schlussfolgerungen stellt. So plausibel es auch ist, dass die Jünger nach Jesu Tod nicht nur mit seiner Sache, sondern mit ihm selber zu tun bekamen: Zerschellt nicht die ganze Schlussfolgerung an der unumstößlichen wissenschaftlichen Tatsache, dass Tote nicht auferstehen? Das müsse man eben akzeptieren, wenn man nicht in ein vormodernes, „mythologisches“ Weltbild zurückfallen wolle.

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Es wurde schon eingangs gesagt und in der folgenden Argumentation deutlich, dass Auferstehung nicht im Sinne eines buchstäblichen „Wiederkommens“ zu verstehen ist. Vielmehr können und müssen die Detailfragen, wie es sich mit den Erscheinungen des Auferstandenen verhielt (ob z.B. eine Kamera ein Bild vom auferstandenen Jesus eingefangen hätte usw.) offen gelassen werden. Damit ist ein direkter Widerspruch zwischen wissenschaftlich reflektierter Erfahrung und theologischen Behauptungen ausgeräumt.

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Dennoch gilt: Wenn man Geschichtswissenschaften nach einem engen, positivistischen Anspruch versteht, nach dem sich nur das historisch hat ereignen können, was auch unserer heutigen Erfahrung grundsätzlich zugänglich ist, dann bleibt auch für eine Auferstehungsinterpretation, wie sie hier vertreten wurde, zu wenig Spielraum. Hier muss die kritische Auseinandersetzung zwischen Theologie und anderen Wissenschaften einsetzen. Wissenschaftstheoretisch lässt sich zeigen, dass ein positivistischen Geschichtsverständnis, das alles geschichtlich Mögliche auf das reproduzierbar Erfahrbare reduziert, grundsätzlich zu eng und auch in säkularen Kontexten nicht stringent durchführbar ist. Wer die Möglichkeit der Auferstehung a priori, d.h. ohne genauere Prüfungen im einzelnen, als unwissenschaftlich verwirft, tut dies nicht aus Treue zur Wissenschaft, sondern aus einer wissenschaftlichen Weltanschauung heraus, die selber durch Glaubensurteile beeinflusst ist, und die überdies auch nicht mehr dem heutigen Selbstverständnis der Wissenschaften entspricht.

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4.3 Wer war Jesus Christus?

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Wahrer Gott und wahrer Mensch??

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Wer war Jesus Christus? Das frühchristliche Bekenntnis, wie es bereits in der Bibel aufscheint, sagt uns: Gottes Sohn, der Messias, der Erlöser. Dieses Bekenntnis wurde von der frühen Kirche – im Konzil von Nizäa – weitergeführt zum Dogma: Jesus Christus ist „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott ...“. Das sind überaus anspruchsvolle Aussagen, die für unser heutiges Denken nicht mehr nachvollziehbar scheinen. Die späteren Festlegungen, dass Jesus Christus dennoch und zugleich „wahrer Mensch“ ist, mindern die Schwierigkeiten nicht, sondern spitzen sie vielmehr zu. Wie können Gott und Mensch in einer Person zusammenfallen, wenn doch gerade durch die jüdisch-christliche Schöpfungslehre der Unterschied zwischen Mensch und Gott auf keine Weise verwischt werden darf. Zwar stimmt hier das Dogma (von Chalcedon, im Jahr 451) zu, indem es sagt: in Jesus Christus sind göttliche und menschliche Natur ungetrennt, aber auch unvermischt. Aber wie soll das denn nachvollzogen werden? Kann es denn etwas oder jemanden geben, das oder der zugleich Gott und Mensch, und das zugleich unvermischt und ungetrennt ist?

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Man kann versuchen, bei einer Hälfte des Bekenntnisses anzusetzen, um die zweite von da aus zu erschließen. Man setzt an bei Jesus Christus als dem wahren, wahrhaften, vollkommenen Menschen und versucht sich von dort aus vorzuarbeiten zum Bekenntnis, etwa des Hauptmannes vor dem gekreuzigten Jesus: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). Oder man beginnt beim Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes, der zweiten Person in Gott und verfolgt seinen Weg in Menschwerdung, Verkündigung, Kreuz, Auferstehung und Rückkehr zum Vater. Der erste Weg – von Christus als wahrem Menschen zu Christus als wahrem Gott – wird als Christologie von unten bezeichnet, der zweite Weg als Christologie von oben. Beide Wege schließen sich nicht aus. Verfolgt man den Erfahrungsweg, den die Zeitgenossen und JüngerInnen Jesu gegangen sind, dann wird man von einer Christologie von unten weitergeführt zu einer Christologie von oben. Wenn wir die besondere Eigenart Jesu Christi nicht nur fromm behaupten, sondern auch nachvollziehen wollen, dann bleibt uns nur dieser Weg.

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Ich plädiere dafür, unbefangen bei Jesus Christus als dem besonderen Menschen anzusetzen. Er erschien als Prophet, als Lehrer, als Heiler; wir müssen und dürfen ihn verstehen in der langen Linie der bereits vom Alten Testament her bezeugten Heilsgeschichte. So ging es auch Jesu Zeitgenossen: Sie machten Erfahrungen, die sie an Vergangenes, Bewährtes und Erhofftes erinnerten; sie wandten auch Begriffe und Kategorien dieses Vertrauten an. Aber zugleich stellten sie fest, dass das „Phänomen Jesus“ diese Begriffe und Kategorien durchbrach. Gewiss war er ein Lehrer, aber „er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hatte, nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22). Manchen von ihnen erschien er als der ideale, prädestinierte König, aber Jesus entzog sich ihren Erwartungen (vgl. Joh 6,15).

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Um zu verstehen, wer dieser Jesus war, schauten wir zuerst ausführlich darauf, wie er sich verhielt und welche Wirkungen sein Tun, Lehren und Sein auf seine Umwelt hatte. Wir haben auf diese Weise verschiedene Linien des Jesus- Verständnisses gezeichnet: der Verkünder des Gottesreichs; der Provokateur; der Mensch auf dem Kreuzweg; der Auferstandene. Und wir versuchten eine Zusammenschau zu entwickeln, in der diese Linien zusammenpassen. Wenn wir nun fragen: „Wer war dieser Jesus von Nazareth“, so können wir annehmen, er ist das, was wir dort erahnen, wo diese verschiedenen Linien zusammenlaufen. Ich möchte behaupten: Wenn diese verschiedenen Linien sich wirklich treffen, wenn also das Phänomen Jesus Christus wirklich einen Sinn ergeben soll, wenn die verschiedensten Erfahrungen mit Jesus sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, dann ist dieser gemeinsame Nenner genau jener des christlichen und kirchlichen Bekenntnisses.

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... ein besonders begnadeter Mensch

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Wer also ist Jesus Christus? Beginnen wir unbefangen mit der Feststellung: er war ein besonders begnadeter und Gnade erschließender Mensch.

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Was wir im Kapitel über den Menschen als Geschöpf Gottes ausgeführt haben, können wir für Jesus in einem besonders ausgeprägten Maße annehmen: Die Mitte seiner Existenz war bestimmt von seiner Gottesbeziehung. Immer wieder zog er sich zum einsamen Gebet zurück um Kraft und Orientierung zu erhalten. Und er sprach Gott mit den ungewöhnlich vertrauten Worten „Abba-Vater“ an. In Tat, Wort und letztlich in seinem ganzen Sein verwies er auf Gott. So können wir sagen: Er war geradezu ein Verweis auf Gott. Er war so vollkommen durchsichtig auf Gott, dass der Evangelist Johannes in Jesu Worten zusammenfassen konnte: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45).

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Wenn Johannes das Wirken und Sein Jesu Christi beschreibt, so ist für ihn das Wort Sendung zentral, – und zwar in den beiden Richtigen: „Sendung von“ „Sendung zu“. Jesus erfährt sich als von Gott (vom Vater, durch den Heiligen Geist) gesandt zu den Menschen, um für sie das Gottesreich, d.h. Gott selber als lebendigen zu vergegenwärtigen. Diese Aufgabe füllt Jesus so vollständig aus, dass man geradezu sagen kann, er ist diese Sendung.

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In Person ist er die Verbindung, die Brücke, oder – mit einem biblischen Wort von Paulus – der Mittler zwischen Gott und den Menschen (vgl. 1 Tim 2,5).

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... Gottes Antlitz in Person

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Die Gottebenbildlichkeit, das Sein-wie- Gott, das Gott dem Menschen als seinem vollkommensten Geschöpf mitgegeben hat (vgl. oben Kap. 3.3), wurde von Jesus in einer radikalen Weise gelebt. In seinem konsequenten Zusammenspiel von Wort und Tat wurde für die Menschen spürbar: Jesus zeigt nicht nur die Gegenwart Gottes. Durch sein Reden, Tun und Sein ist er geradezu Gottes Gegenwart.

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Das wird durch späte Evangelientexte wörtlich ausgesagt, – vor allem in den Ich- bin-Worten, die der Evangelist Johannes Jesus zuschreibt:

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„Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35.48);
„Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12)
„Ich bin der gute Hirt“ (Joh 10,11);
und – in indirekter Rede – sogar: „Ich bin Gottes Sohn“ (Joh 10,36)

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Für die Begründung des Christus- Dogmas hatten diese Aussagen verständlicherweise eine zentrale Bedeutung.

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Die historisch-kritische Exegese hat diese Aussagen aber als ursprüngliche, authentische Jesusworte in Frage gestellt und als „Gemeindetheologie“ gewertet. Damit bleibt aber erst noch zu zeigen, ob das Jesusbild dieser Gemeindetheologie auch dem „historischen Jesus“, wie er durch die unterschiedlichen Jesuszeugnisse hindurch mit historischen Methoden erschließbar ist, auch entspricht. Dieser Nachweis lässt sich führen, indem wir nicht nur auf die ausdrücklichen Jesusbezeichnungen schauen, sondern auf die Weise, wie Jesus sich verhalten hat. Hier gibt es mannigfache Zeugnisse, dass Jesus sich in ganz selbstverständlicher Weise als souveräner Gottesmittler verhalten hat. Etwa durch seine erstaunenerregende Rede in Vollmacht („nicht so wie die Schriftgelehrten“); ein Beispiel für dieses souveräne Auftreten haben wir in seiner „Antrittspredigt“ in Nazareth bereits genau angeschaut (vgl. oben Kap. 4.2.1). Dieser indirekte Nachweis von Jesu Anspruch „wie Gott zu sein“, der sich aus seinem Verhalten erschließt, wird als indirekte Christologie bezeichnet, – im Unterschied zur direkten Christologie, die sich zur Begründung direkt auf die Hoheitsaussagen über Jesus (z.B. die ich-bin-Aussagen im Johannesevangelium) bezieht.

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Im Abschnitt über den Menschen als Gottes Geschöpf haben wir von der Ambivalenz des „Wie-Gott-Seins“ gesprochen. Wir haben betont, dass ein wahrhaftiges, auf Gott hin transparentes Wie-Gott-Sein in der Praxis oft nur Nuancen von einem eigenmächtigen, sündhaften Wie-Gott-Sein entfernt ist. Deshalb ist ein klares Urteil, ob im konkreten Fall ein Mensch in einer guten oder sündhaften Weise sich wie Gott verhält, kaum möglich. Warum können wir dann ein so eindeutiges Urteil über das Verhalten Jesu fällen?

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Diese Anfrage wird verschärft durch den Umstand, dass Jesu souveränes Auftreten mehrfach als eigenmächtiges Wie-Gott-Sein-Wollen gebrandmarkt wurde. Und das galt als schlimmste Gotteslästerung, die nach jüdischem Gesetz den Tod verdiente. Es ist wieder Johannes, der das am schärfsten herausarbeitet:

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Um diese Zeit fand in Jerusalem das Tempelweihfest statt. Es war Winter,
und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos auf und ab.
Da umringten ihn die Juden und fragten ihn: Wie lange noch willst du uns hinhalten? Wenn du der Messias bist, sag es uns offen!
Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab;
ihr aber glaubt nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört.
Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir.
Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen.
Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen.
Ich und der Vater sind eins.
Da hoben die Juden wiederum Steine auf, um ihn zu steinigen.
Jesus hielt ihnen entgegen: Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen?
Die Juden antworteten ihm: Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott.
Jesus erwiderte ihnen: Heißt es nicht in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter?
Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann,
dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott - weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn?
Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht.
Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt. Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater

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bin.
Wieder wollten sie ihn festnehmen; er aber entzog sich ihrem Zugriff.
Joh 10,22-39

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In seiner Verkündigung und seinem Wirken ist Jesu Sein-wie-Gott so stark ausgeprägt, dass die Alternative zwischen äußerste Gottverbundenheit oder perverseste Gottverstellung (durch eigenmächtigen Anspruch, wie Gott zu sein) auf die äußerste Spitze getrieben ist. Diese Problematik ist in Joh 10 aufs Deutlichste herausgearbeitet, zeigt sich aber auch in zahlreichen Jesusszenen der anderen Evangelisten, – z.B. auch in der von uns ausführlich behandelten Antrittspredigt Jesu in Nazareth. Wie ist dieser Konflikt zu entscheiden? Mit welchen Gründen können wir sagen, dass Jesus den Anspruch wie Gott zu sein, in reinster und wahrhaftigster Weise verwirklicht hat? Schauen wir dazu nicht nur auf Jesu Gottesreichpredigt und seine Konflikte mit den Menschen schauen, sondern auch auf die anderen „Linien“: seinen Leidensweg ans Kreuz und seine Auferstehung. Jesu Tod am Kreuz, der als Fluchtod galt (vgl. Gal 3,13), scheint die Vorwürfe gegen Jesus zunächst zu bestätigen: Er starb wie ein Gotteslästerer und war wohl auch einer. Dagegen muss die Auferweckung Jesu so verstanden werden, dass Gott Jesus gegen alle Verurteilung Recht gegeben hat, – zumindest nach jener Deutung, die die Bibel den Auferstehungsereignissen zuspricht. Und wir haben zu zeigen versucht, dass allein diese Deutung den Ereignissen gerecht wird (vgl. oben Kap. 4.2.4). Von daher erscheint dann auch Jesu Kreuzestod nicht mehr als Bestätigung von Jesu gotteslästerlichem Anspruch Wie Gott sein zu wollen, sondern ganz im Gegenteil: als äußerste Verwirklichung eines selbst-losen Seins- wie-Gott. Davon spricht der berühmte Philipperhymnus ganz ausdrücklich:

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Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht / und ihm den Namen verliehen, / der größer ist als alle Namen,
damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde / ihre Knie beugen vor dem Namen

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Jesu und jeder Mund bekennt: / «Jesus Christus ist der Herr» - / zur Ehre Gottes, des Vaters.“ Phil 2,6-11

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Wenn Jesus tatsächlich in einer vollkommen reinen Weise wie Gott war, wie erklären sich dann die Missverständnisse, nach denen sein Anspruch immer wieder als anmaßend verstanden wurde? Menschen, die selber der Pervertierung des Wie-Gott- Sein-Wollens verfallen sind, neigen dazu, anderen Menschen in einer übertriebenen oder sogar ungerechtfertigten Weise das zu unterstellen, woran sie selber kranken: nämlich sich nach vorne zu spielen, als wären sie ein Gott. In einer Welt, die von der Wurzelsünde des eigenmächtigen Wie-Gott-sein-Wollens infiziert ist, musste Jesu Botschaft zwangsläufig Anstoßerregen. Vereinfacht gesagt: Wenn Menschen aus sich selber heraus wie Gott sein wollen, haben sie für den wahren Gott keinen Platz mehr. In dem Maße, als jemand die Gegenwart des wahren Gottes repräsentiert, werden sie ihn als unerträglichen Rivalen verstehen und vertreiben wollen. Jesus hat auf diesen Zusammenhang mehrfach hingewiesen, vor allem im Gleichnis von den bösen Winzern:

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„Jesus begann zu ihnen (wieder) in Form von Gleichnissen zu reden. (Er sagte:) Ein Mann legte einen Weinberg an, zog ringsherum einen Zaun, hob eine Kelter aus und baute einen Turm. Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer und reiste in ein anderes Land.
Als nun die Zeit dafür gekommen war, schickte er einen Knecht zu den Winzern, um bei ihnen seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs holen zu lassen.
Sie aber packten und prügelten ihn und jagten ihn mit leeren Händen fort.
Darauf schickte er einen anderen Knecht zu ihnen; auch ihn misshandelten und beschimpften sie.
Als er einen dritten schickte, brachten sie ihn um. Ähnlich ging es vielen anderen; die einen wurden geprügelt, die andern umgebracht.
Schließlich blieb ihm nur noch einer: sein geliebter Sohn. Ihn sandte er als letzten zu ihnen, denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben.
Die Winzer aber sagten zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten, dann gehört sein Erbgut uns.
Und sie packten ihn und brachten ihn um und warfen ihn aus dem Weinberg hinaus.“ Vgl. Mk 12,1-12; par. Mt 21,33- 46; Lk 20,9-19).

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Wenn das Heil für die Menschen nur in Gott liegen kann, wie können sie dann gerettet werden von einer Krankheit, die darin besteht, dass sie Gott loswerden wollen (um selber wie Gott zu sein)? Der Ausweg liegt in jener „Kenosis“, jener freiwilligen Erniedrigung und Entmächtigung, die der Philipperhymnus beschreibt:

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„Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz.“

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Es ist die großartige, strahlende Gestalt, die zum Neid und zum Rivalisieren verlockt. Jene Menschen, die an dieser großartigen Gestalt Gottes Anstoß nehmen und sie zurückweisen, können – bei Respektierung ihrer freien Ablehnung Gottes – noch gerettet werden, indem sie Gott in anderer, noch ungekannter und deshalb noch nicht zurückgewiesener Form erscheint: in einer Solidarität, die nicht auf den eigenen Status achtet; in einer Demut, die den ungerechten Schlag des anderen hinnimmt, um ihm (oder ihr) noch eine Chance zur Umkehr offen zu halten (vgl. Mt 5,39; Jes 50,6f). Wir können an dieser Stelle nicht darauf eingehen, dass solche Leidenshaltung selbst nochmals äußerst ambivalent ist, dass es eine Opferrolle gibt, die sich durch Wehrlosigkeit selbst nochmals zum Komplizen des Täters macht; dass auch das Quälen des Wehrlosen dem grausamen Täter nochmals Lust abgewinnen kann, ebenso wie die paradoxe Identifizierung des Gequälten mit der übermacht des Täters dem Gequälten Befriedigung und Lust gewähren kann. Das Bestehen von feigen und masochistischen Zerrformen einer Leidenshaltung widerlegt nicht, dass es auch die starke Form des Leidens gibt, und dass es eine Größe gibt, die sich gerade dadurch als groß erweist, dass es zulässt, klein gemacht zu werden; – nicht um der Demütigung willen, sondern um dem Verstockten, Verirrten noch einen Weg offenzuhalten.

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Angesichts der Erfahrung von Verweigerung und Verstockung gegen Gottes Heilsangebot verschärft sich die Frage, durch wen Heil möglich ist. Es reicht nicht nur, dass Gottes wahres Wesen durch einen Mittler völlig unverstellt gelebt wird. Es bedarf überdies noch einer Haltung dieses Mittlers, die imstande ist, die wurzelsündige Zurückweisung von Gottes Gegenwart nochmals zu unterlaufen, – so dass die verstockten Menschen Gott unvermutet in einer neuen, ungekannten und noch nicht abgelehnten Gestalt begegnen; – in einer Gestalt, die alles Rivalisieren aushebelt.

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Deshalb war es – begonnen von Jesu Geburt unter elenden Verhältnissen bis zu seinem Schmachtod – so entscheidend, dass Gott sich in demütiger, niedriger Gestalt zeigte. Vereinfachend könnte man sagen: als Vorbild der Niedrigkeit, damit der hochmütige Mensch von seinem Hochmut ablässt und so erst frei wird, Gott neu in sich aufzunehmen.

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Dass Gott sich durch einen wahrhaftigen Mittler endlich in unverstellter Weise offenbart, war für die Israeliten bereits jahrhundertealte Hoffnung und Erwartung. Dass Gott sich durch einen Mittler in solch niedriger Gestalt offenbart, und dass dadurch die Macht der Sünde, deren Wurzel der Hochmut des eigenmächtigen Wiegottseins ist, gebrochen wird, – das lag jenseits von aller Erwartung. Die Erfahrung der ersten Christen, dass Gott sich in solcher Weise offenbart, und die Erfahrung, dass auf diese Weise der hochmütige Widerstand gegen Gott gebrochen werden kann, diese Erfahrungen ließen bei den ersten Christen die überzeugung wachsen, dass Gott sich in Jesus Christus den Menschen nicht nur ganz, sondern zugleich einzigoffenbart hat.

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„Er (Jesus) ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist.
Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.“ Apg 4,12

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Jesus Christus ist unverzichtbar für den Zugang zu Gott

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Wir haben uns auf den Weg gemacht, ausgehend vom Bekenntnis zu Jesus Christus als dem besonders begnadeten Menschen das kirchliche Bekenntnis von Christus als Gottes Sohn und wahrem Gott zu erschließen. Auf diesem Weg haben wir bis jetzt zwei Zwischenstationen durchlaufen:

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1. Die Einsicht, dass in Jesus Christus Gott ganz und unverstellt gegenwärtig wird, und zwar in Jesu Worten, Taten und letztlich in seinem Sein. Logisch besagt das: Jesus ==> Gott. Das heißt: Wo Jesus Christus ist, da ist zugleich der wahre Gott gegenwärtig.

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2. Angesichts der beinahe- Unmöglichkeit, dass der mit Gott rivalisierende, in der Ursünde verstockte Mensch auf Gott geöffnet wird und des rettenden Ausweges der entmächtigten Selbstoffenbarung Gottes im Gekreuzigten sind wir noch einen Schritt weiter gegangen. Wir haben uns einer „exklusiven“ Heilsbedeutung Jesu Christi angenähert. „In keinem anderen ist Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4,12). In logischer Form:

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nicht „Jesus Christus“ ==> nicht „Gott“;
oder, was logisch gleichbedeutend ist:
„Gott“ ==> „Jesus Christus“.

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Das heißt: wo wir mit Gott zu tun haben, da haben wir zugleich mit Jesu Christi zu tun. Oder – was eine Hinführung zu dieser Aussage sein kann –: dann haben wir es mit dem Gott Jesu Christi zu tun, – mit Gott in einer Eigenart (der bis zum Letzten gehenden Solidarität mit den in Sünde gefallenen Menschen), die uns nur in Jesus Christus zugänglich gemacht wurde.

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Während der erste Schritt, der vollen Transparenz Jesu Christi für Gott, noch relativ problemlos erschließbar ist, erscheint dieser zweite Schritt als sehr steil; überdies ist er auch noch hochgradig missverständlich. Wenn in Gott nur durch Jesus Christus ganz gegenwärtig ist, bedeutet das dann nicht einen religionstheologischen Exklusivismus? „Nur die Christen haben das Heil; alle nichtchristlichen Religionen sind, weil sie Christus nicht haben, heillos.“ Haben wir uns mit unserem zweiten Schritt nicht einer solchen intoleranten, exklusivistischen Ansicht verschrieben?

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Gehen wir gleich auf diesen Einwand ein. Er ist ein Kurz-Schluss, der nur stimmt, wenn auch der ungeprüfte und voreilig angenommen Zwischensatz zutrifft, wurde, dass die Christen Christus „haben“. Von seiner Geburt an über sein öffentliches Wirken, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung ist Jesus einen Weg gegangen, der für die Christen zwar paradigmatisch (maßgeblich) ist, aber von ihnen keineswegs eingeholt und in keiner Weise verfügbar ist. Die Christen und die Kirche sind hinter Jesus gestellt, in seine Nachfolge, aber sie haben ihn in keiner Weise eingeholt. Sein Lebensprinzip lässt sich nicht in eine verfügbare Lehre gießen, denn sie ist in jedem Augenblick ganz Gott verpflichtet. Demgemäß haben die Gebote des Neuen Testaments weitgehend den Charakter von Zielgeboten, die sich nie vollkommen erfüllen lassen; im Unterschied zu Erfüllungsgeboten, die ich selbstzufrieden abhaken kann: „Du sollst nicht töten!“ – Hab ich erfüllt. Aber: „Du sollst Gott lieben und deinen nächsten lieben wie dich selbst“ – Wann hab ich das ganz erfüllt? Immer hinke ich hinter dieser Norm her, denn: „Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48). Aber nicht nur im Tun, auch im Verstehen hinken wir immer hinter dem her, was Jesus Christus war. Wenn er ganz mit dem göttlichen Vater eins ist, dann muss die Unauflösbarkeit und Unerschöpflichkeit des göttlichen Geheimnisses auch auf Jesus Christus zutreffen.

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So gilt für die Kirche, ihre Menschen, ihre Lehre und ihre Theologie, dass sie immer „hinter“ Jesus Christus gestellt ist, ohne ihn je voll eingeholt zu haben. Dieses Einholen, damit Christus „alles und in allen“ ist (Kol 3,11), damit „Gott herrscht über alles in allem“ (1 Kor 15,28) ist der Kirche zentral aufgetragen. Dazu auch soll sie die Welt missionieren, dazu soll sie Dialoge führen, Dialoge auch mit Andersgläubigen und so genannten Nichtgläubigen; – dazu, dass sie Christus immer tiefer und vollkommener erfasst. Damit ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sondern gerade hervorgehoben, dass ChristInnen in solchem Dialog mit Anders- und Nichtgläubigen Jesus Christus noch tiefer und vollkommener erfasst wird. Das heißt aber nichts anderes, als dass auch die Anders- und Nichtgläubigen dazu beitragen können, dass den Christus ihr Christus in einer tieferen Weise erschlossen wird. Gerade im „exklusiven“ Bekenntnis zum Heil in Jesus Christus werden Christen im Dialog mit Nichtchristen lernfähig. Während umgekehrt eine vordergründig tolerante pluralistische Perspektive, nach dem es viele verschiedene und unabhängige Heilswege gibt, den Dialog zwischen den Religionen nicht freisetzt, sondern unterminiert. Denn wenn jeder auf seinem Weg das Heil finden kann, wozu bin ich dann noch gefordert, vom anderen Heilsweg der anderen zu lernen?

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Kirchliche Aussagen über Jesus Christus

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Mit unseren bisherigen Ausführungen ist der Weg zum kirchlichen Christusbekenntnis erst skizziert. Es sollte gezeigt werden, dass er überhaupt gangbar ist.

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In der Durchführung dieses Weges müssten wir auf die verschiedenen Hoheitstitel eingehen, mit denen die Christen nach Ostern ihren Herrn bedacht hatten: als Herr (Kyrios); als Christus und Messias, was beidemale bedeutet: der Gesalbte; als Sohn Gottes.

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Für jede dieser Bezeichnungen lassen sich die drei Schritte der analogen Gottesrede (als Weg zur Wahrung und Wahrnehmung von Gott als dem Unsagbaren Geheimnis) nachvollziehen:

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1. die Affirmation von bereits bekannten Kategorien; z.B.: Jesus Christus: Messias und König

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2. die Sprengung dieser Kategorien; für unser Beispiel: nicht ein (politischer) König, wie wir es erwartet hätten

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3. die Überbietung dieser Kategorien: mehr als ein König, ein König in einem noch ungekannten Sinn; z.B.: mit einem Reich, „nicht von dieser Welt“.

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Auf eine Bezeichnungsform müssen wir etwas genauer eingehen. In den späten Paulusbriefen wird Jesus Christus als Mittler der Schöpfung bezeichnet:

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Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind.
Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes.
Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden.
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, / der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles erschaffen / im Himmel und auf Erden, / das Sichtbare und das Unsichtbare, / Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; / alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.
Er ist vor aller Schöpfung, / in ihm hat alles Bestand.
Er ist das Haupt des Leibes, / der Leib aber ist die Kirche. / Er ist der Ursprung, / der Erstgeborene der Toten; / so hat er in allem den Vorrang.
Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, /
um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, / der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.
Kol 1,12-20

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Wird der reale geschichtliche Jesus hier nicht mythologisch überhöht zu einem Ur- und Idealbild des Menschen? Auch hier kann es nur darum gehen, durch einen bestimmten Ansatz den Weg zu einem richtigen Verständnis zu skizzieren. In diesem Hymnus geschieht eine bemerkenswerte Umkehrung der Perspektive. Normalerweise setzen wir ein unhinterfragtes Vorverständnis voraus von dem, was Schöpfung und Mensch ist. Und von dem her versuchen wir dann zu verstehen, in welcher besonderen Weise auch Jesus Geschöpf und Mensch ist. Die Einsicht, dass Jesus Christus das Mensch- und Geschöpfsein in einer vollkommenen Weise erfüllt hat, kann eine Umkehrung dieser Gedankenrichtung motivieren. Warum sollten wir nicht von Jesus Christus, dem vollkommenen Geschöpf und Menschen her neu und besser verstehen können, was Geschöpf und Mensch überhaupt bedeutet? In diesem Sinne kann der Kolosserhymnus verstanden werden. Gott hat die Welt in Jesus Christus geschaffen. D.h. Gottes Schöpfung ist dynamisch ausgerichtet auf ein Ziel, auf einen Höhepunkt, der im allgemeinen nur ansatzweise und defizient verwirklicht ist. In Jesus Christus finden wir den Sinn von Schöpfung voll verwirklicht. In ihm sehen wir, was es bedeuten kann, dass der Mensch gottebenbildlich geschaffen ist, dass er – in seiner Sendung und von daher in seinem Sein – wie Gott ist. Und im Blick auf ihn werden uns die ambivalenten und defizienten Formen dieser Selbst-Verwirklichung deutlich: die Pervertierung des Wie-Gott-Sein- Wollens und der Preis, den es kostet, dass diese Pervertierung wieder überwunden werden kann.

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Von daher eröffnet sich uns ein Weg, die scheinbar widersinnige Gleichung von Gott=Mensch in Jesus Christus aufzulösen. Die Problematik ist evident: Wie soll es mit Jesus Christus in Person einen „Gott-Menschen“ („wahrer Gott und wahrer Mensch“) geben, wenn nach jüdisch-christlichem Schöpfungsverständnis eine klare Unterscheidung zwischen Gott und Mensch zu bestehen hat, die keine Vermischungen und kontinuierlichen Übergänge (neuplatonisch: „Emanationen“) erlaubt?

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Die Sackgasse diesbezüglicher Überlegungen in äußerster Zuspitzung: Gewöhnlich gehen wir davon aus, dass wir wissen, was Gott ist, und dass wir wissen, was ein Mensch ist. Und auf der Grundlage dieses Wissens versuchen wir zu erschließen, was (bei Jesus Christus) ein Gott-Mensch ist. Das ist ein unmöglich!

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Gott = o.k.
Mensch = o.k.
––––––––––
Gott-Mensch (wahrer Gott und wahrer Mensch in einer Person) = ???

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Ein Lösungsweg ergibt sich allein durch eine Umkehrung: In Jesus Christus geht uns auf eine neue und tiefere Weise auf, was Gott ist und was Mensch ist.

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Jesus Christus als Gott-Mensch (wahrer Gott und wahrer Mensch) = o.k. (im Blick auf sein Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen, auf sein Sein)
–––––––––––––––––––
Gott = o.k. (in neuem und vertieftem Verständnis)
Mensch = o.k. (in neuem und vertieftem Verständnis)

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Dabei lernen wir vor allem, dass Gottbezogenheit und Eigenständigkeit als Mensch sich nicht ausschließen; dass sich beides auch nicht konkurrenziert, sodass das eine erst stärker wird, wenn das andere weniger stark ausgeprägt wird. Formal ausgedrückt: Zwischen Gottbezogenheit und freier Selbstbezogenheit gibt es ein Verhältnis direkter Proportionalität: Je stärker ein Mensch auf Gott (in wahrhaftiger Weise!) ausgerichtet ist, umso ausgeprägter verwirklicht er sich selber. Und umgekehrt.

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