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Sandler Willibald: "Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen"
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"Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen"
(Gratwanderungen zwischen dem liebenden und dem zornigen Gott im Licht einer Erzählung von Dostojewskij)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Was Jesus über die Kreuzesnachfolge gesagt hat, wird drückend konkret in der Erfahrung von Personen, die in kritischer Solidarität einen in Schuld und Verzweiflung gefallenen Menschen begleiten. Diesem Thema widmet sich eine Geschichte aus Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasoff". Diese Erzählung führt die theologische Reflexion auf eine abgründige Grat-Wanderung zwischen einem liebenden und – vielleicht gerade deshalb – zugleich schrecklichen Gott.
Publiziert in:Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (theologische trends 11). Hg. W. Sandler, N. Wandinger, Thaur: Thaur Druck- und Verlagshaus 2002, 47-84.
Datum:2002-07-30

Inhalt

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1. Michails Beichte

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In einer kleinen russischen Stadt sorgte ein merkwürdiges Ereignis für Aufsehen. Ein junger Offizier hatte sich mit einem angesehenen Gutsbesitzer duelliert. Das war zwar verboten, es geschah aber doch zu häufig, als dass das allein die Gemüter erhitzt hätte. Bemerkenswert war aber, dass der junge Offizier den Schuss des Gegners ohne zu schießen abwartete - um ein Haar wäre er tödlich getroffen worden -, dann die Pistole wegwarf und den Kontrahenten um Vergebung bat. Anschließend quittierte er seinen Dienst und zog sich zu einem stillen Leben in eine kleine Stadtwohnung zurück. Zudem ging das Gerücht, er beabsichtige, ins Kloster einzutreten.

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Damals wurde viel über diesen Vorfall geredet, und man zögerte nicht, den heiteren und liebenswürdigen Menschen, von dem alle frühere Arroganz einfach abgefallen war, zu Abendveranstaltungen einzuladen und ihn über die Beweggründe seiner Wandlung zu befragen.

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In derselben Stadt lebte ein hoch angesehener, für seine Wohltätigkeit bekannter Bürger, der begann den jungen Mann zu besuchen. Er wollte dessen Bekehrungsgeschichte aufs Genaueste erfahren. Immer wieder ließ er sich davon berichten. Nach zahlreichen Besuchen begann der Gast von sich zu erzählen:

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Nicht immer war er der tugendsame Bürger, als der er jetzt gilt. Vor vielen Jahren beging er ein schweres Verbrechen. Gekränkt über die Zurückweisung, die er von einer jungen Dame erfahren hatte, erstach er sie in einer kaltblütigen Bluttat. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, von allen Verdächtigungen frei zu bleiben. Ein heruntergekommener Knecht wurde des Verbrechens beschuldigt und starb wenig später in der Untersuchungshaft. In den folgenden Jahren konnte Michail - so heißt der geheimnisvolle Gast - sein Leben immer besser ordnen, bis er schließlich jener angesehene Bürger wurde, als der er jetzt überall geschätzt wird. Doch mit Michails Wandlung zum Besseren begann das schlechte Gewissen, das ihn anfangs überhaupt nicht bedrückt hatte, an ihm zu nagen. Als er von der mutigen Lebenswende des jungen Offiziers hörte, begann in ihm der Entschluss zu wachsen, sein Verbrechen öffentlich zu gestehen. Anders könne er seinen inneren Frieden wohl niemals wiedererlangen.

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Der junge Mann ist betroffen von der schrecklichen Beichte dieses als Vorbild geltenden Mannes. Er ermutigt den Gast zu seinem Vorsatz, drängt ihn aber nicht. In den folgenden Tagen ist der Besucher mehrmals ganz nahe daran, sein Geständnis abzulegen. Aber immer wieder schreckt er davor zurück. Und je länger er das bereits Beschlossene hinausschiebt, desto mehr schwindet ihm der Mut. Er beginnt sich herauszureden: Wem wäre denn gedient mit einem solchen Geständnis? Und welcher unnötige Schaden würde dadurch entstehen: seine Frau und seine Kinder würden in Schmach und Schande fallen. Immer unruhiger wird Michail bei seinen fortgesetzten Besuchen. Ohne dass sein geduldiger und mitfühlender Gastgeber etwas dazu tut, wird er dem Besucher immer unbequemer. Er wird für ihn zum leibhaftigen schlechten Gewissen. Einmal weiß der Besucher vor Verzweiflung nicht mehr weiter, er fordert Rat von dem jungen Mann und weist dessen Antwort höhnisch zurück. Da schlägt dieser die Bibel auf und zeigt ihm aus dem Hebräerbrief Kapitel 10, Vers 31: „Furchtbar ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen."

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Der Gast liest es und schleudert das Buch fort. Er zittert am ganzen Körper. „Ein schrecklicher Vers", sagt er. „Wahrlich, Sie haben ihn gut ausgesucht!" Dann erhebt er sich. „Leben Sie wohl, vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen - im Paradiese werden wir uns wiedersehen. Schon vierzehn Jahre sind es also, dass ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin, das kann ich wahrlich von diesen vierzehn Jahren sagen! Morgen werde ich diese Hände bitten, mich freizugeben."

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Schlussendlich, nur um Haaresbreite an einer weiteren Bluttat vorbei, findet der Mann doch noch die Kraft zu einem öffentlichen Geständnis. Niemand glaubt ihm, und so bleibt die befürchtete Ächtung von ihm und seiner Familie aus. Bald darauf erkrankt er an einem Herzleiden. Er stirbt einen friedlichen, mit Gott und den Menschen versöhnten Tod.

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2. Der Kontext der Erzählung: Angriff und Verteidigung des Christentums in Dostojewskijs „Die Brüder Karamasoff"

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Diese Geschichte findet sich in Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasoff" (1). Sie ist dort Teil der Jugenderinnerungen des sterbenden Staretz Sossima. Dieser Startze nimmt eine zentrale Rolle in Dostojewskijs großem Roman ein. Er ist der Lehrer von Alexej („Aljoscha"), dem jüngsten Sohn aus der wilden Karamasoff-Familie. Im Gegensatz zu seinen Familienmitgliedern ist Aljoscha sanft und voll von Liebe. Den brutalen Auseinandersetzungen zwischen seinem Vater und seinen Brüdern ist er hilflos ausgeliefert. Am irritierendsten ist für ihn der Gotteshass seines Bruders Iwan. Iwan ist ein scharfer und subtiler Denker, aber gegen den Glauben seines Bruders, der vor kurzem erst in das Kloster eintrat, geht Iwan mit härteren Mitteln vor, als es rationale Argumente sein könnten. Er erzählt schreckliche Begebenheiten und Geschichten, - zum Beispiel von den unsagbaren Grausamkeiten roher Soldaten gegen hilflose und unschuldige Kleinkinder. Dem zartfühlenden und kinderliebenden Bruder macht Iwan damit deutlich: Einen Gott, der so etwas zulässt, kann und will er nicht akzeptieren. Lieber gibt er seine Eintrittskarte in das Himmelreich zurück (vgl. 399). Am Ende ihres Gesprächs trägt Iwan dem jüngeren Bruder ein selbstgeschriebenes Poem vor: die Legende vom Großinquisitor. In dieser berühmten Geschichte ist alles verdreht. Jesu Lehre und Beispiel erscheinen als unmenschlich: Die freie Entscheidung für Gott - ohne alle Manipulation -, die er den Menschen abverlangt, überfordert die meisten von ihnen total. Dagegen hat die hierarchische Kirche - zuletzt repräsentiert durch den grausamen Großinquisitor - dem Volk die untragbare Last der Freiheit abgenommen. In dieser Perspektive erscheint der Großinquisitor geradezu als Erlöser und Märtyrer: „Und alle werden glücklich sein, alle Millionen Wesen, außer den Hunderttausend, die über sie herrschen. Denn nur wir, wir, die wir das Geheimnis hüten, nur wir werden unglücklich sein" (423).

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Der erst siebzehnjährige Aljoscha hat noch nicht Kraft und Einsicht, um der Religionskritik seines Bruders angemessen zu begegnen. Die Herausforderungen gegen den christlichen Glauben bleiben in diesem Kapitel unbeantwortet. Aber damit ist die Frage für Dostojewskij nicht erledigt. Im folgenden sechsten Buch des Romans - mit dem Titel: ein russischer Mönch - bietet er alles an Wissen, Erfahrung und dichterischer Kraft auf, um das Christentum zu verteidigen, um es zu rechtfertigen gegenüber den Einwänden Iwans, - in welche Dostojewskij die Essenz des neu aufbrechenden russischen Atheismus hineingelegt hat. Nicht abstrakte Antworten reichen hier aus - denn auch dieser Atheismus wird gespeist von Fragen, die das Leben schrieb. Dostojewskij greift zurück auf die gesammelte Erfahrung eines russischen Startzen, in dessen Leben und Lehre sich das Heilswirken Jesu Christi widerspiegelt. Die Verteidigung eines lebendigen Christentums gegenüber den zeitgenössischen atheistischen Bestreitungen ist für Dostojewskij so wichtig, dass er dafür sogar den Rahmen seines Romans sprengt. Bereits die drei Erzählungen aus dem Sossima-Zyklus - dem ich obige Erzählung entnommen habe - führen zu einer langen Unterbrechung der handlungsleitenden Kriminalgeschichte des Romans. Diesem erzählerischen Teil folgt ein langer Exkurs mit den Lehren des Staretz Sossima, seinem geistlichen Vermächtnis: eine Zusammenstellung von christlichen Lebensweisheiten und Ratschlägen, die irgendwie an die Bergpredigt erinnert, - auf vielen Buchseiten zu mehreren Themenkreisen. Es wurde oft wahrgenommen, dass Dostojewskij mit diesem Mittelteil des Buches eine Antwort auf die atheistischen Herausforderungen versucht. Dabei wurde aber hauptsächlich auf den Lehrteil geachtet, und der konnte es mit den Herausforderungen, wie sie sich in der Legende vom Großinquisitor finden, nicht aufnehmen, - schon allein, was die dichterische Kraft betrifft. Die stärkeren Antworten auf die gotteskritischen Einwände geben indessen die drei Erzählungen, von denen ich hier die dritte aufgegriffen habe. Einen zentralen Einwand bildet hier das Bild von einem furchtbaren Gott, - gipfelnd in der Stelle aus dem Hebräerbrief. Der Verlauf der Geschichte zeigt indessen, dass Gott nicht in sich furchtbar ist, dass er von den in Sünde verstrickten Menschen aber zwangsläufig als furchtbar wahrgenommen wird, - und zwar genau dann, wenn Gott sich ihnen in seiner Gnade zuwendet, um sie aus ihrer Verstrickung zu befreien. Schauen wir uns die Geschichte von Michails Beichte näher an, um diesen Zusammenhängen nachzuspüren.

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3. Die heilsmittlerische Bedeutung Sossimas für den Mörder Michail

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Wenn wir verstehen wollen, wie in Dostojewskijs Erzählung Gott für Michail gegenwärtig wird, dann müssen wir uns an Sossima halten. In seiner Person verdichtet sich zunehmend Gottes helfende Zuwendung, sein Anspruch auf Wahrhaftigkeit (durch das öffentliche Geständnis) sowie das Gericht gegen den Michail, der sich vor diesem Anspruch zu drücken versucht. Sossima nimmt hier eine ähnliche Rolle für Michail ein wie Jesus Christus gegenüber seinen Zeitgenossen. In diesem Sinn zeichnet Dostojewskij Sossima als Christus-Typus. Wir müssen also zunächst versuchen, die Eigenart von Sossimas Einfluss auf Michail besser zu verstehen.

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3.1 Sossima als Vorbild

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In erster Näherung stellen wir fest, dass Sossima für Michail ein Vorbild ist. Der Mut zur konsequenten Umkehr, den er beim Duell vor aller Öffentlichkeit bewiesen hat, ist auch von Michail gefordert. Weil er diesen Mut bisher nicht aufbringen konnte, war er von Sossimas Verhalten so fasziniert und wollte alles darüber im Detail erfahren. Das wiederholte Zusammensein mit Sossima wirkte sich immerhin so auf ihn aus, dass er den Mut aufbrachte, seinen Mord vor Sossima zu gestehen. Das war der erste wichtige Schritt zur Verwirklichung seines Vorsatzes. Als er dann das öffentliche Geständnis nicht zuwege brachte, wurde Sossima für ihn zum lebendigen Vorwurf. Sossima verkörperte für Michail Gottes Willen und Gesetz. Im Angesicht von Sossima war es ihm nicht mehr möglich, sich guten Gewissens von seinem Vorsatz loszusagen.(2)

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Diese Perspektive ist aber erst das Ergebnis einer ersten Annäherung. Das Bild, das sich daraus ergeben hat, muss noch verfeinert werden, damit es dem Bild Sossimas aus der Erzählung entspricht. Zunächst: Sossima ist nicht einfach Vorbild in einem äußerlichen und moralischen Sinn, das man einem zur Besserung vorhält. Da ist niemand, der Michail auf Sossima hinweist, um dann zu sagen: „Schau doch, wie der das macht. So musst du es auch tun!" Und Sossima selber ist weit davon entfernt, sich gegenüber Michail als ein Vorbild hinzustellen oder sich auch nur dafür zu halten.

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Das Eigenartige und Faszinierende der literarischen Figur Sossimas, wie Dostojewskij sie zeichnet, ist die Selbstverständlichkeit, Mühelosigkeit und geradezu schlafwandlerische Sicherheit, mit der er auch die radikalsten Schritte auf dem Weg der Bekehrung und Christusnachfolge geht. Da ist nichts zu spüren von moralischem Heroismus, bei Sossima scheint alles ganz einfach und natürlich zu gehen. Und damit macht er glaubhaft deutlich, dass es nicht seine Leistung ist, sondern Gottes Gnade, die dem Menschen sein gutes Tun ermöglicht. Nicht durch einzelne Worte, sondern durch sein ganzes Verhalten lässt er Michail spüren und gibt ihm die Zuversicht: „Auch du kannst es. Geh hin und gestehe, gehe ganz einfach und überlass alles andere Gott." - Bei alldem spricht Sossima nur wenig; nur wenn er von Michail dazu aufgefordert wird, spricht er seinen Rat aus. Es würde schon genügen, dass er - wie Christus vor dem Großinquisitor - überhaupt nicht spricht (vgl. 408).Und das keineswegs aus Passivität, sondern weil er alles, was notwendig ist, bereits - und viel deutlicher als alle Worte - durch seine Weise zu sein ausdrückt. Wir werden darauf noch zurückkommen. Aber zunächst gilt es, diese Eigenart Sossimas, auf die hier alles ankommt, an dessen eigener Bekehrung zu verdeutlichen.

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3.2 Sossimas Größe: radikaler Einsatz der

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Was hat Sossima bei seiner Umkehr dazu gebracht, dass er plötzlich die Sinnlosigkeit des Duells einsah (und das buchstäblich in allerletzter Minute)? Ausschlaggebend war für ihn eine schmerzhafte Erfahrung eigenen Versagens. (3) Aufgeregt durch seine Duellforderung hatte er am Vortag des Duells seinen Knecht grundlos und maßlos geschlagen. Als er am folgenden Morgen erwachte, waren für einen Augenblick alle Wolken über seinem Leben wie fortgeweht. Er spürte die warme Morgensonne und hörte die Vöglein zwitschern. In diese reine Freude mischte sich aber ein widerwärtiges Gefühl, - und dieses erkannte er alsbald als Erinnerung an die unmenschliche Rohheit, mit der er seinen Knecht geschlagen hatte. Darauf setzte Sossima eine kleine aber alles Künftige entscheidende Tat: Auf dem Weg zum Wagen, der ihn zum Duell führen sollte, besinnt er sich, kehrt um und bittet seinen Knecht um Vergebung. Und als er merkt, dass das nicht genügt, wirft er sich vor diesem auf die Knie. Dieser Schritt war für den jungen Offizier, dessen Grundsünde die Überheblichkeit gegenüber Unterlegenen war, der alles entscheidende. Einen kurzen Augenblick, angeregt durch eine ganz unspektakuläre Gnadenerfahrung - der schöne Morgen mit den singenden Vöglein -, fand er in sich die Möglichkeit dazu, über den Schatten seiner Sünde zu springen und einen Untergebenen um Vergebung zu bitten. „Hieraus können Sie ersehen", erklärt Sossima später seinem Gast Michail, „dass es mir schon während des Duells leichter zumut war, da ich ja bereits zu Hause meinen Weg betreten hatte, und danach war alles Weitere nicht nur gar nicht mehr schwer, sondern sogar freudvoll und heiter für mich."

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Vordergründig zeigte sich Sossimas Größe bei der Verweigerung des Duells, in der er nicht nur dem Tod trotzte, sondern die Erwartungen aller Menschen brüskierte, auf deren Anerkennung er bisher so viel gegeben hatte. Die eigentliche Größe bestand aber im radikal konsequenten Einsatz der Gnadenerfahrungen, die ihm zuteil wurden. Was sich daraus ergab, war eine Kettenreaktion. Der erste Schritt der Verzeihungsbitte an den Knecht gab ihm die Kraft zum zweiten größeren: von der formellen Entschuldigung zum zerknirschten Kniefall. Er spürte, wie er frei wurde von Hochmut und Eitelkeit. Und damit war die Angst vor Tod und Schande gewichen. Auf einmal war er imstande, im Duellgegner den Menschen wahrzunehmen, und nicht mehr bloß die Personifizierung einer Demütigung, die er erfahren hatte. (4)

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Was Sossima damit gewonnen hatte, war eine fast vollständige Befreiung von seiner bisherigen eitlen Selbstbezogenheit. Dass er zunächst von seinen Kameraden der Feigheit bezichtigt, dann von vielen Bürgern als Narr verlacht wurde, kümmerte ihn ebenso wenig wie die modisch-kurzlebige Wertschätzung, die ihm eine Zeit lang zuteil wurde. Mit dieser Freiheit von der Meinung anderer wurde Sossima für Michail zum eigentlichen Vorbild. Um den Mut zu seinem öffentlichen Geständnis aufbringen zu können, musste Michail wie Sossima frei werden von der Furcht vor der Verachtung der Menschen.

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3.3 Die versäumte Zeit der Gnade

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Mit seiner Beichte vor Sossima hatte Michail den ersten Schritt getan. Damit wurde er frei für den entscheidenden zweiten Schritt: das öffentliche Geständnis. Im Gegensatz zu Sossima, der ohne zu zögern einen Schritt vor den nächsten gesetzt hatte, schreckte Michail zurück. Er zögerte so lange, bis die Kraft für seinen Entschluss verloren war. Er hatte die Zeit der Gnade - biblisch: den Gnaden-Kairós(5) - versäumt.

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Damit aber fiel Michail nicht nur in seine frühere Unentschiedenheit zurück, er stürzte tiefer. Die Einsicht in die Gebotenheit des Geständnisses blieb unverlierbar erhalten und entlarvte seine Unentschiedenheit als Versagen. Er versuchte, dieses Wissen abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Ohne dass Sossima etwas dazu getan hatte, wandelte er sich vom motivierenden Vorbild zur lebendigen Anklage: Ohne auch nur ein Wort zu sagen - allein durch seine Anwesenheit - war er für Sossima Zeuge des Anspruchs und der Möglichkeit eines Lebens in Wahrhaftigkeit. Michail fand sich vor die Alternative gestellt, entweder diesem Anspruch doch noch zu entsprechen oder aber Sossima - als personifiziertes Ebenbild seines schlechten Gewissens - brutal aus dem Weg zu räumen.

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3.4 Der enger werdende Weg einer kritischen Solidarität

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Welche Rolle hatte Sossima in dieser Phase? Michail zur Verwirklichung seines Vorsatzes zu drängen, hätte nichts gebracht. Denn er musste aus sich selber heraus die Entscheidung treffen. Sossima wusste das; in seiner Einfühlung für seinen Freund konnte er auch nachfühlen, wie schwer diesem sein Schritt fiel, und dass es ihm immer schwerer fallen musste, je länger er damit zögerte. Dabei war Michail auf Sossimas Solidarität angewiesen. Nur der Umstand, dass da einer an ihn glaubte - trotz seiner Schwäche und seines Zögerns - konnte ihm noch helfen zu diesem Entschluss. Doch durfte Sossimas Solidarität nicht so weit gehen, dass er Michail das gab, was dieser zunehmend forderte, - nämlich eine billige Entlastung seines schlechten Gewissens, die Zustimmung zu Michails Überlegungen, dass ein öffentliches Geständnis unnötig, nutzlos und sogar falsch wäre. Durch solches Nachgeben hätte Sossima sich als schlechter Freund erwiesen, denn auf diesem Weg hätte Michail seinen Frieden doch nie finden können.

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In dieser Situation, als Michail in seine frühere Schuldverstrickung zurückfiel, war von Sossima der mühevolle Weg einer kritischen Solidarität gefordert, - ein immer enger werdender Pfad zwischen dem Straßengraben einer Aufkündigung der Solidarität auf der einen Seite (wenn sich Sossima in Enttäuschung oder gar Verachtung gegen Michail gewandt oder von ihm abgewandt hätte), und dem anderen Straßengraben einer unkritischen billigen Solidarität, die Michail in seinem unglücklichen Status quo einfach bestätigt hätte. Sossima ging diesen Weg mit aller Behutsamkeit. Er übte keinen Druck auf den Unglücklichen aus und versuchte einfach, in Offenheit und Mitgefühl für ihn da zu sein. Aber selbst diese schweigend-solidarische Anwesenheit, die nur die Zustimmung zu Michails Ausreden verweigert und ihm die selbstauferlegte Verpflichtung nicht billig wegredet, ist bereits zu viel für Michail. Sossima erzählt:

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„Und er geht fort, als ob er getröstet wäre; aber am nächsten Tage kommt er wieder bleich und böse zu mir und bemerkt spöttisch: ‚Jedesmal, wenn ich bei Ihnen eintrete, sehen Sie mich mit solch einer Spannung an, als wollten Sie fragen: Hat er es oder hat er es noch nicht getan? Gedulden Sie sich, und verachten Sie mich nicht gar zu sehr. Das ist doch nicht so leicht getan, wie Sie annehmen. Ja, vielleicht werde ich es überhaupt nicht tun. Sie werden dann doch nicht hingehen und mich anzeigen, wie?' - Ich aber, weiß Gott, ich fürchtete mich schon, überhaupt nur zu ihm aufzublicken, geschweige denn, ihn mit törichter Spannung anzusehen! Ich war schon fast krank vor Qual, und meine Seele war voll Tränen. Die Nächte verbrachte ich schlaflos." (504f)

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3.5 Reine Selbstlosigkeit als notwendige Voraussetzung für die kritische Solidarität mit einem verstockten Sünder

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Was kann Sossima hier noch tun? Wie kann es ihm hier noch gelingen, die kritische Solidarität gegenüber seinem Freund aufrecht zu erhalten? Unverzichtbare Voraussetzung dafür ist Sossimas Befreitheit von aller hochmütigen oder ängstlichen Selbstbezogenheit. Eine solche Selbstbezogenheit hätte ihn unweigerlich dazu geführt, dass Sossima sich durch Michails ungerechtes Verhalten gekränkt gefühlt hätte. Die Sündenverstrickung, in die Michail tiefer als zuvor zurückglitt, nachdem er den Kairos der Gnade versäumt hatte, bestand wesentlich in einer ängstlichen Selbstbezogenheit. Er fürchtete sich davor, durch sein Geständnis das Ansehen bei allen Menschen - von der Öffentlichkeit bis zu Frau und Kindern - einzubüßen. Diese Furcht machte ihn hart und ungerecht gegenüber Sossima. Die „natürliche" Reaktion Sossimas wäre nun gewesen, dass auch er sich in seinem Selbstgefühl gekränkt gefühlt hätte. Ob er nun mit gleicher Münze zurückgezahlt hätte - in beleidigter Aggression gegen den Ungerechten -, oder ob er sich von ihm zurückgezogen hätte - in beleidigter Resignation: in jedem Fall wäre auch er selber auf eine stolze oder ängstliche Selbstbezogenheit zurückgeworfen worden. Michail hätte Sossima in seine eigene Sündenverstrickung hineingezogen, er hätte ihn damit angesteckt.

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Sossima aber blieb frei von aller Ansteckung. Eine Kränkung des Selbstgefühls kommt gar nicht in seinen Sinn. Zwar bleibt er Michails wachsender Verzweiflung gegenüber keineswegs gleichgültig. Wie das obige Zitat zeigt, wurde er selber in eine Verzweiflung hineingetrieben. Aber diese Verzweiflung bezieht sich auf den leidenden Anderen, - Sossima lässt sich Michails Verzweiflung ganz nahe gehen, so sehr, dass sie geradezu zu seiner eigenen wird. In dieser schrankenlosen Solidarität ist Sossimas Verzweiflung gerade nicht von der gleichen Art wie jene Michails, - sie ist sogar das genaue Gegenteil. Michails Verzweiflung ist Verzweiflung über sich selber (in der Angst darum, jede Würde der eigenen Person zu verlieren). (6) Im Gegensatz dazu ist Sossimas Verzweiflung gerade nicht selbstbezogen, sondern sie fühlt mit dem Leiden des Anderen.

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In dieser Solidarität, in diesem Mittragen des Leidens des Anderen, kann Sossima Michail noch weiter Halt geben, auch wenn jedes Wort und jede Geste missverstanden wird. Durch diese Solidarität vermag Sossima seine Funktion als Vorbild (in einer Befreitheit von ängstlicher Selbstbezogenheit) gegenüber Michail aufrecht zu erhalten. Gerade dadurch aber vergrößert Sossima Michails Qualen. Ohne alle fordernden Worte konfrontiert er ihn damit durch sein Sein mit jener freien und wahrhaftigen Lebensform, nach der Michail sich ausgestreckt hatte und deren Möglichkeit er nun resignierend leugnen wollte. Paradoxerweise wäre ihm in seiner Situation wohler gewesen, wenn er Sossima mit seiner Selbstfixierung angesteckt hätte. Dann hätte er zwar einen Freund verloren, aber damit hätte er zugleich die dringend verlangte Bestätigung gehabt, dass es Wahrhaftigkeit und wahre Bekehrung doch nicht gibt. Auch Sossima hätte sich hier als im Grunde eitler, selbstgefälliger Mensch offenbart. Sossima aber blieb frei von Selbstsucht. So konnte er - in klarer Ausrichtung auf die Not des Anderen - den enger werdenden Weg der kritischen Solidarität wahren und bis zuletzt eine helfende, letztlich heilsmittlerische Funktion gegenüber Michail wahren. Dass Sossima diesen Widerstand in Solidarität beibehielt, war für den in Sünde Verstrickten die denkbar größte Qual. Das musste ihn so sehr martern, dass er zuletzt - nachdem der Weg des Geständnisses völlig versperrt schien - nur noch eines wollte, diese qualvolle Zeugenschaft seines eigenen Versagens auszulöschen, in einem weiteren Mord, - der ohne allen Sinn war, denn nichts hätte er äußerlich damit gewonnen gehabt. Den Mord an Sossima hätte er nicht mehr vertuschen können. Er wäre sein sicheres Verderben gewesen. Aber so groß war seine Qual, dass das überhaupt nicht mehr zählte. Rückblickend wird Michail seinem Freund offenbaren, wie knapp er der Ermordung entgangen ist:

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„Ich ging damals von dir in die Dunkelheit hinaus, wanderte durch die Straßen und kämpfte mit mir. Und plötzlich hasste ich dich so sehr, dass mein Herz es kaum ertragen konnte. ‚Jetzt', dachte ich, ‚ist er der einzige, der es weiß und mein Richter ist, und jetzt kann ich ja gar nicht mehr meiner Strafe entgehen.' Nicht, dass ich gefürchtet hätte, du würdest mich verraten, daran habe ich mit keinem Gedanken gedacht, aber ich sagte mir: ‚Wie werde ich ihm noch in die Augen sehen können, wenn ich es nicht morgen tue?' und wenn du auch am Ende der Welt wärest, es wäre einerlei, du lebtest doch, und der Gedanke, dass du lebst und alles weißt und mich verurteilst, dieser Gedanke wäre mir unerträglich gewesen. Ich hasste dich, als wärest du die Ursache von allem, und als wärest du an allem schuld. Ich kehrte damals zu dir zurück, denn ich wusste, auf deinem Tisch lag dein Dolch. Ich setzte mich und bat dich, dich gleichfalls zu setzen, und ich überlegte es mir noch eine Minute lang. Wenn ich dich aber getötet hätte, so wäre ich dieses Mordes wegen zugrunde gegangen, selbst wenn ich von meinem früheren Verbrechen nichts gesagt hätte. Doch daran dachte ich nicht und wollte ich auch in dieser Minute nicht denken. Ich hasste dich und wollte mich für alles an dir rächen. Aber Gott besiegte den Teufel in meinem Herzen. Wisse aber, dass du dem Tode nie näher gewesen bist." (510)

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4. Die Härte der Liebe des Mitleidens

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Halten wir die Paradoxie noch einmal fest: Gerade dadurch, dass Sossima gegenüber dem verzweifelnden, zunehmend hasserfüllten Michail seine Solidarität aufrecht erhält, verursacht er ihm die allergrößten Qualen. Amäußersten Tiefpunkt seiner Verzweiflung sind dem in Sünde Verstrickten ein verpfuschtes Leben und die Erwartung einer ewigen Verdammnis lieber, als diese Zuwendung auszuhalten, die doch allein noch seine Rettung bewirken kann. In genau diese paradoxe Situation hinein gibt Sossima dem verzweifelten Michail das Bibelwort vom furchtbaren Gott:

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„‚Entscheiden Sie über mein Geschick!', stieß er [Michail] plötzlich hervor. - ‚Gehen Sie hin und gestehen Sie', sagte ich [Sossima] flüsternd zu ihm hin. Die Stimme versagte mir fast, doch flüsterte ich es im festen Ton. Darauf nahm ich vom Tisch das Evangelium in neurussischer Übersetzung und zeigte ihm Johannes, Kapitel XII, Vers 24: ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein, stirbt es aber, so bringt es viele Frucht.' Diesen Vers hatte ich kurz vor seinem Eintritt gelesen. - Er las ihn: ‚Das ist wahr', sagte er, aber er lächelte bitter. ‚Ja', sagte er nach einigem Schweigen, ‚es ist unheimlich, was man in diesem Buch finden kann. Es ist aber leicht, diese Sprüche anderen vor die Nase zu halten. Und wer hat das geschrieben, doch nicht etwa Menschen?' - ‚Der Heilige Geist', sagte ich. - ‚Sie haben gut schwätzen', sagte er höhnisch und lächelte fast schon hasserfüllt. Ich nahm wieder das Buch, schlug es an einer anderen Stelle auf und zeigte ihm Ebräerbrief Pauli, Kapitel X, Vers 31. Er las: ‚Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.' - Er las es und schleuderte das Buch von sich. Er zitterte am ganzen Leibe. - ‚Ein schrecklicher Vers' sagte er. ‚Wahrlich, Sie verstehen auszusuchen!' Er erhob sich vom Stuhl: ‚Nun', sagte er, ‚leben Sie wohl, vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen ... im Paradiese werden wir uns wiedersehen. Also vierzehn Jahre sind es her, dass ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin! - Jetzt weiß ich wenigstens, wie diese vierzehn Jahre heißen! Morgen werde ich diese Hände bitten, mich freizugeben.' - Ich wollte ihn umarmen und küssen, aber ich wagte es nicht, so verzerrt war sein Gesicht, und sein Blick war schwer. Er ging hinaus. ‚Mein Gott', dachte ich, ‚wohin geht dieser Mensch!'"

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„Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen." - Warum gerade diese Schriftstelle? Weil sie am schärfsten diese Paradoxie artikuliert, die Michail gerade in der Person des kritisch solidarischen Sossima erfährt: dass für den verstockten Sünder nichts qualvoller ist, als dass die helfende Hand Gottes sich ihm weiter entgegenstreckt. In diesem Zusammenhang ist für Hebr 10,31 klar: Der lebendige Gott, in dessen Hände zu fallen schrecklich ist, ist keineswegs ein grausamer, destruktiver Gott. Und es ist keineswegs ein Gott, der sein Antlitz verhüllt, um den Sünder seinem eigenen Schicksal zu überlassen. Der lebendige Gott, von dem hier die Rede ist, ist jener Gott, der selbst dem verstockten Sünder seine helfende Hand entgegenhält. Diese bleibende, helfende Gegenwart aber ist für den verstockten, verbitterten Sünder das Allerschlimmste. Deshalb ist es schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

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Es ist deshalb ein von vornherein verfehltes Unterfangen, wenn man versucht, bei Schriftstellen wie Hebr 10,31 einen zornigen, vernichtenden Gott mit der Heilsbotschaft des gnädigen, erlösenden Gottes nachträglich in Einklang zu bringen. Und es kann auch nicht darum gehen, Aussagen vom furchtbaren, zornigen Gott zu relativieren, um die entgegenstehenden Aussagen von seiner Gnädigkeit zu retten. Vielmehr muss gesehen werden, dass für den Menschen, der Gottes Gnade zurückgewiesen hat, gerade der gnädige Gott zum schrecklichen Gott wird, - und zwar im Sinne einer gleichsinnigen Steigerung: je gnädiger desto schrecklicher, - aber auch umgekehrt: der größere Schrecken ist Hinweis für die größere Gnade von Gottes rettender Zuwendung.

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Diese Zuwendung Gottes wird für Michail greifbar in der durchgehaltenen Zuwendung seines Freundes Sossimas. In ihr konkretisiert sich auch die Furchtbarkeit des lebendigen Gottes. Für Michail wird der schreckliche Gott greifbar - er wird zum lebendigen Gott - in der Unerträglichkeit von Sossimas solidarischer Gegenwart. So schrecklich ist Sossima für Michail, dass er ihn töten will, - und es ist Gott selber, den er darin auslöschen will, - auch wenn das die Zerstörung seiner eigenen Existenz bedeuten sollte.

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5. Die Zwielichtigkeit Gottes aus der Perspektive des unengagierten Beobachters

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Wir haben gesehen: Dem verstockten Sünder - in unserer Geschichte: dem Mörder Michail, der den als richtig erkannten Schritt des Geständnisses nicht mehr gehen will - erscheint Gott nur noch in schrecklicher Gestalt. Folgen wir hingegen der Perspektive eines Menschen, der sich für den verstockten Sünder in kritischer Solidarität einsetzt, dann erkennen wir, dass hier alles eher als ein unbarmherzig-strafender Gott am Werk ist: Es handelt sich um Gottes Einsatz bis ins Letzte, um den Sünder aus seiner selbstverursachten Selbstisolation zu befreien. Dieser Einsatz muss für den Menschen, der sich ängstlich oder hochmütig in sich selber verbarrikadiert, die allergrößte Bedrohung darstellen.

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Zwischen diesen beiden extremen Perspektiven liegt die allgemeine, durchschnittliche Perspektive: Sie ist ein sozusagen mittlerer, scheinbar „neutraler", weil unengagierter Zugang, in dem wir uns weder von der Verzweiflung Michails noch von dem Engagement Sossimas mitreißen lassen. Aus solcher Perspektive ergibt Dostojewskijs Erzählung ein höchst zwielichtiges Gottesbild:

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Zunächst ist es die Geschichte von einem Mörder, dessen Tat unentdeckt, ungestraft und ungesühnt bleibt. Wenn man sieht, wie hier einem kaltblütigen Mörder in den Jahren nach seiner Tat auch noch alles denkbare Glück einfach in den Schoß fällt, möchte man mit den alttestamentlichen Schriftstellern Gott wegen des Glücks der Frevler anklagen:

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„Es hat keinen Sinn, Gott zu dienen. Was haben wir davon, wenn wir auf seine Anordnungen achten und vor dem Herrn der Heere in Trauergewändern umhergehen? Darum preisen wir die Überheblichen glücklich, denn die Frevler haben Erfolg; sie stellen Gott auf die Probe und kommen doch straflos davon." (Mal 3,14f) (7)

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Der Prophet Maleachi korrigiert diesen Eindruck, indem er den Frevlern ein umso schlimmeres Strafgericht ansagt. Gott hat den Tag der Rache nur aufgeschoben:

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„Denn seht, der Tag kommt, er brennt wie ein Ofen: Da werden alle Überheblichen und Frevler zu Spreu und der Tag, der kommt, wird sie verbrennen, spricht der Herr der Heere. Weder Wurzel noch Zweig wird ihnen bleiben." (Mal 3,19)

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So geschieht es mit dem Mörder Michail. Der Fortlauf der Geschichte offenbart, dass Gott das Gericht über Michail nur aufgeschoben hat. Ja mehr noch: das Glück, das er ihm zuteil werden ließ, erweist sich als überaus wirksames Instrument, um Michail dem Gericht zu übergeben; - und zwar einem höchst angemessenen, gerechten Gericht, mit einem Urteil, das er sich selber spricht: mit seinem inzwischen sensibilisierten Gewissen.

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Das Glück und die Erfolge, die Michail in den Jahren nach seinem Mord erfuhr, blieben ihm nämlich nicht bloß äußerlich, sondern wandelten ihn auch innerlich zu einem guten Menschen. Aber genau damit war die Grundlage gelegt, dass sein bisher unempfindliches Gewissen ihn peinigte. Unter der Last des schlechten Gewissen wandelte sich ihm gerade das Schönste zum Unerträglichen:

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Er kommt heim zu seiner geliebten Frau, und es quält ihn der Gedanke: „Meine Frau liebt mich, - wenn sie es aber wüsste!" Und als sie ihm glücklich mitteilt, dass sie ein Kind erwartet, peinigt ihn der Gedanke: „Einem Kinde habe ich das Leben gegeben, und einem anderen Menschen habe ich es genommen." - Es wurden ihm Kinder geboren, er aber sagte sich: „Wie darf ich es wagen, sie zu lieben, sie zu erziehen und zu belehren, wie darf ich ihnen von Tugend reden, ich der ich Blut vergossen habe." (502)

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Auf die Erfahrung des verzweifelnden Michail trifft damit ganz das zu, was Maleachi dem Frevler für den Tag der Vergeltung prophezeit: „... der Tag, der kommt, wird sie verbrennen, spricht der Herr der Heere. Weder Wurzel noch Zweig wird ihnen bleiben."

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Damit ist der Verdacht eines gleichgültigen und ungerechten Gottes (angesichts des Glücks der Frevler) behoben, - allerdings so wirkungsvoll, dass Gott nun in den entgegengesetzten Verdacht der Unbarmherzigkeit gerät. Er erscheint als ein „Künstler" eines höchst effektiven und brutalen Gerichts. (8) Um wie viel härter als eine Verurteilung durch äußeren Glücksentzug ist doch, wenn ein Mensch das Glück zu schmecken bekommt, nur um dann festzustellen, dass unter seinen blutbefleckten Händen sich jedes Glück in das größte Unglück wandelt!

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Unversehens finden wir uns erinnert an eine der kleinen Geschichten, mit denen Iwan seine Empörung gegen Gott und die ihn repräsentierenden Christen vor Aljoscha ausgedrückt hat. Es ist die Geschichte von einem Hirtenjungen, der - völlig verroht und ohne jede Erziehung aufgewachsen - bei einem Raub einen alten Mann totgeschlagen hatte (vgl. 389f). Der Jugendliche wurde gefasst, ins Gefängnis gesteckt, und erhielt dort „von Pastoren und allen möglichen Anhängern christlicher Brüderschaften, wohltätigen Damen und so weiter" eine umfassende sittliche und religiöse Bildung. Damit wurde er nun fähig, sein früheres Unrecht einzusehen, und freimütig bekannte er seine Schuld. In großer Begeisterung und mit gemeinsamem Gotteslob wurde er dann dem Schafott zur Todesstrafe übergeben.

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Der Verdacht, der von der Michail-Geschichte her auf Gott fällt, erinnert frappierend an die Kritik, die Iwan mit dieser Geschichte ausspricht. In sittlicher Verrohung, nur auf seine Gekränktheit fixiert und ohne alle Gewissensbisse, wird Michail zum Mörder. In der Folge wird er nicht bestraft (das Gericht bleibt aufgeschoben), sondern erfährt durch glückliche Umstände eine Herzensbildung, die ihn sein früheres Unrecht einsehen lässt. Damit aber ist er nun reif - nicht für Gottes vergebende Barmherzigkeit, sondern: - für Gottes unbarmherzig dreinschlagendes Gericht: Alles erfahrene Glück wird ihm wertlos, ja zur Qual pervertiert, und er ist knapp davor, sich das Leben zu nehmen (vgl. 502). Der Unterschied zu Iwans Geschichte vom Hirtenjungen aus dem moralistischen Genf scheint nur darin zu bestehen, dass Gott das Gericht mit noch größerer Raffinesse anzusetzen weiß. Nicht nur die Verurteilung geschieht aus dem Mund des Angeklagten, auch die Strafe kommt aus seinem Inneren, - mit Gewissensbissen, die ihn bis zum Tode quälen.(9)

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Aber - so könnte man gegen diese Verdächtigung Gottes einwenden - dem Mörder Michail wird ja ein Ausweg gewiesen: Er sollte hingehen, seine Schuld öffentlich bekennen und auf diese Weise der Wahrheit die Ehre geben. Doch was würde dieser Schritt bedeuten: Alles, was Michail seit seinem Mord gewonnen hat an Ansehen, Reichtum und vor allem: an Familienglück, würde er damit verlieren. Er würde in die Verbannung gehen müssen, und seine Familie würde an Enttäuschung und allgemeiner Ächtung wahrscheinlich zugrunde gehen. Ist das nicht eine weitere Bestätigung der Grausamkeit Gottes, wenn er Michail dazu nötigt, aus eigenen Stücken diese Bestrafung zu wählen? Es bleibt also bei dem Eindruck: Mit dem, was Michail in den vierzehn Jahren nach seinem Mord erlebt hat, hat Gott über ihn das denkbar grausamste Gericht verhängt. Was hätte er damals, unmittelbar nach der Bluttat, dem eigenbrötlerischen und neurotischen Menschen wegnehmen können? - das Leben? - Was hätte das für ihn damals gezählt. Vermutlich wäre ihm ohnehin alles einerlei gewesen. Also ließ Gott ihn Geschmack am Leben, an der Liebe, der Schönheit und am Guten finden, - nur um ihn dann dazu zu treiben, das alles wegzuwerfen.

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Dieser Eindruck eines grausamen Gottes spiegelt sich für Michail in der Gestalt Sossimas. Die Freundschaft, die Michail hier gesucht und glücklich gefunden hat, die ihm Hoffnung gemacht und Linderung für seine Qualen versprochen hat, treibt ihn nur in noch schlimmere Nöte. In Sossima haben Michails Gewissensqualen ein Gesicht bekommen. Der Verdacht eines grausamen Gottes fällt zurück auf den Verdacht einer Grausamkeit Sossimas, die umso schlimmer wird, als sie sich - geradezu unangreifbar - unter dem Deckmantel der guten Absicht und des Mitgefühls verbirgt. Machen wir, um das deutlicher zu sehen, ein Gedankenexperiment: Was könnte ein unbarmherziger Richter, der zugleich ein teuflischer Psychologe wäre, Schlimmeres aufbieten, als sich gegenüber Michail genauso zu verhalten, wie es Sossima tat? Der enger werdende Weg einer kritischen Solidarität - zwischen den Straßengräben von Angriff und verachtender Abwendung - erweist sich in dieser Perspektive als der Weg der maximalen Grausamkeit. Würde der unbarmherzige Richter Sossima sich - in vorgeblicher Enttäuschung - von Michail zurückziehen (etwa, indem er ihn nicht mehr empfängt), wäre dieser immerhin befreit von der qualvollen Konfrontation mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Und würde Sossima seine Kritik verschärfen zum Ausdruck aktiver Verachtung, könnte Michail seinen Zorn über die Hartherzigkeit Sossimas loswerden. Er hätte nun die Chance, den unerträglichen Gewissensdruck durch Aggression wenigstens abzulenken. Aber Sossima verhält sich nach wie vor freundlich und mitfühlend, ja er scheint unter der Schwäche Michails zu leiden, sie als eigene Last auf sich zu nehmen. Wie mies muss Michail sich da fühlen? Zuletzt wird er auch noch dazu getrieben, einen Wehrlosen zu ermorden: Dieser Mord wäre die totale Bankrotterklärung von allem, was er an Gutem irgendwann in sich gefühlt hatte. Für Michail bliebe nur noch ein Strick oder eine Pistole, um einen Schlussstrich unter seine verpfuschte Existenz zu ziehen.

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6. Der Vorwurf des Großinquisitors: Überforderung der Menschen

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Sossima mit seinem Weg der kritischen Solidarität erscheint hier also ebenso zwielichtig, wie Gott als zwielichtig erscheint, als dessen ausführendes Werkzeug Sossima in der Erzählung auftritt. Das was als Weg der kritischen Solidarität - in maximaler Liebe - erschien, erweist sich nun aus anderer Perspektive als Weg der maximalen Grausamkeit. Dass dem so ist, liegt daran, dass Liebe den Werten von Wahrhaftigkeit und Freiheit verpflichtet ist. Sossima kann es dem um Strafnachlass ringenden Michail („Muss es denn sein, dass ich mich stelle?") nicht einfacher machen, weil er weiß, dass Michail seinen Frieden nur auf dem Weg der Wahrhaftigkeit finden kann, - und er darf ihn nicht zu diesem Schritt drängen, weil Michail diesen Weg aus Eigenem heraus, in Freiheit wählen muss. Nur so ist die Befreiung von der lastenden Schuld möglich. - Der Verdacht auf Grausamkeit fällt somit zurück auf diese eben genannten Voraussetzungen: dass der Mensch gemäß den Werten von Wahrhaftigkeit und Freiheit das Gute zu wählen hat. Ist ein solches Menschenbild nicht die totale Überforderung? Ist die solidarische Liebe, mit der ein Mensch sich dafür einsetzt, dass andere einen sie völlig überfordernden Weg gehen, nicht die totale Grausamkeit? Das muss Michail Sossima gegenüber empfunden haben - von daher müssen seine zunehmenden Vorwürfe gegen ihn begriffen werden. Und genau das ist der entscheidende Punkt von Iwans Gottesempörung, die er in der Legende vom Großinquisitor zum Ausdruck bringt. Dort wirft der Großinquisitor Jesus vor:

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„Da sind nun fünfzehn Jahrhunderte vergangen, gehe hin und sieh sie Dir an: wen hast Du bis zu Dir emporgehoben? Ich schwöre Dir, der Mensch ist schwächer und niedriger geschaffen, als Du es von ihm geglaubt hast. Wie soll er denn dasselbe erfüllen, was Du erfüllt hast? Kann er das überhaupt? Da Du ihn so hoch einschätztest, handeltest Du, als hättest Du kein Mitleid mit ihm gehabt, denn Du verlangtest gar zu viel von ihm, - und wer war es, der das tat? Derselbe, der ihn mehr als sich selbst liebte! Hättest Du ihn weniger geachtet, so hättest Du auch weniger von ihm verlangt, das aber wäre der Liebe näher gekommen, denn seine Bürde wäre dann leichter. Er ist schwach und gemein." (417)

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Dem stellt der Großinquisitor den Weg einer hierarchischen Kirche entgegen, die sich damit - nach Iwans Fiktion - bewusst ins Gefolge des großen Versuchers Satan begibt (vgl. 419):

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„Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität aufgebaut. Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder wie eine Herde geführt wurden, und dass von ihren Herzen endlich das ihnen so furchtbare Geschenk, das ihnen so viel Qual gebracht hatte, genommen wurde. Waren wir im Recht, als wir so lehrten und handelten? Sprich! Haben wir die Menschheit denn nicht geliebt, als wir demütig ihre Ohnmacht einsahen, liebreich ihre Bürde erleichterten und ihrer kraftarmen Natur sogar zu sündigen erlaubten, allerdings nur mit unserer Genehmigung?" (418)

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Man muss zunächst die Tragweite der Position des Großinquisitors erkennen. Mit ihr kehren sich die zentralen Texte über die Barmherzigkeit Gottes in ihr Gegenteil um. Etwa das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das auch gerne „Gleichnis vom barmherzigen Vater" genannt wird. Ist es denn wirklich barmherzig, wenn der Vater den Sohn ins Unglück ziehen lässt? Ist es nicht der grausamere Weg, ihn diese demütigenden Erfahrungen machen zu lassen, ihn auf diese Weise so klein zu machen (oder: zuzulassen, dass er so klein gemacht wird, - wo liegt da letztlich noch der Unterschied?), bis er angekrochen kommt und um Wiederaufnahme bittet? (Und welche Ungerechtigkeit tat er damit seinem älteren Sohn an...?) Wäre es da nicht barmherziger gewesen, wenn der Vater seinen Sohn verprügelt, ihn zu Hausarrest und Zwangsarbeit verpflichtet und ihm so seine Flausen rechtzeitig ausgetrieben hätte? Irgendwann wäre der Sohn dann von selber gekommen und hätte dem Vater für diese Konsequenz gedankt.

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Solche Pervertierungen ergeben sich dann, wenn man als „Realist" vom Menschen klein denkt. Wenn jemand keine Flügel hat, dann ist es unmenschlich, ihm das Fliegen beibringen zu wollen. Wenn ein Leben in Freiheit und Wahrhaftigkeit für die Menschen eine Nummer zu groß ist, dann ist es humaner, ihnen ein billigeres Glück anzubieten. Das ist der Realismus des Großinquisitors: die allermeisten Menschen sind nicht zur Freiheit geboren, deshalb ist es grausam, wenn man sie den Strapazen dieses steilen Glücks aussetzt. Teile ihnen das kleine Glück zu - mit Zuckerbrot und Peitsche - und sie werden zufrieden sein und dir aus der Hand fressen.

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Der Großinquisitor bestreitet nicht, dass es auch Menschen gibt, die den steilen Weg des freien Glaubens an Gott gehen können, aber das ist die Minderheit. Dieser Weg ist nichts für das breite Volk. Damit wird der Weg Jesu vollends disqualifiziert: er fußt auf der elitären Entscheidung, einer kleinen Minderheit ein echtes Glück zu ermöglichen und dafür die große Masse der Menschen verloren gehen zu lassen.

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Die Geschichten aus dem Sossima-Zyklus scheinen das zu bestätigen. Sossima geht den Weg der radikalen Wende zum Guten scheinbar mühelos. Damit gehört er zu den Auserwählten, die die Kraft haben, den steilen Weg des Christentums zu gehen, seine moralischen Höhen zu erklimmen und die dünne Luft der christlichen Wahrheit zu atmen. Michail ist schwächer. Mit seinem Unvermögen, den geforderten Schritt zu tun, steht er für das breite Volk, das vom Anspruch des Christentums auf vollkommene Wahrhaftigkeit und Freiheit überfordert wird. Von daher ergibt sich der Verdacht der Grausamkeit gegen Gott und seinen Handlanger Sossima: indem er die breite Straße des kleinen Glücks als Weg des Verderbens brandmarkt und Michail nur noch vor die Alternative stellt, zum Heiligen oder zum monströsen Doppelmörder zu werden.

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Dagegen steht der vorgeblich realistische, zynische Weg des Großinquisitors. Ihn wäre Sossima gegangen, wenn er Michail seine Gewissenslast einfach ausgeredet hätte. Er wäre der Logik des Großinquisitors auch dann gefolgt, wenn er den zum Geständnis nicht mehr bereiten Michail einfach angezeigt hätte. Selbst das wäre weniger grausam gewesen, als zu verlangen, dass Michail seine Bestrafung selber herbeiführt, - und ihn damit der Verzweiflung über sich auszusetzen, wenn er nicht imstande ist, den gebotenen Schritt zu setzen.

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Um Iwans Empörung gegen Gottes Heilsplan - nicht gegen Gott selber, sondern gegen seinen Weltplan, wie Iwan betont (vgl. 382) - vollständig nachvollziehbar zu machen, müssen wir ein Stück weit die christliche Antwort auf diese Anklagen vorwegnehmen, so wie Dostojewskij sie in der Geschichte von Michail auf erzählende Weise gibt: Der Fortgang der Geschichte zeigt ja, dass der Weg für Michail nicht zu steil war. Gott hat ihn zwar einen sehr harten Weg geführt, ihn aber dabei nicht allein gelassen, - er riskierte dafür sogar den Tod seines Knechtes Sossima, so wie er damals „seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben" hat (Röm 8,32). Das führte Michail zwar durch die schlimmste Krise, der Ausgang aber war für ihn der denkbar glücklichste. So kann er unmittelbar vor seinem Tod feststellen:

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„Gott erbarmt sich meiner und ruft mich zu sich. Ich weiß, dass ich sterbe, aber Freude und Friede fühle ich jetzt nach so vielen Jahren zum erstenmal in meinem Herzen. Sofort erschloss sich meiner Seele das Paradies, sobald ich's nur ausgeführt hatte" (509).

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Doch genau an dieser Stelle gelangen wir zum zweiten Brennpunkt von Iwans Empörung gegen Gottes Heilsplan. Damit auch die verstockten Sünder den Weg zurück zu Gott finden, wird das Leben zahlloser Unschuldiger aufs Spiel gesetzt. Ungezählte und undenkbare Grausamkeiten müssen geschehen, bis auch die verbohrtesten Sünder ihren Weg der Verstockung bis zu jenem Ende gegangen sind, von dem aus Gott ihnen in einem günstigeren Licht erscheint und sie sich freiwillig seiner grenzenlosen Barmherzigkeit unterwerfen. Auf diesen Wegen der Erlösung verstockter Sünder begegnen uns die mutwillig aufgespießten Kinder, der von den Hunden zu Tode gehetzte Knabe, das auf dem kalten Klo über Nacht eingesperrte Mädchen und die anderen Beispiele, die Iwan als Belege für eine böse gewordene Schöpfung anführt.(10) Diese Geschichten erzählen zugleich von den Untaten notorischer Sünder, die ihre verzweifelte Gottesverweigerung weitertreiben, indem sie Gottes Ebenbild gerade an den schuldlos-schönen Angesichtern der Schöpfung (für Iwan exemplarisch: an Kindern) auszulöschen versuchen. Und kein Gott hindert sie an diesem Frevel! Diese Heilsökonomie, in der das Leiden von unschuldigen Opfern die Täter an jenen Punkt der Verzweiflung führt, wo auch sie bereit sind, sich der Barmherzigkeit Gottes zu überlassen, - diese Heilsökonomie will Iwan keinesfalls gelten lassen. Kein noch so hoher Gewinn an Bekehrungen von Sündern und Aufgehen aller in eine umfassende Harmonie kann nach Iwans Auffassung den Preis rechtfertigen, dass unschuldige Menschen (allen voran: die Kinder) leiden oder auch nur Menschen unschuldig leiden; - allen voran er selber: „Will ich doch nicht dafür gelitten haben, um mit mir, mit meinen Untaten und meinen Leiden für irgendwen die zukünftige Harmonie zu düngen." (397)

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7. Zwei zentrale Botschaften: das nahe Paradies und die universale Schuldsolidarität

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Dostojewskij geht nicht direkt auf diesen Einwand ein. Das Schicksal der unschuldig leidenden Kinder bleibt in den Sossima-Erzählungen ausgeklammert. (11) Unschuldige Opfer kommen zwar auch hier vor, - die junge Frau, die Michail ermordet -, aber ohne dass auf diese Problematik näher eingegangen würde. Was die Erzählungen aber massiv in Frage stellen, ist Iwans Voraussetzung einer unüberschreitbaren Vereinzelung der Menschen in ihrer Schuld. Dagegen ist der Sossima-Zyklus geprägt von der Überzeugung, dass die Vereinzelung der Menschen nicht natürlich, sondern eine Folge der Schuld ist. (12) Werden Menschen aus ihrer Schuldverflochtenheit befreit, so wie Sossima es glücklich erfahren durfte, dann öffnet sich die Fähigkeit zur Solidarität auch mit dem Sünder, und die Barrieren von Mein und Dein in der Schuldzuschreibung schwinden. So vermag Sossima angesichts des verzweifelnden Michail nicht mehr klar zu trennen zwischen dessen schuldhafter Verstockung und seinem eigenen Unvermögen, das Misstrauen Michails zu überwinden. In diesem Zusammenhang stehen zwei ganz zentrale Botschaften, die - voneinander untrennbar - in allen drei Sossima-Erzählungen wiederkehren:

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Die erste Botschaft handelt von der Überzeugung, dass das Paradies nur einen Schritt entfernt ist. In den Worten Michails:

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„Das Paradies ist in jedem von uns verborgen, auch in mir bricht es jetzt auf, und wenn ich nur will, wird es morgen schon in Wirklichkeit in mir erstehen und dann für mein ganzes weiteres Leben andauern." (494)

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Worin besteht dieses greifbar nahe Paradies? Für Dostojewskij ist es das Vertrauen darauf, dass man bereits bedingungslos angenommen und geliebt ist, - unverlierbar durch Gott selber. Mit diesem Vertrauen schwinden die Ängste vor Benachteiligung und Blamage, ebenso wie das Bedürfnis, die eigene Gleichwertigkeit oder Überlegenheit den anderen gegenüber zu bestätigen. Das Problem der Selbstsicherung gilt als erledigt, die Beschäftigung mit dem eigenen Ich wird uninteressant, und in den Mittelpunkt des Interesses tritt ganz selbstverständlich der jeweils Andere.

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Damit wird zugleich das Mitgefühl für die Anderen radikal verstärkt. Die Probleme, Ängste und Fehler der Anderen rücken nahe, als wären sie die eigenen. Man spürt das Bedürfnis, die eigene Befreitheit und Freude dem/der Anderen mitzuteilen. Und wenn das auf den Widerstand aus deren Sündenverstricktheit stößt, wird diese Grenze zugleich als eigene Begrenztheit erfahren. Damit ist die zweite zentrale Botschaft Dostojewskijs erreicht, die in der ersten vom greifbar nahen Paradieses grundgelegt ist. Wieder mit den Worten Michails: „dass jeder Mensch für alle und alles schuldig ist, ganz abgesehen von seinen eigenen Sünden ... Wahrlich, es ist so: dass, sobald die Menschen diesen Gedanken begriffen haben werden, das Himmelreich nicht nur in der Vorstellung, sondern in Wirklichkeit beginnen wird." (494f)

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Wenn wir Dostojewskijs Erzählungen als Antwort auf Iwans Empörung verstehen wollen, dann müssen wir uns bei diesen Worten über das nahe Paradiesesrede erinnern an Iwans Worte von der Eintrittskarte ins Paradies, die er zurückgeben will, wenn die selige Harmonie des Paradieses mit dem Leid von unschuldigen Menschen erkauft ist (vgl. 398f). Die Hauptpersonen des Sossima-Zyklus finden einen sofortigen Zugang zum Paradies, und dieser Zugang erfolgt durch die Überschreitung von Iwans Grundvoraussetzung einer Vereinzelung der Menschen in Leistung und Schuld. Wer diesen Weg beschreitet, wird selber in entscheidenden Punkten „wie ein Kind": Er (oder sie) ist rückhaltlos offen für den anderen und bereit, sich dem anderen schutzlos auszuliefern. Der Blick in einen derart von Selbstsucht reinen Menschen ist wie der Blick in die Augen eines Kindes.

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Die rückhaltlose und schutzlose Offenheit, mit der ein Mensch die kritische Solidarität zu einem in Sünde verstrickten Menschen lebt, vermag dessen Zweifel an der Aufrichtigkeit der Anteilnahme auszuräumen.

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8. Die erlösende Kraft einer rückhaltlosen Solidarität

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Diese abstrakt schwer nachvollziehbaren Zusammenhänge werden deutlicher im Blick auf jene dramatischen Minuten, in denen Michail, zu einem neuen Mord bereit, Aug in Aug seinem Freund gegenübersaß, der beinahe schon zu seinem Opfer geworden war. Sossima denkt daran zurück, wie nach einer harten Konfrontation Michail noch einmal zurückkehrte, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht:

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„‚Wo sind Sie denn gewesen?' Fragte ich ihn. ‚Ich', begann er, ‚ich habe, glaube ich, etwas vergessen ... mein Taschentuch, wenn ich nicht irre ... Aber selbst wenn ich nichts vergessen haben sollte, erlauben Sie, dass ich mich auf einen Augenblick setze ...' - Er setzte sich auf einen Stuhl. Ich stehe vor ihm. ‚Setzen Sie sich auch', sagte er. Ich setzte mich. So sitzen wir etwa zwei Minuten, er sieht mich unverwandt an, und plötzlich lächelt er seltsam, das ist mir unvergesslich; dann stand er auf, umarmte mich fest und küsste mich. - ‚Behalte es im Gedächtnis', sagte er, ‚wie ich zum zweitenmal zu dir gekommen bin. Hörst du, behalte das" - Zum erstenmal sagte er Du zu mir. Er ging fort. ‚Morgen!' dachte ich bei mir. Und so war es auch."

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Das heißt, am folgenden Morgen legte Michail sein öffentliches Geständnis ab. Wir haben bereits zitiert, wie er später diese Minuten der Unentschiedenheit beschrieb: seinen abgrundtiefen Hass auf Sossima und den unbedingten Willen, diesen unbequemen Zeugen zu ermorden. (13) - „Ich hasste dich und wollte mich für alles an dir rächen. Aber Gott besiegte den Teufel in meinem Herzen. Wisse aber, dass du dem Tode nie näher gewesen bist." (510)

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Was musste sich in diesen Minuten des schweigenden Aug-in-Aug abgespielt haben, dass Michail noch von seinem zerstörerischen Vorsatz abrückte und die Kraft zur erlösenden Tat gewann? Was musste das für eine Prüfung gewesen sein für Sossima, dessen reine Gesinnung der Solidarität in diesen Minuten auf Herz und Nieren geprüft wurde? Ein zu direkter Blick in die Augen des Anderen ebenso wie ein scheues Niederschlagen der Augen, jede Nuance in seiner Mimik konnte Michail den Eindruck vermitteln, dass er von Sossima im Grunde doch bereits aufgegeben, vielleicht sogar verachtet war. Dennoch musste Michail durch all seine Verstockung hindurch in diesem schweigenden Sein gespürt haben, dass Sossima es ehrlich meinte, und dass damit der Weg der selbstbefreiten Wahrhaftigkeit keine Heuchelei, sondern echte Möglichkeit war. Wo Kommunikation so verstellt war, dass sich mit Worten nichts mehr sagen ließ, konnte durch das bloße Sein die rettende Botschaft doch noch kommuniziert werden. Ein solches Beispiel kann nicht vorgespielt werden. Nur ein wirklich reines Herz ist - aus seinem Sein heraus - zu solcher Wirkung fähig.

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9. Urbild von Sossimas heilsmittlerischem Wirken: die Phasen des Wirkens von Jesus Christus

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Dostojewskij zeichnet die Gestalt Sossimas als Christus-Typus, und zwar auf eine differenzierte Weise. In Sossimas Engagement für Michail gibt es unterschiedliche Phasen, denen verschiedene Phasen in Jesu Wirken entsprechen.

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Die dramatische Christologie, wie sie in der Innsbrucker Dogmatik vertreten wird, unterscheidet fünf Phasen im Heilswirken Jesu Christi und bezeichnet diese als fünf Akte: 1. Akt: Verkündigung des Gottesreichs in Wort und Tat; 2. Akt: Androhung des Gerichts gegen Menschen, die sich dem Gottesreich-Angebot gegenüber verschließen; 3. Akt: Jesu Tod am Kreuz; 4. Akt: die Aufwerweckung Jesu; 5. Akt: Sendung des Heiligen Geistes. (14) In Sossimas Geschichte mit dem Mörder Michail lassen sich die ersten drei Akte wiederfinden.

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1. Akt: Verheißung des anbrechenden Gottesreichs  

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In der ersten Phase ist Sossima das lockend-verheißungsvolle Beispiel: durch sein eigenes befreites Sein - ganz zwanglos und natürlich - verheißt er, dass Befreiung von der Knechtung der eitlen Selbstfixierung und der daraus resultierenden Schuld möglich ist. Hier ist Sossima ganz Ebenbild von Jesus in der ersten Phase seines Wirkens: In der Verkündigung der befreienden Botschaft: „Das Himmelreich ist greifbar nahe! Ihr braucht nur einen kleinen Schritt zu tun. Setzt auf die Gnade, die sich euch gerade jetzt erschließt, setzt alles daran, und Euer Glaube wird Berge bewegen: die Berge eurer eigenen Schuld aus hochmütiger Selbstfixierung, und die Bergketten der Schuldverflechtungen, in denen die Menschen gefangen sind." - Das ist es, was Sossima erfahren und radikal gelebt hat. Das ist die zentrale Botschaft in der ersten Phase: „Das Paradies ist in jedem von uns verborgen, auch in mir bricht es jetzt auf, und wenn ich nur will, wird es morgen schon in Wirklichkeit in mir erstehen und dann für mein ganzes weiteres Leben andauern." (494) Wir sahen: Sossima braucht nicht viel darüber zu reden, er lebt diese Verheißung einfach vor. Damit verweist er auf die urbildliche Kraft der Paradies-Verheißung Jesu Christi: Vorgängig zu seinen Worten lebte er das anbrechende Gottesreich. Wer sich auf ihn einließ, wurde von seiner Wachstumskraft erfasst.

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2. Akt: Gericht über die Menschen, die sich dem Gnadenangebot verweigern  

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Wo Menschen aber von dieser Gnaden-Kraft erfasst wurden und sich nicht auf sie einließen, da wurde sie ihnen zum Gericht. So wie Sossima für den sich verstockenden Michail zur leibhaftigen Erinnerung an die versäumte Heilsmöglichkeit wurde, so wurde Jesus für jene, die sich dem von ihm ausgehenden Gnaden-Kairós verschlossen, zum Stein des Anstoßes. Schon die bloße Anwesenheit Jesu stand einer Rückkehr in die unschuldige Unentschlossenheit ihres vorausgehenden Lebens im Wege. Jesu Gerichtsworte, seine harten Warnungen, dass Heil an dem von ihm gezeigten Weg vorbei niemals zu finden ist, sind nur die Ausformulierungen eines grundlegenden Gerichts, das die links liegen gelassene Heilsmöglichkeit für jene bedeuten musste, die doch vorgeblich alles daran gesetzt hatten, Gottes Heil auf Erden zu verwirklichen. Für die Ankündigung des drohenden Selbstgerichts reicht bereits Jesu schweigende Gegenwart, so wie in der Legende vom Großinquisitor, wo Jesus schweigend dem Großinquisitor gegenüber verharrt. Dieses Schweigen, das nicht abwesend, sondern mitfühlend, kritisch-solidarisch ist, wirkt hier mehr als jedes Wort.

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3. Akt: Kreuz-Weg  

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Diese kritische Solidarität ist die Form, in der das Angebot zur Befreiung gegen die Verweigerung aufrecht bleibt (die Alternative wäre, dass Jesus sich gleichgültig von seinen Verächtern abgewandt und sie ihrem Schicksal überlassen hätte). Wer diese hochgehaltene Chance nicht ergreift, für den wird die bleibende Gegenwart des Gotteszeugen zur unerträglichen Marter. Er muss das provozierende Bild beseitigen. Der Hass gegen den zurückgewiesenen Jesus ist nicht zufällig, er entspringt nicht einer besonderen Bosheit einiger besonders schlechter Menschen, sondern er ergibt sich zwangsläufig. Erfasst wird davon nicht der gottferne Bösewicht, sondern gerade jener Mensch, der große Chancen (zur Bekehrung, zur Wahl des Guten) erhalten und diese Chancen nicht genützt hat. (15) In seiner Geschichte mit Michail kommt Sossima beinahe in diese Situation. Jesus ging seinen Kreuz-Weg bis an das Ende. In der Folge haben die biblischen Zeugen des Glaubens in diesem Kreuzestod eine Solidarität bis in den Tod gesehen, der sie erlösende Kraft zuschrieben. Durch das Kreuz hindurch führte der Weg zum Ereignis der Auferweckung, durch welches den verstockten Sündern durch ihre radikale Gottesablehnung hindurch der Heilsweg nochmals neu aufgemacht wurde.

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10.Theologisches Resümee

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Versuchen wir zusammenzufassen und Konsequenzen zu ziehen für die bohrende Frage nach der Rede vom zornigen Gott.

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10.1 Zur Interpretation von Hebr 10,31

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Zunächst zur Bibelstelle aus dem Hebräerbrief: Wird die Verwendung in Dostojewskijs Geschichte überhaupt der ursprünglichen Intention dieses Textes gerecht? - Der Zusammenhang, in den hinein Hebr 10,31 gesprochen wird, ist die Warnung vor einem Glaubensabfall (vgl. Hebr 10,26). Entspricht dies der Situation von Michail? In einem buchstäblichen Sinn wohl nicht, Konvertierung und Glaubensabfall werden ja nicht thematisiert. Wohl aber wurde deutlich, dass Michail zunehmend Gottes Willen und Gnade kennengelernt hat. Seine Entwicklung in den Jahren nach dem Mord beinhaltete eine echte moralische Besserung. Michail hatte Einsicht gewonnen darin, dass er seine Schuld nicht einfach unter den Teppich kehren durfte, und dass ein Leben in Wahrhaftigkeit unablässig war. Und er hatte - vor allem im fortgesetzten Kontakt mit Sossima - Gnadenerfahrungen gemacht, - in der Weise, dass er die Kraft für das öffentliche Geständnis bekommen hatte.

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Als entscheidender Punkt hat sich dann gezeigt, dass Michail den Kairós der Gnade versäumte. Unsere Deutung legt nahe, dieses Versäumen eines Gnaden-Kairós zu verstehen als konkrete Form eines Glaubensabfalls, von dem der Hebräerbrief spricht. Damit wird die Aufmerksamkeit auf subtile Formen des Glaubensabfalls gelenkt, und dies entspricht dem weiteren Kontext von Hebr 10,31 besser als die Annahme eines formellen Glaubensabfalls. Denn der weitere Zusammenhang von Hebr 11 besteht in der Warnung vor Nachlässigkeiten im Gemeindeleben. (16) Liest man den Text im Zusammenhang, dann wundert man sich, wie das Einreißen von Nachlässigkeiten und die Tod-Sünde des Glaubensabfalls so eng miteinander verknüpft sind. Unsere Deutung zeigt einen Weg dafür.

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Als Problem bei der Interpretation von Hebr 10,31 wurde häufig die Vereinbarkeit eines furchtbaren Gottes mit einem gnädigen Gott gesehen. (17) Angesichts dieser Problematik kann Exegese oft nicht mehr tun, als Einspruch zu erheben gegen eine Tendenz systematischer Theologie, die Rede vom furchtbaren Gott zu verharmlosen. Unsere narrativ-theologische Deutung kann diesem Widerstand gegen eine Relativierung von harten Stellen voll Recht geben und dennoch deutlich machen, dass kein Widerspruch besteht zur Rede vom gütigen Gott. Als zentrales Ergebnis hat sich ja erwiesen, dass gerade der gütige Gott dem Sünder gegenüber als schrecklich erscheinen muss. Wir können nun Theologie nicht einfach aus himmlischer Perspektive treiben, wo alle Widersprüche und schmerzhaften Gotteserfahrungen der Einsicht in die größere Liebe Gottes gewichen sind. Wir müssen Theologie treiben auf dem Boden unserer Realität, die nun einmal eine Realität der sündigen Verstrickung ist. In solcher Situation kann Gottes Gegenwart oft nur als schrecklich erfahren werden, und auf diesen Erfahrungsbestand muss eingegangen werden. Systematische Theologie kann und muss dann immer dazusagen, dass die Erfahrung des Schreckens Gottes eine sündig-verengte ist, dennoch muss sie die sündige Grundsituation des Menschen in ihre Gottesrede einbeziehen.

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10.2 Christologie ist unverzichtbar für die Theodizee-Frage

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Weiters hat sich gezeigt, dass die Frage nach dem schrecklichen Gott untrennbar mit der Frage verbunden ist, warum Gott das Leid zulässt. Für Dostojewskijs Roman wurde dies verdeutlicht durch den leitenden Hintergrund der Gottesempörung von Iwan Karamasoff. Diese Herausforderung lässt sich niemals abstrakt beantworten, sondern nur in einem weiteren heilsgeschichtlichen Kontext. Das geschah in erster Näherung, indem wir den narrativ-dramatischen Kontext der Erzählung erschlossen und dabei die heilsmittlerische Bedeutung von Michails Freund und Begleiter Sossima freilegten. Dabei zeigte sich als durchlaufende Hintergrundfolie das Heilswirken Jesu Christi in den Phasen von Gottesreichbotschaft, Gericht und Kreuz. Insgesamt wurde damit deutlich, dass eine Beantwortung der Theodizee-Frage - in Dostojewskijs Roman: die Gottesempörung Iwans, gipfelnd in der Legende vom Großinquisitor - nur durch ein tiefes Eintauchen in das Heilswirken Jesu Christi möglich ist.

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10.3 Das Vertrauen in einen guten Gott ist letztlich Glaubenssache

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Unser systematisches Ergebnis - dass die Erfahrung von Gottes Schrecken die Form ist, in der der sündige Mensch gerade Gottes gnädige Zuwendung erfährt - findet sich immer wieder in der Theologiegeschichte. Es zeigte sich allerdings, dass dieses Prinzip nur innerhalb eines weiten heilsgeschichtlichen Kontextes plausibel ist. Man müsste tief in die Details der menschlichen Geschichte, in das Herz von Menschen und ihre abschließende Stellungnahme zu ihrem Leben im Angesicht Christi als des eschatologischen Richters hineinschauen können, um die geheimen Wege zur Bekehrung erschließen zu können. Weil wir die menschliche Geschichte nicht von ihrem letztlich über Sinn und Unsinn, Erfolg oder Scheitern entscheidenden Ende her beurteilen können, lässt sich die Annahme, dass jede Erfahrung von einem schrecklichen Gott letztendlich in eine umfassendere Erfahrung des guten Gottes auflösbar ist, letztlich nur im Glauben treffen. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass dieser Glaube die Bereitschaft voraussetzt, eine selbstgerechte Schuldzuteilung an isolierte Individuen zu überwinden. Ohne solche Bereitschaft muss eine Heilsökonomie, in der Läuterung von Schuldigen durch fortgesetztes eigenes Schuldigwerden erfolgen kann, als von vornherein unakzeptabel erscheinen. Iwan Karamasoffs Empörung gegen eine von Gott so konzipierte Welt, dass umfassendes Heil über das Leiden subjektiv Unschuldiger erfolgt, lässt sich deshalb auf abstrakter Ebene und mit zwingenden Argumenten nicht widerlegen.

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10.4 Deutung von Verstockungsworten

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Über Hebr 10,31 hinaus ist unser Ergebnis auch relevant für andere Zusammenhänge, in denen die Frage nach dem schrecklichen Gott auftaucht. Dies gilt insbesondere für die biblischen Verstockungsworte.(18) Es handelt sich hierbei um biblische Texte, in denen die Verstockung des Sünders nicht bloß als dessen eigene Entscheidung konstatiert wird, sondern geradezu dem Willen Gottes zugesprochen wird. Klassisch dafür ist der Sendungsbefehl an den Propheten Jesaja:

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„Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Verhärte das Herz dieses Volkes, verstopf ihm die Ohren, verkleb ihm die Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört, damit sein herz nicht zur Einsicht kommt und sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird." (Jes 6,9f)

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Dieses Verstockungswort wird in einem neutestamentlichen Jesuswort übernommen:

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„Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen. An ihnen erfüllt sich die Weissagung Jesajas: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen; sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden, und mit ihren Ohren hören sie nur schwer, und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihrem Herzen nicht zur Einschicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile." (Mt 13,14f)

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Für die Frage der Verursachung der Verstockung sind hier untrennbar zwei Perspektiven ineinander verflochten: die Selbstverursachung durch sündige Menschen und die Verursachung durch Gott, der solche Verstockung nicht nur zulässt, sondern sie geradezu herbeiführt. Diese doppelte Zuschreibung entspricht ganz jenem Gesetz der Verstockung, das wir exemplarisch an Michail erschlossen und von dort her als Eigenart des 2. Aktes im Christusereignis in den Blick bekommen haben: Für Menschen, die das Gnadenangebot nicht annehmen, wird das Gnadenangebot weder zurückgenommen, noch wird es unwirksam. Für sie wird der Zeuge des Glaubens (Jesus, bzw. - in der Nachfolge Christi - Sossima) zum Anstoß für eine weitere Verschärfung der Schuld. Bei Sossima haben wir das exemplarisch gesehen: ab einem gewissen Maß der Verstockung von Michail wird jedes Wort und jede Geste von Sossima zwangläufig zur Provokation einer noch weitergehenden Verhärtung, was beinahe bis zur Ermordung Sossimas durch Michail führt. Für diese Phase treffen die zitierten Verstockungsworte vollinhaltlich zu. In diesem Zusammenhang wird aber auch deutlich, dass diese Verstockungsworte nicht die Rücknahme von Gottes Heilsengagement bedeuten. Im Gegenteil: nachdem der direkte Weg der Befreiung - durch unverzügliche Wahrnehmung des Gnadenangebots zur Befreiung aus der Sündenverstrickung - gescheitert ist, tut sich noch ein anderer, dramatischer Weg auf: durch Zuspitzung der Schuld wird der Sünder in eine kritische Situation getrieben (was zugleich besagt: er manövriert sich selber dorthin), wo ihm Gottes solidarische Liebe nochmals in neuer Gestalt begegnen kann. (Wie so etwas möglich ist, haben wir exemplarisch am Aug-in-Aug Sossimas mit dem zu einem neuen Mord entschlossenen Michail aufgewiesen.(19)) Somit besagen die Verstockungsworte nicht, dass die Sünder von Gott in den Untergang getrieben werden, sondern sie weisen auf einen zweiten Heilsweg, der die Katastrophe des Todes (bzw. Mordes) als Möglichkeit mit einbegreift. Es handelt sich hierbei um die Eröffnung eines Heilsweges für Sünder durch Kreuz und Auferstehung.(20)

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10.5 Die brennende Frage der göttlichen Vorherbestimmung

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Von daher weist der hier verfolgte Ansatz auch einen Ausweg für das gravierende Problem der göttlichen Vorherbestimmung. Dieses ist bereits brennend gegenwärtig in Röm 9, wo Gott die Freiheit von Erwählung und Verwerfung vorgängig zu allem moralischen Verhalten der Menschen zugesprochen wird.

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Die zu jeder menschlichen Bemühung vorgängige Gnadenwahl wird von Paulus exemplarisch verdeutlicht an Jakob und Esau: Deren Mutter Rebekka „hatte von einem einzigen Mann empfangen, von unserem Vater Isaak, und ihre Kinder waren noch nicht geboren und hatten weder Gutes noch Böses getan; damit aber Gottes freie Wahl und Vorherbestimmung gültig bleibe, nicht abhängig von Werken, sondern von ihm, der beruft, wurde ihr gesagt: Der Ältere muss dem Jüngeren dienen; denn es steht in der Schrift: Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst." (Röm 9,10-13)

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Entsprechend urteilt Paulus in Bezug auf andere in der Heilsgeschichte agierende Personen, - etwa im Hinblick auf die Verstockung die Gott vor dem Auszug aus Ägypten über das Herz des Pharao gelegt hat:

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„In der Schrift wird zum Pharao gesagt: Eben dazu habe ich dich bestimmt, dass ich an dir meine Macht zeige und dass auf der ganzen Erde mein Name verkündet wird. Er erbarmt sich also, wessen er will, und macht verstockt, wen er will." (Röm 9,17-18)

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Hier stellt sich die Frage, ob Gott nicht ein ungerechter Willkürgott ist, der nach Belieben Menschen erwählt und verwirft. Paulus stellt sich diesem Problem, indem er dem Menschen jede Berechtigung, Gottes Gnadenwahl bzw. Verwerfung in Frage zu stellen, abspricht. Dazu bedient er sich des Töpfergleichnisses:

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„Nun wirst du einwenden: Wie kann er [Gott] dann noch anklagen, wenn niemand seinem Willen zu widerstehen vermag? Wer bist du denn, dass du als Mensch mit Gott rechten willst? Sagt etwa das Werk zu dem, der es geschaffen hat: Warum hast du mich so gemacht? Ist nicht vielmehr der Töpfer Herr über den Ton? Kann er nicht aus derselben Masse ein Gefäß herstellen für Reines, ein anderes für Unreines?" (Röm 9,19-21).

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Diese Antwort wirkt höchst irritierend. Sie ist aber dann nachvollziehbar, wenn Erwählung und Verwerfung keine Aussagen sind über das endgültige Heil oder Unheil von Jakob, Esau, Pharao und anderen sind, sondern Aussagen im Hinblick auf den Weg, auf dem Menschen letztendlich ihr Heil finden. Ob ein Mensch zu Gottes Heil wie Jakob auf dem heilsgeschichtlich bedeutsamen direkten Weg gelangt, oder - wie Esau oder Pharao - über den Umweg der Verstockung in Sünde auf die „harte Tour", würde somit nicht nur von seiner/ihrer Bemühung abhängen, sondern von Gottes Erwählung. So verstanden ist die Prädestinationslehre (zumindest) von Röm 9 einem humanen Umgang zwischen Menschen wesentlich förderlicher als etwa die gegenteilige „pelagianistische" Position, die den Heilsgewinn oder -verlust an der moralischen Leistung von Menschen festmacht. Eine solche moralistische Position befindet sich nämlich in ständiger Gefahr, von der sichtbaren Lebensführung von Menschen zurückzuschließen auf deren Heilszustand und - im Falle eines unzufriedenstellenden Lebensweges - die betroffenen Menschen persönlich für das Versagen verantwortlich zu machen. Demgegenüber berücksichtigt die paulinische Position, dass verschiedene Menschen in unterschiedlichem Ausmaß mit Talenten ausgestattet wurden (vgl. Mt 25,14-30), weshalb uns ein Urteilen über andere nur höchst eingeschränkt möglich ist.

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Läuft unsere Interpretation auf eine - kirchlich verurteilte - Annahme einer Allerlösung hinaus? - weil letztlich jeder, ob Jakob, Esau oder Pharao auf irgendeinem Weg zum himmlischen Heil finden wird? Das muss und kann als Wissen keineswegs behauptet werden. (21) Wohl aber kann und muss eine solche Annahme Gegenstand der Hoffnung auf den in Liebe durchsetzungsfähigen allgemeinen Heilswillen Gottes sein. Wir haben nicht das Recht, auch nur irgendeinen Menschen von dieser Hoffnung auszuschließen.

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Entscheidend für unsere Deutungshypothese ist, dass es für Menschen auch dann, wenn sie von einer heilsgeschichtlichen beispielgebenden Rolle ausgeschlossen blieben oder wenn sie eine solche Rolle aus eigenem Versagen verspielt haben, ein nacktes Gerettetwerden noch immer möglich ist. Das hier Gemeinte ist biblisch am deutlichsten angesprochen in 1 Kor 3,14 im Gleichnis vom Hausbau, der mit dauerhaften oder verderblichen Materialien erfolgen kann. Paulus zieht dann den Schluss: „Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch."

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Ein solches nacktes Gerettetwerden von Einzelpersonen ist normalerweise nicht das Thema von biblischen Texten, die ja im Hinblick auf den Gang der Heilsgeschichte verfasst sind. Wenn biblische Texte von der Verwerfung von Menschen sprechen, ist das folglich auch im Hinblick auf ihre „heilsgeschichtlichen Rollen" zu begreifen und noch nicht bezüglich ihrer „nackten Existenz". Wenn Paulus mit Maleachi Gott sprechen lässt: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst", dann ist damit allein eine Zurückstellung Esaus bezüglich einer aktiven heilsgeschichtlichen Rolle angesprochen, aber keine Aussage über das letztendliche Heil Esaus gemacht. Dasselbe gilt auch für Personen mit negativen heilsgeschichtlichen Rollen wie etwa Pharao oder im NT Judas.

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Damit lässt sich auch der Schrecken des Töpfergleichnisses entschärfen: „Ist nicht vielmehr der Töpfer Herr über den Ton? Kann er nicht aus derselben Masse ein Gefäß herstellen für Reines, ein anderes für Unreines?" (Röm 9,21). Wenn solche Aussagen sich nicht auf endgültiges Heil oder Unheil beziehen, sondern nur auf unterschiedliche Wege, auf dem Menschen zur endgültigen Annahme von Gottes Heil hingeführt werden - die einen auf einem direkten, heilsgeschichtlich vorbildlichen Weg, andere durch ein Abgleiten in potenzierte Schuld „auf die harte Tour" - dann kann Gott wirklich nicht mehr der Vorwurf von ungerechter Willkür gemacht werden.(22)

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Anmerkungen:  

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 1. Dostojewskij, F. M.: Die Brüder Karamasoff. Aus dem Russischen von E. K. Rahsin. München-Zürich 1999. Die eingeklammerten Seitenzahlen im Haupttext beziehen sich ausschließlich auf dieses Buch.

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2. Als Vorbild und als Verkörperung von Gottes Willen hat Sossima für Michail jene Funktionen, die etwa Paulus allgemein als Gesetz bezeichnet. Die Verzweiflung, die Paulus wiederholt angesichts der Forderung und Überforderung des Gesetzes hinausschreit (vgl. Röm 7,14-24), spiegelt sich in der Verzweiflung Michails.

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3. Zum folgenden vgl. 485-487.

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4. Sein Gegner war der Verlobte einer von ihm geliebten Frau, die diesem den Vorzug gegeben hatte. Sossima hatte das als persönliche Demütigung erfahren und den Mann deshalb zum Duell gefordert. Vgl. 484f.

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5. Im Unterschied zu „Chrónos", einer unspezifischen Zeitdauer, bedeutet „Kairós" in der Bibel eine besondere, durch die Gnade Jesu Christi qualifizierte Zeit (vgl. LthK3 V, 1129f.). Nach Mk 1,15 beginnt Jesus seine öffentliche Verkündigung mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt (= Der Kairós ist angeborchen). Kehrt um und glaubt an das Evangelium." - Die Umkehrforderung ist hier an eine besondere Gnadenzeit gebunden. Wird dieser Kairós versäumt, sind Verstehen und Nachfolge zumindest erschwert. Die Gefahr besteht dann, dass die Menschen an Christus Anstoß nehmen. Vgl. dazu den Umschlag der Reaktion der Nazarener auf Jesu erste Predigt in seiner Heimatstadt: Lk 4,16-30.

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6. Ein Stück weit hilft Michail noch die Hoffnung, dass Würde und Achtung seiner Person auf andere Weise erhalten bleiben, wenn die Menschen sein freiwillige Geständnis als mutige Tat schätzen. (Auch Sossima macht ihm damit Mut: „Ihre Kinder werden heranwachsen und begreifen, wie viel Hochherzigkeit in Ihrem großen Entschluss gelegen hat" - 503f.) Doch ohne den von Gnadenerfahrung getragenen unbedingten Willen zur Wahrhaftigkeit sind solche „Nutzenerwägungen" nur kraftlose Krücken. So fragt der bereits an seinem Vorsatz Verzweifelnde: „Und werden denn diese Menschen die Wahrheit auch erkennen, sie schätzen, sie achten?", was Sossima nur mehr bestürzen kann: „‚Großer Gott!' dachte ich bei mir, ‚an die Achtung der Menschen denkt er in solch einem Augenblick!'" (505).

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7. Vgl. Hiob 21,7-21, Ps 73 und Jes 12,1f.

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8.Vgl.Dostojewskijs Rede vom Künstler in Sachen Grausamkeit: 387, 388.

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9. Hier zeigt sich, dass die Auflösung von Gottes Gericht in ein Selbstgericht Gott nicht notwendig vom Vorwurf der Gewalt und Rachsucht freispricht. Unverzichtbar ist die weitere Perspektive, in der das Gericht als Etappe auf dem Weg zum Heil erscheint.

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10.Vgl.387-394.

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11. Im Verlauf des Romans ist dazu aber die Freundschaft Aljoschas mit dem unglücklichen Knaben Kolja zu berücksichtigen. Vgl. dazu vor allem das Zehnte Buch, 833ff.

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12.Vgl.v.a. die Ausführungen Michails: 495f. Vgl. auch aus den Lehren Sossimas: 515.

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13.Vgl.oben, das Ende von Kapitel 3.4.

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14.Vgl.dazu vor allem: Schwager, R., Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (ITS 29). Innsbruck-Wien 1990. Im Internet: http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/itl/212.html (Anm. d. Hg.: Alle Internetlinks wurden zum Zeitpunkt der Drucklegung auf ihre Aktualität überprüft), sowie Wandinger, N., Wie unbequem ist Gott? oder Wie ist Gott unbequem? In diesem Band S. 161-188.

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15.Vgl.in diesem Zusammenhang das Gleichnis von den Talenten, Mt 25,14-30.

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16.Vgl.vorher: Hebr 10,23-25 und nachher: Hebr 10,32-39.

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17.Vgl.Gräßer, E., An die Hebräer (Hebr 10,19-13,25) (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament XVII/3). Zürich 1997, 54f.

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18.Vgl.bes. Jes 6,1-11, sowie Mt 13,13. Dazu: Gross, W., Kann Gottes Prophet scheitern? Gott verstockt Israel (Jes 6,1-11). In: Gross, W., Kuschel, K.-J., „Ich schaffe Finsternis und Unheil!" Ist Gott verantwortlich für das Übel? Mainz 1992, 15-33.

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19.Vgl.oben, Kapitel 8.

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20. Dieser Weg zum Heil über die größere Schuld ist höchst riskant und bereits in seiner theologischen Formulierung missverständlich. Paulus hat das deutlich wahrgenommen; vgl. Röm 6,1f. Auf diese Missverständlichkeit zielt auch die Religionskritik von Iwan Karamasoff, - mit der Frage, ob das Leiden Unschuldiger als Mittel für die Heimholung von Sündern in das Gottesreich dienen dürfe. Eine Pervertierung ergibt sich hier sofort, wenn Menschen mit dem Gesetz der „glücklichen Schuld" als Handlungsprinzip rechnen und deshalb den Einsatz von Opfern bewusst in Kauf nehmen. Deshalb kann Aljoscha Iwans Frage, ob er denn als Weltgestalter bereit wäre, eine universale Weltharmonie durch das Leiden auch nur eines unschuldigen Geschöpfes zu erkaufen, nur mit einem Nein beantworten (vgl. 400). Als Anprangerung von solchem Missbrauch behält Iwans Religionskritik Recht.

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21. Wegen der Freiheit des Menschen kann es nicht ausgeschlossen werden, dass ein Mensch sich grundsätzlich jeder immer neuen Gnadeninitiative verschließt.

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22. In diesem Sinn kann auch die Augustinische Prädestinationslehre, wie sie sich in der Römerbriefauslegung an Simplician manifestiert, umgedeutet und entschärft werden. Von daher ergibt sich die Möglichkeit einer systematisch-theologischen Entgegnung auf Kurt Flaschs These von einer „Logik des Schreckens", - eine These, die auf eine zumindest implizite Festschreibung eines schrecklichen Gottes durch die Kirche hinausläuft. Vgl. dazu K. Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus, Hg. u. erklärt von K. Flasch (Excerpta classica 8), Mainz 1990.

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