- Leseraum
| Aus persönlicher Gotteserfahrung unterscheiden, entscheiden und (dramatische) Prozesse anstoßen. Zur ignatianischen Spiritualität von Papst FranziskusAutor: | Wandinger Nikolaus |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Publiziert in: | Ernesti, Jörg u.a. (Hg.): Papst Franziskus: Herausforderung für Theologie und Kirche (Brixner Theologisches Jahrbuch 6/2015). Innsbruck 2016, 201–215. |
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Datum: | 2025-04-28 |
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Inhalt1
 | Natürlich ist es auf wenigen Seiten nicht möglich, eine umfassende Analyse der ignatianischen Spiritualität von Papst Franziskus, dem ersten Jesuiten als Bischof von Rom, vorzulegen.[1] Ich habe mich daher dafür entschieden, mich auf einige zentrale Elemente zu konzentrieren, die ich für wesentlich halte: Einstellungen, die der Spiritualität des heiligen Ignatius von Loyola entspringen und die Spiritualität und Handlungsweise von Jorge Mario Bergoglio prägen. Ich habe versucht, im Titel den Zusammenhang, der zwischen ihnen besteht, zum Ausdruck zu bringen. Die Gliederungspunkte des Textes sind dabei eher der Pragmatik der Übersichtlichkeit geschuldet, denn die verschiedenen Punkte hängen eng zusammen und durchdringen einander. Aufgrund meiner eigenen theologischen Prägung empfinde ich die Art und Weise, wie der Papst Prozesse anstoßen will, als „dramatisch“, dies ist aber zugegebenermaßen nicht die Terminologie des Papstes, sondern meine Deutungskategorie, daher ist diese im Untertitel in Klammer gesetzt; für ihre Berechtigung wird aber am Ende des Artikels argumentiert werden. | 2
 | Bei der Darstellung werde ich mich vor allem auf Äußerungen des Papstes selbst stützen: Zentral ist dabei sein den jesuitischen Zeitschriften im September 2013 gegebenes Interview.[2] Darüber hinaus werde ich auch auf die sehr sorgfältig erarbeitete Biografie von Austen Ivereigh[3] und auf frühe Aufsätze des jungen Jesuiten Jorge M. Bergoglio[4] zurückgreifen. | 3
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 | Im Interview mit dem Papst nimmt die persönliche Gotteserfahrung nicht den ersten Platz ein. Sie wird erst erwähnt, als nach seinem Gebetsleben gefragt wird. Dennoch scheint sie mir die Voraussetzung zu sein, auf der seine Spiritualität aufbaut und aus der heraus sie verständlich wird. | 5
 | Der Konzilstheologe und Mitbruder des heutigen Papstes Karl Rahner hat die berühmte Formel vom Frommen von morgen, der nur als Mystiker möglich sei, geprägt. Im Zusammenhang lautet Rahners Ausführung dazu: | 6
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„Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle sein kann. Die Mystagogie muß von der angenommenen Erfahrung der Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin das richtige ‚Gottesbild‘ vermitteln, die Erfahrung, daß des Menschen Grund der Abgrund ist: daß Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; daß seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird, je näher uns seine ihn selbst mitteilende Liebe kommt; daß man ihn nie als bestimmten Posten in das Kalkül unseres Lebens einsetzen kann, ohne zu merken, daß dann die Rechnung erst recht nicht aufgeht; daß er nur unser ‚Glück‘ wird, wenn er bedingungslos angebetet und geliebt wird; aber auch, daß er nicht bestimmt werden kann als dialektisches Nein zu einem erfahrenen bestimmten Ja, z.B. nicht als der bloß Ferne gegenüber einer Nähe, nicht als Antipol zu Welt, sondern daß er über solche Gegensätze erhaben ist.“[5]
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 | Mir ist nicht bekannt, ob Papst Franziskus diesen Text seines Mitbruders kennt. Doch es scheint, dass er ganz ähnlich denkt, wenn er das Institutionelle in den Hintergrund rückt, um im Vordergrund Raum für die Erfahrung Gottes als des unvorhersagbaren Geheimnisses zu haben und so gerade zu verhindern, dass das Institutionelle zur bloßen Dressur verkommt. Als Folge zeigt sich, dass für den Papst Gott auch nicht im festen Kalkül einer kirchlichen Ordnung aufgeht und tatsächlich kein Gegenpol zur vermeintlich oder tatsächlich schlechten Welt ist. | 8
 | Doch werfen wir einen Blick auf Bergoglios eigene Texte: | 9
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„But it is memory that provides the most radical grounding for a Jesuit’s heart. When St. Ignatius says that we should bring things to our memory (SpEx, no. 234)[6], he is speaking to us about a retrieval of our history of grace. […] For me, this meaning is also there in Ignatius’s desire that we should be ‘familiar with God’: the Jesuit familiar with God can be son, brother, and father.“[7] „The originating place of Ignatian devotion is, in particular, the ‘colloquies’: to our Lady, to the Son, to the Father. It is driven by the Spirit’s sense of time. Its focus is zeal for the Kingdom.“[8]
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 | Der 42-jährige Provinzial Bergoglio geht also davon aus, dass es für eine jesuitische Existenz wesentlich ist, sich an vergangene Gnaden Gottes zu erinnern und sie mit Gott in einem freundschaftlichen Gespräch zu teilen, woraus Vertrautheit mit Gott entsteht und so eigener Einsatz für das Reich Gottes als Sohn, Bruder und geistlicher Vater möglich wird. | 11
 | Im Interview, das Papst Franziskus 2013 gab, zeigt sich, dass sich dieser Zug seiner Spiritualität nicht verändert hat: | 12
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„Das Gebet ist für mich immer ein ‚Erinnerungs‘-Gebet, voll von Erinnerungen, von Gedenken, auch Denken an meine Geschichte oder an das, was der Herr in seiner Kirche oder einer bestimmten Pfarrei gemacht hat. Für mich ist es die Erinnerung, von der der heilige Ignatius in der ersten Woche der Exerzitien bei der erbarmenden Begegnung mit dem gekreuzigten Christus spricht.[9] […] Es ist die Erinnerung, von der Ignatius auch spricht bei der Betrachtung zur Erlangung der Liebe[10], wenn er bittet, sich an die empfangenen Wohltaten zu erinnern. Aber ich weiß auch, dass der Herr sich meiner erinnert. Ich könnte ihn sogar vergessen. Aber ich weiß, dass er mich nie, nie vergisst. Das Erinnern ist die radikale Verankerung des Herzens eines Jesuiten: Es ist das Erinnern an die Gnade, das Erinnern, von dem im Deuteronomium die Rede ist, das Denken an die Werke Gottes, die dem Bund Gottes mit seinem Volk zugrunde liegen. Es ist dieses Erinnern, das mich zum Kind und auch zum Vater macht.“[11]
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 | Der Papst bleibt hier nahtlos der ignatianischen Verankerung treu, die er 35 Jahre zuvor schon ausführte, er setzt diese aber mit der Bibel in Beziehung und macht dadurch deutlich, dass es sich hier nicht um jesuitisches Sondergut handelt, das für Nichtjesuiten unbedeutend sei. Vielmehr hat der Ordensgründer Ignatius etwas gesehen und besonders hervorgehoben, das zum christlichen, ja zum jüdisch-christlichen Allgemeingut gehört, das gleichermaßen im Persönlichsten, in einer konkreten Ortskirche und in der Gesamtkirche Geltung hat und Anwendung findet. So ist es nur konsequent, dass es auch in das apostolische Schreiben des Papstes, Evangelii Gaudium, und damit in seine lehramtliche Verkündigung einging: | 14
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„Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierung nicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nicht aus eigener Erfahrung davon überzeugt ist, dass es nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zu haben oder ihn nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkeln zu tappen, dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn hören zu können oder sein Wort nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten, anbeten und in ihm ruhen zu können oder es nicht tun zu können.“[12]
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 | Das ist das eine: die persönliche Gottes- oder Christusbeziehung der Gläubigen, der TrägerInnen der Evangelisierung. Dazu kommt aber nun eine zweite ignatianische Überzeugung, nämlich dass Gott in allen Dingen gefunden werden kann. Dies betont Ignatius in den Geistlichen Übungen und schärft es jungen Studenten seines Ordens besonders ein: | 16
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„[…] betrachten, wie Gott in den Geschöpfen wohnt, in den Elementen, […], in den Pflanzen, […], in den Tieren, […], in den Menschen, […], und so auch in mir“[13] „erwägen, wie Gott um meinetwillen in allen geschaffenen Dingen auf dem Angesicht der Erde arbeitet und sich müht […]“[14] „Sie [die Jesuitenstudenten] können sich deshalb darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, daß seine göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist.“[15]
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 | Für Papst Franziskus ist diese ignatianische Einsicht zentral, er betont sie in deutlicher Weise und zeigt ihre Sinnspitze, indem er sie aus dem Studierzimmer frommer Jesuitenstudenten heraus und das Universale der Behauptung ernst nimmt: | 18
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„Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen. Auch wenn das Leben eines Menschen eine Katastrophe war, wenn es von Lastern zerstört ist, von Drogen oder anderen Dingen: Gott ist in seinem Leben. Man kann und muss ihn in jedem menschlichen Leben suchen. Auch wenn das Leben einer Person ein Land voller Dornen und Unkraut ist, so ist doch immer ein Platz, auf dem der gute Same wachsen kann. Man muss auf Gott vertrauen.“[16]
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 | In seiner Einleitung zum Interview betont A. Batlogg: „Die ignatianische Devise des ‚Gott-in-allen-Dingen-Suchens-und-Findens‘ spart nichts aus, überall finden sich Spuren der Präsenz Gottes in der Welt, auch im Dreck, […].“[17] | 20
 | Und der Papst warnt ausdrücklich davor, dies wieder zurückzunehmen oder zu verharmlosen: | 21
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„Die Klage darüber, wie barbarisch die Welt heute sei, will manchmal nur verstecken, dass man in der Kirche den Wunsch nach einer rein bewahrenden Ordnung, nach Verteidigung hat. Nein – Gott begegnet man im Heute.“[18] „Das Risiko beim Suchen und Finden Gottes in allen Dingen ist daher der Wunsch, alles zu sehr zu erklären, etwa mit menschlicher Sicherheit und Arroganz zu sagen: ‚Hier ist Gott.‘ Dann finden wir nur einen Gott nach unserem Maß. […] Unser Leben ist uns nicht gegeben wie ein Opernlibretto, in dem alles steht. Unser Leben ist Gehen, Wandern, Tun, Suchen, Schauen … Man muss in das Abenteuer der Suche nach der Begegnung eintreten und in das Sich-suchen-Lassen von Gott, das Sich-begegnen-Lassen mit Gott.“[19]
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 | Wiederum ist dies nicht nur die persönliche Spiritualität des Papstes, die er in dem Interview zugänglich macht, sondern es geht in seine Lehre ein, die sich so ganz nahtlos an die Lehre des Zweiten Vatikanisches Konzils anfügt: | 23
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„Dieses Heil, das Gott verwirklicht und das die Kirche freudig verkündet, gilt allen und Gott hat einen Weg geschaffen, um sich mit jedem einzelnen Menschen aus allen Zeiten zu vereinen.“[20]
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 | Daher gilt auch für Nichtchristen: | 25
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„[…] aufgrund der sakramentalen Dimension der heiligmachenden Gnade neigt das göttliche Handeln in ihnen dazu, Zeichen, Riten und sakrale Ausdrucksformen hervorzurufen, die ihrerseits andere in eine gemeinschaftliche Erfahrung eines Weges zu Gott einbeziehen. Sie haben nicht die Bedeutung und die Wirksamkeit der von Christus eingesetzten Sakramente, können aber Kanäle sein, die der Geist selber schafft, um die Nichtchristen vom atheistischen Immanentismus oder von rein individuellen religiösen Erfahrungen zu befreien. Derselbe Geist erweckt überall Formen praktischer Weisheit, die helfen, die Unbilden des Lebens zu ertragen und friedvoller und harmonischer zu leben.“[21]
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 | So spannend der ignatianische Gedanke der Gegenwart und des Wirkens Gottes in allen Dingen ist, so stellt sich doch eine schwierige Frage: Es kann ja wohl nicht so sein, dass alles, was geschieht oder was jemand tut, als Wirken Gottes zu verstehen ist. Oder, um es etwas krass zu formulieren: Selbst wenn die Spuren der Präsenz Gottes in der Welt auch im Dreck zu finden sind, so ist dennoch zwischen dem Dreck und den Spuren darin zu unterscheiden. Dies bringt uns zum nächsten Eckpfeiler der ignatianischen Spiritualität von Papst Franziskus: Der notwendigen Kunst der Unterscheidung der Geister. | 27
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 | Für Ignatius von Loyola ist das, was er „Unterscheidung der Geister“ nennt, ein zentrales Element seiner Spiritualität. Er widmet dieser Kunst 23 Nummern seines Exerzitienbuchs[22], was für die Knappheit, mit der er dieses Werk ausstattet, recht ausführlich ist. Diese Unterscheidung meint eine ernsthafte Prüfung, ob ein bestimmter Gedanke, gar ein Handlungsvorsatz oder Plan, tatsächlich von Gott, dem guten Geist, kommt oder gottwidrig ist – in der Terminologie des Ignatius also vom bösen Geist kommt. Dies ist aus verständlichem Grunde wichtig zu wissen, es ist aber auch schwierig zu erkennen, denn Ignatius geht davon aus, dass der böse Geist höchst raffiniert vorgeht und unter dem Anschein des Guten seine Eingebungen macht, diese den Menschen dann aber zum Bösen (ver-)führen.[23] Daher ist die Unterscheidung der Geister keine Banalität, sondern verlangt – zusätzlich zu den Regeln des Ignatius – Feingefühl und Erfahrung. Ist man in dieser Kunst jedoch etwas bewandert, so ermöglich sie einem, den Willen Gottes in einer speziellen Situation auch dann zu erkennen, wenn dieser der gesellschaftlichen, kirchlichen oder auch den eigenen persönlichen Erwartungen nicht entspricht oder gar zuwider läuft. Gerade dies wird sich als wichtig für Papst Franziskus erweisen. | 29
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„Die Unterscheidung […] ist eines der Anliegen, die den heiligen Ignatius innerlich am meisten beschäftigt haben. […] Mich hat immer eine Maxime betroffen gemacht, mit der die Vision des Ignatius beschrieben wird: Non coerceri a maximo, sed contineri a minimo divinum est.[24][…] Diese Tugend des Großen und des Kleinen ist die Großmut, die uns aus der Stellung, in der wir uns befinden, immer den Horizont sehen lässt: tagtäglich die großen und die kleinen Dinge des Alltags mit einem großen und für Gott und für die anderen offenen Herzen zu erledigen. Das heißt, die kleinen Dinge wertzuschätzen innerhalb der großen Horizonte, jenen des Reiches Gottes. Diese Maxime bietet die Parameter, um eine korrekte Haltung für die Unterscheidung einzunehmen, um die Dinge Gottes von seinem ‚Gesichtspunkt‘ her zu sehen. Für den heiligen Ignatius müssen die großen Prinzipien in den Umständen von Raum, Zeit und Personen verkörpert sein. […] Man kann große Projekte haben und sie verwirklichen, indem man auf wenige kleine Dinge als Grundlage setzt. Oder man kann schwache Mittel einsetzen, die sich als wirkungsvoller erweisen als die starken, […]. Diese Unterscheidung braucht Zeit. Viele meinen zum Beispiel, dass Veränderungen und Reformen kurzfristig erfolgen können. Ich glaube, dass man immer genügend Zeit braucht, um die Grundlagen für eine echte, wirksame Veränderung zu legen. Und das ist die Zeit der Unterscheidung. Manchmal spornt uns die Unterscheidung jedoch dazu an, etwas sofort zu erledigen, was man eigentlich später tun wollte. Und so ist es auch mir in diesen Monaten ergangen. Die Unterscheidung erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. Meine Entscheidungen, auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, wie die Benutzung eines einfachen Autos, sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht. Die Unterscheidung im Herrn leitet mich in meiner Weise des Führens.“[25]
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 | Dieses Zitat enthält eine Fülle von Anknüpfungspunkten des Denkens, Fühlens und Leitens von Papst Franziskus, insbesondere auch Grundlegungen von zweien seiner vier Prinzipien, die er in Evangelii Gaudium vorstellt. Im Interview haben wir gerade gelesen, dass für Ignatius „die großen Prinzipien in den Umständen von Raum, Zeit und Personen verkörpert sein“ müssen und die Unterscheidung „auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht“. In seinem Apostolischen Schreiben bedeutet dies: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“[26]. Damit wendet sich der Papst nicht gegen Ideen, auch möchte er nicht der normativen Kraft des Faktischen das Wort reden – ganz im Gegenteil! Aber: Jede Idee, jedes Ideal muss sich an den realen Möglichkeiten der Situation messen lassen. Daher gilt: „Ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Grenzen kann Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen. Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn der heilbringenden Liebe Gottes erreicht werden, der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt, jenseits seiner Mängel und Verfehlungen.“[27] „Gott zieht uns an, indem er den vielschichtigen Verlauf der zwischenmenschlichen Beziehungen berücksichtigt, den das Leben in einer menschlichen Gemeinschaft mit sich bringt.“[28] | 31
 | Das zweite Prinzip, das hier anklingt, ist die Priorität der Zeit vor dem Raum.[29] Es besagt, wie es in dem Zitat auch ausgeführt wird, dass die Dinge ihre Zeit brauchen, dass mit anderen Worten ein übereiltes Durchsetzen etwa von Reformen, das nur durch ein Ignorieren und Überfahren abweichender Stimmen möglich ist, letztlich nicht erfolgreich sein wird. Damit ist nicht gesagt, dass nie etwas gegen Widerstände durchgesetzt werden dürfe; aber es ist eben auch hier genau zu unterscheiden, ob die Zeit für etwas wirklich reif ist; und dies geht nur, indem man auch die Widerstände und abweichenden Meinungen zu Wort kommen lässt und ihnen offen zuhört. Wir werden darauf noch zurückkommen. Wichtig dafür ist die Wertschätzung des Kleinen bei gleichzeitigem Offenbleiben für das ganz Große, für den Horizont, auf den hin man arbeitet. Besonders erwähnt werden muss hier die Betonung Papst Franziskus’, dass das besondere Fühlen mit den Armen ein wichtiges Element der Unterscheidung der Geister ist. Sein Einsatz für die Armen – für die physisch-materiell Armen, aber auch für die in einem geistlichen Sinn Armen, d.h. eben jene, die in Situationen sind, dass sie den gesellschaftlichen und kirchlichen Idealen nicht entsprechen können – gehört ebenso ins Zentrum seiner Spiritualität und seiner Amtsführung.[30] Und zwar eben deshalb, weil das Fühlen mit den Armen der Wirklichkeit, wie sie ist, näher bringt, und daher die geistliche Unterscheidung befördert. Die Wahl der Mittel und der rechte Kairos müssen der Situation angepasst sein, sie müssen – wie ich unten argumentieren werde – im „dramatischen“ Prozess an der rechten Stelle kommen. | 32
 | Der Papst reagiert auch auf einen möglichen Einwand: „[… Man] begegnet […] Gott beim Gehen, auf dem Weg. Hier könnte einer sagen: Das ist Relativismus. Ist es Relativismus? Ja, wenn man ihn schlecht versteht – wie einen verschwommenen Pantheismus; nein, wenn man ihn im biblischen Sinn versteht, für den Gott immer eine Überraschung ist. Daher weißt du nie, wo und wie du ihn triffst. Nicht du fixierst Zeiten und Orte der Begegnung mit ihm. Man muss daher die Begegnung erkennen, ausmachen. Dafür ist die Unterscheidung grundlegend.“[31] | 33
 | Was es aber dabei tatsächlich nicht gibt, ist eine absolute Sicherheit: „Ja, beim diesem Suchen und Finden Gottes in allen Dingen bleibt immer ein Bereich der Unsicherheit. Er muss da sein. Wenn jemand behauptet, er sei Gott mit absoluter Sicherheit begegnet und nicht berührt ist von einem Schatten der Unsicherheit, dann läuft etwas schief. Für mich ist das ein wichtiger Erklärungsschlüssel. Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. Das bedeutet, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für sich selbst benützt. […] Die Unsicherheit hat man bei jeder echten Entscheidung, die offen ist für die Bestätigung durch geistlichen Trost.“[32] | 34
 | Damit sind wir am letzten Aspekt, den ich hier erwähnen will, angelangt: Der Unterscheidung folgt eine Entscheidung. Es geht nicht einfach um eine quasi objektiv-neutrale Feststellung, dass hier Gott gegenwärtig sei oder wirke, sondern die Geister, die es zu unterscheiden gilt, drängen auch auf eine Entscheidung – oder wie Ignatius sagt: auf eine Wahl – hin. Das können weichenstellende Lebensentscheidungen sein wie die, einem Orden beizutreten, zu heiraten oder Priester zu werden; das können nach Papst Franziskus auch ganz alltägliche Entscheidungen wie die des Verkehrsmittels, das man benützt, sein. Auch für eine gute Entscheidung gibt Ignatius von Loyola in seinen Übungen Kriterien an und stellt drei Zeitpunkte dar, zu denen eine gute Entscheidung zu treffen sei; es handelt sich hier um drei mögliche Kairoi für eine gute Wahl.[33] Nach Ansicht wichtiger Interpreten[34], ist für Ignatius der zweite Kairos der bevorzugte: Er „ist dann, wenn man viel Klarheit und Einsicht auf Grund der Erfahrung in Tröstungen und Trostlosigkeiten sowie auf Grund der Erfahrung in der Unterscheidung der verschiedenen Geister [hat]“[35]. Tröstungen und Trostlosigkeiten sind für Ignatius gerade situations- und personabhängige Kriterien für die Unterscheidung der Geister. Unter Trost versteht Ignatius, „wenn in der Seele eine innere Bewegung verursacht wird, durch welche die Seele in Liebe zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt und wenn sie infolgedessen kein geschaffenes Ding auf dem Antlitz der Erde mehr in sich zu lieben vermag, es sei denn im Schöpfer ihrer aller. […] Schließlich nenne ich Trost jeglichen Zuwachs an Hoffnung, Glaube und Liebe und jede innere Freude, die zu den himmlischen Dingen und zum eigenen Seelenheil aufruft und hinzieht, indem sie der Seele Ruhe und Frieden in ihrem Schöpfer und Herrn spendet.“[36] Ist nun eine Person auf dem Weg der Läuterung und geistlichen Reifung schon fortgeschritten, so ist erfahrener Trost bei ihr ein Zeichen, dass der gute Geist in ihr wirkt.[37] Besonders augenscheinlich ist dieses Zeichen, wenn der Trost ohne vorausgehende Ursache auftritt: | 35
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„Allein Gott unserem Herrn kommt es zu, ohne vorausgehende Ursache der Seele Trost zu geben; […]. Ich sage ohne Ursache, das heißt ohne vorausgehendes Gespür oder vorausgehende Erkenntnis irgendeines Gegenstandes, durch den eine solche Tröstung vermittels der Akte ihres Verstandes oder Willens herbeigeführt würde.“[38]
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 | Mit anderen Worten: Eine Tröstung, die dadurch zustande kommt, dass ich mir der Erfüllung eines erbetenen Wunsches sicher bin oder eine klare Erkenntnis über meinen Weg erhalte, hat eine vorausgehende Ursache. Ein Trost, der trotz bestehender inhaltlicher Ungewissheit eintritt, hat in diesem Sinn keine vorhergehende Ursache. Genau diesen Zustand beschreibt Franziskus von sich selbst vor seiner Wahl zum Papst, wie Spadaro berichtet: „Er sagt mir: Als ihm das Risiko, gewählt zu werden, am Mittwoch, dem 13. März [2013 – der Tag seiner Wahl], beim Mittagessen bewusst geworden sei, habe er einen tiefen und unerklärlichen Frieden und einen inneren Trost gespürt – zugleich mit einer völligen Dunkelheit, einer tiefen Finsternis. Und diese Gefühle haben ihn bis zur Wahl begleitet.“[39] Der Papst sagt hier nichts anderes, als dass er die Entscheidung der Annahme seiner Wahl getroffen hat aufgrund des Trostes ohne vorhergehende Ursache, der ihm das Wirken des guten Geistes, den Willen Gottes, anzeigte. | 37
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 | Wenn zutrifft, dass man nur im Kleinen agieren kann, aber das mit Blick auf das große Ganze, und wenn zutrifft, dass die Zeit wichtiger als der Raum ist, dass also Geduld angesagt ist, wie kann man dann handeln? | 39
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„Der Jesuit denkt immer weiterführend, in Kontinuität, mit Blick auf den Horizont, in dessen Richtung er gehen soll, während er Christus im Zentrum hat. Das ist seine wahre Stärke, sie spornt ihn dazu an, auf der Suche, schöpferisch und hochherzig zu sein.“[40]
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 | Offensichtlich hält der Papst diese Haltung aber nicht nur für Jesuiten für essentiell, sondern überhaupt für Hirten der Kirche: | 41
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„Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, so dass niemand zurück bleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht.“[41]
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 | Daraus entspringt für den Papst die Haltung der Barmherzigkeit, die er durch die Ausrufung eines Heiligen Jahres besonders ins Bewusstsein des Kirchenvolkes – und man darf vermuten: vieler Hirten – bringen wollte. | 43
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„Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige. Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: ‚Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle Person sieht, schaut er diese Existenz mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist sie zurück?‘ Man muss immer die Person anschauen. Wir treten hier in das Geheimnis der Person ein. Gott begleitet die Menschen durch das Leben und wir müssen sie begleiten und ausgehen von ihrer Situation. Wir müssen sie mit Barmherzigkeit begleiten. Wenn das geschieht, gibt der Heilige Geist dem Priester ein, das Richtige zu sagen.“[42]
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 | Dem Papst ist jedoch wohlbewusst, dass das Anstoßen eines Prozesses nur dessen Anfang ist, dass Prozesse eine Eigendynamik entwickeln, die ihr Initiator nicht unter Kontrolle hat, und dass sie konfliktbeladen sein und eine Gefahr für die Einheit und Einigkeit einer Gemeinschaft oder Institution darstellen können. Daher ist der richtige Umgang mit diesen Konflikten äußerst wichtig: | 45
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„Die Unterschiede zwischen den Menschen und den Gemeinschaften sind manchmal lästig, doch der Heilige Geist, der diese Verschiedenheiten hervorruft, kann aus allem etwas Gutes ziehen und es in eine Dynamik der Evangelisierung verwandeln, die durch Anziehung wirkt. Die Verschiedenheit muss mit Hilfe des Heiligen Geistes immer versöhnt sein; nur er kann die Verschiedenheit, die Pluralität, die Vielfalt hervorbringen und zugleich die Einheit verwirklichen. Wenn hingegen wir es sind, die auf der Verschiedenheit beharren, und uns in unsere Partikularismen, in unsere Ausschließlichkeiten zurückziehen, verursachen wir die Spaltung, und wenn andererseits wir mit unseren menschlichen Plänen die Einheit schaffen wollen, zwingen wir schließlich die Eintönigkeit, die Vereinheitlichung auf. Das hilft der Mission der Kirche nicht.“[43]
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 | Hier finden sich bereits die anderen beiden der vier Prinzipien in Anwendung: „Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt“ und „Das Ganze ist dem Teil übergeordnet“.[44] Dies bedeutet aber gerade nicht, dass Konflikte um jeden Preis vermieden werden müssen, es bedeutet vielmehr, dass im Blick auf die Einheit konstruktiv mit ihnen umgegangen werden muss. | 47
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„Der Konflikt darf nicht ignoriert oder beschönigt werden. Man muss sich ihm stellen. Aber wenn wir uns in ihn verstricken, verlieren wir die Perspektive, unsere Horizonte werden kleiner, und die Wirklichkeit selbst zerbröckelt. Wenn wir im Auf und Ab der Konflikte verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit der Wirklichkeit. Wenn ein Konflikt entsteht, schauen einige nur zu und gehen ihre Wege, als ob nichts passiert wäre. Andere gehen in einer Weise darauf ein, dass sie zu seinen Gefangenen werden, ihren Horizont einbüßen und auf die Institutionen ihre eigene Konfusion und Unzufriedenheit projizieren. Damit wird die Einheit unmöglich. Es gibt jedoch eine dritte Möglichkeit, und dies ist der beste Weg, dem Konflikt zu begegnen. Es ist die Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen. ‚Selig, die Frieden stiften‘ (Mt 5, 9).“[45]
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 | Die konstruktive Art der Konfliktaustragung basiert aber auf der bereits gesehenen zutiefst ignatianischen Überzeugung: Der Heilige Geist ruft Verschiedenheiten zwischen Menschen hervor! Sie mögen uns lästig sein, aber es ist ein Auftrag des Heiligen Geistes, mit ihnen zurande zu kommen. Ja, Ignatius von Loyola geht noch einen Schritt weiter, und ich möchte hier – ohne dass ich dafür einen Textbeleg anführen kann – argumentieren, dass Papst Franziskus diese ignatianische Sichtweise teilt. Ignatius geht nämlich nicht nur davon aus, dass der Heilige Geist Verschiedenheiten unter den Menschen und ihren Gemeinschaften bewirkt, er meint sogar, dass der Geist in ein und derselben Frage verschiedene Menschen zu entgegengesetzten Überzeugungen führen könne. Dies ist einem Brief des Ordensgenerals an seinen Mitbruder und Untergebenen Francisco de Borja zu entnehmen, in dem es um die Frage ging, ob jener zum Kardinal gemacht werden solle oder nicht. Ignatius war gegen diese Ernennung und schrieb seinem Mitbruder in diesem Zusammenhang: „Wenn es der Wille Gottes ist, daß ich mich darin [d.h. dagegen] einsetze und sich andere für das Gegenteil [also für die Ernennung] einsetzen und Euch diese Würde gegeben wird, so gäbe es keinen Widerspruch. Denn es kann sein, daß der gleiche göttliche Geist mich dazu aus den einen Gründen und andere aus anderen zum Gegenteil bewegt, […].“[46] Der Jesuit und Dogmatiker Raymund Schwager kommentiert dies: „Mit den ‚andern‘ waren der Papst und die Kardinäle, d. h. die hauptsächlichen Vertreter der hierarchischen Kirche gemeint. Ignatius gab also […] hier seiner Überzeugung Ausdruck, dass der gleiche göttliche Geist die hierarchische Kirche und ihn als einzelnen bewege. Diesmal allerdings nicht zum Gleichen, sondern zum Gegenteil.“[47] | 49
 | Soll man daraus den Schluss ziehen, dass der Heilige Geist sich widerspreche? Wohl kaum. Eher ist zu sagen, dass – trotz Unterscheidung der Geister und persönlicher Gotteserfahrung – ein Mensch eben den Willen Gottes nur in einer perspektivischen Verengung wahrnehmen kann. Daher gilt: „Nur durch die gegenseitige Ergänzung und Korrektur von vielen standpunktbedingten Sichten kann die Wirksamkeit des göttlichen Geistes einigermaßen ausgeglichen gesehen werden. […] in diesem Sinne ist darum die Erkenntnis des göttlichen Geistes nur in der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen möglich.“[48] Schwager sieht dies auch praktisch vorgelebt in den Diskussionen der frühen Gefährten des Ignatius mit diesem und untereinander. Die Mitglieder der jungen Gemeinschaft seien dann überzeugt gewesen, „daß die Ergebnisse, zu denen sie nach vielen Tagen des Gebetes und nach langen und mühseligen Diskussionen trotz oftmals verschiedener Meinungen gekommen waren, die Frucht jenes Geistes waren, der die verschiedenen auf je andere Weise zum gleichen Ziele führt“[49]. | 50
 | Geht man davon aus, dass der erste Jesuit auf dem Stuhle Petri dies im Hinterkopf haben mag, so wird verständlich, dass er gerade an seiner Amtsführung als Provinzial selbst mangelnde Konsultationen kritisiert[50] und welch großen Wert er daher heute dem Dialog beimisst.[51] Damit ist dann aber auch keine romantisierende Vorstellung einer konfliktfreien Plauderstunde gemeint, sondern ein echter, und deshalb auch konflikthaltiger Dialog. Daher legt der Papst Wert darauf, auch innerkirchliche Gegner seines Kurses an den Diskussionsprozessen zu beteiligen, wie sich bei der gerade stattfindenden Synode zu Fragen der Familienpastoral zeigt. Es handelt sich hier sicher nicht um bloße Taktik mit dem Ziel, die Gegner einzubinden; es ist Folge der Überzeugung, dass auch die Gegner vom guten Geist bewegt sein dürften,[52] und der Wille Gottes erst am Ende des Prozesses deutlicher zutage tritt. | 51
 | Raymund Schwager hat in seiner Dissertation die Einheit der Kirche nach Ignatius als eine immer wieder dramatisch zu erringende verstanden, wenn er argumentiert, | 52
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„dass die wahre Einheit mit der Kirche sich in der Begegnung von Menschen vollzieht, zwischen denen alle Momente wie in einem Drama – Entwicklung, Auseinandersetzung, Spannung, Krise, Niederlage und letztliche Versöhnung – spielen können, ja sogar spielen ‚müssen‘. […] Diese Dramatik ist allerdings keine Tragik, sondern sie ist belebt von der sicheren Hoffnung auf eine letzte Versöhnung. Wo jedoch der Mut zu dieser Dramatik fehlt und die Versöhnung vorschnell gesucht wird, dort dürfte nicht mehr der allumfassende Geist am Wirken sein, sondern eher eine götzenhafte Verabsolutierung sichtbarer Strukturen sich abzeichnen. […] Aus der Tatsache, dass die Einheit des Volkes Gottes gottgewollt ist, darf […] keineswegs gefolgert werden, diese Einheit sei auch um so energischer zu erzwingen. Im Gegenteil, gerade weil sie gottgewollt ist, muss sie auch göttlich sein, d.h. eine nur Gott mögliche Weite und Mannigfaltigkeit einschließen.“[53]
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 | Da ich von Schwagers dramatischem Ansatz geprägt bin, kann ich nicht umhin, die deutliche Verwandtschaft zwischen seinem Denken und dem von Papst Franziskus wahrzunehmen. Es gibt keine Indizien dafür, dass J. M. Bergoglio Schriften Schwagers gelesen haben könnte. Gerade darum ist es höchst bemerkenswert, wie nahe sie sich kommen. Hier liegt offenbar nicht nur ignatianisches Erbe vor, sondern auch eine sehr ähnliche Interpretation desselben. Aus diesem Grund erlaube ich mir, Papst Franziskus zu unterstellen, dass er „dramatische Prozesse“ anstoßen will in der Kirche. | 54
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 | [1] Vgl. auch Kiechle, Stefan: Grenzen überschreiten. Papst Franziskus und seine jesuitischen Wurzeln (Ignatianische Impulse 67). Würzburg 2015. Für den Hinweis darauf und andere wertvolle Anregungen danke ich Franz Gmainer-Pranzl. | 56
 | [2] Spadaro, Antonio: Interview mit Papst Franziskus. Freiburg i. Br. 2013; ebenso online: S. 23-53: http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412, S. 53-76: http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906433. | 57
 | [3] Ivereigh, Austen: The Great Reformer: Francis and the Making of a Radical Pope. Crows Nest (AUS) 2014. | 58
 | [4] In den Jahren 1968-1990 hat Jorge M. Bergoglio in der argentinischen Zeitschrift Boletín de espiritualidad dreizehn Beiträge veröffentlicht, die meisten davon in den 80er Jahren, in denen er auch im Herausgeberteam der Zeitschrift war. Fünf dieser Aufsätze wurden aus Anlass der Wahl Bergoglios zum Papst von Philip Endean SJ ins Englische übersetzt und publiziert [Bergoglio, Jorge Mario: Writings on Jesuit Spirituality I. Translated and edited by Philip Endean, S.J. In: Studies in the Spirituality of Jesuits 45/3 (Autumn 2013) und Ders.: Writings on Jesuit Spirituality II. Translated and edited by Philip Endean, S.J. In: Studies in the Spirituality of Jesuits 45/4 (Winter 2013)]. Auf diese englischen Texte kann hier zurückgegriffen werden. Allerdings ist dabei zu beachten, dass Papst Franziskus seiner Zeit als Provinzial der argentinischen Provinz der Jesuiten im Rückblick durchaus kritisch gegenüber steht, eingesteht, damals Fehler gemacht zu haben, und beansprucht, seither gelernt zu haben [vgl. Interview, 41f.]. Daher kann nicht alles in diesen frühen Texten unmittelbar auf den Papst übertragen werden. Aber sollten sich dort Entwicklungslinien andeuten, die auch heute noch sichtbar sind, so können diese Texte durchaus wertvolle Einsichten liefern. | 59
 | [5] Rahner, Karl: Frömmigkeit früher und heute. In: Ders.: Sämtliche Werke 23: Glaube im Alltag. Schriften zur Spiritualität und zum christlichen Lebensvollzug. Bearb. v. Albert Raffelt. Freiburg 2006, 31-46, hier 39f. | 60
 | [6] Bergoglio verweist hier auf die Geistlichen Übungen (= GÜ) des heiligen Ignatius. | 61
 | [7] Bergoglio, Jorge Mario: Holding the Tensions. In: Studies in the Spirituality of Jesuits 45/3 (2013), 19-29, 25. Der Text wurde erstmals 1978 veröffentlicht. | 62
 | [8] Bergoglio: Holding the Tensions (2013), 26. Die Kolloquien oder Zwiegespräche sind fester Bestandteil der ignatianischen geistlichen Übungen, ihr wesentlicher Kern ist das vorgestellte unmittelbare Gespräch mit Christus, Gott-Vater oder der Gottesmutter (vgl. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner. Freiburg 81988, Nr. 63) „so wie ein Freund zum anderen spricht oder ein Diener zu seinem Herrn“ (ebd., Nr. 54). Dabei steht für Ignatius der erste Vergleich – das Gespräch zwischen Freunden – im Zentrum. | 63
 | [9] Vgl. GÜ 53. | 64
 | [10] Vgl. GÜ 234. | 65
 | [11] Interview, 75. | 66
 | [12] Franziskus, Papst: Evangelii Gaudium. Apostolisches Schreiben an die Bischöfe an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, 2013. Der Heilige Stuhl. Online: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html, Nr. 266 (ab jetzt EG plus Absatznummer). | 67
 | [13] GÜ 235. In den ausgelassenen Passagen erläutert Ignatius jeweils, dass das dadurch geschieht, dass Gott den genannten Geschöpfen etwas schenkt. | 68
 | [14] GÜ 236. | 69
 | [15] Ignatius von Loyola: Briefe und Unterweisungen Übers.: Knauer, Peter (Deutsche Werkausgabe 1). Würzburg 1993, 350. | 70
 | [16] Interview, 62. | 71
 | [17] Batlogg, Andreas R. : ›Eine neue Lektüre des Evangeliums‹. Einführung. In: Spadaro, Antonio: Interview mit Papst Franziskus. Freiburg i. Br. 2013, 7-21, hier 19. | 72
 | [18] Interview, 58f. | 73
 | [19] Interview, 61. | 74
 | [20] EG 113. | 75
 | [21] EG 254. | 76
 | [22] Vgl. GÜ 313-336. | 77
 | [23] Vgl. GÜ 332f.: „Es ist eine Eigentümlichkeit des bösen Engels, der sich in einen Engel des Lichts umgestaltet, mit der frommen Seele hereinzukommen und mit sich selbst hinauszugehen; das heißt: er flößt gute und heilige Gedanken ein, die einer solchen gerechten Seele angepasst sind, und danach versucht er, Schritt für Schritt, sich wieder zu verschleichen, indem er die Seele in seine versteckten Betrügereien und perversen Absichten hineinzieht. […] Wir müssen sehr Acht haben auf den Verlauf der Gedanken; sind der Anfang, die Mitte und das Ende ganz und gar gut und auf ganz Gutes ausgerichtet, so ist dies ein Kennzeichen […] des guten Engels. Wenn aber einer im Verlauf seiner Gedanken bei einer schlechten oder ablenkenden Sache landet oder bei etwas weniger Gutem als dem, was die Seele sich vorher zu tun vorgenommen hatte, oder wenn es die Seele schwächt oder verwirrt, indem es ihr den Frieden, die Stille und Ruhe, die sie vorher hatte, raubt, so ist dies ein klares Zeichen, dass es vom Bösen Geiste herstammt, dem Feind unseres Fortschritts und des ewigen Heils.“ | 78
 | [24] „Nicht eingeschlossen zu werden vom Größten, aber enthalten zu sein im Kleinsten, das ist göttlich.“ | 79
 | [25] Interview, 31-33. | 80
 | [26] Vgl. EG 231-233. | 81
 | [27] EG 44. | 82
 | [28] EG 113. | 83
 | [29] Vgl. EG 222-225. Zu den beiden anderen Prinzipien kommen wir noch kurz weiter unten. Ivereigh: The Great Reformer: Francis and the Making of a Radical Pope (2014), 5 vermutet, dass J. M. Bergoglio die vier Prinzipien von dem argentinischen Caudillo und zeitweiligen Alleinherrscher Juan Manuel de Rosas (1793-1877, „Generalkapitän“ 1835-1852) übernommen hat. Auch wenn dies so sein sollte, ist davon auszugehen, dass die Deutung dieser Prinzipien durch Bergoglio/Franziskus eine ganz eigene, ignatianisch inspirierte ist. | 84
 | [30] Zugegebenermaßen kommt dieser Aspekt hier zu kurz, doch der Umfang dieses Beitrags muss notgedrungen begrenzt sein. Im Idealfall wäre hier eine genauere Analyse der Enzyklika Laudato Si’ angebracht, die die Problematik der Bewahrung der Lebensgrundlagen des Planeten mit der Problematik der Armut in Zusammenhang sieht: Franziskus, Papst: Laudato Si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, 2015. Der Heilige Stuhl. Online: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_ 20150524_enciclica-laudato-si.html [15.10. 2015]. | 85
 | [31] Interview, 61f. | 86
 | [32] Interview, 60. | 87
 | [33] Vgl. GÜ 175-178 | 88
 | [34] Vgl. z. B. Rahner, Karl: Die Logik der existentiellen Erkenntnis bei Ignatius von Loyola. In: Ders.: Sämtliche Werke 10: Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz. Bearb. v. J. Heislbetz u. A. Raffelt. Freiburg 2003, 368-420; Ders. Erfahrung des Geistes und existentielle Entscheidung. In: Sämtliche Werke 23 (2006), 271-280. | 89
 | [35] GÜ 176. | 90
 | [36] GÜ 316. | 91
 | [37] Vgl. GÜ 315. | 92
 | [38] GÜ 330. | 93
 | [39] Interview, 25f. | 94
 | [40] Interview, 37. | 95
 | [41] Interview, 48f. | 96
 | [42] Interview, 50. | 97
 | [43] EG 131. | 98
 | [44] Vgl. EG 226-230 und 234-237. | 99
 | [45] EG 226f. | 100
 | [46] Brief Ignatius von Loyolas an Francisco de Borja vom 5.6. 1552, Epp IV, 284, zitiert nach Ignatius von Loyola: Briefe und Unterweisungen (1993), 414. | 101
 | [47] Schwager, Raymund: Das dramatische Kirchenverständnis bei Ignatius von Loyola. Historisch-pastoraltheologische Studie über die Stellung der Kirche in den Exerzitien und im Leben des Ignatius. Zürich 1970, 132 (Neuausgabe geplant für 2016 als Gesammelte Schriften, Bd. 1). | 102
 | [48] Schwager: Kirchenverständnis (1970), 187. | 103
 | [49] Schwager: Kirchenverständnis (1970), 152. | 104
 | [50] Vgl. Interview, 41. | 105
 | [51] Vgl. Interview, 39, 42, 69; EG 28f., 31, 74, 137, 140, 142, 165, 185, 205, 233, 238-258. | 106
 | [52] Vgl. dazu auch GÜ 22. | 107
 | [53] Schwager: Kirchenverständnis (1970), 186f. Später hat Schwager dies zu einem eigenen dramatischen Ansatz ausgebaut [vgl. Schwager, Raymund / Niewiadomski, Józef: Dramatische Theologie als Forschungsprogramm. In: Schwager, R. / Niewiadomski, J. (Hg.): Religion erzeugt Gewalt – Einspruch! Innsbrucker Forschungsprojekt ‚Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung‘ (Beiträge zur mimetischen Theorie 15). Münster 2003, 39-77] und auch auf die Dogmengeschichte angewandt, was nun posthum veröffentlicht wurde [vgl. Schwager, Raymund: Dogma und dramatische Geschichte. Christologie im Kontext von Judentum, Islam und moderner Marktkultur (Gesammelte Schriften 5). Freiburg 2014]. |
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