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Niewiadomski Jozef: Politisches Martyrium und der alltägliche Weg der Heiligkeit. Plädoyer für die gemeinsame Heiligsprechung der beiden Eheleute Franz und Franziska Jägerstätter
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Politisches Martyrium und der alltägliche Weg der Heiligkeit. Plädoyer für die gemeinsame Heiligsprechung der beiden Eheleute Franz und Franziska Jägerstätter

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Mündliche Fassung des Festvortrags bei der Errichtung des „Franz und Franziska Jägerstätter Institutes“ an der Katholischen Privatuniversität Linz am 25. Oktober 1017
Datum:2017-11-03

Inhaltsverzeichnis

I. 
II. 

Inhalt

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Vorbemerkung: Der Vortrag ist als ein „Triptychon“ konzipiert. Zwei „Seitenflügel“ (der Beginn und der Schluss des Vortrags) handeln direkt vom Zeugnis beider Eheleute, der mittlere Teil knüpft an die geschichtsphilosophischen Thesen des materialistisch gesinnten Philosophen Walter Benjamin an; seine Bemühungen um eine geschichtsimmanente, allein dem Diesseits verpflichtete Rekonstruktion des biblischen Begriffes des Messianischen werden hier als Hilfe genommen, um über die Ideologie und Theologie des politischen Martyriums zu reflektieren (damit auch die in der Gegenwart so stark präsente Ideologisierung dieses Begriffes – v. a. im Kontext islamistischer Martyrien – zu kritisieren).          

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I.

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Wir wissen nicht, ob und worüber Franziska und Franz beim Frühstück am Morgen gesprochen haben, dem Morgen, der auf jene „Jännernacht 1938“ folgte, in der Franz von dem verhängnisvollen, in die Hölle fahrenden Zug träumte. Wie er selber berichtete, weckte er sofort – noch in der Nacht – seine Frau auf „und erzählte ihr alles, was sich zugetragen hatte“. Die sinnstiftende Deutung des Traums stellte sich aber nicht sofort ein. Der Zug war ihm anfangs „ziemlich rätselhaft“. Dies vermutlich auch deswegen, weil im Traum ihn jemand bei der Hand nahm und sagte: „Jetzt gehen wir ins Fegefeuer“. Was er dann zu sehen und zu spüren bekam, war ein derart schreckliches Leiden, dass er fast schon geglaubt hätte, er sei in der Hölle gelandet.

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Nimmt man die zeitbedingte Konkretheit der religiösen Sozialisation beider Eheleute ernst, so kann man mit guten Gründen vermuten, dass der Fokus ihrer Aufmerksamkeit beim Frühstück zuerst dem Ort der Qualen galt: „Bis zu jener Nacht konnte ich natürlich nie recht glauben, dass die Leiden im Fegefeuer so groß sein könnten“, ist ja im zweiten Heft der „Aufzeichnungen aus der Zeit nach der Verurteilung zum Tode“ zu lesen. Was müsste da der katechismusfirme Katholik über das Ausmaß der Leiden in der Hölle gedacht haben? Das Alltagsleben beider Eheleute, somit auch ihr Lebenszeugnis, war ja geradezu getragen von der gut katholischen Hoffnung, einmal in den Himmel zu kommen.

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Die Literatur vergangener Jahrzehnte über den Wehrdienstverweigerer rückte dessen treffsicheren analytischen Verstand im Kontext seiner Urteile über politische Zustände im Dritten Reich in den Vordergrund. Dies nicht zuletzt deswegen, um den Martyrer gegen die stammtischmäßigen Verunglimpfungen seiner Person, er wäre bloß ein „religiöser Narr“ gewesen, zu immunisieren. Die Konkretheit der ihn und seine Frau existentiell tragenden Glaubenswahrheiten und Hoffnungen wurde da eher übergangen. Und dies, obwohl Franz empfänglich war „für übernatürliche Sinngebungen und Zeichen“. Mit deren Hilfe hat er ja die politischen Hoffnungen auf den Sieg des Nationalsozialismus nicht nur realistisch einschätzen, sondern diesen Sieg eschatologisch depotenzieren und den mit dem Sieg verbundenen Hoffnungsweg gar als den sicheren Absturz in die Hölle qualifizieren können. Sind derart starke religiöse Aussagen und Bilder im religionspolitischen Diskurs bloß auswechselbare Metaphern, also verzichtbar, wie dies viele Theoretiker der Gegenwart meinen? Das ist eine der brisantesten Fragen zukünftiger Diskurse.

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Nach und nach ist Franz und sind vermutlich auch beide: Franziska und Franz auf eine geradezu kongeniale Art und Weise zur Überzeugung gelangt, dass mit dem Bild des fahrenden Zuges dem Träumer „die ganze Nationalsozialistische Volksgemeinschaft, alles, was für sie opfert und kämpft“, vor Augen geführt wurde. Fortan hat Franz auch keinen Zweifel daran gelassen, dass ihm selber der Traum einer Offenbarung des Willens Gottes glich: „Somit glaub ich, hat mir Gott es durch diesen Traum oder Erscheinung klar genug gezeigt und ins Herz gelegt, mich zu entscheiden, ob Nationalsozialist – oder Katholik!“

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Nimmt man nun – meine Damen und Herren – die Logik des Traums wirklich beim Wort, so wird man auch fragen müssen, was das geschaute Leiden im Fegfeuer zu bedeuten hätte: Jenes Leiden, das in der Tradition gemäß dem katholischen Glaubensgut (und weniger gemäß der volkstümlichen religiösen Folklore) mit den immanenten Folgen des menschlichen Handelns verbunden blieb, deswegen auch als sittlich-politischer Warnruf, sprich: als Botschaft vom unweigerlich kommenden Selbstgericht, verstanden werden sollte, einem Selbstgericht, das aber – aufgrund des christologischen Geheimnisses der Stellvertretung – doch nicht mit der Hölle gleichgesetzt werden sollte, weil es die Möglichkeit der Fürbitte aufzeigte, die Möglichkeit der stellvertretenden Wiedergutmachung, gar des stellvertretenden Erleidens der Konsequenzen von im Leben beschrittenen Sackgassen. Was könnte also für die Jägerstätters das von Franz geschaute Leiden im Fegfeuer bedeuten, jenes Leiden, das im Himmel endete?

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Ob Franz selber oder Franziska jemals im Traum auch „den offenen Himmel“ gesehen haben – wie dies des öfteren in den Biographien der heiligen Märtyrer zu lesen ist –, das wissen wir nicht. Soweit mir bekannt ist (und Frau Dr. Erna Putz bestätigte meine Vermutung), hat weder er noch sie über weitere „Jenseitsträume“ jemals geredet. Wohl aber waren die beiden, die ja eigentlich „immer auch Verliebte geblieben sind“, ihr Leben lang von einer tiefen Vertrauenshaltung geprägt, dass ihr Lebensweg im Himmel sein Ziel finde. Immer und immer wieder versichert auch der Mann sich selber und er versichert auch seiner Frau, dass man sich „doch bald im Himmel“ sieht. „Wir haben ja die frohe Hoffnung, dass uns die wenigen Lebenstage, die wir hier getrennt sein müssen, in der Ewigkeit ja aufs Tausendfache ersetzt werden, wo wir dann in ungetrübter Freude und Glückes ewig uns mit Gott und unsrer himmlischen Mutter erfreuen dürfen.“ Auch Franziska tröstete ihren Ehemann mit den Worten, „dass wir doch an das richtige Ziel in den Himmel gelangen, wozu uns auch Gott erschaffen hat, dass wir uns dann mit ihm uns ewig freuen dürfen“. Nach der vollzogenen Hinrichtung, deren Augenblick sie – obwohl in Unwissenheit der Stunde – im Gefühl innigster Verbundenheit mit ihrem Mann erlebte, schrieb Franziska an Pfarrer Kreutzberg: „Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen im Himmel, wo uns kein Krieg mehr trennen kann.“

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Diese gläubig gepflegte Gewissheit des Wiedersehens und der ewigen Heimat im Himmel war den Eheleuten kein billiger Trost, sie blitzte ja nicht nur auf in den Stunde der Hinrichtung. Das Lebenszeugnis der Witwe zeigt, dass diese gläubige Gewissheit ihr – zwar durch schmerzhafte Prozesse hindurch, aber doch – nach und nach zur großen Gelassenheit und dem Mut zur kreativen Gestaltung ihres Alltags verholfen hat. Die Erinnerung an das „kurze Eheglück“ schloss sie deshalb nicht in einer letztendlich unversöhnten Vergangenheit ein. Franziska war ja keine ob ihres verlorenen Glücks willen in sich verkrümmte Frau, keine femina incurvata in se. Die unter dem Vorzeichen des erhofften Himmels lebendig gehaltene, geheilte Erinnerung verhalf ihr zur Öffnung auf die gelebte Gegenwart, eine Gegenwart aber, die durchaus mit dem Fegfeuer verglichen werden könnte, die aber – wie ich glaube – ihre Vollendung im Himmel gefunden hat.

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Sehr geehrte Damen und Herren, warum diese ausgiebige – und wohl überraschende – Betonung der Bedeutung klassischer eschatologischer Orte für Franziska und Franz Jägerstätter bei einem Referat zum Thema: „Politisches Martyrium“? Schlicht und einfach deswegen, weil gerade die ganz konkrete Hoffnung auf den Himmel oder auch die Hoffnung auf das Paradies (für sich selber und auch für die Seinigen) und das Urteil über das Verdammtsein der Gegner in der Hölle, auch in der irdischen Hölle, zu zentralen Bedeutungsgehalten des Begriffs „politisches Martyrium“ gehören, auch oder gerade in dessen säkularer Gestalt, von dessen islamistischer Variante ganz zu schweigen.

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II.

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In der neueren christlichen Theologie wurde der Begriff des „politischen Martyriums“ im Kontext des Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden neu durchbuchstabiert. Inspiriert durch die Theologie der Befreiung konnte eine „erdverbundene Theologie“ das Lob des so umschriebenen Martyriums singen und auch die im Einsatz getöteten Märtyrer feiern. Die mit dem Martyrium verbundenen eschatologischen Hoffnungen suchte man meistens im Diesseits zu verorten. Viele Theologinnen und Theologen gingen dabei den Weg, den im Grunde schon der materialistisch gesinnte Walter Benjamin in den 30-er Jahren mit seiner Denkfigur des Messianischen angedeutet hat. (Dieses Gespräch mit Benjamins Ansatz ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil er eine gemeinsame Verständigungsbasis mit der transzendenzarmen Gegenwart ermöglicht.) Weil schon Benjamin an die „braunen“ politischen Märtyrer denken musste (die Nationalsozialisten zelebrierten deren Kult mit all den nur denkbaren pompösen, pseudoreligiösen Ritualen), thematisierte er den Unterschied zwischen der mythischen Gewalt und der Gewalt des biblisch artikulierten göttlichen Gerichtes, dessen nähere Artikulation auch dem Materialisten als Richtschnur des Einsatzes für Gerechtigkeit gelten kann. „Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttlich reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.“ Die Aporien des auf den ersten Blick überzeugenden materialistischen Ansatzes wurden in der (politischen) Theologie breit diskutiert. Er vermag ja – wie Benjamin schon selber konstatierte – zwar „unendlich viel Hoffnung“ (für zukünftige Generationen) zu artikulieren, „nur nicht für uns“, sprich: nicht für einstmals zugrunde gegangene und für die gerade zugrunde gehenden Opfer vermag er Hoffnung zu spenden. Und warum nicht? In der Besprechung des Romans von Anna Seghers: „Die Rettung“, die Benjamin 1938 (also vor den in der Theologie berühmt gewordenen geschichtsphilosophischen Thesen) unter dem Titel: „Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen“ veröffentlichte, sprach er vom Geschick der Verunglückten eines Bergwerks, die doch schon bald in Vergessenheit geraten werden, und fragte auch skeptisch: „Werden sich diese Menschen befreien? Man ertappt sich bei dem Gefühl, dass es für sie wie für arme Seelen, nur noch eine Erlösung gibt.“ Was soll das aber für einen materialistisch gesinnten Philosophen heißen, dem ja dieses Leben doch die „letzte Gelegenheit“ darstellt? Kann da die christliche Theologie weiterhelfen?

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Jene Theologie des politischen Martyriums, die nur auf analogen Bahnen mitgewandert ist, vermochte den Begriff des Himmels oder aber den des Gottesreiches fast nur noch als einen regulativen oder aber einen kritischen Begriff zur Sprache zu bringen, einen Begriff, der bloß das Ausmaß des Unwahren im Wirklichen denunzierte, damit aber nichts zur Heilung beitrug. Eines hielt zwar auch diese Theologie emphatisch fest: Solange den Opfern der Geschichte die Gerechtigkeit nicht widerfahren ist, bleibt die Verheißung des Himmels gültig. Wie soll aber diese Verheißung jemals Wirklichkeit werden? Von der Antwort auf diese Frage hängt die Dignität dessen ab, was in der Theologie heute zu Recht als politisches Martyrium benannt werden kann und was letztendlich zur Ideologie desselben verkommt. Wenn in der Philosophie und in der Theologie die Empathie für die Opfer abstrakt bleibt, werden diese angesichts der gegenwärtigen „opferversessenen Kultur“ versagen. Was meine ich damit? Folgt man (nämlich heutzutage) der Argumentation der Medien, scheint es in unserer Gegenwart nichts anderes mehr zu geben als Opfer: Wir sind Opfer der Politiker, Politiker sind Opfer der Medien, Verbrecher sind Opfer ihrer Kindheit, die kleinen Anleger sind Opfer der großen Finanzakteure, die Konsumenten sind Opfer der Werbung, die Arbeitslosen sind Opfer der Arbeitsmarktpolitik und die dafür verantwortlichen Politiker sind Opfer der multinationalen Konzerne. Dem sich als Opfer erlebenden und als Opfer inszenierenden Durchschnittszeitgenossen kommen zuerst die realen Opfer, aber auch die realen Täter immer mehr abhanden; sie verschwinden hinter den Institutionen, Konzernen, hinter der Gesellschaft, ja hinter dem Leben selbst. Schadenersatzklagen, das Sich-Suhlen der modernen Opfer im Selbstmitleid oder aber die Wutbürgermentalität (wobei man inzwischen immer weniger weiß, wogegen man noch seine Wut richten soll) strukturieren unseren transzendenzarmen Alltag.

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Was kann in einem derart gestrickten Koordinatensystem noch „politisches Martyrium“ heißen? Tagtäglich wird diese Frage in den Nachrichten klar und deutlich beantwortet: durch die Meldungen über die nächsten Selbstmordattentäter, damit – wenn auch zunächst indirekt – durch die islamische Martyriumskultur. Von der in ihr festverankerten Konkretheit eschatologischer Hoffnungsbilder auf das Paradies für sich und die Hölle für andere verführt, sprengen sich zahlreiche Selbstmordattentäter in die Luft. Sie alle werden vom Kult und der Ideologie des politischen Martyriums getragen, einer Ideologie, die in der islamischen Welt – und nicht nur dort – Millionen von Menschen zu expliziten oder auch stillen Befürwortern der Kultur des Terrors motiviert. Dieser weltweit verbreitete Kult der gegenwartsrelevantesten politischen Märtyrer, der im Grunde den ganzen Westen und nicht nur diesen in die Opferrolle drängt, der aber alle Opfer der jeweils betroffenen Glaubensgemeinschaft problemlos zu Märtyrern deklarieren kann, offenbart am deutlichsten die tödlichen Sackgassen einer Ideologie des politischen Martyriums. Einer Ideologie, die in diesem Fall ihre Wurzeln auch in der gängigen islamischen Theologie des Martyriums hat. Was ist damit gemeint?

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Weil alle Muslime, die „auf dem Wege Gottes“ leben und sterben („Fi sabil Allah“), zur Anstrengung, zur Bemühung zum Einsatz (Djihad) und zum Bezeugen, zum Vorbildwerden (Shahid/Shuhadá: Zeuge, Martyrer) berufen sind, weitet das Konzept des muslimischen Martyriums den Titel des Märtyrers von vorne herein auf alle Gläubigen aus. Zugespitzt wird diese Verschärfung durch den Glauben, dass die enge Form des Martyriums (also das Getötetwerden selbst) direkt und aktiv gesucht werden soll: in der gläubigen Gewissheit, dass Gott diese Märtyrer (und auch deren Sippen) direkt ins Paradies nimmt. Das Töten wird damit um den Preis des Getötetwerdens als letztlich unbefragter Weg der Heiligkeit zementiert. Und damit schließt sich der Kreis: Denn, um es noch einmal unter Verwendung der religiösen Diktion zu sagen: Im Grunde katapultiert sich gemäß seinem Glauben der islamistische Selbstmordattentäter mit seiner Tat als politischer Märtyrer in die Zeit des „Jüngsten Tages“. Er tritt in die eschatologische – am Ende der Tage für die ganze Menschheit Wirklichkeit werdende – Vollendung ein, begleitet von jenen Opfern seiner Tat, die als Glaubensgeschwister – sozusagen irrtümlicherweise – mit in den Tod gerissen wurden, und getrennt von all den Feinden, denen sein Hass galt, die ja unweigerlich in die Hölle kommen. Der auf realpolitischer Ebene noch klar erkennbare Täter entpuppt sich bei genauerer Analyse selbst als Opfer. Gerade die Biographien der Selbstmordattentäter verfilzen auf eine radikale Weise den semantischen Knäuel der Begriffe Opfer und Täter. Als Opfer werden diese ja zu Tätern, viktimisieren sich selber und die anderen und ermöglichen paradoxerweise – ihrem subjektiven Glauben gemäß – durch ihr Opfersein sich selber und vor allem aber den Ihrigen die Zukunft. Und dies sowohl auf Erden als auch dort in der Ewigkeit. Damit perpetuieren sie aber bloß den Teufelskreis, in dem die Opfer gefangen bleiben. In ihrem Durst nach Vergeltung und Rache werden sie – so paradox es klingen mag – in alle Ewigkeit ressentimentgeladen, damit auch unversöhnt bleiben. Unversöhnt mit sich selber und nicht bloß mit ihren Feinden, die sie in ihren Phantasien zwar in eine von ihnen selbst abgetrennte Hölle abstürzen lassen, gerade dadurch aber sich einer Erinnerungskultur verschreiben, die sich der Heilung verweigert. Am schmerzhaftesten wird momentan diese (höllische) Sackgasse im scheinbar unheilbar vergifteten Narrativ zum Thema: Martyrium und Opfererfahrung bei den Palästinensern und Israelis greifbar. Hin und wieder hat man schon das Gefühl, unsere Gegenwart gleicht einem Zug, der immer schneller in die Hölle zu fahren scheint, weil er aus welch unterschiedlichen Gründen auch eigentlich nur noch Opfer zu befördern scheint: Opfer, die unversöhnt bleiben wollen.

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Ob im Kontext der scheinbar banalen Opferversessenheit in der westlichen Kultur oder bei den diese Kultur in den Abgrund stürzenden Selbstmordattentätern, den islamistischen Märtyrern vor allem, oder den in den Spuren Benjamins entwickelten Ideologien des Martyriums: in all diesen Zusammenhängen wird im Grunde eine alte Frage laut: Können Opfer und kann ihr sich aus dem Ressentiment der Opfer nährendes politisches Martyrium einen kreativen messianischen Beitrag zur Gestaltung der Welt leisten? Gerade unter den Voraussetzungen, die uns die transzendenzarme Welt bietet? Erlauben Sie mir noch einen Abstecher zu Walter Benjamin, jenem materialistisch gestimmten Denker, der die Chancen und Sackgassen der Denkfigur des politischen Martyriums unter der Chiffre eines säkular verstandenen messianischen Impulses vorwegnahm.

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Benjamin kann den transzendenzarmen Zeitgenossen, der von Gerechtigkeit träumt, faszinieren; er kann aber auch als radikaler Kritiker solcher säkular gefassten Träume verstanden werden. Damit kann uns sein Ansatz helfen, die verführerische Ideologie des politischen Martyriums aus den Angeln zu heben. Gerade in der Zeit, wo wir uns immer wieder an jener Schwelle wiederfinden, an der die scheinbare Omnipotenz von Gewaltinfernos, die Omnipotenz des Todes, paradoxerweise gar die Omnipotenz der Hölle unbestritten zu sein scheint? Logischerweise weigert sich Benjamin, über die Dialektik der historischen Zeit, die dem materialistischen Historiker ja zugänglich ist, hinauszugehen. Weil sein Messias die Geschichte nur beenden, nicht aber zur Vollendung bringen kann, wird wohl auch die Rede vom Glück niemals im Modus der Erfüllung des Glücks legitim. Es ist allein die Vorstellung von Glück, ein letztlich ungestilltes Glücksverlangen, das in den Begründungszusammenhängen der schwachen messianischen Kraft, damit auch des säkular verstandenen politischen Martyriums für eine ihrer Transzendenz beraubte Kultur eine Rolle spielt. Die letztendlich alles entscheidende Gretchenfrage lautet: Warum kann eine der Transzendenz beraubte Kultur vom unstillbaren Glücksverlangen reden? Benjamin verhilft sich und damit auch uns mit der Kategorie des Neides. Der Vergleich mit anderen macht mich erst aufmerksam darauf, was „möglich“ wäre. Der neidische Vergleich ermöglicht hier die Vorstellung vom Glück. Eine Kultur, die der Transzendenz beraubt ist, muss demnach auf Neid und den Vergleich mit anderen setzen, wenn sie so etwas wie eine Vorstellung von Erlösung lebendig halten will. Die auf diese Art und Weise eingeführte Begründungsfigur wird zum Trojanischen Pferd, das die Katastrophe des ganzen Unternehmens erst recht auslöst! Und dies nicht nur im Zeitalter der „Seitenblicke“ und im Kontext einer Kultur, die man schon als „Neidkraftwerk“ definiert hat. Die Aporie einer niemals einlösbaren Hoffnung auf Erlösung, weil diese Hoffnung durch den neidischen Seitenblick immer neu entflammt, verantwortet nicht nur die immer wieder enttäuschten messianischen Hoffnungen, letztendlich verantwortet sie die Dauerpräsenz des Ressentiments, der Opferversessenheit und findet ihre Vollendung nur noch in der „Faszination des Untergangs“, in dem letztlich gesuchten Tod. So paradox es denn klingen mag, der materialistisch gesinnte Historiker und Philosoph, der seiner radikalen Gegnerschaft zur Ideologie des braunen politischen Martyriums zum Idol von revolutionär gesinnten Ideologien des Martyriums werden konnte, integriert letztendlich den ganzen historischen Wandel in den „ewigen Kreislauf von Stirb und Werde“. Die Geschichte wird in das Naturgeschehen integriert und der Wandel doch – wie schon bei den „braunen“ Martyriumskandidaten – auf einen „mythischen Umlauf“ reduziert.                                                  

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III.

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Spätestens jetzt fragen sich viele (oder auch die meisten) nach dem Grund dieser langen und ermüdenden theoretischen Reflexion. Über den Umweg dieses materialistisch denkenden Philosophen wird der Unterschied greifbar zwischen einer Ideologie des Martyriums (die auf der tiefen Reflexionsebene keinen Unterschied mehr zwischen dem linken und revolutionären, dem braunen und reaktionären und dem islamistischen Martyrium erkennen lässt) und der christlich motivierten Theologie des politischen Martyriums.

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Auf dem Hintergrund der theoretischen Reflexionen wird aber heute vor allem die wirklich revolutionäre Bedeutung des Doppelzeugnisses von Franz und Franziska Jägerstätter verständlich. Ihr gemeinsamer Lebensweg hebt nämlich (und dies auf dreifache Weise) die Ideologie aus den Angeln und weist auch den Weg zur Weiterentwicklung einer genuin „christlichen Theologie des politischen Martyriums“. Und warum dies? Zuerst wohl deswegen, weil die beiden miteinander glücklich waren, weil sie das Glück auch im Modus der Erfüllung des Glücks erlebt haben, weil sie anscheinend derart miteinander glücklich waren, dass der Tod des Mannes dieses Glück im Laufe der Jahre kaum verblassen ließ. Insofern stellen sie ein Paradebeispiel dessen dar, was eine in Gott, dem Liebhaber des Lebens, verankerte sakramentale Lebensgemeinschaft ist. Sowohl Franz als auch Franziska können in ihrem Geschick als Opfer verstanden werden, weil sie auf vielfältige Weise zu Opfern gemacht wurden. Doch nicht ihr blankes Opfersein stellt den Fokus ihrer Lebensgemeinschaft dar, sondern dessen dauernde Transformation. Beide können sie diese gemeinsam und auch je auf eigene Weise in ihrem Alltag leisten, weil sie aus der Kraft des Glücks, gerade im Modus seiner Erfüllung leben. Es ist dies das Glück, das sie voneinander empfangen, das Glück, mit dem sie sich von Gott, dem Liebhaber des Lebens, reichlich beschenkt wissen. Ihr biographischer und logischer Zugang zu Gott, damit auch zum Himmel, ist nicht in der Opfererfahrung zu suchen und als „billiger Trost“ zu verstehen. Er kann auch nicht durch das „Glücksverlangen“ im benjaminschen Sinne „geerdet“ werden, das ja letztendlich durch den Vergleich und den Neid lebendig gehalten wird, sondern durch die alltägliche Erfahrung der Gnade, der Erfahrung der Zuwendung Gottes, der sich als echter Partner von Menschen der Instrumentalisierung seiner Macht entzieht.

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Und damit sind wir beim zweiten Grund, warum das gemeinsame Zeugnis der beiden die Ideologie eines politischen Martyriums aus den Angeln hebt. Weil sie Gott als den sie beide immer schon hier auf Erden beschenkenden Gott erfahren, erleben sie ihn nicht als Funktion ihrer Wut, ihres Ressentiments und ihrer etwaigen Rachewünsche. Sie erwarten nicht, dass Gott „dreinschlage“ und die Übeltäter bestrafe. Franz kommentiert in seinen Aufzeichnungen, „dass es nicht so werden wird, wie viele der Meinung sind, dass Gott einmal drunter fahren wird, um das Böse oder die Bösen zu vertilgen, damit dann wieder alles so halbwegs seinen Lauf weitergehen kann. Gott wird zwar noch einmal kommen, aber mit großer Macht und Herrlichkeit“. Diese ganz konkret artikulierte Hoffnung ist ihm identisch gewesen mit der Hoffnung auf den Jüngsten Tag, wo „alles klar werden“ wird. Doch solches Klarwerden stellt ihm keineswegs den Freibrief aus zum Hass dem ganz konkreten Gegner und Feind gegenüber. Einem derartigen Kurzschluss erliegen ja die islamistischen Selbstmordattentäter. Bei Franz finden wir das genaue Gegenteil: Im gut biblischen Sinn sucht er das Wort Christi ernst zu nehmen: „Lasst beides wachsen bis zur Ernte!“

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Wenn dies aber der Fall ist, wie kann dann „der verhängnisvolle Zug“, wie „die Fahrt in die Hölle“ gestoppt werden? Die Warnungen vor dem Selbstgericht, im bildhaften Gewand des Fegfeuers und der Hölle verkleidet, sollen Menschen dazu motivieren, auf den Zug nicht aufzuspringen oder aber von dem fahrenden Zug abzuspringen, selbst dann, wenn man das Martyrium als Folge einer solchen Entscheidung in Kauf nehmen müsste. Es wäre aber ein Martyrium, das sich vom Ressentiment und Rachedenken, damit auch von der Logik der Hölle radikal verabschieden muss. Deswegen beteuert der Todeskandidat mehrmals, dass er allen verzeiht; deswegen bittet er auch alle um Vergebung. Dies kann er letztendlich nur tun, weil er aus der Kraft der Faszination einer nicht ambivalenten Hoffnung auf den Himmel lebt, einen Himmel für sich und seine Frau also, der aber nicht auf Kosten der faktischen Verdammnis seiner Widersacher in der Hölle erhofft wird. Franziska und Franz haben die Hölle und das Fegfeuer sehr ernst genommen, verstanden sie aber zuerst als Warnsignale: sowohl für sich selber als auch für die Menschheit, vor allem aber für diejenigen, die sich von der „Nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ blenden ließen, für sie opferten und kämpften.

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Wenn Gott aber die Verfolger nicht mit Gewalt vertilgt, der politische Märtyrer also in seiner etwaigen religiösen Motivation ihn nicht im Dienst seines Hasses instrumentalisieren kann, wenn Christus „der höllischen Macht einen gewaltsamen Strich durch die Rechnung“ gemacht hat, was wird mit den Folgen der „höllischen Fahrt“ werden? Sollen sie „gerächt“, finanziell restituiert, gar verdrängt und vergessen werden? Solche Antwortmöglichkeiten geben die transzendenzarmen, materialistisch gesinnten Ansätze. Kann die Erinnerung an den Märtyrer Jägerstätter, kann das Wachhalten des Zeugnisses seiner Frau in diesem Kontext eine andere Antwort geben?

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In den Aufzeichnungen findet sich ein sperriger und leicht missverständlicher Satz: „Würde Gott die Verfolger wegnehmen, gäbe es keine Märtyrer mehr.“ Isoliert man den Satz von der Lebenspraxis beider Eheleute, liest man ihn gleichsam als einen Satz, der gegen den Strich anderer Reflexionen des Märtyrers gebürstet werden könnte: der Reflexionen über das Glück des irdischen Lebens, über die Freude der erlebten Kirchlichkeit und auch den Überlegungen zur Suche nach der konkreten Form des Willen Gottes in den schweren Stunden des Leidens, so könnte man glauben, auch Franz sei der Faszination des Todes erlegen und suchte deswegen – wie viele andere politische Märtyrer und Selbstmordmärtyrer – seinen Tod. Dass dies nicht der Fall ist, dafür zeugen nicht nur seine eigenen klaren Vergebungsworte.

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Es ist vor allem die Haltung seiner Frau, die gerade an diesem Punkt die Ideologie des politischen Martyriums (und damit sind wir schon beim dritten Punkt) aus den Angeln hebt. Die etwaigen Ambivalenzen, die dem Sterbeakt ihres Mannes – gerade in der Wahrnehmung der nachfolgenden Generationen – noch anhaften können, hat sie durch ihr Gebet, durch ihr inneres Ringen mit den aufsteigenden Gefühlen des Ressentiments, durch ihre tägliche – zunehmend politisch werdende – Lebenspraxis, vor allem aber durch das stellvertretende Erleiden von Anschuldigungen und Verurteilungen reinigen können. Ihr Leben glich ja auf weiten Strecken dem Leiden im Fegfeuer: jenem Leiden, in dem die ambivalenten Folgen menschlichen Handelns meistens unfreiwillig, des öfteren aber stellvertretend durchgelitten werden. Durchgelitten nicht im Geiste, der der modernen Opferversessenheit entspringt! Durchgelitten mit dem klaren Blick in den offenen Himmel, zu dem sie ihr Leben lang unterwegs war und wo sie ihren Mann zu treffen erhoffte. Ihre Berufung war es, durch ihr über Jahre gelebtes Zeugnis einer versöhnten Existenz der politischen Erinnerungskultur hierzulande zur Heilung zu verhelfen. Sie steht ja im Dienste einer Erinnerungskultur, die Erinnerung mit Heilung verbindet. Das ist die genuine kirchliche Erinnerungskultur im Kontext der Märtyrerverehrung. Deswegen gehört sie seliggesprochen!

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Nicht als Märtyrerin. Den Irrweg der Ausweitung des Martyriumsbegriffes auf andere Gläubige, wie dies in der islamischen Martyriumstheologie geschieht, soll die christliche Theologie meiden. Franziska gehört seliggesprochen als erste und wichtigste Zeugin des Martyriums ihres Mannes, eine Zeugin, die durch ihre eigene Lebenspraxis dieses Martyrium aus den Ambivalenzen politischer Martyrien der Gegenwart herausholt: Es sei ein Martyrium, das heilende Kraft hat!

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Beide Eheleute aber, Franziska und Franz, müssten dann von der Kirche gemeinsam heiliggesprochen werden. Denn: beide Formen ihres Zeugnisses greifen ineinander und machen sich wechselseitig verständlich. Die Hingabe des Mannes an den lebendigen Gott, die im Kontext seines gewaltsamen Todes geschieht, wird durch die jahrelang gelebte Hingabe seiner Frau an denselben Gott der Liebe vor jenem Missverständnis geschützt, das der modernen opferversessenen Martyriumsmentalität eigen ist und die das gerettete Opfersein nur noch auf Kosten der Erniedrigung anderer begreift. Eschatologisch gewendet: den Himmel für sich und die Eigenen auf Kosten der Hölle für andere begreift. Erst das gemeinsame Zeugnis beider Eheleute vermag jenes Gift des Ressentiments und der Rachegefühle zu neutralisieren, das durch den Kult der politischen Märtyrer der Gegenwart unter ihren Angehörigen und Anhängern gestreut wird. Trägt diese Mentalität zur Verewigung der Hölle bei (der irdischen und der jenseitigen), so transformiert das gemeinsame Zeugnis der Eheleute diese Mentalität und bringt unsere Kultur – auch die politische Kultur – über den Umweg des modern verstandenen Fegfeuers auf den richtigen Hoffnungsweg, auf den Weg zum Himmel.

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Hat die einsame Gewissensentscheidung von Franz der Kirche zur Revision ihrer Theologie des Gewissens verholfen, so könnte die gemeinsame Heiligsprechung von Franziska und Franz die Kirche auf dem in der bisherigen Hagiographie kaum präsenten Weg der Würdigung des Wertes einer konkret gelebten Beziehung zwischen Mann und Frau in all deren Formen weiterbringen. Weil zum Gehalt dieser konkreten Beziehung auch ein politisch verstandener Weg der Heiligkeit gehört, wäre diese Heiligsprechung auch ein eminent politischer Akt der Kirche: im Dienst der Heilung einer ressentimentgeladenen Öffentlichkeit. Heilungen geschehen letztendlich nur durch gelebte Beziehungen. Dafür stehen gemeinsam: Franziska und Franz.

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