This is a cache of https://www.uibk.ac.at/universitaetsarchiv/ernst-bloch/ernst-bloch-rechtsphilosophie.html. It is a snapshot of the page at 2024-11-21T03:26:47.995+0100.
Peter Goller, Ernst Bloch über die Rechtsphilosophie

Peter Goller 

„Naturrecht und menschliche Würde“. Ernst Blochs Verteidigung des Naturrechts gegen den bürgerlichen Rechtspositivismus

Ernst Bloch reklamiert in „Prinzip Hoffnung“ die Geschichte der chiliastisch, messianisch eschatologisch angeleiteten Sozialrebellionen für das Erbe des Sozialismus. Dieses reicht von Spartacus, von Joachim di Fiore, den Taboriten, Wiedertäufern über Thomas Münzer zu den Levellers „in der großen englischen Revolution“, zu Babeuf „in der großen französischen Revolution“, zu den Sansculloten, den „Egalitaires“, hin zum „Bund der Gerechten“, zu Wilhelm Weitlings Handwerkersozialismus vom „Evangelium des armen Sünders“. Weiters beansprucht Bloch die Geschichte der (neuzeitlichen) Sozialutopien einsetzend mit Thomas Morus oder Tommaso Campanella, die frühen gleichheitskommunistischen Theorien (von Morelly oder Mably) und schließlich den utopischen Sozialismus von St. Simon, Fourier und Owen für den „wissenschaftlichen Sozialismus“.

Bloch beansprucht aber auch die widersprüchliche Tradition des Naturrechts, vor allem das aufgeklärt rationale Vernunft- und Naturrecht für den Arbeitersozialismus: „Die Sozialutopien gehen überwiegend auf Glück, mindestens auf Abschaffung der Not und der Zustände, die diese erhalten oder produzieren. Die Naturrechtstheorien gehen, (…), überwiegend auf Würde, auf Menschenrechte, auf juristische Garantien der menschlichen Sicherheit oder Freiheit, als Kategorien des humanen Stolzes. Demgemäß richtet sich die Sozialutopie vor allem auf Abschaffung des menschlichen Elends, das Naturrecht vor allem auf Abschaffung der menschlichen Erniedrigung. Die Sozialutopie will wegräumen, was der Eudämonie aller, das Naturrecht, was der Autonomie und ihrer Eunomie im Wege steht.“[1]

Und doch verbindet Sozialutopien und Naturrecht ein gemeinsamer ideeller Leitfaden: „Der

Sozialutopie des Thomas Morus liegt der naturrechtliche Gedanke von der natürlichen Freiheit des Individuums zugrunde, dem Naturrecht des Grotius wiederum utopischer Liberalismus (Befriedigung individueller Interessen). Ebenso bestehen Zusammenhänge zwischen der radikalen Ordnungs-Utopie des Campanella und dem Naturrechts-System eines radikalen Absolutismus bei Hobbes. In Kants Entwurf zum ewigen Frieden wird ein naturrechtlicher Gegenstand, nämlich die Idee des Weltbürgerrechts und der aus ihr folgende Völkerstaat, sogar in die Zukunft verlegt und expressis verbis dem Traum der Utopie benachbart.“ Auch Owen, Fourier, Saint-Simon schließen die „Konstruktionen zur Abschaffung des Elends an naturrechtliche Kategorien an, vorzüglich des Citoyen-Ideals in der Genossenschaft, und stellen der ‚Unnatur der gegenwärtigen Verhältnisse‘ die ‚sozialistische Vernunft‘ entgegen. Der Marxismus sprengte die Abstraktheit und angebliche Ewigkeit der so gedachten Vernunftmaße (…).“[2]

 

Marxistisches Naturrechtserbe?

Also, das marxistische Interesse am Naturrecht: Überraschend angesichts des Umstandes, dass das Naturrecht auch Herrschaftsideologie war, und angesichts der Distanz von Karl Marx und Friedrich Engels zur „juristischen Ideologie“ generell?

Friedrich Engels hat 1887 in einer gemeinsam mit Karl Kautsky verfassten Polemik gegen Anton Mengers Versuch, „die Geschichte des Sozialismus vom ‚rechtsphilosophischen‘ Standpunkt dogmatisch näher zu beleuchten“, und gegen Mengers Vorbringen, wonach „die ‚juristische Bearbeitung des Sozialismus ... die wichtigste Aufgabe der Rechtsphilosophie unserer Zeit‘“ sei, erklärt, dass die frühen Arbeiterproteste sich bürgerliche Naturrechtsideale (meist vergeblich) zunutze machen wollten. Anachronistisch schien es Engels, wenn Anton Menger entdeckt haben wollte, „dass der ganze Sozialismus sich juristisch auf drei solcher Schlagworte zurückführen lässt, auf drei Grundrechte. Diese sind:1. das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 2. das Recht auf die Existenz, 3. das Recht auf Arbeit“.

Die frühen proletarischen Bewegungen hatten in Unkenntnis der kapitalistischen Verwertungslogik Losungen wie das „Recht auf Arbeit“ an ihre Fahne geheftet, eine anfangs verständliche, wenngleich „nur eine provisorische Forderung, ‚die erste unbeholfene Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats‘ (Marx) zusammengefasst haben“.

Während dem System der Feudalität die theologische Weltanschauung entsprach, stützte sich das Bürgertum auf die „juristische Weltanschauung“, die seit dem 17. Jahrhundert die „klassische [Weltansicht] der Bourgeoisie werden sollte“. Sie war eine Verweltlichung der theologischen. An die Stelle des Dogmas trat der säkularisierte Gedanke vom (Gesellschafts-) Vertrag: „Weil der Austausch von Waren auf gesellschaftlichem Maßstab und in seiner vollen Ausbildung, namentlich durch Vorschuss- und Kreditgeben, verwickelte gegenseitige Vertragsverhältnisse erzeugt und damit allgemein gültige Regeln erfordert, die nur durch die Gemeinschaft gegeben werden können – staatlich festgesetzte Rechtsnormen -, deshalb bildete man sich ein, dass diese Rechtsnormen nicht aus den ökonomischen Tatsachen entsprängen, sondern aus der formellen Festsetzung durch den Staat. Und weil die Konkurrenz, die Grundverkehrsform freier Warenproduzenten, die größte Gleichmacherin ist, wurde Gleichheit vor dem Gesetz der Hauptschlachtruf der Bourgeoisie.“

Die sich formierende Arbeiterklasse übernahm als Antipode der Bourgeoisie nur zu oft deren „juristische Weltanschauung“ in der Illusion befangen, den Klassenkampf als einen von „Rechtsforderungen“ führen zu können: „Die ersten proletarischen Parteibildungen wie ihre theoretischen Vertreter blieben durchaus auf dem juristischen ‚Rechtsboden‘, nur dass sie sich einen anderen Rechtsboden zusammenkonstruierten, als der der Bourgeoisie war. Einerseits wurde die Forderung der Gleichheit dahin ausgedehnt, dass die rechtliche Gleichheit durch die gesellschaftliche zu ergänzen sei; anderseits wurde aus den Sätzen Adam Smiths, dass die Arbeit die Quelle alles Reichtums, das Produkt der Arbeit aber vom Arbeiter geteilt werden müsse mit dem Grundbesitzer und dem Kapitalisten, der Schluss gezogen, dass diese Teilung unrecht sei und entweder abgeschafft oder doch zugunsten der Arbeiter modifiziert werden müsse.“

Langsam setzte sich die Einsicht durch, dass die kapitalistischen „Übelstände“ nicht beseitigt werden können, wenn sich das Proletariat auf „auf dem bloßen juristischen ‚Rechtsboden“ bewegt. Ein Appell an „Rechtsgefühl“, an „Menschheitsgefühl“ erschien als hilflos. Schlussendlich erwiesen sich auch die dem Klassenkampf fernstehenden Prinzipien der utopischen Sozialisten, die ihre Forderungen in ethisch-moralische Prinzipien, in „fromme Wünsche“ kleideten, als tragunfähig: „Die Forderung der Gleichheit nicht minder wie die des vollen Arbeitsertrages verliefen sich in unlösliche Widersprüche, sobald sie juristisch im einzelnen formuliert werden sollten, und ließen den Kern der Sache, die Umgestaltung der Produktionsweise, mehr oder weniger unberührt. Die Zurückweisung des politischen Kampfes durch die großen Utopisten war gleichzeitig eine Zurückweisung des Klassenkampfes, also der einzig möglichen Betätigungsweise der Klasse, in deren Interesse sie auftraten.“

Mit Blick auf die Geschichte als eine Geschichte der Klassenkämpfe, mit Blick auf die Kritik am ideologischen, religiösen, auch juristischen Überbau, der Einsicht, dass „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen“ ist, fassen Engels und Kautsky zusammen: „Die Arbeiterklasse (…) kann in der juristischen Illusion der Bourgeoisie ihre Lebenslage nicht erschöpfend zum Ausdruck bringen. Sie kann diese Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut. Hierzu aber verhalf ihr Marx mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung, mit dem Nachweis, dass alle juristischen, politischen, philosophischen, religiösen etc. Vorstellungen der Menschen in letzter Instanz aus ihren wirtschaftlichen Lebensbedingungen, aus ihrer Weise zu produzieren und die Produkte auszutauschen, abgeleitet sind. Hiermit war die der Lebens- und Kampfeslage des Proletariats entsprechende Weltanschauung gegeben; der Eigentumslosigkeit der Arbeiter konnte nur die Illusionslosigkeit ihrer Köpfe entsprechen.“[3]

Ernst Bloch kennt die Abrechnung des jungen Marx mit der antiegalitär rechtshistorischen „Volksgeist“-Ideologie, mit Gustav Hugo. Der Pseudo-Kantianer Hugo postulierte die historische Distanzierung von der Vernunft. Nach Marx ist der Widerspruch zwischen Hugo und Kant schreiend offenkundig. Während Hugos Naturrecht zur „deutschen Theorie des französischen Ancien régime“ verkam, galt Kants Philosophie als „die deutsche Theorie der Französischen Revolution“. Hugo „brachte in seinem Lehrbuch des Naturrechts (1799) die Konstruktion wie das Ideal zugleich zu Fall. Die Abwendung von der Konstruktion a priori ließ in der Folge das Recht als historisches Gebilde erforschen, wandlungsfähig, ein Ausdruck der ökonomisch-sozialen Bedürfnis- und Machtverhältnisse, durchaus nach Zeit und Ort verschieden. Doch die Abwendung vom Ideal bewirkte bereits an der Schwelle reaktionären Zynismus a posteriori. Hugo bewies unter anderem den Rechtscharakter der Sklaverei damit, dass sie Jahrtausende hindurch bei so vielen Millionen kultivierter Menschen rechtens war (Lehrbuch des Naturrechts § 141). So verschwand mit der der abstrakten Konstruktion dessen, was rechtens sei, zugleich der letzte Rest des Rousseauschen Geistes (lediglich [Paul Johann Anselm] Feuerbach hat ihn in der Folge aufrechterhalten).“ (NW 103)

Karl Marx notiert zwischen 1842 und 1844, dass die Vernunftrecht feindliche Savigny-Richtung eine Schule ist, „welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist“.[4]

Bloch folgt dieser Einschätzung. Savignys restaurativ historistischer Irrationalismus, die von Savigny proklamierte Absage an jede „bewusste Ratio“ sah das Recht als halb-magisch an. Es entsprang ihm „unbewussten Kräften“, dem „unwillkürlichen Wirken der Volksgeister“. Die Rechtsbildung wurde „mystifiziert, in einer Weise, dass die Staatsvertragslehre noch wie ökonomisch-materialistische Einsicht dreinsieht. Es wurde vor allem auch das Vernunftrecht als gänzlich unwesentlich, ja unedel hingestellt, das gewordene Recht hingegen als ein verehrungswürdiges, weisheitshaltiges Traditionsprodukt gleich der Sprache, gleich dem Mythos. Jedes der Vernunft entnommene oder entsprechende Recht wirkt dagegen, um einen modernen, jedoch nicht ganz anachronistischen Ausdruck zu gebrauchen, wie Asphaltliteratur.“

Bloch teilt Hegels Kritik an Savigny, der die mit konstruierend begriffsjuristischer Schärfe zergliederten „Pandekten, dies bedenkliche Flickwerk, für ‚heilige Bücher‘ (Vom Beruf unserer Zeit, S. 123)“ erklärt hat: „Selbst Hegel, nach neuen Gesetzen gewiss nicht begierig, aber nach Kodifikation durch Vernunft, bemerkte gegen Savignys Historismus: ‚Einer gebildeten Nation oder dem juristischen Stande in derselben die Fähigkeit abzusprechen, ein Gesetzbuch zu machen, … wäre einer der größten Schimpfe, der einer Nation oder jenem Stande angetan werden könnte.‘ (Philosophie des Rechts, § 211).“ (NW 104f.)

Bloch zieht auch die Kritik an den naturrechtlich abgeleiteten bürgerlichen Menschen- und Staatsbürgerrechten ins Kalkül, so wie sie der junge Marx 1843/44 im Übergang zur materialistischen Geschichtsauffassung formulierte, um eine universell sozialistische, nicht bloß bürgerlich politische Emanzipation zu fordern, zumal letztere die Klassen- und Standesdifferenzen nur für die enge idealisierte Sphäre des Staats aufhebt. Die Menschenrechtsdeklarationen der nordamerikanischen Union und jene der französischen Revolution verschleiern die bürgerlichen Profit- und Eigentumsinteressen hinter Brüderlichkeitsphrasen. Die droits naturels des Jahrs 1791, die radikalen, Gleichheit und Freiheit ausrufenden Losungen der Revolutionsverfassung von 1793 gehen nicht über das egoistische Privatsubjekt der kapitalistischen Konkurrenz, der Privatwillkür hinaus: „Vor allem konstatieren wir die Tatsache, dass die sogenannten Menschenrechte, die droits de l'homme im Unterschied von den droits du citoyen, nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen. (…) Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ Statt der Eigentumsfreiheit gilt es, die Freiheit vom Eigentum, statt der Religionsfreiheit, die Freiheit von Religion zu garantieren. Die bloß partiell politische Befreiung muss in Richtung auf die soziale Emanzipation fortgeführt werden.[5]

Marx und Engels erkennen 1875, aus Anlass des Vereinigungsparteitages der deutschen Sozialdemokratie in Gotha, dass die Arbeiter ihre Alltagskämpfe (Lohnstreiks, sozialrechtliche Verbesserungen, Arbeitszeitverkürzung etc.) notwendigerweise auch gebunden an das (Vertrags-) Recht der bürgerlichen Warenproduktion führen müssen. Sie erkennen, dass die kapitalistische Lohnarbeit an den „Austausch von Warenäquivalenten“ gebunden ist. Trotzdem kritisieren sie, dass das Programm nicht über den „engen bürgerlichen Rechtshorizont“ hinausweist und sich im politischen Teil fast nur bürgerlich demokratische und liberale Staatsvorstellungen zu eigen macht. Im Programm finden sich nach Marx haltlose Phrasen von „gerechter“ Verteilung oder der lassalleanisch angeleitete Ruf nach dem „unverkürzten Arbeitsertrag“. Die sozialen „Gerechtigkeits“-Forderungen bewegen sich – teils notwendigerweise – in bürgerlichem Rechtsrahmen, „gleiches Recht“ trotz ungleicher gesellschaftlicher Verhältnisse verlangend, dabei eben übersehend, dass „dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet“ ist: „Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht.“[6]

Ernst Bloch führt grundlegende Differenzen zwischen Naturrecht und historischem Materialismus an. Im Abschnitt „Illusionen im bürgerlichen Naturrecht“ erklärt er es für

„nicht haltbar ist, dass der Mensch von Geburt an frei und gleich sei. Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden.“ (NW 215)

Auch der unhistorische Eigentumsbegriff, die Stilisierung des bürgerlichen Eigentums an Produktionsmitteln zur ewigen Kategorie trennt den Marxismus vom Naturrecht: „Nicht haltbar ist selbstverständlich, dass das Eigentum zu den unveräußerlichen Rechten gehöre. Es entstand erst im Gefolge der Arbeitsteilung, als Verfügung über fremde Arbeitskraft und ihre Produkte. Es wurde in seiner ganzen Schärfe auch in der Klassengesellschaft erst allmählich ausgebildet; das Privateigentum an Produktionsmitteln blieb lange irregulär. Die Geschichte zeigt vielmehr Gemeineigentum als die ursprüngliche Form; sie hat sich im Gemeindeeigentum (Allmende, russische Mir-Verfassung) lange erhalten.“

Rousseaus Auffassung vom kleinen gleichmäßig verteilten Eigentum als „Schild gegen Unfreiheit“ hat sich angesichts der Dynamik der kapitalistischen Produktivkräfte als „kleinbürgerlicher Traum“ erwiesen: „Sofern das Naturrecht seinen Freiheitsschild aus dem Lager des Privatrechts bezog, war es dem Privateigentum verfallen und blieb individualistisch.“

Bloch sieht auch einen tiefen Graben zur kontraktualistischen Sozialphilosophie, also zur naturrechtlichen Theorie vom Gesellschaftsvertrag: „Hierbei ging es zu wie auf dem Rütli oder später in einem nordamerikanischen General-Store, wenn der Major oder Sheriff der neuen Siedlung durch Mehrheit gewählt wurde. (…) Erst der Kapitalismus eben, mit der vertraglichen Gestaltung aller Verhältnisse, anstatt der familiären und patriarchalischen Beziehung, brachte die Herrschaft der rationalen Verbindlichkeit, als einer zwischen Warenbesitzern, als Bedingung zur ununterbrochenen Wertzirkulation (Ware – Geld – Ware). So ist auch der Contrat social, wie er in der Urzeit rückdatiert wurde, durchaus rational, nämlich als Rechtsverhältnis zwischen freien Konkurrenten konstruiert.“

Aus marxistischer Sicht unhaltbar ist auch „die Konstruktion a priori aus reinem Verstand“, als „Fiktion einer lückenlosen Ableitung der Rechtsnormen aus einem juristischen Zweckprinzip (Geselligkeit, Sicherheit oder möglichst große individuelle Freiheit) ante rem. Der Ehrgeiz der Konstruktion a priori stammt aus der neueren Mathematik; sein Ideal, wie bemerkt, ein abstrakt-rationales Beziehungssystem, das aus wenigen Grundbegriffen alles Erscheinende – unabhängig von seiner sachlich-materiellen Differenzierung – ableitete und auskalkulierte. Den Auftrag hierzu gab das kapitalistische Bedürfnis nach einer abstrakt berechenbaren, homogenen und tunlichst quantifizierten Welt. Kants Vernunftkritik brachte diesen Konstruktionen die erste Erschütterung, Hegels Dialektik (als Historismus, Qualifizierung des Begriffs) die zweite.“ Karl Marx liefert mit seiner historisch materialistischen Betrachtungsweise die entscheidende dritte Erschütterung!

Unhaltbar sind auch vernunftrechtliche Annahmen von einer statischen – je nach dem optimistisch, pessimistisch oder agnostisch eingeschätzten Menschennatur, „bei Hobbes als ursprünglich böse, bei Rousseau die ursprünglich gute“, wogegen Marx in den „Feuerbach-Thesen“ das menschliche Wesen zum „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ erklärt: „Dem Marxismus gilt das Humanum als historisches Ziel, nicht als apriorisches Deduktionsprinzip; es ist das utopische Unvorhandene und Geahnte, nicht das ahistorisch Zugrundeliegende und Erzgewisse.“ (NW 215-219)

Mit dem Erlöschen des bürgerlichen Fortschrittprogramms, der einsetzenden „Zerstörung der Vernunft“ (Georg Lukács) verblasst auch die natur- und vernunftrechtliche Hoffnung. Der „Widerspruch zwischen bürgerlichem Ideal und bürgerlicher Wirklichkeit“ wird spätestens nach der Revolution von 1848 unüberbrückbar und als Widerspruch zwischen der ursprünglichen „heroischen Selbsttäuschung, die zur Hervorbringung der kapitalistischen Gesellschaft notwendig war“, und der Realität kapitalistischer Ausbeutung offenkundig: Nun „ist der Widerspruch zwischen den humanistischen Idealen des revolutionären Bürgertums und der Arbeitsteilung, Öde, Mechanisierung des kapitalistisch perfekten Daseins [unübersehbar]. Lebhaft und durchdringend wahr erscheint dieser Kontrast bei Hölderlin; sentimental, nämlich als Weltschmerz und romantischer Pessimismus erscheint er bei Byron, Leopardi und bereits bei Schiller; als bürgerlicher Don Quichottismus (…).“ (NW 223f.)

Trotzdem schließt Bloch, dass die marxistische Theorie nicht nur auf das Erbe der utopischen Sozialisten, sondern auch auf jenes des Naturrechts zurückgreifen soll. Auch wenn sich eben viele Naturrechtshoffnungen – so Friedrich Engels 1880 in „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ – als trügerische „Bourgeoisideale“ entpuppen, auch wenn also offenkundig wird, dass „das Reich der Vernunft“ im Rahmen der bürgerlichen Aufklärung „nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie, dass die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz, dass die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz“, und dass sich hinter der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution nur das bürgerliche Recht auf Eigentum und ungehinderten freien Erwerb verbarg, hält es Ernst Bloch für wichtig, das aufgeklärte Naturrechtserbe für die Arbeiterklasse zu retten.[7]

Nach Bloch, der auch das von Johann Jakob Bachofen oder Lewis H. Morgan wieder entdeckte, für Friedrich Engels wichtige Mutterrechts-Erbe würdigt, (NW 115-139) bleibt das Naturrecht wegen seiner Vorwegnahme gesellschaftlicher Emanzipation für die sozialistische Tradition relevant, wenngleich als der passiv strenge, logisch deduzierende Begleiter der Sozialutopien: „An der Wiege des Marxismus stand also nicht nur die ökonomische Parteilichkeit für die Mühseligen und Beladenen, sondern doch auch die naturrechtliche für die Erniedrigten und Beleidigten – als Parteilichkeit, die sich auf den Kampf menschlicher Würde, auf solch konstitutives Erbe aus dem klassischen Naturrecht, versteht (…). Das klassische Naturrecht hatte seine individualistisch demokratischen Züge gewiss eng mit dem (damals progressiven) Privateigentum an Produktionsmitteln verbunden, folglich auch mit Prävalenz des Privatrechts überall. (...) Aber wenn eben Marx sich contra historische Rechtsschule à la Hugo auf Kant bezog, so bezog sich das auf das humanistische Anliegen von Althus bis Rousseau desgleichen, mit einem ‚realen Humanismus‘ im Sinn, um deswillen doch die ganze spätere ökonomisch fundierende Arbeit geschah.“ (NW 213f.)

Das Inventar des klassischen Naturrechts des 17./18. Jahrhunderts wird nach Bloch auch in der herannahenden sozialistischen Gesellschaft nicht museal: „Als letzte Quintessenz des klassischen Naturrechts, ohne das andere Beiwerk, bleibt allemal das Postulat menschlicher Würde; auch der Mensch, nicht nur seine Klasse hat, wie Brecht sagt, nicht gern den Stiefel im Gesicht, und das Bleibende am Naturrecht gab dieser Abneigung, einer schon seit Spartacus revolutionären, begriffliches, ob auch noch abstraktes Format.“ (NW 232)

 

Die Ambivalenz des Naturrechts seit der Antike, seit Thomas von Aquin, seit Hugo Grotius

Ein Blick auf das antike Naturrecht zeigt Bloch aber auch, dass dieses entgegen aller Versprechungen auf die Gleichheit der Menschen keines für einen Spartacus war: „Kein Sophist, kaum ein Stoiker, hat seinen Sklaven entlassen, weil das Naturrecht der Sklaverei widerspricht. Dass alle Menschen frei geboren sind, diese Überzeugung lag dem römischen Recht zugrunde, doch der Aufbau selber sah anders aus. In die Digesten ist eine Stelle Ulpians aufgenommen, die dem Naturrecht nach alle Menschen für frei und gleich erklärt, um im nächsten Satz die Sklaverei als ein Institut des Zivilrechts zu entwickeln.“ Einem Spartacus – so Bloch – half dies nichts! (NW 50)

Bloch sieht, dass das Naturrecht eines Thomas von Aquin vorrangig ein hierarchisch-ordnendes ist, eines, das vor allem der lehensherrschaftlichen und klerikalen Obrigkeit zugutekommt. Thomas gesteht kein Widerstandsrecht zu – kaum einmal gegen den gottlosen Tyrannen. Gerechtigkeit war bei Thomas „synonym mit befolgter Gesetzlichkeit“. Sie trägt ein „gönnerisches, ein patriarchalisches Wesen“. Die Gerechtigkeitsidee des Thomas mag der Landfriedensbewegung nützlich gewesen, sie war aber auch Stütze der Feudalordnung, der sozialen Ungleichheit: „Sie fordert freilich auch standesgemäße Unterscheidung der Lebenshaltung. Sie fordert soziale Gliederung auf Grund einer – sogar schon im Paradies, wie sehr erst im Sündenstand vorhandenen – natürlichen Ungleichheit und legitimiert aus ihr die Arbeitsteilung vom Holzhacker bis zum Fürsten.“ (NW 48, 51, 56f.)[8]

Martin Luthers am Dekalog, nicht am Evangelium orientiertes Naturrecht gilt Bloch als „gezielter Gegensatz“ zum Naturrecht der Sekten“, zur „sozialrevolutionäre Lust zum Urstand“, als Legitimierung von Herrschaft und Unterdrückung: „Gewiss, auch die Suprematie der Kirche musste weg, der bürgerlich-monarchische Obrigkeitsstaat brauchte Platz, doch mit der grundsätzlichen Staatsdefinition des Thomas (poena et remedium peccati) vertrug sich Luther so gut, dass er sie übernahm. Ganz anders aber stand es mit der Naturrechtslehre der Täufer, mit dem endlich revolutionären Lichtpunkt eines unverklausulierten Urstands. Die Täufer strichen die Unterscheidung eines Naturrechts im Sündenstand (das nach Lage der Dinge ausschließlich Klassenstaats-Ideologie sein konnte) und eines absoluten. Sie erkannten lediglich absolutes Naturrecht an, ohne Kompromisse, ohne die Rente, welche der Sündenfall der Herrenschicht abwarf, vor allem ohne Trennung zwischen Naturrecht und Evangelium.“ Luther hingegen sieht in den Untertanen nur Sünder, sodass die Staatsgewalt ausschließlich der Repression dient: „Es erscheint auf diese Weise ein Naturrecht der Unterdrückung, einer Gewaltstaats-Omnipotenz, (…).“ Luthers Naturrecht erscheint als ein gegen die Taglöhner, Dienstboten, Leibeigenen gerichtetes Recht des göttlichen Zorns: „Schrankenloses Dulden, hier schienen [Luther] Naturrecht und Evangelium durchaus verträglich: ‚Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht und kein anderes.‘ Alle andere Frohbotschaft an die Mühseligen und Beladenen, an die Erniedrigten und Beleidigten lief in die Inwendigkeit, hielt sich dort so unsichtbar wie möglich.“ (NW 42-44)

Im calvinistischen Naturrecht erkennt Bloch – gleich Max Weber – eine Theorie der kommenden Warenwirtschaft. Calvin zielt auf ein Naturrecht, „das sich auf Handel und Wandel verstand. Auf zähen Fleiß dazu, auf methodisch rationalisierte Arbeit, auf Vermehrung der Güter. Derart hatte Calvin die begonnene kapitalistische Entwicklung auch theologisch freigelegt; Sparsamkeit, Zurückgezogenheit, Genussfeindschaft beförderten erst recht einen Typus, der nicht erst vom Citoyen zum Bourgeois herabfallen musste. Er war von vornherein in dem ‚Rentmeister Gottes‘ angelegt, als den sich der Puritaner betrachtete; nach anfänglichen Schwankungen wurde so das Zinsgeschäft christianisiert. Das Heiligungsstreben seiner selbst und seiner Staatsgemeinde enthielt nicht nur die Befugnis, sondern die Pflicht, ad majorem gloriam Dei Besitz zu erwerben.“ Bei Calvin „ist nirgends die Rede von einer Abwandlung der ursprünglichen Gütergleichheit zum Privateigentum; dieses erscheint vielmehr von Anfang an als Stiftung Gottes. Gott ist im Naturrecht der Sündhaftigkeit wie auch im Urstand wie auch im Evangelium der Obereigentümer; Kommunismus ist für Calvin praktischer wie theologischer Nonsens. Das also sind die rein kapitalistischen Züge in Calvins Naturrecht (…).“ (NW 45-49)

Ernst Bloch verfolgt die divergierenden, zwischen Herrschafts- und Unterdrückungs-Legitimation bzw. Widerstandsrecht schwankenden Strömungen im jesuitischen, im katholisch scholastischen Naturrecht der gegenreformatorischen Periode, die Begründung eines friedenserhaltenden Völkerrechts (bei Francisco Suarez), die Widersprüche etwa bei den Jesuiten Roberto Bellarmin und Juan Mariana, bei denen sich der Gedanke der Volkssouveränität findet: Die Fürsten haben das Recht vom Volk, das sein Mandat jederzeit zurücknehmen, die Tyrannen vernichten kann. Auf der anderen Seite: scholastisches Naturrecht, das die Sklaverei der spanischen Kolonialherren rechtfertigt, während Nebenströmungen die Ausbeutung durch die spanischen Conquistadoren kritisieren. (NW 49)[9]

Blochs Beobachtungen zur Ambivalenz, zur Widersprüchlichkeit des Naturrechts ähneln hierin jenen von Hans Kelsen, der 1928 davon spricht, dass dem Naturrecht in denunziatorisch restaurativer Absicht, wenngleich fälschlich, ausschließlich „revolutionärer Charakter“ zugesprochen wird, wie dies Friedrich Julius Stahl mit Blick auf die Wirkung von Rousseaus Gesellschaftsvertrag Richtung der Französischen Revolution beklagte. In Wirklichkeit hat die Naturrechtstheorie aber eigentlich – so Kelsen – viel nachhaltiger konservativ Thron und Altar gedient, ehe sie im gegenrevolutionären Nachthermidor von der historischen Rechtsschule verdrängt werden sollte.[10]

Auch das klassische Naturrecht der (Früh-) Aufklärung, der heraufziehenden bürgerlichen Moderne interpretiert Ernst Bloch als ein zwischen Volkssouveränität, gelegentlich sogar demokratischen Volksrechten einerseits und Stabilisierung des fürstlichen Absolutismus schwankendes Gedankengebäude, so legitimiert etwa Christian Wolffs Vernunftrecht den merkantilistischen Polizeistaat. Die kontraktualistischen Theorien gelten Bloch als Ausdruck des bürgerlich fortschrittlichen Klassenbewusstseins: „Das klassische Naturrecht ist die Ideologie der individuellen Wirtschaft und des kapitalistischen Warenverkehrs, als welcher Kalkulierbarkeit braucht, mithin formelle Gleichheit und Allgemeinheit des Gesetzes, statt des buntscheckigen Privilegienrechts aus dem Mittelalter. Derart leuchtete auch der Vertrag, das hauptsächliche Rechtsverhältnis zwischen Warenbesitzern, als Ursprung des Staates besonders ein, des Staats als eines bloßen Zweckverbands zur Garantie bürgerlicher Sicherheit. Mit großartiger Fiktion wurde das Zivilverhältnis in seiner modernsten Form zur Urzeit rückdatiert: eine Generalversammlung, nicht Gott hat die Obrigkeit betraut.“ (NW 69)

Das Naturrecht des sich gegen den Feudalismus formierenden Bürgertums konnte sich noch in heroischer Gestik, in idealistischen Illusionen wiegen: „Die ursprüngliche Güte der Menschennatur ist solch eine Illusion, auch die Harmonie privatwirtschaftlicher Interessen [Adam Smith! – Anm.], wie sie dem Ideal Brüderlichkeit Schönes, Wahres, Gutes beizusteuern schien.“ Marx und Engels hingegen lehnen das Ideal ab. Sie sagen 1845/46 „in der ‚Deutschen Ideologie‘ gegen dies Sollen: ‚Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.‘ Und noch entschiedener [1870/71] im ‚Bürgerkrieg in Frankreich‘ (fast zu entschieden): ‚Die Arbeiterklasse hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoss der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.‘“ (NW 225)
Das Naturrecht galt von Gegner- und Befürworter-Seite aus als „Rechtsutopie“. Von mancher Seite – so von den Positivisten – wurde den Grotius und Hobbes vorgeworfen, das Naturrecht „sei nichts anderes als das positive Gesetz ihrer Zeit, mit einigen subjektiv-idealen Zusätzen verbrämt. Was ist es also mit dem utopischen Charakter des Naturrechts, unter seinen großen Vertretern; haben diese mit den eigentlichen Sozialutopien ihrer Zeit einen Zusammenhang?“

Ist das Naturrecht schlussendlich nicht doch nur ein Instrument bürgerlicher Rechtstheorie, Rechtstechnik, instrumenteller Rationalität einer heraufziehenden kapitalistischen Warenwirtschaft?

Bloch ist nicht so pessimistisch: „Trotzdem bestehen auch wesentliche Unterschiede und nicht nur Verwandtschaften zwischen Naturrecht, besonders dem klassisch-rationalen, und Sozialutopien. (…) Sofern die Naturrechtler von Grotius bis Pufendorf ungefähr parallel zu den Klassikern der bürgerlichen politischen Ökonomie auftreten, stehen sie auf dem Boden des fortgeschrittensten bürgerlichen Bewusstseins, formulieren die Forderungen der revolutionären Bourgeoisie offen und konsequent. Es gibt, wenn auch äußerlich, Berührung zwischen klassischem Naturrecht und der physiokratischen Schule in der Ökonomie; das tritt bei Quesnay, dem Begründer dieser Schule, deutlich hervor. Auch mit der Methode Adam Smiths wirkte ein Zusammenhang: Abstraktionen wie der homo oeconomicus, die Harmonie der Interessen, die deduzierende Methode der ‚richtigen Volkswirtschaft‘ (zum Unterschied von der feudalen Misswirtschaft) stammten aus dem Naturrecht.“

Die sozialistischen Utopien (Fourier, St. Simon, Owen) tauchen nicht zufällig erst in nachrevolutionärer Zeit auf, als „das Bürgertum den Verstandes-Optimismus bereits abgelegt hatte. Es hatte ihn abgelegt, teils im Gefolge der beginnenden Krisen (ökonomisch: Sismondis Krisentheorie, ideologisch: Kants Vernunftkritik), teils in Einklang mit den späteren konstruktionsfeindlichen Reaktionen, mit dem Rückgang auf Gewachsenheit, Angestammtheit, Gewordenheit (Traditionalisten in Frankreich, historische Schule in Deutschland).“ (NW 233f.)

Bloch beobachtet, dass selbst die der historischen Rechtsschule anhängenden Rechtspositivisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die das Naturrecht von Grotius bis Fichte nur als „Träume des Verstands“, als ein rechtsmoralisches „Besserwissenwollen des Subjekts“ bezüglich idealer Gesellschaftszustände abtun, diesem große Reformverdienste zurechnen mussten, so 1892 sogar Karl Bergbohm, einer der „verbohrtesten“ Stürmer gegen das Naturrecht: „‘Es rüttelte an der Leibeigenschaft und Hörigkeit und drang auf die Entlastung von Grund und Boden; es entfesselte die durch den Zwang eines verknöcherten Zunftwesens und unsinnige Handelsbeschränkungen gebundenen Erwerbskräfte, … erzielte die Freiheit des religiösen Bekenntnisses wie die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre. Es half die Folter beseitigen und den Strafprozess in die geordneten Bahnen eines gesetzmäßigen Verfahrens lenken.‘ ([Bergbohm,] Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I, 1892, S. 215). Muss sogar ein solch blinder Verächter des Naturrechts dessen Verdienste um die bürgerliche Rechtsordnung auf solche Weise preisen, dann kann das Naturrecht nicht das positive Recht seiner Zeit gewesen sein, bloß verbrämt mit subjektiv-postulativen Zusätzen.“ (NW 212)[11]

 

Fortschrittliches Naturrechtserbe: Thomasius, Rousseau, Kant, Fichte, P.J.A. Feuerbach, Hegel

So würdigt Ernst Bloch 1953 allen voran Christian Thomasius, der im Anschluss an Hugo Grotius, aber auch an Thomas Hobbes das Naturrecht weiter von der Theologie, vom „übernatürlichen, gar Kirchenlicht“ gelöst hat: „Es war Thomasius [Fundamenta iuris naturae et gentium, 1705] ein wahrer Begrenzer der Staatsgewalt, soll heißen: des objektiven Rechts zugunsten des subjektiven Rechts (mindestens im Gebiet der Glaubens- und Gewissensfreiheit).“ (NW 66)

Christian Thomasius erschüttert das jeder Vernunft bare, fürstliche Gottesgnadentum – ohne dass er einen Blick für die Volkssouveränität gehabt hätte. Thomasius denkt die konfessionelle Toleranz voraus. Er überbrückt die Differenz von Sozialutopie und Naturrecht, indem er auch das Glück in das Naturrecht integriert: Wie steht Thomasius‘ Denken im Verhältnis zu jenem von Kant mit seiner „preußisch kargen wie pietistisch-mönchischen Trennung von Neigung und Pflicht, also von eudämonistischer Moral (die nur ‚Ratschläge der Klugheit‘ gäbe) und dem Sittengesetz schlechthin (das unter allen Umständen gebiete, unhypothetisch, kategorisch)“, da?

Bloch erklärt Thomasius zum Vorläufer von Paul Johann Anselm Feuerbach. Thomasius hat das Recht entdämonisiert. Er hatte gegen die Strafrechts-Rohheit, gegen die Folter, gegen die Barbarei der Hexenprozesse mobilgemacht. Die Strafprozessordnung soll der auf die Sicherung Eigentumsverhältnisse abzielenden Zivilprozessordnung gleichgestellt werden, jenes Strafrecht, das ja ohnedies im Grund nur auf die Besitzlosen, verelendet Deklassierten, Vagabundierenden, Entgleisten, von der Scholle vertriebene Bauern abzielte: „Thomasius aber drang darauf, dass die Beweismittel des Strafprozesses endlich denen des Zivilprozesses gleichen; der Grundsatz: confessio regina probationis sei demgemäß durch gründliche Untersuchung mindestens zu ergänzen. (…) 1705 ließ Thomasius in einer Disputation die Folter als eine Schmach christlicher Staaten bezeichnen, 1708 ließ er durch einen seiner Schüler die Schrift herausgeben: ‚Über die Verbannung der Tortur aus dem Gericht der Christen‘.“ (NW 338-342)

In Rousseaus Contrat Social mit seinem radikalen Prinzip der Volkssouveränität, mit seiner Eliminierung aller Elemente von individueller Unterwerfung sieht Bloch die bürgerliche Naturrechtslehre revolutionär vollendet. Der „Contrat Social“ (1762) „wurde so die Bibel der Jakobiner“: „Wurde es wegen des Gesangs der Freiheit, die hier, als eine unveräußerliche, das Naturrecht durchdringt. Es war eine revolutionäre Tat, als Rousseau den Herrschaftsvertrag nun vollständig, weit über Grotius hinaus, aus dem Gesellschaftsvertrag strich; Rousseaus Contrat Social enthält nirgends mehr ursprüngliche Unterwerfung. Absolute Unveräußerlichkeit der Person – das ist das Novum, das Rousseau dem klassischen Naturrecht hinzugebracht hat. Das Problem des Naturrechts war für Rousseau schlechthin: eine Form zu finden, worin die individuelle Freiheit auf gar keine Weise abgedankt werden kann (…). Als Lösung dieses wahrhaft schwierigen Problems bietet Rousseau erstens die Freiwilligkeit, womit das Individuum in den Gesellschafts-Kontrakt eintritt, zweitens die Unmittelbarkeit, womit das Individuum sich an die gesamte, es mit umfassende Gemeinsamkeit mitteilt, also nicht entäußert. Die Person übergibt sich keiner wie immer gearteten Repräsentation, keinem Fürsten, keiner aristokratischen Körperschaft, auch keinem Parlament, sondern einzig der volonté générale. (…) Hierbei, meint Rousseau, entäußert sich das Subjekt seiner Freiheit nicht, indem es ja selber ein gleicher Teil des generellen Willens bleibt. (…) Zum ersten Mal tritt damit das Naturrecht einer Volkssouveränität ausschließlich auf den Plan; Volk ohne Unterschiede soll erscheinen, entscheiden. (…) Als der Freiheit nicht von [Hobbes‘schen] Wölfen, sondern von ursprünglich guten Menschen, die erst durch die Klassenteilung und ihr Anti-Naturrecht zum bellum omnium contra omnes gebracht worden sind.“

Ernst Bloch erklärt Rousseau zum „Vollender des klassischen Naturrechts“, der nicht nur die Revolution, sondern auch die beständige Kontrolle ihrer Errungenschaften durch das Volk lehrte. Ohne Rousseaus „Arbeit wäre nicht einmal die Abwesenheit realer Freiheit, realer Gleichheit expressis verbis feststellbar.“

Dem Denken der bürgerlichen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entspricht aber auch, dass Rousseau das Privateigentum zu den Menschenrechten zählt. Rousseau hält an einem idealisierten „kleinen“ Privateigentum fest, in dem er lange vor voll entwickelter kapitalistischer Akkumulation und Konzentration illusionärer Weise noch keine antiegalitäre Gefahr gesehen hat. Rousseau nimmt damit auch die Widersprüche der jakobinischen Revolutionspolitik um Robespierre, mit ihrer Abneigung gegen die Forderungen der plebejischen Sansculotten (u.a. Höchstpreise, Mindestlöhne) vorweg. Rousseaus Erbe ist hochzuschätzen, so Bloch, auch wenn selbst diese „hohe Zeit des Naturrechts“ eine gesellschaftlich täuschende war, „denn aus dem Citoyen kam der Bourgeois“, dennoch: „Dieses Licht von 1789 steht durchaus, es kann gleich der dem Citoyen so nahe verwandten neunten Symphonie nicht mehr zurückgenommen werden.“ (NW 76-81)[12]

Immanuel Kants „Naturrecht ohne Natur“, Kants erkenntniskritischer Wandel des Naturrechts zum Vernunftrecht, seine Kritik an den pseudorationalen Deduktionen im Rechtsdenken (von Christian Wolff), an den scheinbar mathematischen, in Wirklichkeit metaphysischen Konstruktionen des rationalistischen Naturrechts, an den more geometrico versuchten „Herleitungen aller Rechtssätze aus wenigen oder gar nur einem materialen Rechtsprinzip liegt durchaus in der Linie von Rousseaus „volonté générale“: „Erst Kants Kritizismus hat den Erkenntniswert einer synthetischen Konstruktion a priori auf historisch-materialem Feld vernichtet – ohne selbst seinerseits auf Vernunftrecht zu verzichten.“ Kant gilt der Gesellschaftskontrakt als regulative Idee. (NW 71)[13]

Bloch folgt der Auffassung des jungen Karl Marx, wonach Kants Philosophie als „die deutsche Theorie der französischen Revolution zu betrachten“ ist, auch wenn Kant subjektiv die terroristische Verteidigung der Revolution ablehnt: „Und doch zeigt Kant ‚eine starke Beimengung von Enthusiasmus‘ für die Französische Revolution (außer jenem ihrer Widerstandsakte, der in der Hinrichtung des Königs – dem ‚crimen immortale, inexpiable‘ – sich übertroffen hatte).“

Kants Verhalten zum Ideal der Volkssouveränität, die er nicht aus Untertanensicht, sondern aus Perspektive der Herrschaft betrachtet, aber auch Kants Anmerkungen zum Strafrecht, wo er die Vergeltungsstrafe verfochten hat, zeigt ihn auch rückschrittlich in Widersprüchen gefangen. Kant lehnt das Widerstandsrecht ab, selbst das Notrecht gegen den Fürsten gilt ihm als unstatthaft: „Kant bestreitet das Widerstandsrecht, verneint es selbst einer satanischen Obrigkeit gegenüber. Die Idee des Staatsvertrages: dass nämlich jeder Gesetzgeber seine Gesetze so zu geben habe, als sie aus dem vereinten Willen eines ganzen Volkes hätten entspringen können – gilt nur ‚für das Urteil des Gesetzgebers, nicht des Untertans.‘ Das alles, obwohl Kants Rechtslehre, ganz im Sinn Rousseaus, versichert, dass das Volk der einzige Gesetzgeber sei und der Fürst bloß Exekutor; doch wenige Seiten später wird, in vollem Widerspruch, der Fürst als Gesetzgeber eingeführt und sogar Notrecht gegen ihn unstatthaft. ‚Also ist die Freiheit der Feder‘ (und auch diese nur in den Schranken der Verfassung, worin man lebt) ‚das einzige Palladium der Volksrechte‘.“

Nichtsdestotrotz verwirft Immanuel Kant fortschrittlich jeden Versuch einer naturrechtlichen Legitimation des (aufgeklärten) Absolutismus, jede Rechtfertigung drückender Feudalrechte: „Desgleichen hält Kants Naturrecht bemerkenswerten Abstand von dem aufgeklärten Absolutismus, der in der Wolffschen Schule ex ratione deduziert worden war und tatsächlich eine deutsche Form der Aufklärung ausmachte. Der Untertan Friedrich II. aber deduziert aus Vernunftprinzipien keineswegs den preußischen Staat, lehnt das ‚Naturmodell‘ der patria potestas ab. (…). Derart wirft Kant Institute wie das Lehnrecht, auch die Kirchenverfassung, die das korrumpierte ‚Naturrecht‘ der Wolffschen Schule noch erhalten hatte, völlig aus der Rechtsdeduktion. Aufklärung verträgt keine wie immer geartete Diktatur, sie ist ‚Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit‘“. (NW 82f.)

Konsequenter erscheint Ernst Bloch Johann Gottlieb Fichtes Kritik der „Unvernunft der vorhandenen Staatsverfassung“. Bloch bemerkt Fichtes (früh-) sozialistische Forderungen, allein „gefordert durch das Rechtsgesetz“. Fichte, der Kants transzendentalen Kritizismus verschärft, rechnet mit den Mitteln der „reinen Vernunft“ mit der ideologisch verklärten freien Konkurrenz, mit der vermeintlichen „Harmonie der Interessen“ (eines Adam Smith), mit deren Übelständen und deren krisenhafter Entwicklung - Absatzstockungen, Massenarbeitslosigkeit – schon zu einem Zeitpunkt ab, als es noch gar kein industrielles Massenproletariat gab. Fichtes „Staatssozialismus“, der in vielem an Fouriers utopischen Sozialismus heranreicht, ist nach Bloch weder als verdeckter preußischer „Schollenpatriotismus“ noch als Idealisierung des friderizianischen Staates zu verstehen.

Fichte, der, hätte er in Frankreich gelebt, offener Jakobiner gewesen wäre, „ist dergestalt mitnichten ein ökonomischer, ein Freund des freien Spiels der Kräfte, des Manchesterprinzips und der harmonischen Prosperität, die letzthin angeblich aus ihm fließt. Fichte mag ökonomisch noch so naiv gewesen sein, aber auch ohne dass man ihm Liebe zur Manufaktur nachzusagen braucht, so glaubt er nicht an ein Parallelogramm der individual-kapitalistischen Kräfte: ‚Zu sagen, das wird sich alles schon von selbst geben, jeder wird immer Arbeit und Brot finden, und es nun auf dieses gute Glück ankommen zu lassen, ist einer durchaus rechtlichen Verfassung nicht anständig.‘“ (NW 90)

Fichtes geschlossener Handelsstaat ist kein repressives Zwangsregime, sondern ein staatssozialistischer Entwurf, der der „Ungedrücktheit und Entwicklung aller“ dient, so Bloch schon im „Prinzip Hoffnung“: „Ist es doch die Not, welche am meisten würdelos ducken lässt. (…) Wie also, wenn vor allem Rechtens wäre, dass jeder Mensch so angenehm lebt wie möglich? Wenn richtiges Recht gerade auch auf Glück angewendet würde und auf sein hungerndes Gegenteil? (…) Ja auf sozialistisches Glück, ohne jene Abart von Männerstolz, die im Naturrecht, unter anderem, freies Unternehmertum bekleidet hatte. (…) Und der Staat wird nicht als Schützer des Eigentums vorgestellt, das er in ungleicher Verteilung vorfindet, und belässt, sondern umgekehrt, es wird ‚Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst einzusetzen, und sodann erst ihn dabei zu schützen.‘ So gingen hier Deduktion aus reinen Rechtsgrundsätzen und soziale Utopie ineinander, mit früher Absicht, beides zu vereinigen.“[14]

In der Erbe-Linie marxistischer Naturrechtsaneignung steht für Ernst Bloch mit dem Strafrechtsreformer Paul Johann Anselm Feuerbach noch eine weiterer „Antipode Savignys“. Feuerbach sieht trotz seines Interesses für die vergleichende historische Forschung das Vernunftrecht durch die Romantik nicht widerlegt. Feuerbach sprach „seiner Zeit, als einer, die die Aufklärung in sich haben sollte, den Beruf zur vernunftrechtlichen Gesetzgebung nicht ab. Gerade die entsetzlichsten Rechtsaltertümer hatte er im Strafrecht vor sich, als seinem engeren Fach; er sah Tortur und Rad nicht dadurch geheiligt, dass sie angestammt oder auch mythisch waren. Feuerbachs wunderbar geschriebene ‚Darstellung merkwürdiger Verbrechen‘ zeigt psychologisches, fast soziales Verständnis für die Opfer des Gesetzes.“

Feuerbach hat als Initiator des „Strafgesetzbuches für das Königreich Bayern“ von 1813 „die Gesichtspunkte der Aufklärung ins peinliche Recht eingebracht. Seine ‚Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des peinlichen Rechts‘, 1800, enthält heute noch die beste Einführung in die strafrechtliche Prinzipienlehre des Liberalismus (Abschaffung der standesgemäßen Strafe, der Vergeltungsstrafe). Das Strafgesetzbuch wurde hier nicht nur zur Quelle, sondern auch zur Schranke der Strafe, es schützte den Staat nicht nur vor dem Verbrecher, sondern – durch das genaue Maß der Strafbestimmungen, durch den Grundsatz nulla poena sine lege – den Verbrecher vorm Staat. Der mythische Charakter der Strafe verschwand, sie verschwand als Brandmarkung, erschien als Schutzmaßnahme der bestehenden Gesellschaft. Strafe ist weder moralische Vergeltung noch religiöse Sühne, sie wird (was dem klassischen Naturrecht noch nicht gelungen war) säkularisiert.“

Schon 1796 hatte Feuerbach – von Bloch in eine Reihe mit Cesare Beccaria, dem italienischen Gegner der Todesstrafe gestellt – in seiner „Kritik des natürlichen Rechts“ eine autonome subjektive Freiheitssphäre festgeschrieben und „in einer bis heute unerhörten und unbenutzten Kühnheit das Recht als Summe von – Rechten, nicht von Verboten“, von Ansprüchen auf Leben, Sicherheit und Freiheit definiert. Feuerbach trennt die Moral vom Recht: „Der Staat ist kein Richter über Moral, auch kein Schutzherr der Religion; Moral wie Religion werden zur Privatsache. (…) Von daher eben der merkwürdige, der großartige Satz: ‚Moral ist die Wissenschaft der Pflichten, Naturrecht die Wissenschaft der – Rechte.“ Sozialistisches Rechtsdenken soll – so kann Bloch gedeutet werden – auf Feuerbach zurückgreifen und nicht auf das keineswegs klassenneutrale, nur zu oft auf den deklassiert proletarischen „Slumverbrecher“ abzielende kriminalsoziologische Reformwerk eines Franz Liszt. (NW 106-108, 295-297)

Über allem zählt Ernst Bloch Hegels Rechtsphilosophie trotz ihres reaktionären Grundzuges zum sozialistischen Naturrechtserbe, jenes Hegel, der früh sowohl die unhistorisch apriorischen Naturrechtskonstruktionen und das Kantsche „absolute Setzen der Vernunft“ als auch Savignys „gedankenlosen“ Historismus abgelehnt hatte und damit gegen die Trennung von Vernunft und Geschichte aufgetreten war, jenes Hegel, der schon jene die bürgerliche Gesellschaft sprengende Dialektik von massenhafter Armut – vom Herabsinken der breiten Massen auf ein elendes Subsistenzniveau – und von grenzenlos akkumuliertem Reichtum auf der anderen Seite erkannt hatte.

Wenn Hegel als (angeblicher) preußischer Staatsphilosoph das staatshaft Vernünftige als höchste politische Freiheit ausgab, dann hatte er nicht das Preußen der Restauration, sondern jenes kurzlebige der Stein-Hardenbergschen Reformen im Blick: „Der Jüngling Hegel, der einen Maibaum pflanzte, das Sympathiezeichen mit der Französischen Revolution, der zeitlebens ein gewisse Verehrung für sie empfunden, entsetzt sich als Mann in vorgerückten Jahren über die Julirevolution. Er findet einen notwendigen Stand in den blauen Husaren, er gibt dem Krieg die Ehre, dass durch ihn ‚die sittliche Gesundheit der Völker gegen das Festhalten der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt.‘ Er rechnet so dem Säbel zu, was nur die Freiheitslosung verdient, er verteidigt den Grund- und Majoritätsadel in Preußen, nennt das Volk ‚denjenigen Teil des Staats, der nicht weiß, was er will.‘ Er lehnt das politische ‚Besserwissenwollen des Subjekts‘ ab, sofern es ihm gleich den Forderungen des Ideals, aus bloßem ‚Brei des Herzens‘ zu kommen scheint, aus privat-abstraktem ‚Herzklopfen für das Wohl der Menschheit.‘“[15]

Für Hegel gilt er Krieg als „ein Sauerteig des öffentlich-rechtlichen Zustandes“, als was er im aufgeklärten Naturrecht weder bei Grotius und schon gar nicht bei Kant gelten konnte: Und „Hegel vergisst nicht zu bemerken, ‚dass glückliche Kriege innere Unruhen verhindert und die innere Staatsmacht befestigt haben‘. (Philosophie des Rechts § 324)“ (NW 148)

Ernst Bloch führt an, dass Hegels auf Vergeltung abstellende Strafrechtstheorie mit ihrem Zynismus von der Todesstrafe als Wiederherstellung der freien Subjektivität des Liquidierten erschreckend wirkt. Wie bei Kant kann Strafe nur als „Wiederherstellung der Freiheit“ des Verbrechers gelten, nie als Zwang (in präventiver Abschreckungs- oder gar Besserungsabsicht) verstanden werden. Der Staat kann nicht zum feilschenden Markthändler degradiert werden, der Strafen „gegen andere Bestimmtheiten“ tausche, wobei ihm „das Gesetzbuch der Preiskurant“ sei: „Die Strafe wird, wie bei Kant, im strengsten Sinn als Vergeltung aufgefasst. Nur von hier aus, nicht von der Abschreckung oder Besserung des Übeltäters, nicht von der Sicherung der Gesellschaft her, kann für Hegel überhaupt ein Recht zur Strafe begründet werden. Denn die Vergeltung ist die Offenbarung und Wiederherstellung des Rechts, als des allgemeinen Willens, gegenüber der Nichtigkeit des besonderen Willens, der sich gegen die Rechtsordnung erhebt. Nur die Vergeltungsstrafe (…) ‚wird dem Verbrecher in seiner Menschenwürde gerecht‘, nur sie erfüllt ihm sein unabdingliches Recht: bestraft zu werden.“

Hegels scheinbares „Anti-Naturrecht“ erscheint Bloch trotz der janusgesichtigen Formulierung „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ ungleich fortschrittlicher als etwa das „pervertierte Naturrecht der Wolffschen Schule“: „Das klassische Naturrecht hatte die mathematische Physik als Muster der Demonstrierbarkeit genommen und als Vorbild einer Vernünftigkeit, die sich eben im positiven Rechtsleben nicht oder kaum fand.“ (NW 144-146)

Die Hegelsche Doppelwendung von Vernunft und Wirklichkeit ist keinesfalls – so Bloch – als Apologie des Status quo zu verstehen: „So sehr sie sich einem bloß subjektiv-idealen Sollen und seinen Forderungen entgegensetzt, einem abstrakten Utopisieren, ‚womit die Reflexion sich aufbläht und gegen die Wirklichkeit und Gegenwart mit einem Jenseits verächtlich tut, welches nur in dem subjektiven Verstande seinen Sitz und Dasein haben soll‘.“ Hegel „kritisiert die orientalische Despotie, die griechische Sklavenwirtschaft, die habsüchtige Kälte und generelle Abstraktheit des römischen Reichs, die Barbarei und die bloße Transzendenz der Innerlichkeit in der mittelalterlichen Welt. (Vgl. Philosophie des Rechts, §§ 355-358).“ (NW 149)

Hegel, der (angebliche) Vormärz-Reaktionär, ist also in erster Linie doch der Gegner von Restaurationsideologen wie Carl Ludwig Haller und Friedrich Julius Stahl: „Und ein echter preußischer Reaktionär, Friedrich Julius Stahl, (…), hasste eben deshalb den Vernunftjuristen Hegel tödlich; der Engländer Burke, diese Leuchte der Tories, dieser, wie Stahl sagt, ‚mächtigste und gediegenste Schriftsteller der Konterrevolution‘, steht dem Reaktionär Stahl weit höher, und er hat ihn gegen Hegels ‚Göttin Vernunft‘ ausgespielt.“

Hegels Rechtsphilosophie doziert neben rückschrittlichen Losungen auch „die Öffentlichkeit der Rechtspflege und das Schwurgericht, die Emanzipation der Juden, die Gleichberechtigung aller Staatsbürger, die administrative Selbständigkeit der Gemeinde, die Volksvertretung“. Hegel steht für die konstitutionelle Monarchie. Der „Monarchist Hegel“ setzt den Monarchen schlussendlich doch völlig herab: „Es ist bei einer vollendeten Organisation nur um die Spitze des formellen Entscheidens zu tun, und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der ja sagt und den Punkt auf das I setzt.“ (VIII, 373).“ Bloch resümierend: „Gottesgnadentum sieht anders drein. In der Tat haben sich alle wirklichen Staats- und Königspfaffen seiner Zeit gegen Hegels ‚Rationalismus‘ gewandt.“

„Gefühl“ „Begeisterung“ in der eigenen Brust, Vernunfthass, Überlieferung, also der gleichsam bewusstlose Volksgeist-Brauch können nach Hegel – gegen die romantisch restaurative Richtung von Hugo und Savigny gerichtet – nie zur „Quelle des Rechts“ gemacht werden: „Ob das, was altes Recht und Verfassung heißt, recht oder schlecht ist, kann nicht aufs Alter ankommen … Man hat oft wiederholt, dass hundert Jahre Unrecht kein Recht machen können – man hätte hinzusetzen sollen: wenn auch das hundertjährige Unrecht diese hundert Jahre lang Recht geheißen hätte. Ferner, dass hundertjähriges und wirkliches positives Recht mit Recht zugrunde geht, wenn die Basis wegfällt, welche die Bedingung seiner Existenz ist.“, so Bloch Hegels „Verhandlungen der württembergischen Landstände“ aus 1815/16 zitierend. Das geschichtliche Entwickeln der Rechtsbegriffe gilt Hegel nur insofern verdienstvoll, als die geschichtliche Erklärung „nicht zur Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung ausgedehnt wird.“ (RPh § 3, VIII, S. 27)“

Hegels „oft reaktionäre, aber nicht in Unvernunft ersterbende Philosophie“ streift nach Bloch in ihrer Summe entscheidend an Rousseaus „Volonté générale“ an. Bei Hegel findet sich die Verdoppelung von egoistischem Bourgeois und von am überhöhten Ideal der griechischen Polis orientierten Citoyen, sowie die ebenfalls entscheidend auf Karl Marx nachwirkende „Spaltung zwischen dem allgemeinen Staatsinteresse und dem wolfshaften, konkurrierenden [gesellschaftlichen] Privatinteresse“: „Weder hat Hegel die Klage seiner Jugend über den Untergang des griechischen Subjekts in der juristischen Person Roms vergessen noch den späteren Jubel über die Aufhebung Roms in der christlichen Gemeinde, wenigstens in dieser. Der Staat stirbt zwar als solcher bei Hegel nicht ab, durchaus nicht, doch er lebt nur als Form dessen, was Hegel unter ‚allgemeiner und substantieller Freiheit‘ versteht. Diese Art Freiheit ist nach Seite des isolierten Einzelwillens hin Zwang, doch steht sie Rousseaus ‚volonté générale‘ lehrreich näher als dem autoritären Staatsbegriff, den Hegel nicht absolut vergötzt hat. Hegels Staat wollte letzthin die Polis des Perikles sein, gesehen durch ein vielfach geschontes, hoch idealisiertes, jedoch nicht absolut gemachtes Preußen.“ Der Staatsgedanke bleibt bei Hegel in Erinnerung an die eigene „Hölderlinzeit“ im Gesamtergebnis an der verklärten griechischen Polis-Idee orientiert, auch wenn Hegel „volonté générale“ nur zu oft mit den „preußischen Landesfarben“ versehen hat.

 

„Tod und Scheinleben eines spätbürgerlichen Naturrechts“: Ernst Blochs Verteidigung des Naturrechts gegen die bürgerlich rechtspositivistische Tradition

Nach der gescheiterten bürgerlich demokratischen Revolution von 1848 und als Ergebnis der rückläufigen, zunehmend fortschrittspessimistischen bürgerlichen Klassenbewegung infolge erster – von Jean Sismondi beschriebener - kapitalistischer Krisenzyklen und infolge der Konfrontation mit den Forderungen der aufsteigenden proletarisch sozialistischen Bewegung – u.a. Fanal der Pariser Juniinsurrektion 1848 – bricht das Bürgertum nicht nur mit der aufgeklärt idealistischen Philosophie, sondern auch mit dem Erbe des nun als bedrohlich empfundenen Vernunftrechts. In der Philosophie setzt ein mit Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche verbundener Prozess der „Zerstörung der Vernunft“ ein.

Dementsprechend arrangieren sich auch maßgebliche Juristen wie Bernhard Windscheid, Rudolf Jhering oder Adolf Merkel mit der bonapartistischen Form der Bismarck’schen „Reichseinigung“, die sie bejubeln.[16]

Bloch notiert zum Erlöschen des revolutionär antifeudal postulierenden Naturrechts: „Durch den Bürger kam ohnehin gern das Schlaue oder auch das Kalte hoch. Er war selbst das Gesetz geworden, folglich nicht mehr hitzig nach neuen Tafeln. Stellte sich auf den Boden der Tatsachen, wie bemerkt, fand sich mit dem Gegebenen schließlich doch schmiegsam ab. Dass jedes bisher gegebene Recht durch Macht gesetzt war und ihrer vorhandenen Verteilung entsprach, diese Haupttatsache wurde so unfruchtbar wie ungerührt, zur Kenntnis genommen. Ja, dass überhaupt einmal kritisierendes Naturrecht gedacht worden war, kam den staatsfrommen Nachfolgern Hugos höchst lächerlich vor.“ (NW 153)

So führt Bernhard Windscheid in seiner Greifswalder Universitätsrede „Recht und Rechtswissenschaft“ 1854, also in unmittelbar gegenrevolutionärer Zeit, in Erinnerung an die „Befreiungstat“ Savignys aus, dass es kein unabhängig von menschlicher Satzung gegebenes Recht gibt, dass das positive Recht keines naturrechtlich idealen Vorbildes bedarf: „Es gibt für uns kein absolutes Recht. Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt, und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophie haben den Himmel auch nicht gestürmt.“ Windscheid gesteht zu, dass das Vernunftrecht mit Blick auf die preußische ALR- und die österreichische ABGB-Kodifikation Verdienste hat. In den § 7 des ABGB fanden 1811 sogar die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ Eingang. Nach Windscheid reicht der Einfluss des Naturrechts aber trotzdem gerade nur einmal so weit, als es sich des römischen Rechts bedient hatte: „Das Naturrecht konnte dem römischen Recht um so weniger Eintrag tun, als es dessen Schätze plünderte, um seine leeren Tempel zu füllen.“ Die Stärke des ABGB liegt nach Windscheid deshalb gerade darin, dass es sich trotz seiner naturrechtlichen Wurzeln von der historisch-systematischen Richtung um Joseph Unger bearbeitet zum großen Gesetzeswerk entfalten konnte.[17]

An die Stelle fortschrittlicher Vernunftrechtsspekulation tritt biedere, jeden rechtsphilosophischen Anspruch zurückweisende „allgemeine Rechtslehre“ als Ausdruck kapitalistischer Rationalitätserfordernisse: „Das Bürgertum war mit der Staatsgewalt zufrieden, die es erobert oder vor der es, in Deutschland, gewinnbringend kapituliert hatte. Das Rechtsdenken selber, von jeder Bewegung und jedem Bezug über den gegebenen Stoff hinaus abgeschnitten, wurde demgemäß immer formaler. Die spätere romanistische Schule überbot sich in der Freude an Unterscheidungen des Buchstabens; die Schärfe an sich war groß. Der Scharfsinn schnitt nur niemals, auf kritische Weise, in den vorhandenen Staat, berührte sich auch nicht mit vorhandenen praktischen Angelegenheiten. Der Rechtsstoff wurde durchgeordnet wie nie zuvor, er wurde begrifflich rein gemacht, bis jedes richterliche Urteil als sicherer Subsumtionsakt erging, doch um den Preis, dass man von jedem Rechtsinhalt pro forma abstrahierte.“ (NW 153f.)

Selbst die einsetzende Kritik an dieser romanistischen Begriffsjurisprudenz, wie sie von Rudolf von Jhering nach eigener Abkehr von der „naturwissenschaftlichen“ Konstruktionsmethode, also vom „Kultus des Logischen“ seit den 1870er Jahren im „Zweck im Recht“ vorgetragen wird, trug keinerlei demokratisch „naturrechtliche Unruhe“ mehr in sich, sondern war vielmehr an den Bedürfnissen des wilhelminisch nationalliberalen Bourgeois, des kleinbürgerlichen Subjekts in seinem „Kampf ums Recht“ orientiert. (NW 153)

Stellvertretend für diverse positivistische Normentheoretiker nennt Bloch den Strafrechtler Adolf Merkel, der in Wiener Lehrjahren 1874 – knapp vor seinem Wechsel an die neue Straßburger „Reichsuniversität“ – für einen Übergang von universell naturrechtlicher Rechtsphilosophie zu einer „allgemeinen Theorie des Rechts“, zu einer „Philosophie des positiven Rechts“ plädierte.[18]

Diese „allgemeine Rechtslehre“ soll sich mit etwa von Ernst Rudolph Bierling („Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe“, 1877/1883 – „Juristische Prinzipienlehre“, 1894-1917), von Karl Binding („Die Normen und ihre Übertretung“, 1872ff.), von August Thon („Rechtsnorm und subjektives Recht“, 1878) oder von Ernst Zitelmann („Irrtum und Rechtsgeschäft“, 1879) bearbeiteten Problemen, also mit dogmatischen Fragen nach der Struktur der Rechtssätze (Imperative oder hypothetische Urteile?) befassen. Sie soll sich mit der Frage, ob jede Rechtsnorm notwendig den Zug des Imperativs an sich trägt, ob es auch Rechtssätze gibt, die nicht sanktionsbewehrt sind, beschäftigen. Gibt es sanktionslose Rechtspflichten? Ist jede juristische Norm notwendig Zwangsnorm? Wer ist Adressat der Norm? Die staatlichen Organe, die einzelnen Rechtssubjekte?

„Ist das Recht Willensmacht, ist es rechtlich geschütztes Interesse, ist es Normenschutz?“ „Gibt es auch Rechte, deren Inhalt es ist etwas tun zu dürfen? Auf das objektive Recht bezogen lautet die Frage: gibt es erlaubende Rechtssätze?“[19] Jherings „Interessentheorie“ gegen die romanistische „Willenstheorie“ von Windscheid? Ist eine Einteilung in „erlaubende“, „gebietende/verbietende“ Rechtssätze sinnvoll? Gibt es Rechtssätze, welche nicht Gebote oder Verbote sind? Begriffliche Trennung „Rechtsnorm“ von „Rechtssatz“? Ist rechtliches Erlaubtsein ident mit Nichtverbotensein? Fragen der Rechtsgeltung: Wird eine rechtliche Bestimmung durch „Anerkennung derselben als Gemeinschaftsnorm seitens der Gemeinschaftsmitglieder“ zur Rechtsnorm? Lebt unter dem Titel der Anerkennung „der von Vertretern der modernen Rechtswissenschaft mit Recht so bekämpfte [naturrechtliche] Gedanke des contrat social“ fort?[20] Verhältnis von Rechtsgeltung und Rechtswirksamkeit? Von „Normativität und Faktizität“, „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek: Revolution, Staatsstreich, Vertragsbruch, etc.)[21]?

Trägt das Recht „Kompromisscharakter“? Differenz Rechtsnorm/Sittengesetz? Wie gestaltet sich die Trennung von „autonomer Moral“ und „heteronomen Recht“? Ist das Recht als „ethisches Minimum“ aufzufassen?[22] Gibt es eine Sphäre subjektiver (öffentlicher) Rechte gleichsam jenseits des objektiven Rechts oder handelt es sich dabei bloß um das latente Fortleben der naturrechtlichen Spekulation über „angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“, angeblich existierend schon vor und unabhängig von Recht?

Ist der Willensbegriff der Psychologie von Relevanz für die Rechtslehre? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem zivil-/strafrechtlichen Willensdogma und der (experimentell naturwissenschaftlichen) psychologischen Willensforschung? Kann die Debatte über die „Willensfreiheit“ ([In-] Determinismus) juristisch sinnvoll geführt werden? Ist die Strafrechtsfrage nach dem „psychologischen Zwang“ nicht vielmehr ein soziologisches Problem?

Gibt es Rechts-Lücken? Ist zwischen echten und unechten Rechtslücken zu unterscheiden? Ist der Zweckbegriff von Relevanz für die Klärung der Rechtsbegriffe (Paul Laband 1887 gegen Rudolf Jherings „Teleologie“)? Weiters: Streitfragen der juristischen Auslegungslehre, der juristischen „Schlusslogik“! Kann rechtswissenschaftliche Interpretation Erkenntnis liefern, oder ist sie als bloßer Willensakt dem jeweiligen rechtserzeugenden Organ, einem Richter, einer Behörde zu überlassen? Ist die formale Logik (Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, etc.) auch im Bereich der Normen, etwa im Zusammenspiel von generellen und individuellen Normen, relevant oder handelt es sich um nicht-rationale Willensakte? Wo liegen die Grenzen der normativen Methode?[23]

Am Konzept eines logisch systematischen Rechtszusammenhangs wollten diese maßgeblichen Juristen des wilhelminischen Deutschland – im Sinne dessen, was von Hans Kelsen und Adolf J. Merkl später als „Stufenbau der Rechtsordnung“ konzipiert werden sollte – auf jeden Fall festhalten, sahen sie doch im – auch von Ernst Bloch (NW 155f.) angesprochenen – Pessimismus eines Julius Hermann Kirchmann, in Kirchmanns Diktum von der „Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ (1847: „… drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“) eine Bedrohung. Adolf Merkel merkt 1874 an, dass alles Bemühen um eine systematische Rechtstheorie sinnlos wäre, zur „Chimäre“ wird, wenn Kirchmanns Position, wonach jeder normative Zusammenhang fehlt, haltbar ist: „Nach von Kirchmann (‚Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral als Einleitung in das Studium rechtsphilosophischer Werke, 1869‘) fehlt es dem Rechte an einem sachlichen Prinzip. ‚Der Stoff des Sittlichen‘, dem hier das Recht subsumirt wird, ist nach ihm aus zufälligen, unzusammenhängenden, ‚zerstückelten, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten‘, ‚verschiedener Zeiten und Verhältnisse, unter denen keine Einheit besteht, und für die keine Regel gilt‘, gebildet. Sein Inhalt ist ‚rein positiver Natur, voller Lücken, Widersprüche und Dunkelheiten‘. Es fehlt ihm die sachliche Grundlage, der innere Zusammenhang, das ausnahmslos geltende Gesetz. Die Begriffe der Wissenschaft bleiben daher hier ‚unsicher und ihre Regeln werden von zahlreichen Ausnahmen durchlöchert; es fehlt der Zusammenhang und die Einheit, welche in der Naturwissenschaft durch die überall gleichen elementaren Stoffe und Kräfte gegeben sind‘.“

Das Naturrecht überlebt nach der bürgerlichen Revolution von 1848 allenfalls in epigonaler Form ohne einen merkenswerten Nachklang von Grotius, gar Rousseau, und schon gar nicht mehr mit dem „Ludergeruch der Revolution“ behaftet, so etwa als neukantianisch halbiertes, als formalpositivistisches Vernunftrecht „mit wechselndem Inhalt“, so wenn Rudolf Stammler an der Jahrhundertwende 1900 ein dünnes Naturrecht von (fingierten) „freiwollenden“ bürgerlichen Subjekten als „soziales Ideal“ konstruiert, ohne Blick für die sozialen Kämpfe, für die Lage der Lohnarbeiterschaft, ohne Blick für die Realitäten bürgerlicher Klassenjustiz, deren Existenz geleugnet, ignoriert wird, - also ohne Blick für Klassendifferenz, für die Ansprüche der Arbeiterklasse.

Neukantianer wie Rudolf Stammler haben „den Rechtsformalismus sozusagen zu adeln gesucht, durch Bezug auf Kulturwerte [wie „Gerechtigkeit“ – Anm.] oder ein allgemeines Kulturbewusstsein. Stammler (…) hat derart tatsächlich, von einem dünn-humanen Zweckbegriff her, genannt ‚Gemeinschaft frei wollender Menschen‘, naturrechtliche Tendenzen mitten in den spätkapitalistischen zu erneuern versucht. Trotz seiner sozialen Ziele kommt freilich auch für Stammler ‚nur eine Behandlung geltenden Rechts‘ in Frage; das Naturrecht soll lediglich eine andere Methode als das positive Recht haben, doch keinen von ihm verschiedenen Stoff. Die dem Naturrecht eigene Methode arbeite primär mit ‚den bleibenden Bestimmungen des Rechts‘ oder neukantianisch gewendet mit den ‚allgemeinen Denkformen der Grundbegriffe des Rechts.‘ (…) Wird jedoch nach irgendwelchem Wesensgehalt dieses Rechtsgedankens geforscht (…), so erscheint eben nichts als eine ‚Gemeinschaft frei wollender Wesen‘, das heißt der gegebene bürgerliche Rechtsstaat mit sozialen Kulissen.“

Der Faden zum Rousseauschen, Kantschen, Fichteschen Naturrecht wird bewusst gekappt, so Bloch: „Der Hintergrund der Stammlerschen Reprise ist noch groß, ist sogar mit verbalem Rousseau und, wie bemerkt, mit lombardiertem Kantianismus erfüllt, mit dem völlig andersartigen Formalismus des kategorischen Imperativs, besonders in jener zweiten Fassung deren ‚Teleologie‘ lautet: ‚Handle so, dass die Menschheit in dir und anderen niemals bloßes Mittel, sondern jederzeit höchster Zweck sei.‘ Doch während das Naturrecht des achtzehnten Jahrhunderts revolutionäre Verneinung der feudalen Gesellschaftsordnung war, ist seine Reprise doch nur Scheinleben ums unverneinte Recht der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.“ Stammler begnügt sich damit „richtiges Recht bereits in Begriffen des Bürgerlichen Gesetzbuches (wie ‚angemessene Frist‘, ‚wichtiger Grund‘, ‚Treu und Glauben‘)“ zu entdecken. Naturrechtsanklänge verkommen zur „Attrappe“, zu spätbürgerlicher „Rechtsstaats-Dekoration“. (NW 159-161)[24]

Formale Naturrechtsakzeptanz im Sinn eines halbreligiös sublimierten ethischen Liberalismus mit Wirkung auch auf revisionistische rechtssozialdemokratische Kreise wollte Ernst Bloch auch in Hermann Cohens „Ethik des reinen Willens“ (1904) erkennen, allerdings in Form eines aller fortschrittlichen, geschweige denn revolutionären Tendenz entkleideten Vernunftrechts: „Ideal ist ‚das Sein des reinen Willens‘, ‚Wollen ist das Sein des Ideals‘, aber eines unerreichbaren Seins. Eines solchen, das nie zeitlich wird, daher ewig bleibt, eines Seins nicht für Realisten, sondern für Idealisten, ‚den Blick gespannt auf den Abstand der Wirklichkeit vom ewigen Ideal‘.“, so der – übrigens nachträglich von Hans Kelsen für „Die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ reklamierte – Marburger Neukantianer Hermann Cohen. Bloch kommentiert Cohens Sicht von der Rechtswissenschaft als einer „Mathematik der Geisteswissenschaften“: „‘Gerechtigkeit‘, sagt Cohen, ‚ist die Tugend, das Gottesreich das Ideal der Weltgeschichte.‘ Die Epigonen freilich erfinden nichts, sie plaudern nur aus, nämlich die Schwächen der Meister; und so outriert, isoliert Cohens Abgesang (er ist das Original, sozusagen, des Stammlerschen, zuletzt des sozialdemokratischen Naturrechts) auch die unhistorische Abstraktheit, die undialektische Antithetik des Ideals im klassischen Naturrecht. (…) Der revolutionäre Idealismus, von der Citoyenseite des Bürgers ausgehend, stand noch in sinnfälliger Spannung zum Feudalismus und Feudalabsolutismus seiner Zeit.“ (NW 224)[25]

Das Naturrecht überlebt nicht nur als „Neu-Kant“, sondern angesichts der sozialistischen Herausforderung auch als „Neu-Thomas“, also in epigonal konfessioneller Form, als neuthomistisches Naturrecht. Bloch bezieht sich auf die päpstliche Soziallehre selbst. Vertreter dieser Richtung wie die Jesuiten Victor Cathrein (1901, „Recht, Naturrecht und positives Recht“) oder Joseph Biederlack (1895, „Die sociale Frage“) nennt Bloch nicht namentlich.

Die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ knüpft 1891 mit ihrem „patriarchalischen Suum cuique“ nicht nur an ein unter kapitalistischen Bedingungen anachronistisches Ständestaatsmodell als einer Gott gegebenen gesellschaftlichen Hierarchie an. „Rerum novarum“ spricht auch die Frage des „gerechten Lohns“ an, der im Zweifel jedenfalls nicht zu hoch sein soll. Die Enzyklika heiligt so wie das Nachfolgedokument „Quadragesimo anno“ (1931) das kapitalistische Privateigentum an Produktionsmitteln. Dieses Eigentum gerät der katholischen Sozialideologie zu einer Rechtskategorie ersten Ranges. Das katholische Naturrecht „patronisiert“ in spätkapitalistischer Zeit „die faschistischen Versuche zum sogenannten Ständestaat; Leo XIII. gab nicht dessen erstes, aber dessen erstes antisozialistisch gezieltes Rezept. Der klerikale Ständestaatsgedanke hat, unter den gegebenen hochkapitalistischen Verhältnissen, mit der mittelalterlichen Wirklichkeit nichts gemein, ist moderne Klassenkampf-Ideologie von oben. Er phantasiert einen vertikalen ‚Berufszusammenhang‘ zwischen dem Arbeiter und dem Eigentümer einer Schuhfabrik, dergestalt, dass dieser Vertikalismus den horizontalen Riss zwischen Kapital und Arbeit mit Betriebsgemeinschaft, mit einem Gliedbau solcher Gemeinschaften überwindet; und die Kirche erblickt darin ein Element der – Corpus Christi-Idee. Vorüber sind die Konkurrenz-Anomalien, wonach Jesuiten wie Bellarmin und Mariana Widerstandsrecht gegen eine schlechte Obrigkeit, ja Tyrannenmord lehrten.“ (NW 313)

Während das neukantisch halbierte Naturrecht der autonomen Vernunft verpflichtet ist, ist das katholische Naturrecht im ständestaatlichen Sinn von „Neu-Thomas“ heteronom an die Zehn Gebote geknüpft. Ein Naturrecht, das „sich nicht aus der bürgerlichen Vernunft frei wollender Wesen, sondern aus der Repressalie gegen die Sünde“ herleiten will: „Der Staat als ‚Repressalie des Sündenfalls‘ wertet folglich das Privateigentum an Produktionsmitteln so wenig als Sünde, dass es als Brotgeber geehrt, ja seit langem schon als Rechtsmodell für einen – Kapitalismus aller vorgetäuscht, vorgepriesen wird. Es müssen nur die ‚Auswüchse‘ der Ausbeutung vermieden werden; wonach die päpstliche Enzyklika Quadragesimo Anno 1931 de iure naturale als gottgesetztem fordert, dass die Löhne der Werktätigen weder zu sehr gedrückt noch allerdings auch – um der Sorge für genügend Willfährige und Dependente willen – zu sehr gesteigert werden. (‚ut salaria opificum nimis deprimantur aut extollantur‘).“

Das patriarchalisch neuscholastische Naturrecht rechtfertigt in Kategorien einer Sündendogmatik die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, das „Herr/Knecht“-Verhältnis: „Hauptpunkt bleibt hier die Heiligung des Eigentums (und gewiss nicht nur des Eigentums an Gebrauchsgütern) als Naturrecht, gebaut auf das Pathos der Person, unmittelbar hingeordnet auf Gott, das heißt auf die weidende Kirche.“ (NW 161f.)

Mehr Legitimität billigt Bloch der gegen die romanistische Begriffsjurisprudenz gerichteten „Freirechtsbewegung“ zu, die – Bloch nennt Hermann U. Kantorowicz und Ernst Fuchs als Vertreter – auch sozial auf ein „Postulat der Gerechtigkeit“ gerichtet ist. Nichtsdestotrotz bleibt sie angesichts repressiver Klassenverhältnisse, angesichts einer reaktionären wilhelminischen Klassenjustiz objektiv hilflos. Eine fortschrittlich freie richterliche Rechtsfortbildung hätte einen ganz anderen, einen demokratischen „Richtertypus“ zur Voraussetzung gehabt: Es handelte sich beim Freirecht nicht mehr nur darum, „den ‚Willen des Gesetzgebers‘ zu ermitteln, den sagenhaften Willen einer fiktiven Person. Es handelte sich nicht mehr um bloße Auslegung eines vorhandenen Gesetzes bei vorhandener Lücke; sei es, dass diese Auslegung eine erweiternde oder eine durch Analogie war. Es handelte sich auch nicht um die altrömische aequitas, sofern diese niemals dem Schuldner, stets nur dem Gläubiger zugute kam. Die Freirechtsschule, geführt von Kantorowicz, volkstümlich gemacht durch Ernst Fuchs, stellte vielmehr bescheidene Volkstribunen, propagierte ein bescheidenes Naturrecht, soziologisch aufgemacht. Benutzt wurde zu diesem Zweck der § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs“ mit seinem „Treu und Glauben“-Prinzip. (NW 152)

Hermann Kantorowicz verwirft 1906 in seiner unter dem Pseudonym „Gnaeus Flavius“ veröffentlichen Schrift „Der Kampf um die Rechtswissenschaft“ die Regeln der extensiven und restriktiven Interpretation, das ganze System einander widersprechender Interpretationsregeln. Der Analogie spricht er so wie den dogmatischen Fiktionen und „dem Operieren mit der ratio legis“ jeden Wert ab. Generell wird jede juristische Deduktions- und Konstruktionslogik verworfen: „Die neue Auffassung vom Recht stellt sich dar als eine Auferstehung des Naturrechts in veränderter Gestalt.“ Dabei hat die „voluntaristisch“ ausgerichtete, aber sich doch stets auch im Sinn der historischen Schule am positiven Recht orientierende Freirechtsbewegung nichts mit der rationalistischen Spekulation des klassischen Naturrechts gemein: „Unser freies Recht also ist Naturrecht – des 20. Jahrhunderts; unsere Rechtsphilosophie hat mit den Pufendorfs und Wolffs wenig gemein.“[26]

In der Freirechtsbewegung, in Strömungen einer sozialen Jurisprudenz sieht Ernst Bloch, der weder Eugen Ehrlichs Überlegungen zur „freien Rechtsfindung“, Ehrlichs Kritik der „begriffsjuristischen Logik“ noch Anton Mengers Kritik des bürgerlichen Rechts vom Standpunkt der „besitzlosen Volksklassen“ (1890) erwähnt, einen in der Tendenz zwar fortschrittlichen, aber angesichts widriger sozialer Verhältnisse illusionär hilflosen Ausweg.

 

Ende des Vernunftrechts? Endpunkt 1: Hans Kelsen - Endpunkt 2: Carl Schmitt

Ernst Bloch nimmt zwei Endpunkte der bürgerlichen Abrechnung mit dem fortschrittlichen Naturrecht aus der eigenen frühen Klassenformierung gegen den Feudalismus an, zum einen die reine normative Rechtslehre von Hans Kelsen, zum anderen Carl Schmitts dezisionistische Verklärung des Ausnahmezustands im Angesicht des Faschismus. Bloch differenziert dabei klar zwischen Kelsen und Schmitt, der erstere immer der bürgerlichen Demokratie, der bürgerlichen Rechtsstaatobjektivität, dem liberalen Grundrechtsideal verpflichtet bleibend, auch wenn die „Reine Rechtslehre“ objektiv keine Schutzwirkung gegen die rechtsautoritäre Entwicklung bietet.

Die Anfänge des Staatsrechtspositivismus (Carl Friedrich Gerber, Paul Laband, „formalistische“ Auflösung des Staats „in logisch-juristische Relationen“ unter radikaler Ausklammerung ethischer, historischer, etc. Betrachtung, „Dogma der Geschlossenheit der Rechtsordnung“), das letzte Aufflackern einer „organisch“ sozialstaatlichen Richtung (Lorenz Stein) oder einer historisch-soziologischen „Gewalttheorie“ (Ludwig Gumplowicz), vor allem aber die Gegenströmungen zum Staatsrechtspositivismus, wie von Seite Otto Gierkes (1874, „Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien“, gegen eine „einseitig formalistische Richtung“) oder von Seite Felix Stoerks (1885, „zur Methodik des öffentlichen Rechts“, zivilistische wider publizistische Begriffsbildung?), sowie die Sonderstellung der sowohl juristisch-normativ als auch historisch und philosophisch-sozialwissenschaftlich ausgerichteten Staats(-rechts-)lehre von Georg Jellinek („Zweiseiten-Theorie“)[27] werden von Ernst Bloch nur skizzenhaft angedeutet.[28]

Hans Kelsens „Normlogismus“ gilt Ernst Bloch als zu Ende radikalisierter neukantischer Formalismus: „Vollkommene ‚Reinheit‘ hat letzthin auch für Zwecke keinen Platz. Dergleichen stammt aus der gleichen ‚empirischen Einmischung‘, wie psychologische oder soziologische Begründungen des Rechtsakts. Übrig bleibt eine bloße ‚Logik des Sollens‘, und sie ist so völlig formal geworden, dass sie überhaupt keine empirischen Bestimmungen mehr trägt oder tragen kann. Der abstrakte Gegensatz Sein-Sollen, mit dem die Neukantianer seit je am Sein sich desinteressiert und Defaitismus gemacht haben, wird bei Kelsen zum Hiatus Soziologie-Jus.“ Kelsen polemisiert unablässig gegen jeden „Methodensynkretismus“, gegen die Vermischung von kausal-explikativ psychologischer, natur- und sozialwissenschaftlicher Betrachtung mit formal normativ zurechnender Methode, gegen die Verquickung von „formal-juristischer“ und „historisch-politischer Betrachtung“, von „Kausal- und Normwissenschaft“. Kelsen kämpft gegen juristische „Hypostasierungen“ und „Personifikationen“ (wie die Vorstellung eines der Rechtsordnung gegenüberstehenden Rechtssubjekts in der traditionellen allgemeinen Rechtslehre, „Staatswille“).

Kelsen beseitigt auch den traditionellen juristischen Dualismus von öffentlichem und privatem Recht, von subjektivem und objektivem Recht oder die Vorstellung einer Staatssphäre jenseits der positiven Rechtsordnung („Identität von Staat und Recht“): „Die dualistischen ‚Fremdsachen‘: subjektives, objektives Recht, auch privates, öffentliches Recht verschwinden in der einheitlich-reinen Rechtsordnung, nachdem sie jeweils gesetzt ist. Ja, Kelsens Rationalismus ist so extrem, dass er aus lauter ‚Reinheit‘ mit dem empirischen auch das – rationale Element eliminiert; so kann das Sollen, als ein juristisches, nicht in immanenter Vernunft, sondern schlechthin nur von außerhalb gesetzt und gültig gemacht werden. Es ist darum grundsätzlich ein heteronomes: und das Draußen, das es setzt, das ein bloßes Ordnungssystem in Gang bringt, ist der jeweilige Gesetzgeber. Dieser ist die metajuristische Autorität, die Ereignisse mit Rechtsfolgen ausstattet oder nicht, die einen vordem rechtsleeren Raum erst zu einem rechtserfüllten macht. An und für sich selbst, aus rationalem oder rational verfolgbarem Zwang gibt es keine evident gültigen Rechtssätze. (…) All das geht unter im Formalverhältnis der Rechtsordnung zu sich selbst: ‚Das Rechtsverhältnis ist ein Verhältnis zur Rechtsordnung, richtiger: innerhalb der Rechtsordnung, nicht ein Verhältnis zwischen – der Rechtsordnung gegenüberstehenden – Rechtssubjekten.‘ (Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920, S. 125).“

Kelsens an der bürgerlich-republikanischen Verfassung Österreichs (1920) orientierte Rechtstheorie tritt historisch zufällig als ein wertrelativ demokratisches Modell auf. Kelsen löst den Dualismus von Staat und Recht auf. Er blendet die Gesetzgebung als ein metajuristisches Phänomen aus. Mit der „denkökonomischen“ Annahme einer „Grundnorm“ als einer „die Einheit der Rechtsnormen begründenden Voraussetzung“, als einer „transzendental-logischen Voraussetzung“ wird halbreligiös Irrationalität tangiert: „Alles in allem bleiben der Ursprung wie der Inhalt des Rechts bei Kelsen außerhalb des Rechts, und dessen ‚Reinheit‘ beschränkt sich darauf, bloße Zurechnung auf und Ableitung aus einer metajuristischen Grundsetzung und Grundnorm zu sein. Dass Kelsens Deduktionssystem hierbei eines der Demokratie wurde, hängt einzig mit der Setzungsmacht zur Zeit der Abfassung seiner Bücher zusammen, mit der deutschösterreichischen Republik, die Demokratie als Grundnorm statuierte. (...) Keine vernunftrechtliche Grundnorm verhindert, dass statt der Volksvertretung ein Monarch oder auch ein Diktator den Ursprung abgibt, aus dem ein Rechtssystem erfließt. Folglich ist der Ursprung nicht nur irrational, sondern entsprechend der Beliebigkeit der Ursprünge sind beliebig viele Rechtssysteme denkbar, ertragbar, ausführbar.“

Hans Kelsen widerspricht als bürgerlich demokratischer Gegenspieler von Carl Schmitt dessen dezisionistischer Verklärung des Ausnahmezustands, dessen Ansicht, wonach alle geistigen Vorstellungen „existentiell, und nicht normativ“ aufzufassen sind. Widerstand gegen die von Schmitt forcierte faschistische Verrohung der Rechtsbegriffe kann Kelsens relativistischer Normativismus aber trotzdem nicht bieten: „Kelsen wendet sich zwar gänzlich gegen Souveränität, weiterhin gegen die stärkste Leistung der Souveränität: gegen Standrecht und Ausnahmezustand; der ‚Subjektivismus’ des Befehls schien ihm mit der objektiv geltenden Norm unvertragbar. Der Staat ist hier identisch mit seiner Verfassung, als dem letzten Zurechnungspunkt und der letzten Grundnorm; daher sagt der Demokrat Kelsen: ‚Der Souveränitätsbegriff muss radikal verdrängt werden.‘“ (NW 168-172)

Carl Schmitts Normativismus-Kritik, Schmitts sich aus dem Irrationalismus der restaurativen Romantik, aus dem Denken des spanischen Reaktionärs Juan Donoso Cortés speisender Dezisionismus wird von Ernst Bloch im Zusammenhang mit dem Zerfall der klassischen Vertragskategorie, mit dem Abbau der konventionellen Rechtsbegriffe aus der liberal-konkurrenzkapitalistischen Periode, mit der Erosion der individualistischen Grundrechte unter den Bedingungen eines krisenhaft imperialistisch formierten monopolistischem Kapitalismus gesehen, - eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft, die in der faschistischen Herrschaftsform den geeigneten politischen Ausweg sieht.[29]

Vor diesem Hintergrund wird Schmitts Nachdenken über den politischen „Freund/Feind“-Begriff relevant. Bloch spricht von Schmitts (antiparlamentarischer) Staatslehre als dem „faschistischen Anti-Naturrecht schlechthin“: „Damit bricht der ‚Dezisionismus‘ hemmungslos durch Recht und Gesetz, der Ausnahmezustand wird Gewohnheit, die Maske des Rechtsstaats auch in bezug auf die juristischen Mittel und Logismen abgelegt. Der verschärfe Klassenkampf brachte die Bourgeoisie zum Abbau der Rechtsbegriffe, die aus der langen liberalen Periode der freien Konkurrenz übriggeblieben waren. (…) Insgesamt bereitete sich die faschistische ‚Direktheit‘ vor; es gab nun der juristischen Zwirnsfäden immer weniger, über die der ‚Dezisionismus‘ stolpern konnte. Die individuellen Grundrechte verschwanden im gleichen Zug wie die Generalität (formal gleiche Anwendung) des Gesetzes; zahlreiche Sondergesetze werden erlassen, die Privilegien- (oder Diffamierungs-) Charakter tragen. Es verringert sich die zentrale Stellung, welche der Vertrag im Zeitalter der freien Konkurrenz innegehabt hatte. (…) In dem Maß aber, in dem die herrschende Schicht nicht mehr aus zahllosen konkurrenzfähigen Subjekten besteht, sondern aus wenigen Monopolgruppen, tritt nacktes Macht-Ohnmacht-Verhältnis anstelle des Vertrags und des in ihm garantierten Versprechens; im Arbeitsvertrag zwischen Kapitalist und Proletarier hat ohnedies kein anderes Verhältnis bestanden.“

Ernst Bloch beschreibt, wie die Generalität des Gesetzes, die Bindung des Richters an das Gesetz durch ein System von Generalklauseln im Sinn der faschistischen Ideologie durchbrochen wird: „Der ‚Dezisionismus‘, das heißt die nackte Befehlsgewalt des Monopolkapitals (in Verbindung oder im Übergang zum Staatskapitalismus), nimmt hier also eine Berichtigung von gesetztem Recht vor, die geradezu an Naturrecht gemahnt; nur dass es sich bei dieser Berichtigung um den Abbruch durch Monopolkapitalismus handelt. Aus Anti-Naturrecht wird das positive Recht gebrochen; denn es hat, für die Zwecke des Faschismus, nicht zu wenig, sondern noch zu viel Elemente aus den Abgesängen des Contrat social übernommen.“

Für Bloch ist Schmitts die Reste bürgerlicher Rechtsrationalität zerstörendes „Anti-Naturrecht“ nichts anderes als Loblied auf die Barbarei des permanenten faschistischen Ausnahmezustands: „Wird durch den Faschismus allerdings die Maske des ‚Rechtsstaats‘ zerstört, auch noch in der Gestalt des relativistischen Formalismus, die Kelsen [oder zuvor Georg Jellinek – Anm.] der bürgerlichen Demokratie gegeben hatte: so bedeutet das nicht, dass der vollendete Zynismus wie überall so auch hier sich nicht auf noch vollendeteren Betrug und bessere Maske verstehe. Carl Schmitt hatte ante festum noch ganz offen vom ‚Ausnahmezustand‘ und der ‚suspendierenden Staatssouveränität‘ bekannt: ‚Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm.‘ (Politische Theologie, 1922, S. 13).“

Ernst Bloch widerspricht Schmitts Tendenz, Thomas Hobbes für einen faschistischen Rechtsdezisionismus, für einen juristischen Einsatz zugunsten eines nazistischen „Schandpragmatismus“ zu instrumentalisieren: „Vorab schien Hobbes, isoliert und durchgefälscht, dem ‚Dezisionismus‘ nahezuliegen; so wieder bei Carl Schmitt. Es hatte zwar Hobbes den Souverän (den er überdies als übriggebliebenen Wolf demaskierte) selbst wieder unter liberalistische Zwecke gebeugt, nämlich unter die der persönlichen Sicherheit der Untertanen und unter die Erhaltung des Friedens. (…) Das hinderte aber Schmitt nicht, die rationale Rechtskonstruktion an dieser Stelle für den ‚Dezisionismus‘ in Anspruch zu nehmen, ja das Naturrecht des Hobbes für rechtsfreie Diktatur schlechthin zu okkupieren.“ Bei Hobbes wird der Gesellschaftsvertrag mit dem Ziel, den ewigen Bürgerkrieg zu beenden, geschlossen, bei den Faschisten wird er gekündigt, um Mord und Verfolgung zum Dauerzustand zu erheben.

Schmitts Schüler bestritten nach 1945, dass Schmitt Hobbes 1938 unter Bezug auf „autoritas, non veritas facit legem“ zum Vordenker des „totalen Staats“ gemacht hat, ganz abgesehen davon, dass Schmitts Etatismus in innernazistischen Rivalitäten von Seite der auf das „Völkische“ und auf die „Bewegung“ abstellenden Staatsrechtler denunziert worden sei. Schmitt selbst, der 1938 in antisemitischer Tendenz die Hobbes-Deutungen von jüdischen Autoren wie Spinoza, Moses Mendelssohn und „Stahl-Jolson“ (so Schmitt mit Blick auf die von ihm mitgeforderte Markierung jüdischer Autoren) attackiert hatte, verwies nun 1965, zwanzig Jahre nach der Befreiung, in einer Sammelrezension auf jene Interpreten, die eine Anklage von Hobbes „wegen Totalitarismus“ für unbegründet hielten, so Schmitt u.a.: Hobbes gilt als „der geistige Vater des modernen juristischen Positivismus, der Vorläufer von Jeremias Bentham und John Austin, der Wegbereiter des liberalen Gesetzesstaates. Er hat als erster den für das liberale Strafrecht wesentlichen Satz ‚nullum crimen, nulla poena sine lege‘ in aller systematischen Klarheit entwickelt.“ John Austin habe gegen jene Deutungen protestiert, die aus Hobbes „einen Apologeten des Absolutismus machen wollten. Ferdinand Tönnies feiert ihn als einen Begründer des modernen Rechtsstaats (…).“[30]

Nicht zufällig – so Bloch – denunziert Schmitt als späterer Zuarbeiter nazistischer Rechtsideologie schon in den 1920er Jahren, den Jahren der Weimarer Republik, in seinem Buch über die Diktatur das klassische Naturrecht von Grotius, Pufendorf, Thomasius oder von Rousseau als ein bloß moralisierendes „Gerechtigkeits-Naturrecht“. Thomas Hobbes‘ den Naturzustand von „bellum omnium contra omnes“ aufhebender Souveränitätsbegriff lässt Schmitt früh an ein „System des Cäsarismus und einer souveränen Diktatur“ denken: „Schmitt macht die töricht-simplistische Unterscheidung zwischen ‚wissenschaftlichem und Gerechtigkeits-Naturrecht‘ und entdeckt in der Wissenschaft [im Gesetz, das keine „Gerechtigkeitsnorm“, „sondern Befehl“ sei – Anm.] plötzlich einen Nährboden des Befehls: ‚Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen im Naturrecht wird am besten dahin formuliert, dass das eine System von dem Interesse an gewissen Gerechtigkeitsvorstellungen und infolgedessen von einem Inhalt der Entscheidung ausgeht, während bei dem anderen [„wissenschaftlichen“, von Hobbes vertretenen] ein Interesse nur daran besteht, dass überhaupt eine Entscheidung getroffen wird.‘ (Schmitt, Die Diktatur, 1921, S. 22, auch S. 118f.).“ (NW 172-175)[31]

 


[1] Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde (mit einem Anhang: Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere), suhrkamp taschenbuch 49, Frankfurt 1972, 234-236. (künftig kurz: NW).

[2] Vgl. Silvia Markun: Ernst Bloch mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 7. Auflage, Reinbek 1996, 73f. Vgl. Abschnitt „Freiheit und Ordnung“ in: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände (stw-Ausgabe), Frankfurt 1973, 547-729.

[3] Friedrich Engels (gem. mit Karl Kautsky): Juristen-Sozialismus (1887), in: Karl Marx-Friedrich Engels: Werke (MEW) 21, Berlin 1981, 491-509.

[4] Karl Marx: Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule (1842), in: Karl Marx-Friedrich Engels: Werke (MEW) 1, Berlin 1981, 78-85 und Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44), in: ebenda, 378-391, hier 380.

[5] Karl Marx: Zur Judenfrage (1843/44), in: Karl Marx-Friedrich Engels: Werke (MEW) 1, Berlin 1981, 347-377, hier 364, 370. Vgl. Hermann Klenner: Der rechtsphilosophische Denk-Einsatz von Karl Marx, in derselbe: Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Essays, Berlin 1991, 155-175.

[6] Vgl. Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei. Kritik des Gothaer Programms (1875), in: Karl Marx-Friedrich Engels: Werke (MEW) 19, Berlin 1978, 15-32, hier 21. Vgl. Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe (1929), Nachdruck: Archiv sozialistischer Literatur 3, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1966, 34f.

[7] Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880/82), in: Karl Marx-Friedrich Engels: Werke (MEW) 19, Berlin 1978, 177-228, hier 189-201.

[8] Vgl. Alfred Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Auflage, Wien 1963, 71-83.

[9] Vgl. August Maria Knoll: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit, Neuwied-Berlin 1962.

[10] Über den „angeblich revolutionären Charakter der Naturrechtslehre“ vgl. Hans Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, 2 Bände, hrg. von Hans Klecatsky, u.a., Neuauflage Wien-Stuttgart 2010, 231-287, hier 257f. Vgl. zur Denunziation der Naturrechts- und Vertragstheorien als Ursache aller revolutionären Übel seit der Französischen Revolution durch de Maistre, de Bonald, durch Donoso Cortés und Stahl Franz Neumann: Typen des Naturrechts, in derselbe: Wirtschaft, Staat und Demokratie. Aufsätze 1930-1954, Frankfurt 1978, 223-254, hier 236-238, so Friedrich Julius Stahl: „Das Naturrecht von Grotius bis Kant ist die wissenschaftliche Begründung der Revolution.“

[11] Vgl. Karl Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, 215f.

[12] Vgl. Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsgedankens, Frankfurt 1975.

[13] Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, 4: „Kants Kritik der Vernunft hat gezeigt, dass die Vernunft nicht ein Arsenal fertiger theoretischer Erkenntnisse, anwendungsreifer ethischer und ästhetischer Normen sei, vielmehr nur das Vermögen, zu solchen Erkenntnissen und Normen zu gelangen, ein Inbegriff nicht von Antworten, sondern von Fragen, von Gesichtspunkten, mit denen man an die Gegebenheit herantritt, von Formen, die erst durch die Aufnahme eines gegebenen Stoffes, von Kategorien, die erst durch die Anwendung auf ein gegebenes Material Urteile oder Beurteilungen bestimmten Inhalts zu liefern vermögen – z.B. der Kategorien der Kausalität, der Pflicht, nicht aber inhaltlich bestimmter Natur- oder Pflichtgesetze. Solche inhaltlich bestimmten Erkenntnisse oder Bewertungen sind niemals das Produkt ‚reiner‘ Vernunft, sondern immer nur ihrer Anwendung auf bestimmte Gegebenheiten – und deshalb niemals allgemein, sondern immer nur für diese Gegebenheiten gültig.“

[14] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung II, Frankfurt 1973, 637f.

[15] Ernst Bloch: Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel (Gesamtausgabe 8), Frankfurt 1962, 244-274 (Abschnitt: Philosophie des Rechts), hier 246, im folgenden noch 249f., 254f., 260, 269. Vgl. Hermann Klenner: Hegel und die Götterdämmerung des Absolutismus, in derselbe: Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Essays, Berlin 1991, 141-154.

[16] Vgl. Bernhard Windscheid: Bismarck als Staatsmann und Parlamentarier. Festrede, gehalten bei der Bismarck-Feier zu Leipzig (1885), in derselbe: Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904, 117-123. - Adolf Merkel: Rede gehalten am 1. April 1895 zur Feier von Bismarcks Geburtstag, in derselbe: Hinterlassene Fragmente und Gesammelte Abhandlungen I. Fragmente zur Sozialwissenschaft, Straßburg 1898, 348-354. - Zu Jherings Kriegsjubel 1870/71, zu seinem Bismarck-Kult vgl. u.a. Rudolf von Jhering in Briefen an seine Freunde, Leipzig 1856, 251-256.

[17] Bernhard Windscheid: Recht und Rechtswissenschaft. Greifswalder-Universitätsfestrede 1854, in derselbe: Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904, 3-24, hier 9, 15f. Josef Unger, österreichisches Pendant zu Windscheid, attackierte bereits knapp zuvor 1853 in einem Beitrag „Die Universitätsfrage in Österreich“ das Naturrecht von Karl Anton Martini und Franz Zeiller als „verseichtigten Kantianismus“, der alle juristischen Begriffe verwirrt habe und unfähig sei, ein römisches Rechtsinstitut scharf aufzufassen.

[18] Adolf Merkel: Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur ‚positiven‘ Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Teil derselben (ursprünglich 1874 veröffentlicht als Eröffnungsaufsatz zum 1. Jahrgang der Grünhutschen „Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart“), in derselbe: Hinterlassene Fragmente und gesammelte Abhandlungen II/1. Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, Straßburg 1899, 291-323, folgende Kirchmann-Passage hier 322.

[19] Vgl. Bernhard Windscheid: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft. Leipziger Rektoratsrede 1884, in derselbe: Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904, 100-116, hier 103.

[20] Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, 375.

[21] Vgl. Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900, 307-328.

[22] Vgl. Georg Jellinek: Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878, 42.

[23] Vgl. Adolf Merkel: Elemente der allgemeinen Rechtslehre (ursprünglich 1889 in der 5. Auflage von Holtzendorffs „Encyklopädie der Rechtswissenschaft“ erschienen), in derselbe: Hinterlassene Fragmente und gesammelte Abhandlungen II/2. Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, Straßburg 1899, 577-647. Zur „näheren Bestimmung des Rechtspositivismus“ vgl. Arthur Baumgarten: Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode II/III, Tübingen 1922, 600-617. Aus der Flut normentheoretischer Literatur – ist das ganze Recht nichts als ein „Komplex von Imperativen“, wie Verhalten sich Verbote, Gebote, Gewährungen zueinander, „Identität von Rechtssätzen und Normen“, „Doppelnorm“, wie verhalten sich „natürliche Rechte und positive Pflichten“, „Normen als berechtigende Rechtssätze“? – etwa exemplarisch die Kontroverse zwischen Karl Binding und August Thon 1879, vgl. Karl Binding: Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre (1878), jetzt in derselbe: Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, München-Leipzig 1915, 522-554. Weitere Vertreter eines „analytischen“ Rechtspositivismus spricht Ernst Bloch nur am Rande an, so den John Austin folgenden Felix Somló („Juristische Grundlehre“, 1917). (NW 156f.)

[24] Vgl. zum „Problem des Naturrechts“, zur Kritik des rationalistischen Naturrechts des 18. Jahrhunderts und zu einem formalen „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“ Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht, nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung, Leipzig 1896, 184ff.: „Es giebt keinen einzigen Rechtssatz, der seinem positiven Inhalte nach [naturrechtlich - Anm.] a priori feststände.“ Zum Verhältnis von „richtigem Recht und Naturrecht“, zur Kritik am klassischen Naturrecht von Grotius, Pufendorf oder Rousseau auch Rudolf Stammler: Die Lehre vom richtigen Rechte, Berlin 1902, 93-103.

[25] Vgl. Hermann Cohen: System der Philosophie. Zweiter Teil. Ethik des reinen Willens, Berlin 1904, 68: „Das Analogon zur Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften, und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden.“ Cohen: Staatslehre ist im Sinn des Postulats der Methodenreinheit nur als Staatsrechtslehre möglich! – Neben der neukantianischen Rechtsphilosophie verweist Ernst Bloch (NW 164-168) u.a. auch auf eine marginale Strömung wie die Edmund Husserl verpflichtete Rechtsphänomenologie, vertreten von Adolf Reinach oder vom Kelsen-Schüler Fritz Schreier.

[26] Vgl. Gnaeus Flavius (d.i Hermann Kantorowicz): Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906,10-12.

[27] Von Hans Kelsen 1923 im Vorwort zur zweiten Auflage der „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ (Tübingen 1923, XIX) so beschrieben: „… Überwindung der sogenannten Zweiseiten-Theorie, der zufolge der Staat eine naturhafte, in der kausalbestimmten Welt des Seins existente soziale Realität, anderseits aber ein Rechtswesen, eine juristische Person, somit Gegenstand zweier methodologisch völlig disparater Betrachtungsweisen, einer kausalwissenschaftlichen Soziallehre und einer normativen Rechtslehre, sei.“ Hier [so wie in der Erstauflage von 1911] 395-406 u.a. auch die Kritik an Georg Jellineks „Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates“ und 629-655 an Jellineks „System der subjektiven öffentlichen Rechte“.

[28] Zur geschichtlichen Entwicklung Richtung einer (Kelsen’schen) „Staatslehre ohne Staat“, zur „Reinen Rechtslehre“ als der „zu spät gekommenen Erbin des logistischen Rechtspositivismus“, als die „folgerichtige Erfüllung des soziologie- und wertfremden Programms des Labandismus“ vgl. Hermann Heller: Die Krisis der Staatslehre (1926), in derselbe: Gesammelte Schriften II, Leiden 1971, 3-30.

[29] Zur Auflösung des bürgerlich-demokratischen Gesetzesstaates, des bürgerlichen Rechtsstaats, der nazistischen Destruktion des Strafrechts vgl. Otto Kirchheimer: Staatsgefüge und Recht im Dritten Reich (Paris 1935), jetzt in derselbe: Von der Weimarer Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt 1976, 152-185, hier 153: „Der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus ließ das Bedürfnis für jene [bürgerlich liberalen] Rechtsformen immer mehr verschwinden. Die großen kapitalistischen Unternehmungen, Großbanken ebenso wie Monopolkonzerne, waren längst nicht mehr darauf angewiesen, die Auseinandersetzungen mit Angehörigen anderer Sozialgruppen vor den Gerichten zu führen. Sie konnten sich von einem Staat, den sie, sei es durch Kreditsperre, sei es durch Söldnerhorden beherrschten, ihre jeweiligen Wünsche durch Gesetz oder Notverordnung erfüllen lassen.“

[30] So Carl Schmitt: Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-Interpretationen [1965], in derselbe: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Nachdruck der Erstausgabe 1938, Köln-Lövenich 1982, 137-178, hier 157.

[31] Vgl. Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1928, Berlin 1964, 21f., 118: Während das „humanisierende“ „Gerechtigkeitsnaturrecht“ etwa des Hugo Grotius davon ausgeht, dass „ein Recht mit bestimmtem Inhalt als vorstaatliches Recht besteht“, liege dem „wissenschaftlichen System von Hobbes mit größter Klarheit der Satz zugrunde, dass es vor dem Staate und außerhalb des Staates kein Recht gibt und der Wert des Staates gerade darin liegt, dass er das Recht schafft, indem er den Streit um das Recht entscheidet“. Das „Gerechtigkeitsnaturrecht“ halte an einem „Individualitätsbegriff“ aus dem Erbe des christlichen Naturrechts fest: „Für das wissenschaftliche Naturrecht des Hobbes ist der einzelne Mensch ein Energiezentrum und der Staat die im Wirbel solcher Atome entstehende, die Einzelheit verschlingende Einheit, der Leviathan.“

Nach oben scrollen