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Kraml Martina: Religiöse Bildung als Lebenskultivierung
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Religiöse Bildung als Lebenskultivierung

Autor:Kraml Martina
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Katechetische Blätter 5/2003. Dieser Text wurde für die Internetpräsentation überarbeitet.
Datum:2007-10-30

Inhalt

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Geschichtlich und theologisch betrachtet beinhaltet die Rede von Bildung und damit auch die Rede von religiöser Bildung viel Ambivalentes und dennoch tauchen gerade im Zusammenhang mit dieser Rede bei jedem Menschen Bilder auf: Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte vom glücklichen und gelingenden Leben werden wach, Ausstiegsträume, Aufstiegshoffnungen, Sehnsüchte von Angenommensein und vom guten Leben.

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Bildung als Ausweg aus der Unmündigkeit

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Die Bildungsverständnisse aller Zeiten und aller Menschen spiegeln derartige Träume, Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchte wider. Unter dieser Rücksicht möchte ich im Folgenden auf zwei Bildungsverständnisse zurückgreifen: Das Verständnis von emanzipativ-autonomer Bildung, die durch Information, Wissen und kognitive Erkenntnis erzielt werden soll, einerseits, und das Verständnis von Bildung als Lebens-Formgebung, als reflektierte Ausarbeitung von Haltungen, Einstellungen und Handlungsformen, die aus einer bestimmten Lebensorientierung heraus erwächst und in die Erkenntnis und Wissen eingebettet sind, andererseits. Ich möchte diese Verständnisse in den Blick nehmen, nicht ausspielen, kann aber nicht verhehlen, dass meine Sympathie einem ganzheitlichen Bildungsverständnis gilt, das sich theologischen Optionen verpflichtet weiß.

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Schon von alters her, für uns aber seit der Aufklärung besonders deutlich und bedrängend, gab und gibt es Bildungsauffassungen und Bildungstheorien, wo Bildung mehr und mehr von der grundsätzlichen Einbettung in Lebensorientierung bzw. religiöse Lebenskultivierung herausgelöst und mit dem Gegenteil konnotiert wurde: nämlich mit „Autonomie und Emanzipation von herkömmlichen religiösen, politischen und sozialen Normvorstellungen“1.

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Das hat etwas Berechtigtes, dennoch zeigen sich bei näherem Hinsehen diffuse und romantisch-idealistische Konnotationen wie „Mündigkeit“, „Autonomie“, „Entwicklung“, „Fortschritt“ u. a. Es sind Konnotationen, die in einem bestimmten historischen und gesellschaftspolitischen Kontext entstanden sind und weiter tradiert und konnotiert wurden. Sehr oft hat man dann in späterer Folge von den konkreten historischen und kulturellen Entstehensbedingungen abgesehen, den Appellcharakter aber – unabhängig von den konkreten historischen und kulturellen Bedingungen und Herausforderungen - beibehalten. So wird die Forderung nach Mündigkeit und Autonomie als Unabhängigkeit insbesondere von Konfession, Kirche, Religion und Theologie immer wieder laut und es wurde und wird selten genauer gefragt, was es denn mit dieser Forderung auf sich hat und ob sie nicht vielleicht längst schon obsolet geworden ist. Und andersherum zeigt sich: Auch die auf Autonomie und Emanzipation ausgerichteten Bildungsverständnisse enthalten – so paradox sich das anhört – religiös-theologische Elemente, Elemente impliziter Erlösungs- und Befreiungshoffnungen. Das sind aber eigentlich Elemente zu deren Eliminierung viele VertreterInnen von emanzipativ-autonomen Bildungsverständnissen angetreten sind.

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Wir sehen: Mit „Bildung“ wurden und werden eine ganze Fülle von übernommenen und selbstverständlich gewordenen normativen Leitvorstellungen verbunden. Über diese Leitvorstellungen vom Glück und gelingenden Leben gibt es immer weniger bewusste Auseinandersetzung. Explizite normative Rahmen, die Orientierung im Bildungsmarkt bieten würden, verschwinden mehr und mehr, werden durch implizite Orientierungen, wie sie z. B. von Produktwerbung und Medien ausgestrahlt werden, ersetzt. Damit verliert sich auch die – theologische – Frage nach Kriterien für Gelingen und Lebensförderlichkeit. Als lebensförderlich wird mehr und mehr das angesehen, was dem Markt dient.

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Bildung als Ware

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Diese „weltanschauliche Verlängerung“2 bzw. die Absolutsetzung naturalistischer Kriterien im Naturalismus, ökonomischer Kriterien im Ökonomismus usf. prägen Bildungsverständnisse, Bildungspolitik und Bildungsadministration. Neue Plausibilitäten, neue Normativitäten, neue Formen der Erkenntnisgewinnung entstehen. In einem solchen Kontext stellt sich die Frage nach Autonomie und Emanzipation anders. Wir müssen uns eingestehen, dass wir manchmal immer noch kritisch, ja manchmal zornig, bei den „alten“ Abhängigkeiten verweilen, während wir übersehen haben, dass sich die Landschaft längst in eine andere Richtung verändert hat. Sind wir nicht längst schon – während wir gegen die alten, aus unserer Sicht abhängig machenden Mächte kämpfen – neuen Abhängigkeiten erlegen? Müsste nicht bei den paradoxen impliziten Befreiungs- und Erlösungsvorstellungen, die uns die faktischen naturalistischen, ökonmistischen u. a. Orientierungen widerspiegeln, angesetzt werden?

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Damit aber ändert sich das, woraufhin Emanzipation ausgerichtet ist. Der christliche Glaube erweist sich nun nicht mehr als etwas, wovon man sich emanzipieren muss. Er erweist sich als kritisches Potenzial gegenüber vergewaltigenden Absolutsetzungen wie Ökonomismus, Naturalismus, Biologismus etc.

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Das ist der Anspruch, den wir als ReligionspädagogInnen, TheologInnen und ChristInnen haben. Ist dieser Anspruch berechtigt?

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Er ist berechtigt, wenn er angemessen vertreten wird. Denn mit diesem Anspruch ist oft die Illusion verknüpft, sich von Absolutsetzungen wie sie uns in Ökonomismus, Naturalismus, Biologismus etc. gegenüber treten rein und unberührt halten zu können. Das aber geht nicht. Wir als ReligionspädagogInnen, TheologInnen und ChristInnen stehen nicht außen, sind nicht Unberührte und Unbeteiligte in der (sozialen) Welt und somit nie vor Absolutsetzungen gefeit. Als Menschen sind wir alle – erlösungsbedürftig - in alle Konflikte des sozialen Lebens involviert, so auch in die Konflikte um die Ökonomisierung, Naturalisierung, Pluralisierung – im positiven wie im negativen Sinn. Das fängt klein an: „Wir sind nicht frei von den Konflikten des Gebens und Nehmens“3 und können uns nicht davon distanzieren, wir ziehen unseren Nutzen daraus.

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Hebt das den Anspruch auf? Ich denke, nein. Aber es macht diesen Anspruch schwieriger und gefährlicher. Eine eigene Form der Thematisierung und des Umgangs mit diesem Anspruch wird notwendig, kurz gesagt, theologische Kompetenz wird notwendig, so dass die Auseinandersetzung um „angemessene“, wahre, „gelingende“ Lebenskultur geführt werden kann. Sonst geschieht Paradoxes: Die zunächst ausgeblendeten normativen Inhalte kommen über die „Hintertreppe“ ins Haus zurück: Großteils unbeachtet und unhinterfragt hinsichtlich des Gottes- und Menschenbildes beherrschen sie als Wellness-, Esoterik-, Meditations“götter“ oder auch als Absolutsetzung verschiedenster wissenschaftlicher, pseudowissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Erkenntnisse die Produktpalette vieler (auch katholisch-christlicher) Bildungseinrichtungen. Das hat ernste Folgen: Dort, wo christlich-kirchliche Bildungseinrichtungen von ihrem – diakonischen - Grundauftrag als christliche Institutionen die Aufgabe hätten, prophetisch zu handeln, indem sie den stillschweigenden Lebensorientierungsanspruch (die unberechtigte Verabsolutierung) funktionaler Bereiche explizit machen, laufen sie Gefahr, sich diesen Göttern unterzuordnen, weil sie entweder die Frage nach den Kriterien diakonisch-kirchlichen Bildungshandelns und somit die kritische Hinterfragung von Absolutsetzungen zu wenig beachten oder andererseits dem Didaktik des Marktes so unterworfen sind, dass sie nicht mehr anders können.

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Bildung und Lebenskultivierung

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Der Befund der Absolutsetzung funktionaler Bereiche spiegelt sich auch im umgangssprachlichen bzw. bildungssprachlichen Verschwimmen der Unterscheidungen Bildung – Wissen – Information. Hier könnte der Gedanke der religiösen Bildung als Lebenskultivierung (im Sinne des augustinischen Weisheits- und Lebenskultivierungsbegriffs) dazu dienen, die Unterschiede wieder pointierter fassen zu können. Weisheit, wie sie von Augustinus verstanden wird4, bezieht sich weniger auf die Aneignung und Reproduktion von „Wissen“ im Sinne von Information bzw. „leichtem“5 Verfügungswissen. Sie hat mehr mit der Art und Weise zu tun, wie Menschen mit Verfügungswissen umgehen, welche Optionen sie hinsichtlich der Strukturierung und Organisation von Verfügungswissen in Bezug auf das Ganze ihres Lebens treffen und an welchen Handlungen sie diese Optionen sichtbar werden lassen. Damit kommt die Weisheit ins Spiel. Lebenskultivierung aus einer Haltung der Weisheit heraus hat mit der Übernahme und Veränderung von Einstellungen und Haltungen zu tun und besteht aus – individuellen und gemeinschaftlichen - Prozessen, welche der langwierigen, geduldigen und mühsamen Einübung, Ausarbeitung und (geschenkten) Transformation von Handlungsmustern bedürfen. In diesem Sinne verstanden beinhaltet der Gedanke der (religiösen) Bildung als Lebenskultivierung – von einem theologischen Standpunkt aus gesehen - eine Problematisierung von Bildung als schnell verfügbarer Ware, eine Infragestellung allzu selbstverständlichen Autonomie- und Emanzipationsdenkens und eine kritische Analyse dort, wo eine bestimmte Form von Bildung sich zu einer Art Kult bzw. Weltanschauung entwickelt hat (vgl. z. B. esoterische Formen von Bildung).

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Das Fundament biblischer Lebenskultivierung: Gott oder Götter, Leben oder Tod

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„Weder Gott noch einem Herrn“ dienen zu müssen, diese Überzeugung ist es, welche – so Paul Veyne6 – die stoische und stoisch beeinflusste Lebenskulturphilosophie den Menschen von heute so faszinierend erscheinen lässt. Aber: Welche Form wollen Menschen dann – nach der Negation Gottes - ihrem Leben geben? An welchem Bilde können sich Menschen dann ein Bild von wahrer – und in diesem Sinne - gelingender Lebenskultivierung machen? Und – provokativ nachgesetzt: Können sich Menschen ohne Gott überhaupt ein Bild von wahrer, gelingender Lebenskultivierung machen?

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Die Texte des Alten und Neuen Testaments stellen eine fundamentale Auseinandersetzung mit dieser Frage dar. Zwei mögliche Lebensorientierungsformen werden einander gegenüber gestellt, deren lebensentfaltende bzw. lebenzerstörende Wirkungen an vielen Beispielen aufgeführt und dadurch entschieden mit Wahrheit (Joh 14, 6) und Verfehlung in Verbindung gebracht: Orientierung am Gott Israels oder Orientierung am Goldenen Kalb als Orientierung an Göttern bzw. Götzen (Ex 32, 7-9; Ps 106, 19-20; Röm 1, 23; Offb 22, 1-4).

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Aus theologischer Perspektive bildet die Auseinandersetzung Gott - Götter als Auseinandersetzung um lebensermöglichende oder lebenszerstörende Orientierung die Hintergrundfolie jeglicher Lebenskultivierung. Die Bindung an die Götter hat lebensfeindliche, beziehungszerstörende Wirkungen, die sich vor allem in der dualistischen Überhöhung und Verabsolutierung einer Seite menschlichen Handelns und Lebens auf Kosten der anderen zeigen. Dabei ist ein Grundmuster bestimmend, das unter den Stichworten „weltanschauliche Verlängerung“ „Ökonomismus“, „Naturalismus“, „Absolutsetzung“ schon mehrmals erwähnt wurde: Der Charakter der Eingeschränktheit und Begrenztheit funktionaler Lebensbereiche (Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, sport…) wird ausgeblendet, übersehen und unkritisch auf den (integrativen) Bereich der Lebensorientierung übertragen.7 Dadurch geschieht eine Verabsolutierung funktionaler Bereiche, die sich u. a. darin zeigt, dass funktional ausgerichtete und gesellschaftlich konstruierte Einrichtungen wie Wissenschaften, Pseudowissenschaften, Wirtschaft, Werbung, Medien, sport immer wieder – implizit und ihren eigenen Geltungsbereich überschreitend – Heil und Glück versprechen. Damit wird Menschen dort tiefergründig verstandene gelingende, glücklichmachende, heilbringende Lebensorientierung dort vorgespiegelt, wo dieses Versprechen – aufgrund der Endlichkeit und Begrenztheit der Bereiche – nie eingelöst werden kann. Ein Paradox, das kommunikations- und lebenzerstörende sowie Handlungsmöglichkeiten beschneidende Wirkungen hat, entsteht.

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Gottes Handeln ist diesem Muster entgegengesetzt. Gottes Handeln und Wirken ist so, dass Menschen – an seinem Bild und durch sein Bild – erst zur Erkenntnis von lebensverweigernden Opfern und Dualismen kommen können.

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Das heißt: Am Bild Gottes wird für Menschen Orientierung und Unterscheidung zwischen integrativ und funktional, zwischen lebensverweigernd und lebensfördernd erst möglich. So gesehen hat der christliche Gottesglaube erkenntnistheoretische, lebensgestaltende und lebensorientierende Kraft, Er wirkt durch das Sichtbar-werden-Lassen von Verabsolutierungen erkenntnis- bzw. kulturkritisch und stellt eine stetige Herausforderung an menschliche Lebenskultivierung und Bildungsverständnisse dar.

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Leben bedeutet Gehen an der Grenze, Auseinandersetzung mit der Grenze

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Die Grenze ist ein wichtiger hermeneutischer Schlüsselbegriff christlicher Lebenskultivierung. Ein Leben, das im Bewusstsein der Vorläufigkeit, Endlichkeit und Begrenztheit, der Unausweichlichkeit von Verstrickung, Blickverengungen, Ausblendungen und Verabsolutierungen geführt wird, ist immer ein Leben an Grenzen und ein Leben in Konfrontation mit Grenzen. Ein Mensch, der immer wieder die Möglichkeit von Ausblendungen und Verabsolutierungen in Betracht zieht, der sich der eigenen Hinfälligkeit, Verletzlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit bewusst ist und gerade deshalb auf die Gnade der Transformation, die nur Gott schenken kann, hofft, ist ein – prophetischer - Grenzgänger.

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Entgegen allen privatistischen und subjektivistischen Tendenzen von Lebenskunstkonzepten ist Gemeinschaftlichkeit und Beziehung eine Grundoption christlicher Lebenskultivierung. Für christlich-katholisches Glaubensverständnis ist Beziehung – wie es im Trinitätsglauben zum Ausdruck gebracht wird – konstitutiv. Das Beziehungsgeschenk Gottes an die Menschen hat ihre verdichtetste Form darin erreicht, dass Gott selber – in der Menschwerdung Jesu – sich den Menschen geschenkt hat und ihnen so – performativ wie imitativ – ermöglicht, den Verabsolutierungs-, Verdienst- und Ausgrenzungszwang stückweise zu durchbrechen und dadurch auch aneinander beziehungsstiftend handeln zu können.

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Lebenskultivierung im Handlungsfeld Schule - Religionsunterricht

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Bildung als prozessorientierte „Ausarbeitung“ beziehungsstiftender, am christlichen Gott ausgerichteter Lebenskultivierung, die die Grenze nicht als Hemmnis, sondern als Lernchance thematisiert? Kann sich das in den verschiedenen katechetisch-religionspädagogischen Handlungsfeldern zeigen, zum Beispiel im Religionsunterricht?

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Schule stellt ein eigenes System, einen eigenen Kontext dar. Wichtiges Merkmal dieses Kontextes ist, dass geplante Lehr- und Lernprozesse stattfinden und dass es mit dem Lehrplan einen normativen Rahmen gibt, der den RU im Kontext verortet und klar als schulisch/kirchliches Handeln ausweist. Dadurch ist der RU – z. B. im Unterschied zur (kirchlichen) Erwachsenenbildung – dem Spiel des Marktes (noch) weitgehend entzogen.

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Der RU ist einerseits eingebettet in die entsprechende gesellschaftlich-kirchliche Lebenskultur und von ihr bestimmt, andererseits sind es die in diesem Kontext handelnden Menschen, die mit den unterschiedlichsten Verständnisvoraussetzungen miteinander lernen und im bzw. durch das Miteinander-Leben und -Lernen beziehungsstiftend oder beziehungsverweigernd handeln, Optionen setzen oder verweigern und so immer wieder neu Lebens-, Lern- und Schulkultur8 schaffen, gestalten und verändern können. In diesem Verständnis geschieht Lehren, Lernen und Leben nicht „im luftleeren Raum“, sondern ist eingebettet in eine bestimmte – optionenbezogene – Lebens-, Schul- und Lernkultur. Somit stellt sich auch in diesem Bereich die Frage: Welche Optionen bestimmen die konkrete Kultivierung? Welche Form wollen wir unserem Leben geben (lassen)? Welche Form der Lebensausrichtung steht hinter konkreten Kommunikations- und Lehr- und Lernformen? Lebensentfaltende oder lebensbeschneidende? Beziehungsermöglichende oder beziehungsverweigernde? Angesichts dieser Fragen und in Berücksichtigung der Eigenart optionenbezogener weltanschaulicher Rede muss der katholische RU eine Grundoption für christliche Lebenskultivierung treffen und kann dadurch – diakonisch – Lernen, Lernumgebung, Schule und damit auch ein Stück Gesellschaft wahrnehmen, deuten, reflektieren - und der transformierenden, heilbringenden Gnade Gottes anheim stellen. Damit aber sind wir bei Spuren einer eucharistischen Lebenskultur angelangt. –

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Eucharistische Lebenskultivierung im Religionsunterricht?

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Spuren eucharistischer Lebenskultur im Alltag - Lebensformgebung, Lebenskultivierung aus christlich-eucharistischem Geist - was könnte das im RU bedeuten?

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Wahrnehmung und Deutung der Alltagskultur

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Das Miteinander-Reden und das Miteinander-Essen hängen eng zusammen. Beide sind elementare Zeichen des Lebens, beide sind ambivalente Zeichen. Eucharistische Lebenskultivierung hängt eng mit dem Bewusstsein um die gemeinschaftsstiftenden bzw. gemeinschaftsverweigernden Botschaften zusammen, die durch Essen und Trinken zu verstehen gegeben werden. Essen und Trinken hat Zeichencharakter und lässt erkennen, welche (Beziehungs-)Kultur gepflogen wird: „In jedem Essen spiegelt sich wider, was eine Gesellschaft getrennt und vereint sehen möchte, … wie sie Grenzen zieht, welche Ideale sie verteidigt.“9

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Welche Ideale sie verteidigt … welchen Herrn sie folgt... Wie kann sich die Option für christlich-eucharistische Lebenskultivierung im RU zeigen? Zunächst einmal im Wahrnehmen und theologischen Deuten der verschiedenen gesellschaftlich-schulisch-kulturellen Formen von Essen und Trinken, insbesondere auch der verstörenden, ambivalenten und tragischen Kultivierungsformen wie Essstörungen, mangelndes Bewusstsein für Essen und Trinken, fehlende Beziehung, einsames Essen, verstörende Zusammenhänge von Essen und Kommunikation, Verweigerung von Kommunikation, Verweigerung von Begegnung, Essen bzw. Fasten als soziales Kampfmittel, Essen und Macht bzw. Ohnmacht, Essen und Abhängigkeit. Viele dieser verschiedenen – verstörende und nicht verstörende – Kultivierungsformen zeigen sich auch in der Schule bzw. werden in und von der Schule, von Schülerinnen und Schülern, von Lehrerinnen und Lehrern im selbstverständlichen Vollzug des Handelns und Kommunizierens – achtlos - kultiviert und stabilisiert.10 Freuden, Nöte, Verletzungen, (Erlösungs-)Sehnsüchte, Hoffnungen und Verzweiflung, Fremdheit und Vertrautheit, Ausschluss und Einladung werden durch das Miteinander-Essen oder durch das Verweigern von (Miteinander-)Essen, durch das Genießen-Können oder durch das Verweigern-Müssen von Speisen sichtbar. Ess-, Trink- und Kommunikationsfreuden, aber auch Ess-, Trink- und Kommunikations(alb)träume zeigen sich: Selbstlosigkeit und Selbstgefallen, Dankbarkeit und Machbarkeit; Sehnsüchte nach Anerkennung, nach Angenommensein und Einladung; Trauer und Enttäuschung über Zurückweisung. Sowohl in der Grundschule wie auch in der Sekundarstufe I ist das vordringlichste Thema, das Kinder beschäftigt, die soziale Einladung bzw. die soziale Zurückweisung. Kinder erleben tagtäglich, was es heißt, die Freundschaft und Zuneigung von Freunden und Freundinnen, Lehrerinnen und Lehrern zu gewinnen bzw. zu verlieren. Sie freuen sich über das eine und trauern über das andere, fühlen sich bestätigt oder in Frage gestellt.

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Kommunikations-Elend11 und Erlösungs-Sehnsüchte

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Schule ist – wie alle Bereiche menschlichen Lebens – ein höchst ambivalenter Kontext. Freude und Leid, Tränen der Freude und Tränen der Enttäuschung liegen eng beisammen, Beziehungselend, Beziehungsnöte und Beziehungssehnsüchte zeigen sich. Insbesondere die Ess- und Trinkkultur der Schule (die „Schlacht am kalten Buffet“; das hastige, oft einsame Verschlingen von eingekauften Nahrungsmitteln) zeigt verdichtend Elend und Sehnsüchte von Menschen, Kommunikationselend, Erlösungs- und Verwandlungssehnsüchte. Aus theologischer Perspektive zeigt sich, dass der Machbarkeit und Wandelbarkeit durch Menschen (LehrerInnen, SchülerInnen, DirektorInnen) Grenzen gesetzt sind. Die Ambivalenz dieser Ess- und Trinkkultur ist nicht mit menschlicher Anstrengung und Leistung zum Lebensfördernden hin zu verändern. Wandlung zum lebensfördernden und gemeinschaftsstiftenden heilenden Zeichen ist im Letzten nur durch die Anwesenheit und die Beziehung Gottes möglich. Unter den Geist Gottes gestellt, kann das Essen und Trinken in der Schule ein Stück geschenkte Erlösung in den Kommunikationsnöten, ein Stück Befreiung von den eingefahrenen und einzementierten Schulkommunikationsstrukturen bedeuten und so zum Zeichen der Nähe Gottes inmitten des Schullebens werden. Der RU ist herausgefordert, dies zu reflektieren und bewusst zu machen. Er ist derjenige Ort, an dem (Kommunikations-)Elend und (Kommunikations-)Erlösungssehnsüchte thematisiert, ausgesprochen, sichtbar gemacht und der heilenden Gnade Gottes anvertraut werden können.

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Der Ort, in dem alle alltäglichen Kommunikations-, Ess- und Trinkformen, alle Kommunikationsnöte und –sehnsüchte in der Hoffnung auf Verwandlung zusammen kommen, zusammen getragen werden, ist die Feier der Eucharistie. Die Eucharistie ist dankbare Vergegenwärtigung und Verwandlung, aber auch – prophetische - Verdichtung, Bündelung aller – auch der verstörenden - Ess- und Trinkformen in den Brennpunkten von Mahl und Opfer; zweifach verwurzelt im Handeln Jesu: einerseits als gesellschaftlich-kulturelle Dualismen verwandelndes, blickerweiterndes gemeinschaftsstiftendes Mahlhandeln mit Pharisäern, Zöllnern und Sündern und andererseits – im Sinne des Vermächtnisses des letzten Mahls - als auf die Liebe Gottes vertrauende, Gewalt, Tod, Schmerz und Leid durchstehende und dadurch verwandelnde Hingabe. Das bedeutet einerseits vertrauendes Anheimstellen, andererseits aber auch kritische und befreiende Herausforderung für jedes alltägliche Mahl, jedes alltägliche Essen und Trinken mit seinen konstruierten kulturellen Idealen, den daraus resultierenden Verabsolutierungen, Dualismen und innerweltlichen Heilserwartungen. Unter dieser Perspektive ist das eucharistische Essen und Trinken zum verdichtenden Ort geworden, der - am Bild Gottes und durch das Handeln Jesu – die Augen öffnet, erkennen lässt, welche gesellschaftlich-kulturellen Dualismen Menschen bestimmen und knechten. Angesichts der innerweltlichen Heilsvorstellungen macht es deutlich, dass Heil nur von Gott kommen und nicht privat, sondern nur solidarisch-gemeinschaftlich erlangt werden kann. Es konfrontiert die menschlichen Beziehungs-, Kommunikations- und Erlösungssehnsüchte damit, dass Erlösung nicht gekauft oder verdient, sondern nur - durch das Elend und das Leid hindurch - von Gott geschenkt werden kann. Es bewirkt durch die performative Kraft der Gegenwart Jesu Begegnung, die das stückweise Aufbrechen und die Verwandlung der dualistischen Kommunikations-, Denk- und Handlungsformen schenken kann. Dies schließt in sich, dass Verwandlung – als Durchbrechung des Verabsolutierungs- und Verdienstkreislaufs – notwendigerweise menschlichem Handeln entzogen sein muss.

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Die verändernde Kraft

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Damit kommt eine Form der Lebenskultivierung in den Blick, in der das Geschenk der Gnade, die Haltung der Geduld und des Wachsen-lassen-Könnens, der Dankbarkeit, die Haltung der Hingabe und Zuvorkommenheit Voraussetzungen dafür sind, dass Menschen aneinander beziehungsstiftend handeln können; Voraussetzungen dafür, dass sich lähmende Ruhe - „Tranquillité12 “ - in Lebendigkeit wandeln und so auch Schul-, Lern- und Kommunikationskultur - und eng damit zusammenhängend vielleicht auch Ess-, Trinkkultur in der Schule - verändern können.

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(Religiöse) Bildung als christliche Lebenskultivierung hat mit der Ausprägung von Haltungen zu tun und stellt eine Alternative dar zu einem rezeptologisch-methodisch-machbarkeitsbezogenen Verständnis von Bildung. Wichtigste Bedingung dafür, dass (gemeinschaftliche) Lebenskultivierung – geschenkt – ein Stück weit gelingen kann, sind Aufmerksamkeiten und Sensibilitäten: Aufmerksamkeit und Sensibilität für sich selber, für die Menschen, das Miteinander, den Kontext, in dem wir leben und – für die Möglichkeit des Wirkens Gottes. Auch Empathie und Ausdauer und Geduld. Denn: Anders leben lernen13 ist nicht möglich ohne die von Gott geschenkten und von den Menschen ersehnten und erhofften Transformationen.

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Christliche Lebenskultivierung als Anfrage an die Postmoderne

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Können derartige Überlegungen zu Bildung als Lebenskultivierung typisch postmoderne ReligionspädagogInnen und TheologInnen überzeugen? Wahrscheinlich nicht wirklich, denn diese Überlegungen weisen die Voraussetzungen und Grundannahmen des Postmodernen als problematisch aus. Aus der Perspektive christlicher Bildung und Lebenskultivierung besteht die Problematik der heutigen postmodernen Gesellschaft gerade darin, dass Entscheidungen über Lebensorientierung und Lebenskultur vielfach nicht mehr bewusst getroffen, sondern „schleichend“ übernommen werden. Es findet wenig theologische Auseinandersetzung, d. h. wenig bewusste Auseinandersetzung mit Lebensförderlichkeit und Lebensfeindlichkeit statt. Die Plädoyers für Pluralität sind dort zu vordergründig, wo eine Auseinandersetzung mit den normativen Voraussetzungen und der Frage nach den Kriterien für Wahrheit unterlassen wird. Pluralität allein kann kein Kriterium für Wahrheit sein, wohl aber kann sie die Auseinandersetzung um Wahrheit und somit die Wahrheitssuche entscheidend bereichern und fördern. Auf diesem Hintergrund betrachtet, sollten die eingeforderten normativen Hinterfragungen und Auseinandersetzungen gerade einen reflektierten und in diesem Sinne bereichernden und lebensentfaltenden Umgang mit Pluralität provozieren.

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Anmerkungen:

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1 Stichwort „Bildung“, in: Metzler Philosophie Lexikon, hg. von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, Stuttgart 21999, 81.

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2 Söling, Caspar, Die Herausforderungen der „dritten Kultur“, in: KatBl 2 (2003), 124-132, hier 124.

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3 Zilleßen, Dietrich, Geld, Mensch, Religion: Marktübersicht, in: Profane Religionspädagogik, hg. von Dietrich Zilleßen und Bernd Beuscher, Band 3, Münster 2002, 13-21, hier 19.

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4 Vgl. Marrou, Henri-Irénée, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, Paderborn 1982, 499.

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5 Vgl. Greiner, Ulrike, Bleibende Fremdheit: Religionspädagogische Anmerkungen zum Streit um schweres und leichtes Wissen in der Wissensgesellschaft, in: Scharer, Matthias / Kraml, Martina, vom Leben herausgefordert. Praktisch-theologisches Forschen als kommunikativer Prozess, Mainz 2003, 201-221.

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6 Vgl. Paul Veyne im Klappentext zu: Concordia, Internationale Zeitschrift für Philosophie Nr. 28 (1995).

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7 Vgl. dazu auch die Veröffentlichungen von O. Muck: Muck, Otto, Rationalität und Weltanschauung. Philosophische Untersuchungen, hrsg. v. Winfried Löffler, Innsbruck-Wien 1999.

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8 Vgl. Scharer, Matthias, Spiritualität als Schulkultur, in: Theologisch-praktische Quartalsschrift 2 (2000) 169-175.

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9 Karmasin, Helene, Die geheime Botschaft unserer Speisen, Wien 1999, 17.

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10 Vgl. Scharer, Matthias / Niewiadomski, Józef, Faszinierendes Geheimnis. Neue Zugänge zur Eucharistie in Familie, Schule und Gemeinde, Mainz 1999, 115.

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11 Vgl. Scharer, Matthias / Niewiadomski, Józef, Faszinierendes Geheimnis. Neue Zugänge zur Eucharistie in Familie, Schule und Gemeinde, Mainz 1999.

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12 Vgl. die Schlussszene des Films Chocolat von Lasse Hallström.

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13 Zum Anders-leben-Lernen: Schmid, Wilhelm, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt a. Main 2000.

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