Eine kleine Notlüge hier, ein wenig Zurechtbiegen des eigenen Handelns dort: Wie moralisch sind wir eigentlich im Alltag? Diese Frage steht im Zentrum eines Citizen-Science-Projekts der Sozialpsychologin Verena Aignesberger, MSc. Sie sammelt in einer breit angelegten Umfrage (un-)moralisches Verhalten in Alltagssituationen, die die Umfrage-Teilnehmer:innen selbst erlebt haben. „Die psychologie beschäftigt sich seit etwa 100 Jahren mit Moral – wie denken wir über Moral nach, was empfinden wir als fair, solche Fragen standen am Anfang. In jüngerer Vergangenheit haben wir begonnen, den Begriff weiter zu fassen, weg von der reinen Fixierung auf Fairness oder Gerechtigkeit. Aktuell gibt es aber keine Einigkeit, was genau als moralisch zu sehen ist und was nicht“, erklärt sie. Deshalb ist ihr Ansatz auch deskriptiv: „Ich will wissen, was Menschen als moralisch beschreiben und was für sie daraus folgt – da spielen Werte, die die Personen selbst mitbringen, eine zentrale Rolle, und ich komme nicht mit einem vorab festgelegten Moralbegriff auf sie zu.“
Citizen Science
Aignesberger ruft ihre Studien-Teilnehmer:innen – das ist online für jeden und jede problemlos möglich – dazu auf, Situationen zu sammeln, in denen sie unmoralisches Handeln beobachtet haben. „Das kann dann eigenes Handeln sein, aber auch im Umfeld oder in Medien beobachtete Situationen. Es geht schlicht darum, wie uns Moral im Alltag begegnet.“ Dabei geht es ihr insbesondere um den Handlungsaspekt, nicht so sehr um das individuelle Nachdenken über Moralbegriffe: „Es gibt nachweislich eine Lücke zwischen eigenem Handeln und dem, was man sich vornimmt oder theoretisch über eigenes Handeln denkt, bevor man in eine bestimmte Situation kommt.“ Zudem spielt der Kontext eine zentrale Rolle: „In Alltagssituationen sind die Rahmenbedingungen natürlich immer relevant. In welcher Beziehung stehe ich zur betroffenen Person? Bin ich allein oder handle ich in einer Gruppe? Welche Intention verfolge ich mit meinem Verhalten, handle ich eigennützig oder will ich anderen helfen?“, sagt die Sozialpsychologin.
Aus der Sozialpsychologie stammt der Begriff des „moral disengagement“ (moralische Loslösung), der acht verschiedenen Strategien beschreibt, die Menschen anwenden, um zu erklären, dass bestimmte ethisch-moralische Standards konkret für sie in bestimmten Situationen nicht gelten. Zu den Strategien gehören zum Beispiel die moralische Rechtfertigung: „Ein echtes Beispiel aus der Umfrage ist etwa ein geschmackloses Werbeplakat. Zur Verteidigung der Werbung wurde vorgebracht, dass es sich um künstlerische Freiheit handelt, die jeder Betrachter selbst interpretieren soll“, erläutert die Psychologin. Oder das Abgeben von Verantwortung: Der Kollege, der einen Fehler macht, sucht die Schuld beim Chef, der das so angeordnet habe. Eine weitere Verantwortungsstrategie ist, sie auf mehrere zu verteilen: „Ein klassisches Beispiel wäre hier der bekannte Bystander-Effekt: Wenn mehrere einen medizinischen Notfall beobachten, sorgt das dafür, dass einzelne nicht helfen, weil sie denken, die anderen könnten doch auch helfen und ihre Nicht-Hilfe auch genau damit rechtfertigen.“ Auch Dehumanisierung, Schuldzuweisung an Opfer oder die Minimierung von Konsequenzen gehören zu möglichen Strategien. Rechtfertigung durch beschönigende Sprache (zum Beispiel das Wort „Kollateralschaden“ bei Opfern in Kriegen) und vorteilhafte Vergleiche – „andere handeln ja noch viel schlimmer“ – sind weitere Kategorien.
Strategien und Kontexte
Aignesberger bittet in ihrem Projekt darum, Alltagssituationen zu beschreiben und sie in eine der erwähnten acht Kategorien einzuordnen. Zusätzlich geht es der Psychologin um den Kontext, der ebenfalls abgefragt wird, und um empfundene Auswirkungen, wie sie beschreibt: „Wir gehen zum Beispiel davon aus, dass Menschen Handlungen, die sie als nicht besonders schädlich empfinden, auch als weniger unmoralisch oder ‚schlimm‘ bewerten. Ob sich das auch im ‚echten Leben‘ zeigt, möchten wir mit Daten aus dem Alltagsleben überprüfen.“ Erste Ergebnisse deuten in diese Richtung, die Forscherin will aber noch mehr Daten erheben: „Bislang haben sehr viele Studierende am Projekt mitgearbeitet. Das sind wertvolle Daten, allerdings ist die Stichprobe noch nicht besonders repräsentativ.“ Deshalb sucht Aignesberger noch nach Teilnehmer:innen, alle Informationen dazu gibt es auf der Projektwebsite.
Zur Person
Verena Aignesberger studierte psychologie in Hildesheim und Innsbruck. Seit 2020 forscht sie an der Universität Innsbruck im Rahmen ihrer Dissertation zum Thema Moral in verschiedenen Kontexten. Dabei interessiert sie sich besonders für den Unterschied zwischen moralischem Denken und Handeln.