This is a cache of https://www.uibk.ac.at/de/newsroom/2024/galaxienhaufen-auf-die-waage-gestellt/. It is a snapshot of the page at 2024-11-27T16:10:09.305+0100.
Galaxienhaufen auf die Waage gestellt – Universität Innsbruck
Eine wissenschaftliche Darstellung von Galaxienhaufen

Vier Galaxienhaufen bei verschiedenen Rotverschiebungen. Blau und Lila stellt die Röntgenintensität dar, andere Farben die Galaxien im Haufen, die im optischem Licht strahlen. Die Striche zeigen die mittlere Verzerrung durch den Gravitationslinseneffekt der Galaxienhaufen im jeweiligen Rotverschiebungsbereich und sind wesentlich verstärkt dargestellt.

Gala­xien­hau­fen auf die Waage gestellt

Wissenschaftler:innen des Max-Planck-Instituts für Extraterrestrische Physik haben heute die kosmologischen Ergebnisse der ersten Röntgen-Himmelsdurchmusterung des Weltraumteleskops eRosita veröffentlicht. An den Berechnungen war auch die Arbeitsgruppe für Extragalaktische Astrophysik der Universität Innsbruck maßgeblich beteiligt. Die Ergebnisse ermöglichen neue Erkenntnisse über dunkle Energie, die Beschaffenheit des Universums und bestätigen eine verworfene Hypothese Albert Einsteins.

Im Juli 2019 startete der „Spektrum-Röntgen-Gamma“-Satellit. Mit an Bord: Das extended ROentgen Survey with an Imaging Telescope Array, kurz eRosita, ein Weltraumteleskop, das vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) entwickelt wurde. Über die vergangenen Jahre fertigte das Teleskop mit einer bisher nie dagewesenen Auflösung Röntgenbilder des gesamten Himmels an. Durch die Röntgenaufnahmen wurden etwa 12.000 Galaxienhaufen gefunden. Diese Daten ermöglichen es, kosmologische Modelle zu überprüfen und dunkle Materie und Energie zu erforschen.

Verzerrte Hintergrundgalaxien

Galaxienhaufen bestehen aus bis zu tausenden Galaxien und sind die größten Strukturen im Universum, die durch Gravitation miteinander verbunden sind. Um aus den neuen Daten Rückschlüsse auf die Zusammensetzung des Universums zu ziehen, musste die Masse dieser Objekte geschätzt werden. Dies war die Aufgabe der Arbeitsgruppe um Tim Schrabback am Institut für Astro- und Teilchenphysik der Universität Innsbruck. Schrabbacks Gruppe befasst sich mit dem Gravitationslinseneffekt, der die Verzerrung von Licht durch große Massen beschreibt und genutzt werden kann, um die Masse sehr weit entfernter Objekte zu berechnen. Sebastian Grandis, Senior Scientist in der Gruppe, erklärt, wie das funktioniert:

„Aus vorherigen Studien wussten wir, dass diese Galaxienhaufen existieren müssen“, sagt Grandis. „Mit eRosita haben wir sie gezielt gesucht und gefunden. Entscheidend hierfür ist, dass das in den Galaxienhaufen vorhandene Plasma Röntgenstrahlen aussendet, weil dort unfassbar hohe Temperaturen herrschen – ungefähr 10 Millionen °C. Wir kennen zunächst nur die Leuchtkraft dieser Objekte und ihre Entfernung zu uns, die mehrere Milliarden Lichtjahre beträgt. Hier kommt der Gravitationslinseneffekt ins Spiel. Wir analysieren die Form von Galaxien, die sich hinter den Galaxienhaufen befinden. Diese erscheinen verzerrt, weil das Licht der Hintergrundgalaxien auf dem Weg zu uns von der Schwerkraft der Haufen abgelenkt wurde. Mit der Allgemeinen Relativitätstheorie von Einstein können wir dann die Masse abschätzen, die diese Verzerrung verursacht hat. Dabei gilt: Je mehr Masse, desto stärker die Verzerrung.“

Die berechneten Massen der Galaxienhaufen mit den zuverlässigsten Daten wurden an das MPE zurückgesendet, wo sie mit kosmologischen Modellen verglichen wurden, um Rückschlüsse auf die Entstehung, Zusammensetzung und Ausbreitung des Universums zu ziehen.

Einstein hat sich nicht geirrt

Die Ergebnisse von eRosita bestätigen mit hoher Genauigkeit das Ergebnis vorheriger Berechnungen, nämlich dass das Universum zu 29 % aus Materie besteht. Das Meiste davon ist dunkle Materie, über die bisher nicht viel bekannt ist. Auch die restlichen 71 % sind eine mysteriöse Komponente: die dunkle Energie, die erstmals von Albert Einstein selbst in die kosmologischen Modelle als „kosmologische Konstante“ eingeführt wurde. Anhand der eRosita-Ergebnisse lässt sich der Parameter „w“ bestimmen, dessen gemessener Wert der kosmologischen Konstante ziemlich genau entspricht. Einstein hatte seine Hypothese zu Lebzeiten wieder verworfen. „Unsere Berechnungen zeigen, dass Einstein doch recht gehabt hat und es ein Fehler von ihm war, die kosmologische Konstante später zu verwerfen“, sagt Grandis. Zu verstehen, was genau dunkle Energie ist, gehört zu den größten heutigen Herausforderungen der Physik.

Die Messung der größten Strukturen im Universum enthält auch Information über die kleinsten Teilchen. Neutrinos sind elektrisch neutral und so klein, dass sie sich kaum nachweisen lassen. Insbesondere ist es derzeit noch unklar, welche Masse Neutrinos haben. Das könnte sich durch die eRosita-Daten bald ändern. „Die Häufigkeit der Galaxienhaufen bei einer gegebenen Masse und Entfernung lassen auch Rückschlüsse darauf zu, wie massereich Neutrinos sind, die frei durch den Kosmos fliegen und dadurch einen Einfluss auf seine Entwicklung und Struktur haben. In Kombination mit anderen Beobachtungsverfahren ermöglicht es unsere Analyse, die aktuell genausten Ergebnisse für den möglichen Massenbereich der Neutrinos abzuleiten“, sagt Grandis.

Internationale Kooperation erschließt den Kosmos

Um bei einem Projekt wie eROSITA den größtmöglichen Erfolg zu erzielen, hat interdisziplinäre und internationale wissenschaftliche Kooperation eine große Rolle gespielt. Für die Berechnungen des Gravitationslinseneffektes nutzte Grandis Daten des Dark Energy Surveys, einem internationalen Forschungsprojekt, das vom Cerro Tololo Inter-American Observatory in der Atacama-Wüste in Chile aus das Universum beobachtet. Zusätzlich nutzte die eRosita-Kollaboration Gravitationslinsendaten zweier weiterer Beobachtungsprogramme, dem vom Subaru Teleskop auf Hawaii aufgenommenen Hyper Suprime-Cam Strategic Survey, sowie dem Kilo Degree Survey (KiDS), welches vom VLT Survey Teleskop der Europäischen Südsternwarte aufgenommen wurde. „Ein wichtiger Validierungsschritt unserer Analyse war es, dass alle drei Beobachtungsprogramme übereinstimmende Messergebnisse für die eRosita-Galaxienhaufen liefern“, ergänzt Florian Kleinebreil, der die KiDS-Analyse von eRosita Galaxienhaufen als Doktorand am Institut für Astro- und Teilchenphysik leitete.

Es gab aber auch bedeutende Rückschläge: Der SRG-Satellit, auf dem das eRosita-Teleskop montiert ist, ist eine russisch-deutsche Wissenschaftsmission. Seit Februar 2022 wurde die Zusammenarbeit mit der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos eingestellt und eRosita in den Safe Mode versetzt. Seitdem hat es den wissenschaftlichen Betrieb nicht wieder aufgenommen, weshalb Daten nur bis 2022 gesammelt werden konnten.

Vor zwei Wochen veröffentlichte das eRosita-Konsortium bereits den bisher größten Datenkatalog von hochenergetischen kosmischen Quellen und machte ihn der wissenschaftlichen Gemeinde zugänglich, wie das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in einer Presseaussendung bekannt gab. Der Katalog umfasst mehr als 900.000 Röntgenquellen im Universum, von etwa 710.000 supermassereichen schwarzen Löchern in fernen Galaxien (aktive galaktische Kerne) über 180.000 aktive Sterne in unserer eigenen Milchstraße bis hin zu 12.000 Galaxienhaufen und einer kleinen Anzahl anderer exotischer Quellen wie röntgenstrahlende Doppelsterne, Supernovaüberreste, Pulsare und andere Objekte.
 

Veröffentlichungen:
The SRG/eROSITA All-Sky Survey: Dark Energy Survey Year 3 Weak Gravitational Lensing by eRASS1 selected Galaxy Clusters
The SRG/eROSITA All-Sky Survey: Weak-Lensing of eRASS1 Galaxy Clusters in KiDS-1000 and Consistency Checks with DES Y3 & HSC-Y3
The SRG/eROSITA All-Sky Survey: Cosmology Constraints from Cluster Abundances in the Western Galactic Hemisphere

    Nach oben scrollen