Die Rezeption von Literatur aus Osteuropa stellt deutschsprachige Leser:innen oft vor große Herausforderungen. Auf der einen Seite hindert die Sprachbarriere viele Osteuropa-Interessierte daran, Texte auf eigene Faust zu entdecken. Auf der anderen Seite stellen sich bei den bereits ins Deutsche übersetzten Texten viele Fragen: Mit welchem Text soll ich anfangen? Welche Autor:innen und Texte sind in ihren Herkunftsländern gerade angesagt? Wie viel Kontextwissen brauche ich, um die Lektüre genießen zu können?
In der LeseLupe Osteuropa gibt Yana Lyapova gemeinsam mit unterschiedlichen Gästen einen Eindruck davon, wie diese Herausforderungen überwunden werden können und welche spannenden, für manche vielleicht verborgenen Schätze in den vielfältigen osteuropäischen Literaturen schlummern.
In der diesjährigen Ausgabe diskutierte Yana Lyapova mit der Literaturvermittlerin und Autorin Anna Rottensteiner sowie mit Alexander Sitzmann, renommierter Übersetzer und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Slawistik an der Universität Wien, über vier Bücher aus Bosnien, Polen, Rumänien und der Ukraine. Der vierte Gast, Alexander Kratochvil, musste aus persönlichen Gründen seine Teilnahme leider absagen, seine Bücherwahl blieb dennoch nicht unbesprochen.
Die vier Bücher könnten kaum unterschiedlicher sein: Der als leicht zu lesen beschriebene Debütroman „Daddy Issues“ des bosnischen Dramatikers Dino Pešut (erschienen bei Text/Rahmen) wurde von den Gesprächsteilnehmer:innen intensiv diskutiert. Die Geschichte über das konfliktbeladene Verhältnis zwischen einem todkranken Vater und seinem schwulen Sohn sorgte für teils gänzlich konträre Meinungen über den Text. Dagegen war man sich über Olga Tokarczuks „Empusion“ (erschienen bei Kampa) einig: Der lang erwartete erste Roman nach dem Literaturnobelpreis für die polnische Autorin (2019) konnte die hohen Erwartungen der drei Diskutant:innen tatsächlich erfüllen. Schon die Gattungsbezeichnung „ökologisch-feministische Schauergeschichte“ weckt Neugierde, die im Verlauf des lebendigen Gesprächs noch gesteigert werden konnte. Dieser Roman wurde sicherlich von einigen Zuschauer:innen aus dem Publikum auf ihre persönliche Lese- oder Wunschliste für die anstehenden Feiertage gesetzt.
Auch das dritte besprochene Buch bekam nach der intensiven Diskussion mit Sicherheit neue Leser:innen, die vom dichten Romangeflecht „Der Schatten im Exil“ des rumänischen Autors Norman Manea (erschienen bei Hanser) begeistert wurden. Auch bei diesem Text reichte die Diskussionszeit dazu aus, mehr als einen Vorgeschmack auf das Buch zu geben und die Leselust des Publikums zu entfachen. Der letzte Roman für den Abend, „Das Zeitalter der Ameisen“ der ukrainischen Schriftstellerin Tanya Pyankova (erschienen bei Ecco), behandelt mit dem Holodomor nicht nur ein schwieriges Thema, sondern geht, wie man aus den Wortmeldungen schließen konnte, aufgrund der plastischen Beschreibung des Hungertods beim Lesen unter die Haut. Auch wenn der Stil des Romans nicht allen Diskutant:innen zusagte, belebten die verschiedenen Meinungen die letzte Buchdiskussion des Abends.
Abgerundet wurde die vierte Ausgabe der LeseLupe Osteuropa mit einer inzwischen zur Tradition gewordenen Runde an Überraschungstipps, sodass das Publikum am Ende der Veranstaltung mit acht neuen Buchempfehlungen und dem ein oder anderen Exemplar der besprochenen Titel nach Hause ging. Ermöglicht wurde dies durch den gut bestückten Büchertisch der Wagner’schen Buchhandlung, den Robert Renk direkt im Kinosaal aufgebaut hatte.
Wer nun neugierig geworden ist: Alle bisherigen Ausgaben der LeseLupe Osteuropa wurden aufgezeichnet und können hier angesehen werden.
Die LeseLupe Osteuropa ist eine Veranstaltungsreihe des Osteuropazentrums in Kooperation mit dem Institut für Slawistik und der Wagner'schen Buchhandlung. Die vierte Ausgabe wurde dankenswerter Weise vom Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ finanziell unterstützt.