"Nicht auf das Kreuz begrenzt" |
Autor: | Schwager Raymund |
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Veröffentlichung: | |
Kategorie | artikel |
Abstrakt: | Die Bibel konfrontiert uns an zahlreichen Stellen mit der Gewalt, die Theologie aber tut sich dennoch schwer damit. Anlässlich der neuen, wenngleich oft auch sehr vordergründigen Aufmerksamkeit für das Thema Religion und Gewalt sprachen wir mit dem Innsbrucker Dogmatiker Raymund Schwager, in dessen Arbeit die Gewaltproblematik eine zentrale Rolle spielt. Die Fragen stellte Alexander Foitzik. |
Publiziert in: | # Interview in der Herder Korrespondenz, 6. Juni 2002, 286 – 291 |
Datum: | 2002-06-12 |
1 | HK: Professor Schwager, in Ihrer theologischen Arbeit steht die Gewaltproblematik im Zentrum. Seit den Geschehnissen des 11. September 2001 und nicht zuletzt auch mit der Eskalation des Nahost-Konflikts erlebt das Thema „Gewalt und Religion" eine ganz neue Aufmerksamkeit. Sehen Sie sich bestätigt? |
2 | Schwager: Ich bin seit meiner Studienzeit der Überzeugung, dass dies ein wichtiges und in mehrfacher Hinsicht sehr bedrängendes Thema ist. Außerhalb unseres westlichen Kontextes war die Gewaltproblematik in den letzten Jahrzehnten auch dauernd virulent, und selbst bei uns war und ist sie untergründig stets gegenwärtig, was sich beispielsweise in der hohen Attraktivität von Filmen zeigt, die mit dem Thema der Gewalt arbeiten. Sie werden wenige Erfolgsfilme finden, in denen es nicht um Sex und Gewalt geht. Im Übrigen ist auch für den Westen die terroristische Gewalt kein neues Phänomen. |
3 | HK: Der Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt wird nun unter ganz bestimmten Vorzeichen diskutiert - die Religion steht als Ursprung, Quelle und direkte Inspiration gewalttätigen Handelns unter Verdacht. Dabei verwahren sich Theologen, Kirchenvertreter und auch Repräsentanten anderer Religionen gegen dieses zu einfache Bild ... |
4 | Schwager: Die Zusammenhänge sind tatsächlich komplex. Es ist falsch, die Religionen in ausschließlicher oder besonderer Weise als Quelle der Gewalt zu verdächtigen. Es dürfte aber ebenso einseitig sein, die tatsächlich vorhandene Problematik nur auf einige wenige Fanatiker abzuschieben. In manchen Medien stand während der letzten Monate der Umstand im Vordergrund, dass die Selbstmordattentäter von New York Israel Muslime waren. Warum wurden aber die Szenarien vom 11. September von manchen westlichen Filmen vorweggenommen? Haben diese vielleicht auch inspiriert? Viele andere Filme spielen zudem mit der affektiven Thematik von Faszination und Erschrecken. Als tremendum et fascinosum wird aber schon seit langem das Archaisch-Sakrale in den Religionswissenschaften umschrieben. Die aktuellen Ereignisse zeigen nun, dass die moderne Welt der archaischen viel näher ist, als sie selber zugeben will. In den Geschehnissen um den 11. September zeigt sich zudem noch ein weiterer Zusammenhang zwischen Gewalt und Religion. Durch die Attentate von New York und Washington fühlte sich eine Nation, die sich selbst für die machtvollste der Welt hält, in ihren zentralen Symbolen angegriffen, ja in ihrer Existenz verletzt, wenn nicht gar bedroht. |
5 | HK: Die politische Rhetorik dieser Wochen war voll von bis an die Bigotterie grenzenden frommen Floskeln. Spielten darüber hinaus religiöse Muster eine besondere Rolle in der Bearbeitung dieser Erfahrung? |
6 | Schwager: In solchen Situationen treten spontan kollektive Reaktionen ein, bei denen sich folgende Elemente zeigen: das Böse wird nach außen abgeschoben, die eigene Gemeinschaft rückt über interne Spannungen und Spaltungen hinweg emotional zu größerer Einheit zusammen, beides wird weltanschaulich oder religiös aufgeladen, der Feind als Reich des Bösen, das zugleich untergründig fasziniert, und die eigene Seite als Raum des Guten oder der göttlichen Erwählung, der sich zugleich innerlich bedroht fühlt. Wo immer menschliche Gemeinschaften sich als ganze bedroht fühlen, treten auch im säkularen Kontext unwillkürlich Mechanismen ein, die mit dem Archaisch-Sakralen zusammenhängen. Religion und Gewalt bleiben auch heute miteinander verwoben. |
7 | HK: Welchen Beitrag kann die Theologie zur Aufdeckung, zum Verständnis dieses Zusammenhanges leisten? Welchen Stellenwert haben Gewalt und Gewaltüberwindung in der theologischen Diskussion überhaupt? |
8 | Schwager: Ich habe einmal versucht, die entsprechenden Stellen im Alten und Neuen Testament zu zählen. Dabei bin ich auf ungefähr 600 Stellen gestoßen, die von menschlicher Gewalt sprechen, und auf etwa 1000 Stellen, bei denen göttliche Gewalt eine Rolle spielt. Schon rein quantitativ nimmt folglich diese Thematik einen breiten Raum ein. Sie steht zudem mit ausdrücklich theologischen Themen in einem engen Zusammenhang. Von Abel, dem ersten Toten und Ermordeten der Menschheit, über die Exodus- und Landnahmetradition, die prophetischen und apokalyptischen Gerichtsreden und die Gerichtsworte Jesu bis hin zur Offenbarung des Johannes spielt die Gewalt eine zentrale Rolle in der Bibel, und all diese Texte weisen auf die eine oder andere Weise auf das Kreuz Jesu hin, in dem es - nach christlicher Überzeugung - zur tiefsten Konfrontation mit der menschlichen Gewalt gekommen ist. |
9 | HK: Demnach müsste man sehr viele Texte und Themen ausklammern, wenn man das Gewaltthema umgehen will ... |
10 | Schwager: Eine echte christliche Theologie kann also gar nicht anders, als der Gewaltthematik einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Dabei ist selbstverständlich, dass das Negative im Lichte positiver Themen wie Liebe, Frieden, gerechtigkeit und Gottesherrschaft zu sehen ist. Wenn aber diese realistisch bearbeitet werden sollen, müssen sie die Konfrontation mit der vielfältigen Gewaltproblematik, Ungerechtigkeit etwa, Verschleierung oder Täuschung aushalten und sich darin bewähren. Die christliche Botschaft entwirft nicht ein abstraktes, unrealistisches Ideal. Das Besondere der Offenbarungsgeschichte besteht darin, dass sie das Handeln Gottes in Konfrontation mit den dunkelsten Mächten der Menschheit zeigt. |
11 | HK: Welche Gründe sehen Sie aber dann für die doch zumindest phasenweise unübersehbare Vernachlässigung des Gewaltthemas in der Geschichte der Theologie? |
12 | Schwager: Eine Ursache dürfte darin liegen, dass das Christentum während ungefähr anderthalb Jahrtausenden an vielen Orten Staatsreligion war. Da jeder Staat versucht, das Gewaltproblem mit Gewalt zu lösen, nämlich die illegale durch legale Gewalt einzudämmen, war diese Thematik in den christlichen Ländern durch die Rolle des Staates weitgehend besetzt. Der Theologie kam vor allem die Aufgabe zu, die Rolle des Staates und der staatlichen Gewalt zu rechtfertigen. Zu einer systematischen Reflexion über die ganze Gewaltproblematik konnte es unter diesen Vorzeichen kaum kommen. Die Situation hat sich erst mit dem Erfinden der modernen Techniken, vor allem der atomaren Waffen verändert, die zeigen, dass auch über die so genannte legale staatliche Gewalt die Menschheit sich zutiefst gefährden, wenn nicht gar vernichten kann. |
13 | HK: Aber spielt denn das Thema - zumindest was die Gewalt als soziales, kollektives Geschehen angeht - im Mainstream zeitgenössischer Theologie eine besondere Rolle? |
14 | Schwager: Über längere Zeit war das kaum der Fall. Einen der Gründe für dieses Manko sehe ich darin, dass wir während der letzten 50 Jahre in Westeuropa und Nordamerika in einer Phase andauernden wirtschaftlichen Fortschritts gelebt haben, an dem fast die ganze Bevölkerung irgendwie partizipieren konnte. Das war und ist - verglichen mit der übrigen Menschheit und der Menschheitsgeschichte - eine extreme Ausnahmesituation. Gerade diese hat aber einen Grundoptimismus genährt, der auch die theologische Reflexion beeinflusste. Im Sog der Zeit wurde die Gewaltthematik bei vielen verdrängt. Dennoch gab es auch in dieser Zeit klare Gegenbewegungen. Angesichts der Bedrohung durch die atomare Aufrüstung entstand am Ende der siebziger und anfangs der achtziger Jahre die Friedensbewegung, in der Theologinnen und Theologen stark engagiert waren. Auch in der zweiten Phase der Befreiungstheologie gewann die Gewaltthematik eine wichtige Rolle, beispielsweise im Bild des gekreuzigten Volkes bei Jon Sobrino. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben aber beide Ansätze in der Öffentlichkeit des Westens weniger Beachtung gefunden. |
15 | HK: Welchen Stellenwert hat das Gewaltphänomen in der theologische Reflexion des christlichen Menschenbildes in der Erbsündenlehre, vor allem aber der Erlösungsbotschaft? Wie könnte sie deutlicher integriert werden? |
16 | Schwager: Für beides spielt die erwähnte Problematik meiner Ansicht nach eine zentral Rolle. Die Lehre von der Erbsünde ermöglicht uns einen realistischen Blick auf den faktischen Verlauf der Menschheitsgeschichte, der über weite Strecken sehr gewalttätig war, ohne dass man dabei einem pessimistisch-defätistischen Verständnis der menschlichen Natur verfallen muss, das alle Hoffnung auf positive Entwicklungen blockieren würde. Durch ihren Gegensatz zur christlichen Erbsündenlehre war die westliche Kultur der letzten Jahrhunderte, was die Verbesserung der menschlichen Gesellschaft betriff, sehr oft von einseitig optimistischen Konzepten geprägt - von Lessings Erziehung des Menschengeschlechtes bis zum Marxismus oder Liberalismus. Diese Konzepte sind aber immer wieder an der Realität gescheitert und drohten dann ins Gegenteil zu kippen. Die Lehre von der Erbsünde vermeidet solch extreme Pendelschläge, indem sie beide Erfahrungsbereiche ernst nimmt. Sie macht verständlich, weshalb es sehr schwer ist, die Menschen und die menschliche Gesellschaft grundlegend zu verbessern, sie vermeidet aber ebenso jeden Determinismus. |
17 | HK: In der Erlösungslehre steht und stand immer das Kreuz, zunächst ein Symbol der Gewalt, im Vordergrund ... |
18 | Schwager: In der abendländischen christlichen Tradition des zweiten Jahrtausends stand das Kreuz tatsächlich ganz im Mittelpunkt. Man hat sich dabei aber meistens nur auf das Leiden Christi konzentriert und dabei die konkrete Form seines Leidens und dessen Entstehungsgeschichte weitgehend ausgeblendet. Erst die neuere profane Literatur hat den Opfern der Gewalt - nicht selten in Anspielung auf Jesus - eine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Am Kreuzesgeschehen sollte eine ausgewogene Theologie beides ablesen: Einerseits wie Menschen üblicherweise reagieren, indem sie das Unbewältigte im eigenen Leben und in der eigenen Gemeinschaft auf andere, auf 'Opfer' abschieben, und anderseits, wie Jesus als 'Opfer' darauf reagiert. Normalerweise reagieren die 'Opfer' wie die übrigen Menschen. Sie versuchen das Böse, das ihnen angetan wird, heimzuzahlen. Sogar der Prophet Jeremia, dem es so ergangen ist, hat seine Gegner verflucht. Jesus aber handelte ganz anders. Er hat gerade für jene gebetet, die ihn töteten. In seinem Kreuzesgeschick kulminierten zwei total entgegengesetzte Bewegungen, die des Verleumdens, Verurteilens und Tötens im Namen Gottes und die der Liebe, der Gewaltfreiheit und der Hingabe für die Feinde und zwar ebenfalls im Namen Gottes. Die Thematik von Religion und Gewalt erreicht hier ihren kritischen Höhepunkt, der für den christlichen Glauben und die christliche Spiritualität zu einer ungeheuren Herausforderung wird. |
19 | HK: Dabei sind selbst überzeugten Christen die Zentralbegriffe dieses Erlösungsglaubens, die Rede von Opfer, Sühne und Selbsthingabe höchst fremd geworden. Kann über die Auseinandersetzung mit den Mechanismen kollektiver Gewalt eine Neuinterpretation von Kreuz und Erlösung gelingen, die sich auch wieder neu in die christliche Spiritualität hinein vermitteln lässt? |
20 | Schwager: Davon bin ich überzeugt. Die Gewaltproblematik ist einerseits so alt wie die Menschheitsgeschichte und anderseits so aktuell wie die neuesten und sicher viele kommende Ereignisse. Da gibt es keinen garstigen Graben zwischen damals und heute, der ein Verständnis verhindert, wie Lessing und nach ihm viele Theologinnen und Theologen meinten. Wichtig ist jedoch, dass die theologische Reflexion des Gewaltthemas - trotz der zentralen Stellung des Kreuzes - sich nicht auf dieses Geschehen begrenzt. |
21 | HK: Wie lässt sich dieser eingeschränkte Blickwinkel erweitern, ohne das Kreuz seiner zentralen Bedeutung zu berauben? |
22 | Schwager: Schon im Alten Testament finden wir vielfältige und sehr differenzierte Aussagen zu der Gewaltthematik. Es gibt Stellen, wo Gott fast deckungsgleich mit Gewalthandeln und Zorn erscheint, andere wo Gott durch Gewalt Menschen in Not zur Hilfe kommt, wieder andere, in denen Menschen aufgefordert werden, das Vergelten nicht selber in die Hand zu nehmen, sondern es Gott zu überlassen, bis hin zu jenen Aussagen, nach denen Gott angesichts der menschlichen Untaten sein Gesicht verhüllt und er die Übeltäter einer wechselseitigen Bestrafung überlässt. Es finden sich im Alten Testament, etwa im 11. Kapitel Hosea, auch die tiefsinnigen Worte von einem Gott, dessen Mitleid seinen eigenen Zorn überwindet, weil er eben Gott und nicht Mensch ist, und bei Jesaja die wunderbaren Aussagen zum Gottesknecht, dem jeden Morgen das Ohr geöffnet wird und der dadurch fähig wird, auf Gewalt nicht mit Gegengewalt zu reagieren, und der so die Untaten anderer trägt. Die Bibel zeigt folglich auf vielfältige Weise, wie unter prophetischer Inspiration und im leidenden Durchstehen von Ungerechtigkeit und Gewalt die ganze Thematik von innen her langsam transformiert wird, wobei gleichzeitig auf sprachlicher Ebene ganz neue Metaphern und Aussageformen geschaffen werden. All dies macht deutlich, wie anforderungsreich die Auseinandersetzung mit der Gewaltproblematik bereits im Alten Testament war, und sie verschärft sich bis hin zum Kreuz Jesu. |
23 | HK: Was aber heißt es konkret, das Kreuz unter dieser Perspektive zu verstehen? |
24 | Schwager: Es zeigt einerseits, wie Gewaltmechanismen so raffiniert und grausam sein können, dass einer, der Liebe und Friede verkündet hat und die Menschen im Namen eines barmherzigen himmlischen Vaters sammeln wollte, selber als Unmensch und Gotteslästerer verurteilt und ausgestoßen wurde. Das Kreuz offenbart anderseits, wie die Antwort auf diese Menschheitsproblematik auch von einem Menschen gegeben wurde, der dies allerdings, wie Ostern offenkundig macht, nur in der Kraft Gottes tun konnte, und der, wie die Friedensworte des Auferstandenen zeigen, den Jüngern, die in diesem Prozess trotz besserer Erkenntnis versagt haben, nochmals Verzeihung zusprach. Dort, wo die Gewalt sich letztlich zusammengeballt hat, ist sie im tiefsten auch überwunden worden. |
25 | HK: Dabei hat die Theologie der individuell-psychologischen Dimension dieser uralten Menschheitsfrage doch stets mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der Gewalt als sozialem, kollektivem Geschehen ... |
26 | Schwager: Vor allem hat sie beide Phänomene ganz unterschiedlich behandelt. Individuelle Gewalttaten wurden meistens nur mit den moralischen Kategorien von Verletzen, Töten und Morden behandelt und eindeutig negativ bewertet. Die kollektive Gewalt wurde unter dem Stichwort gerechter Krieg diskutiert. Die biblische Perspektive umgreift aber beide Bereiche, denn alle Aussagen des Alten Testaments stehen im Rahmen eines Handelns Gottes mit dem Volk, und im Neuen Testament handelt Jesus im Kontext der anbrechenden Gottesherrschaft, die auf eine neue Sammlung Israels zielt. Die umfassende biblische Perspektive bringt die Gewaltproblematik zudem in einen Zusammenhang mit den Mechanismen der Täuschung - etwa die Pharisäer als Heuchler oder der Satan als Vater der Lüge - und der Projektion - die Bitte Jesu: 'Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Jesus hat in seinen Gerichtsworten die untergründigen Täuschungsmechanismen aufgedeckt. Was er aber bloßgelegt hat, ist auf ihn selber zurückgefallen. Im Kreuz enthüllt sich so die untergründige Menschheitsgeschichte. Aber noch einmal: Zur Erlösung gehört zwar das Aufdecken, sie geschieht aber nicht dadurch. Entscheidend ist, wie Jesus in der Kraft Gottes und letztlich als Sohn Gottes - nehmen Sie das Gleichnis von den bösen Winzern - auf alles, was ihm angetan wird, antwortet. |
27 | HK: Vom Vorwurf der Leidensverherrlichung über die Demontage eines vermeintlich blutrünstigen Gottes bis hin zu den Kreuzzügen und der Hexenverbrennung - die schärfste Kritik am Christentum, die hartnäckigsten Vorurteile hängen mit dem Gewaltthema zusammen. Ist von daher nicht auch eine gewisse Zurückhaltung bei den Theologen verständlich? |
28 | Schwager: Die genannten Phänomene sind ernst zu nehmen. Sie sind aber kein Grund, die Gewaltthematik zu vermeiden. Sie zeigen im Gegenteil, dass das, was Jesus bei seinen Gegnern kritisiert hat, sich in der Geschichte des Christentums wiederholte. Die Pharisäer haben sich über ihre Väter erhaben gefühlt, die die Propheten verfolgt haben, und waren doch im Begriff das Gleiche zu tun (Mt 23,29-32). Die Christen verurteilten die Juden, die Jesus gekreuzigt haben, und taten dabei das Gleiche. Und die moderne säkulare Welt, die sich über das Christentum erhaben fühlt, bewegt sich wieder auf der gleichen Bahn. Nur durch die Verurteilung der Gewalt bei anderen, wird die Welt nicht besser. Das führt nur zu einer Selbstgerechtigkeit und Selbsttäuschung, die andere zu Sündenböcken macht. Man wirft dem Christentum seine Gewaltgeschichte vor und ruft zugleich zum Krieg gegen den Terrorismus auf. Man verurteilt frühere Generationen und ist doch nicht besser. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, dass die Botschaft Jesu und sein Weg der Gewaltfreiheit sehr anspruchsvoll sind, und deshalb auch die Christen immer wieder ein großes Stück dahinter zurückbleiben. |
29 | HK: Die christliche Friedensbotschaft bleibt damit sehr leicht angreifbar ... |
30 | Schwager: Als Christen müssen wir tatsächlich immer wieder neu lernen, eine Botschaft zu vertreten, die uns selber überfordert. Wir werden wohl nie dem Weg Jesu vollkommen folgen. Als Christen haben wir eine Botschaft zu vertreten, von der her wir leicht kritisiert werden können. |
31 | HK: Lag es vor diesem Hintergrund nicht einfach nahe, lieber und möglichst ausschließlich vom „lieben Gott" zu reden? |
32 | Schwager: So mag es auf den ersten Blick scheinen, und während der letzten Jahrzehnte haben tatsächlich manche gemeint, durch die Vermeidung gewisser Themen - wie etwa des Gerichts und des Opfers - würde die Situation klarer und der Lauf der Dinge besser. Nun geht die Gewalt aber weiter, und man merkt, dass man an der Opferthematik nicht vorbeikommt. Viele haben auch schon die Erfahrung gemacht, dass die einseitige und verharmlosende Rede vom lieben Gott nur Langeweile erzeugt. Ohne eine vertiefte Konzentration auf das, wovon wir erlöst werden müssen, wird die Botschaft von der Erlösung nicht verständlicher, sondern nur oberflächlicher und leerer. |
33 | HK: Eine neue Konzentration auf die Gewaltthematik - wird sie aber nicht doch wieder diesen Missverständnissen und Vorurteilen Vorschub leisten, bis hin zum Vorwurf der Gewaltfixierung oder gar -verherrlichung? |
34 | Schwager: Missverständnisse lassen sich nie ganz vermeiden. Ich habe es selber erfahren, denn man hat mir öfters eine Fixierung auf das Negative vorgehalten. Es geht aber nicht um Gewaltfixierung oder gar um Gewaltverherrlichung, sondern um ein Aufdecken dessen, was in der Geschichte und im Leben der Völker tatsächlich da ist. Der spontanen Tendenz nach sieht man die Gewalt vor allem oder nur bei den anderen, die christliche Botschaft möchte hingegen zeigen, dass sie ebenso auf der eigenen Seite wirkmächtig ist. Insofern hat die Bibel eine aufklärerische und therapeutische Funktion. Sie offenbart letztlich einen ganz gewaltfreien Gott, deckt aber zugleich schonungsloser als andere Religionen die in der Geschichte tatsächlich vorhandenen Gewaltstrukturen auf. Durch dieses Aufdecken kann sie zunächst als aggressiv erscheinen, und sie hat nicht selten in der Geschichte auch so gewirkt. Dies liegt aber daran, dass man die komplexen Zusammenhänge nicht richtig durchschaut hat. |
35 | HK: Wie theologisch reflektiert ist die Gewaltproblematik in der kirchlichen Friedensbotschaft? Schwager: Mir scheint, dass Johannes Paul II. durch seine interreligiösen Friedensgebete einen guten Weg gefunden hat, die Gewaltproblematik weltweit in richtiger Weise zur Sprache zu bringen. Er hat stets betont, dass Krieg und Frieden keinesfalls nur eine politische, sondern immer auch eine religiöse Dimension haben. Die Aufgabe, den Frieden zu schaffen, ist so groß, dass sie uns im Grunde immer überfordert: Wir haben den wahren Frieden von Gott zu erbitten. Dieses Gebet bewahrt uns vor der Illusion, wir könnten alles selber schaffen und es hilft uns, bei Rückfällen nicht einseitig die anderen zu verurteilen. Das Gebet um den Frieden kann auch neue Gemeinsamkeit auf tiefer emotionaler Ebene schaffen. Es verbindet die Religionen. |
36 | HK: Die Gewaltfrage wird künftig stärker noch auch den interreligiösen Dialog prägen oder prägen müssen. Wie ist hierfür die christliche Seite disponiert? |
37 | Schwager: Aus geschichtlicher Perspektive gesehen ist bereits viel geschehen. Gezwungen durch die Angriffe des aufklärerischen Denkens hatten sich die christlichen Kirchen seit fast 300 Jahren mit der Gewaltthematik und ihrem Verhältnis zu anderen Konfessionen und Religionen auseinander zu setzen. Die ökumenische Bewegung war eine erste Frucht dieser Selbstkritik. Auf katholischer Seite gipfelte die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zunächst in der Erklärung zur Religionsfreiheit beim Zweiten Vatikanischen Konzil, denn damit hat die Kirche auf offiziellste Art jenes Verhalten verworfen, das Gewalt im Interesse der Religion legitimieren wollte. |
38 | HK: Wir Christen tragen aber dennoch an der Hypothek einer langen Gewaltgeschichte ... |
39 | Schwager: In den großen Vergebungsbitten während des Jubeljahres 2000 hat Johannes Paul II. die dunkle Hypothek sehr deutlich angesprochen. Er hat große Verfehlungen bekannt und dafür Gott um Vergebung gebeten. Das ist der richtige Weg, mit dunklen Seiten in der eigenen Vergangenheit umzugehen. Diese Vergebungsbitten waren jedoch nur möglich dank einer langen vorausgehenden Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte. Analoge feierliche Akte der Buße gab es auch in anderen Kirchen. Das Christentum hat unter dieser Rücksicht einen großen Schritt nach vorne getan. Die anderen Religionen sind diesbezüglich noch nicht so weit. |
40 | HK: Was bedeutet „noch nicht so weit"? Wie vergleichbar ist an diesem Punkt das Christentum, wie singulär etwa die Aufforderung der Bergpredigt zu Gewaltfreiheit? |
41 | Schwager: In der gegenwärtigen Situation legt sich ein Blick auf den Islam nahe. Selbstverständlich gibt es auch dort schöne Texte über die Güte Gottes, Ermahnungen zum Frieden und Verurteilungen der Gewalt. Es gibt auch große Beispiele muslimischer Toleranz. In einem zentralen Punkt gibt es dennoch einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam. Mohammed hat von seiner Zeit in Medina an selber zum Mittel des Kleinkrieges gegriffen, um seine Botschaft durchzusetzen, und der Islam hat sich in seiner ersten Phase vor allem im Zuge militärischer Expansion schlagartig ausgebreitet. Jesus ist diesbezüglich einen ganz anderen Weg gegangen, und das Christentum hatte sich in den ersten drei Jahrhunderten nur durch Überzeugung und oft gegen den staatlichen Druck durchzusetzen. Die christliche Botschaft konnte deshalb wesentlich dazu beitragen, dass Gewalt heute nicht mehr als etwas Normales, sondern als etwas Abzulehnendes gilt. Das gehört zu ihrem weltgeschichtlichen Erfolg. Heute hat sich in allen Kulturen der Welt mehr oder weniger die Überzeugung ausgebreitet, dass Gewalt nicht sein soll und dass wir dennoch aktiv für mehr gerechtigkeit zu 'kämpfen' haben. Freilich hat die christliche Botschaft diesen Erfolg zum Teil gegen das historische Christentum erlangt. |
42 | HK: Soll so - gegenüber einem zu vordergründigen und stark harmonisierenden interreligiösen Dialog - die neue Sensibilität für das Thema Gewalt und Religion auch den Blick auf das spezifisch Christliche schärfen? |
43 | Schwager: Ich denke, dass beides zusammengehört. Wenn die Religionen sich künftig noch intensiver als bisher auf die gemeinsame Aufgabe der Friedensförderung und -stiftung einlassen, werden sie auch auf enorme Schwierigkeiten stoßen. Denken wir nur an den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Auf beiden Seiten fördern Kräfte den Konflikt, die sich selber ausdrücklich als religiös verstehen. Sobald man sich auf so konkrete Situationen einlässt, die es auch in anderen Weltgegenden und zwischen anderen Religionen gibt, wird die Rede vom Frieden ungeheuer schwierig. Die Religionen werden aber auf Dauer nur glaubwürdig sein, wenn sie vor dieser Aufgabe nicht fliehen, und die Konflikte in jener Radikalität durchzustehen versuchen, wie Jesus es getan hat. Selbst die blutigsten Konflikte müssen von der religiösen Friedensbotschaft nochmals umfangen und gedeutet werden können. Religionen, die in solchen Situationen nichts mehr zu sagen haben oder nur noch zur Gewalt aufrufen, werden ihre Glaubwürdigkeit im wachsenden Maße verlieren. Um parteiisches und gewalttätige Handeln zu rechtfertigen, brauchen wir keine Religion. Das können die Menschen von selber, auch wenn sie es immer wieder spontan auf religiöse Weise tun. |
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