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Kritik der Kritik
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Kritik der Kritik

Zur Berichterstattung über den Ingeborg-Bachmann-Preis im Feuilleton

 

Was läge ferner als jetzt an Klagenfurt zu denken, schreibt Richard Kämmerlings im Dezember 2012 in der Literarischen Welt und evoziert damit außerhalb der Saison den „Sommernachtstraum des deutschen Literaturbetriebs“ (Die Welt, 1.12.2012). Tatsächlich setzt die Berichterstattung zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur (TDDL) – „und [w]enn man als Feuilletonist von Klagenfurt spricht, sind damit immer die ‚Tage der deutschsprachigen Literatur‘ […] gemeint“ (Frankfurter Allgemeine Woche, 24. 6.2016) – in der Regel im Frühling ein, wenn die teilnehmenden Autorinnen und Autoren des jeweiligen Jahrgangs verkündet und nach Herkunft, Geschlecht, Prominenz und Ausbildung (Schreibschule!) kategorisiert werden. Die winterliche Meldung basierte seinerzeit auf der Befürchtung, dass eine personelle Ablöse in der Organisation des Bewerbs weitere Veränderungen nach sich ziehen würde. Statt einer inhaltlichen Modifikation kündigte der ORF allerdings wenig später seinen finanziellen Rückzug an und stellte damit nicht nur das Ende der Live-Übertragung in den Raum, sondern das Fortbestehen des seit 1977 existierenden Wettbewerbs in Frage. Nach diverser medialer Kritik, Protesten von Kulturschaffenden und einem unter diesen Vorzeichen durchgeführten Wettbewerb im Jahr 2013 zog der österreichische Rundfunk seinen Rückzug zurück, die Veranstaltung existiert weiter. Ausgehend von der drohenden „Abmurksung“ (Michael Köhlmeier, Eröffnungsrede 2013) erörtert der Beitrag im Folgenden auf Basis der im Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) dokumentierten Berichterstattung der Jahre 2012 bis 2016,[1] worin das Feuilleton die zentralen Aufgaben der Veranstaltung sieht, welche Aspekte thematisiert werden und was die Kritik der Kritik darüber hinaus leistet.

 

Öffentlichkeit wofür? Sinn & Zweck der TDDL

Nach Vergabe des ersten Ingeborg-Bachmann-Preises im Jahr 1977 fragte Marcel Reich-Ranicki, was hier abgelaufen sei:

„Ein Fest der Literatur? Ein Wettbewerb mit zwei Preisen und einem Stipendium? Ein Dichtermarkt? Eine Art Börse? Wirklich eine Art Arbeitstagung? Oder gar eine literarische Modenschau? Es war, glaube ich, alles auf einmal – und das ist gut so“ (Marcel Reich-Ranicki 1977, S. 12).

Die Debatte über den möglichen Sinn und Zweck der Veranstaltung war zu Beginn virulent. Die Germanistin Doris Moser evaluierte in ihrer empirischen Studie über die ersten 20 Jahre der TDDL die Sicht des Feuilletons, indem sie die in den Klagenfurter Texten seit 1977 veröffentlichten Presseberichte über den Wettbewerb analysierte: 203 Berichte in 45 verschiedenen Medien, wobei die Verteilung – je 20 Beiträge in der FAZ und SZ, die jährlich berichteten, 19 in der NZZ – insofern nur bedingt von Aussagekraft ist, als es sich um eine Auswahl der Herausgeber handelt, die wohl das internationale Renomée der Veranstaltung spiegeln sollte.[2]

Ein Blick auf die Presseschau der Jahre 2012 bis 2016 ergibt folgendes Bild: Unter den im Zeitraum von fünf Jahren insgesamt 196 in 27 verschiedenen Medien publizierten umfangreichen Beiträgen[3] sind auch die drei oben genannten Feuilletons vertreten, aber nicht auf den quantitativ ersten Rängen, die österreichisch besetzt sind. An erster Stelle steht die Tiroler Tageszeitung mit 22 Beiträgen, gefolgt von Der Standard (19). Die Presse berichtete wie die deutsche Welt in fünf Jahren 18 Mal; in den Printmedien aus dem haus der FAZ erschienen – unter Einschluss der Sonntagszeitung (FAS) und der Woche (FAW) – zusammengenommen 14,[4] in der Wiener Zeitung 12 ausführliche Artikel.[5] Unter den VerfasserInnen der Artikel der letzten Jahre finden sich neben den Jahr für Jahr selben redaktionellen Zuständigkeiten wie in der Medienresonanz der ersten zwei Jahrzehnte auch ehemalige/künftige Jurymitglieder und teilnehmende AutorInnen.

Auf den Sinn und Zweck der Veranstaltung wird in 73 von 196 Beiträgen verwiesen. Für den Großteil, nämlich 41%, liegt die zentrale Aufgabe der TDDL in der öffentlichen Sichtbarmachung von literaturkritischen Diskussionen: „Dass der Bachmann-Preis als einziges Bildschirmformat öffentlich vorführt, wie Literaturkritik funktioniert, ist in seiner Ausgestelltheit schon eine großartige Kulturtechnik“ (Die Welt, 7. 7. 2014), gerade „der öffentliche Disput“ mache den Reiz der Veranstaltung aus (FAZ, 22. 6. 2013), „die Juroren lassen sich beim Denken zuschauen und regen die Debatte an […] Literaturkritik findet statt“ (Der Standard, 29. 6. 2013).

33% der Artikel betonen die Bedeutung des Wettbewerbs als Talentförderung und heben die Rolle der TDDL als Beschleuniger für Karrieren hervor, untermauert mit Namen mittlerweile erfolgreicher SchriftstellerInnen. Gleichzeitig sind einzelne Stimmen zu vernehmen, die bedauern, der Wettbewerb hätte diesen Nimbus verloren und kritisieren, „dass Klagenfurt immer weniger der Entdeckung unverbrauchter Talente diente denn als Probelauf für die vom Buchmarkt bereits fest eingeplanten und wasserdicht lektorierten Neuerscheinungen“ (Stuttgarter Zeitung, 3. 7. 2013). Für nur 22% besteht der Sinn und Zweck der TDDL darin, Öffentlichkeit für Literatur, für literarische Trends zu schaffen. Dies mag auch mit der Diagnose zusammenhängen, dass die TDDL spezifische Texte befördere und somit „Klagenfurt nicht mehr stellvertretend steht für den Zustand der Gegenwartsliteratur, sondern nur für sich selbst“ (SZ, 6. 7. 2015).

Die Ergebnisse ähneln dem Befund der ersten zwanzig Jahre. Auch hier lag das Ziel „Öffentlichkeit der Kritik“ auf dem ersten Platz (55 %), während „Literatur in der Öffentlichkeit“ noch von größerer Bedeutung war (49%) als „Talentprobe“ (35%).[6]

 

Castingshow oder Kontaktbörse? Live oder vor Ort

Mit der Bedeutung öffentlicher Kritik und dem Argument der Talenteförderung korrespondiert eine Format-Analogie, die dem Bewerb relativ früh zugeschrieben wurde und die auch im Auswertungszeitraum die häufigste Metapher bildet: Der Bachmannpreis als Castingshow. Dominierte in den ersten Jahren des Bewerbs die Kritik an der Fernsehpräsenz und dem Showcharakter der Veranstaltung, so werden in den aktuellen Beiträgen die frühen Aufreger und Skandale fast mit Wehmut erinnert, inklusive regelmäßiger Verweise auf Goetz, Allemann und Reich-Ranicki. Auch die Gerichtsmetaphorik oder gar Vergleiche mit Hinrichtungsszenarien (elektrischer Stuhl, russisches Roulette) sind nur mehr als Reminiszenz der Anfänge präsent. Heute attestiert man den TDDL schon mal den „Charme einer Ratesendung aus den Sechzigern“ (SZ. 5. 7. 2013) oder spricht von „Teekränzchen“: Zu philologisch wären die Diskussionen, die Juroren ein „bisschen brav, bisschen wichtigtuerisch und absolut unaufregend“ (FAS, 23. 6. 2013), zu höflich und moderat schützten sie „philologische Genauigkeit“ vor (Die Zeit, 7. 7. 2016).

Der drohende Ausstieg des ORF führte nicht zu einer neuen Auflage der Kritik an zu viel Show auf Kosten der Literatur und einem gedanklichen Gegenentwurf des Wettbewerbs ohne TV, sondern bündelte vielmehr Argumente für die mediale Ausstrahlung: Verständlicherweise aus den Reihen der unmittelbar Involvierten – „die Live-Übertragung ist eine Adelung“ (Burkhard Spinnen in der NZZ, 28. 6. 2013) –, aber auch aus Sicht der Feuilleton-Redakteure wird Fernsehen weniger als (verzerrender, störender) Eingriff inszeniert, denn als Übertragungsmedium im Dienste der Veröffentlichung „literarische[r] Urteilsbildung“ (Der Standard, 29. 6. 2013). Dass diese Urteilsbildung zwar vielleicht gruppendynamisch unvorhersehbar ist, einzelne Statements entsprechend der Interaktion unmittelbar provoziert und der „Suche nach dem besten Sager“ (Die Furche, 9. 7. 2015), also dem Unterhaltungswert geschuldet sind, aber insgesamt keineswegs als spontane Reaktionen auf den Text betrachtet werden können – der seit einer Statutenänderung im Jahr 1997 den Jurymitgliedern bereits vor der Veranstaltung vorliegt –, spielt in dieser Argumentation kaum eine Rolle.

Die Relevanz der seit 1989 etablierten Live-Übertragung wird betont; die Tatsache, dass diese die Anwesenheit der Medienvertreter bei den TDDL vor Ort nicht mehr zwingend notwendig machen würde, stand nie zur Debatte: „Wer sie nur aus dem Fernsehen kennt, ahnt davon wenig“ (Die Welt, 28. 6. 2014). Gegebenenfalls verfolgt man die Übertragung im Hotelzimmer oder ORF-Garten, doch man ist da. Grund dafür ist nicht zuletzt ein Faktor, der in der Berichterstattung der ersten beiden Jahrzehnte noch mit 31% unter den vorderen Aufgaben der TDDL vertreten war: Der Bachmannpreis ist eine Kontaktbörse.[7] In den letzten Jahren beziehen sich nur 4% der Beiträge im Feuilleton, die sich über die Aufgabe des Bewerbs Gedanken machen, explizit auf die TDDL als Ort der Vernetzung, als „bedeutende Branchen-Kontaktbörse“ (FAW, 24. 6. 2016). Offenbar hat sich dieses Motiv bereits ganz selbstverständlich in der konkreten Praxis verankert, denn das kommunikative Element der Veranstaltung findet als Atmosphäreschilderung in jeden fünften Beitrag Eingang, „man schwätzt, tratscht und tauscht sich aus, ja: Man kommuniziert“ (taz, 5. 7. 2013). Laut taz sitzt „man […] an den Abenden im Alten Markt oder im Maria Loretto“. Vor allem in den deutschen Feuilletons – in der Literarischen Welt, der FAZ und der Zeit – begegnet man Autoren, Juroren und Lektoren in Badehosen.[8] Es scheint, als müsste man diese Inszenierung nicht einmal mehr mit dem Bonmot des Literaturbetriebsausflugs benennen[9] – in der jüngsten Berichterstattung fällt es nurmehr sporadisch (zehn Mal). Das Etikett ist aufgegangen im Typus der Reportage mit Lokalkolorit und Live-Eindrücken von Eröffnungsrede, Empfang, Lesungen und Jury-Diskussionen, die suggeriert, zwischen See und Hotel verfasst worden zu sein.

 

Kritik der Kritik

Wenn das Feuilleton die zentrale Aufgabe der TDDL in der Veröffentlichung der Jury-Diskussionen sieht, ist davon auszugehen, dass sie diesen Raum gibt. 88 Beiträge der fünf ausgewerteten Jahrgänge widmen sich zentral den Lesetagen, davon wurden 25 nach dem Ende des Bewerbs veröffentlicht und kommentieren die Entscheidung.

Der Aufbau der allermeisten Beiträge ist sehr ähnlich: Lesungen und Diskussionen werden zitiert, paraphrasiert und in 85% der Artikel auch bewertet, selten aber doch sind Verweise auf Para- und Kontexte wie Videoporträts und Reaktionen des Publikums integriert. Beiträge nach einzelnen Lesetagen sind angereichert mit Prognosen, affektiver Teilnahme und entsprechendem Spannungsaufbau, während die Beiträge nach der Preisentscheidung ein rückblickendes Fazit ziehen. Die rhetorischen Strategien und Argumentationsmuster haben sich dermaßen etabliert, dass die Metareflexion mittlerweile beinahe zum Genre „Bachmannpreisbericht“ gehört: das Antizipieren von Jury-Beschimpfung und Jahrgangs-Gemäkel. In der Bewertung der Jahrgänge 2012–2016 ist die Vielfalt größer als die selbst aufgerufenen Schablonen es erwarten ließen: von der typischen Rede vom „schwachen Jahrgang“ in Kombination mit der Bewertung der Siegerin als „alternativlos“ bis hin zur Argumentation: „Sieg an Beste eines starken Jahrgangs, mehrere hätten Sieg verdient“. Am häufigsten stellt man „Vielfalt“ fest. Auffällig ist die große Einigkeit unter den Berichtenden im jeweiligen Jahr, wenige Meinungen weichen ab. Die einfachste Möglichkeit, die eigene Position als diejenige darzustellen, die in der Lage ist, den kritischen Umgang der anderen mit Literatur einzuschätzen, besteht in Zustimmung oder Ablehnung der Siegerentscheidung; sie tritt auf in der rhetorischen Formel „zu Recht“ (oder „unverdient“, „rätselhaft“). Bei drei der fünf SiegerInnen ist diese Zustimmung überwiegend, in den anderen beiden Fällen wird weniger die Wahl an sich als das Abstimmungsverhalten und das formale Prozedere zur Siegerermittlung bemängelt.

Die Kritik des Feuilletons zielt im Untersuchungszeitraum weniger auf zentrale, den Siegertext betreffende Jury-Entscheidungen als auf (aus ihrer Sicht) unzulängliche Einschätzungen anderer Texte und Lesungen – und fokussiert häufig auf Art und Weise des Zugriffs: Die dominanten Vorwürfe betreffen „Defizite beim simplen Handwerk: der gründlichen Textlektüre und Interpretation“ (Die Welt, 3. 7. 2016), kritisiert werden „Arbeitsverweigerung“ (SZ, 6. 7. 2015), Bequemlichkeit – „ob man überhaupt den Aufwand betreiben solle, sich hermeneutisch mit ihm [dem Text] zu beschäftigen“ (FAZ 9. 7. 2012) – und Prinzipienuntreue (Die Welt, 7. 7. 2014) hinsichtlich der Bewertung oder statutenkonformen Nicht-Bewertung der Performance.

Vor allem aber beklagen die schreibenden LiteraturkritikerInnen regelmäßig das Fehlen von Kategorien, Kriterien und Begriffen: „Vielleicht braucht auch die Literaturkritik endlich eine neue Sprache, andere Kriterien, um solche Formen der Literatur […] gerechter zu werden“ (Stern, 7. 7. 2016). Die Bandbreite abweichender Formen der Literatur, bei denen das Feuilleton der Jury interpretatives Ungenügen vorwirft, reicht von Stefanie Sargnagel über Jan Snela und Zé do Rock bis zu Michaela Falkner.

„Das soll‘s gewesen sein?“, fragt Marc Reichwein in Bezug auf die Lesetage (Die Welt, 7. 7. 2014), aber diese Frage lässt sich auch auf den Umgang des Feuilletons mit der öffentlichen Kritik der KollegInnen stellen. Was leistet das Feuilleton abgesehen vom Erstellen eines Mängelkatalogs?  

 

Handwerk der Literaturkritik

In 29 Beiträgen artikulieren KritikerInnen nicht nur eine Bewertung der Jury-Diskussion, sondern einen eigenen Zugang, d. h. nur jeder dritte Beitrag enthält eine als eigene Aussage erkennbare Einschätzung ausgewählter Texte und Lesungen; dies geschieht vor allem in folgenden Medien: Die Presse (6), FAZ, NZZ, Die Welt (je 4) und Salzburger Nachrichten (3).[10] Manchmal handelt es sich um eine Zeile, manchmal um einen  schmalen Absatz mit Zitat-Beleg, in dem Korrekturen oder Ergänzungen vorgenommen werden; sie betreffen vor allem formalästhetische Aspekte. In jedem der Beiträge wird – zumindest am Rande – auf sprachliche Eigenheiten einzelner TDDL-Texte Bezug genommen, indem Feuilletonredakteure zusätzliche Aspekte benennen oder weitere Interpretationen anbieten; dies gilt in weniger ausgeprägter Form auch für Anspielungen und intertextuelle Referenzen.

Eine zentrale Thematik bzw. rhetorische Argumentation, die das Feuilleton aus den Debatten aufgreift, ist die Wendung „gut gemacht“. Die tendenziell pejorative, auf der historischen Unterscheidung von Handwerk und Kunst beruhende Auslegung des Handwerk-Begriffs dient der Jury regelmäßig dazu, einen Text zunächst vermeintlich für seine Machart zu loben, dann allerdings das entscheidende Etwas zu vermissen.[11] Auch das Feuilleton legt hier nicht nach, benennt allerdings zumindest hin und wieder allzu offensichtliche Paradoxien:

„Und gelegentlich konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, gutes literarisches Handwerk habe etwas Anrüchiges. Gut gemacht, so lautete dieses Jahr das vernichtendste Urteil, das über einen Text verhängt werden konnte. Dass gerade dies niemand zu sagen wagte von einem Text, der nun in der Tat sehr gut gemacht war, könnte wiederum symptomatisch sein“ (NZZ, 8. 7. 2013).

Die Kritik der Jury an „handwerklich geschickt gemachten“ Texten, die das Feuilleton weiterträgt, geht einher mit einer Ablehnung – da wie dort – von „Institutsprosa“ und „Klagenfurt-Texten“, denen man zu offensichtlich erkennbare Konstruktionen nachsagt. Dabei sind die unter dem Etikett „Klagenfurt-Text“ versammelten Zuschreibungen so vielfältig wie widersprüchlich. Im Auswertungszeitraum wird von der typischen Wettbewerbsprosa behauptet, sie sei „literarisch und luftig-unterhaltsam zugleich, souverän in der Sprache und in der Stoffgestaltung“ (Tagesspiegel, 9.7.2012), gleichzeitig „steril“, thematisch monoton und unterkühlt (NZZ, 9.7.2012). Ein typischer Klagenfurt-Text ist einmal „ein überschaubarer, enger Text“ (Tagesspiegel, 3. 7. 2015) und enthält ein anderes Mal „mehrere Erzählstränge, die sich kreuzen und wieder auseinanderlaufen“ (Die Presse, 4.7.2015). Klagenfurt-Texte sind „[s]olipsistische Gummizellen, abgeschottet gegen die Welt draußen, beschrieben mit dem eisernen Willen, sich eher die Zunge abzubeißen, als Witz und Leichtigkeit zu erlauben“ (Die Zeit, 11.7.2013) oder „komisch, neurotisch, mit doppeltem Boden und gegen den literarischen Anspruch gebürstet“ (FAZ, 7.7.2014). Der kleinste gemeinsame Nenner scheint „partieller Realitätsverlust“ (Tages-Anzeiger, 6.7.2015) zu sein, die Wettbewerbsprosa interessiere „die Gegenwart mit ihren Problemen eher nicht so“ (ebd.). Diese Charakteristik steht in Opposition zu zwei von wenigen im Feuilleton konkret benannten positiven Werten, nämlich „Welthaltigkeit“ und „Gegenwart“: „Wo leben diese jungen Autorinnen und Autoren eigentlich?“ (NZZ, 6.7.2015).

 

Fazit

Die aktuelle Bachmannpreis-Berichterstattung im Feuilleton ist Veranstaltungskritik und – unabhängig vom Urteil – in der Inszenierung einer Vor-Ort-Atmosphäre Legitimation des Bewerbs. Über Sinn und Unsinn der TDDL nachzudenken gehöre zum Sprechen über dieses Format – während diese häufig wiederholte Wendung zur Floskel gerinnt, lässt sich in der Feuilletonberichterstattung der jüngsten Vergangenheit durchaus eine Aufgabenpräferenz feststellen: die öffentliche, im TV vermittelte, literaturkritische Diskussion über Literatur. Dabei adressieren Veranstaltung und Printmedien dieselbe Zielgruppe, eine literaturinteressierte Öffentlichkeit. TDDL-Berichterstattung in den Printmedien ist dabei immer auch Selektion: Welche Autorinnen und Autoren erhalten – abgesehen von der Siegerin, dem Sieger – Raum und Aufmerksamkeit? Das Feuilleton begibt sich als Kritik der Kritik aber vor allem gerne in eine Beobachterposition, die die KollegInnen in der Jury bewertet. Im besten Fall, allerdings nicht in der Regel, geschieht dabei auch eine Erweiterung des Sprechens über Literatur durch eigene Zugänge und Interpretationen. Dies ist nicht nur notwendig, um sich von einer Paraphrase der Lesetage abzuheben, wie sie seit 2001 durch die Online-Dokumentation und Aufbereitung auf der TDDL-Website geleistet wird. Die Kritik der Kritik hat auch in der unmittelbaren Kommentierung des Bachmannpreises in sozialen Medien und Blogs Konkurrenz erhalten. Hin und wieder integrieren Feuilleton-Beiträge Verweise auf diese „Paratexte[], die in den sozialen Netzwerken die Öffentlichkeit umwerten und die Deutungshoheit des Podiums untergraben und ja, demokratisieren“ (SZ, 6.7.2015), doch hat ihre Existenz noch nicht dazu geführt, dass das Feuilleton seine eigene Deutungsposition reflektiert und sich stärker darauf besinnt, was es leisten könnte. Warum nicht öfter das, was man in der Bachmannpreis-Jury-Diskussion vermisst: einen zweiten, präziseren Blick auf Texte und Lesungen, kriterientransparente Analyse und Vorschläge für eine der diagnostizierten Vielfalt der Literatur angemessene Sprache der Kritik?

Ob das vor Ort gelingt? Wir werden sehen. Heuer schon Ende Juni.

 

Claudia Dürr, 18.01.2019
claudia.duerr@univie.ac.at

 


Quellen und Literatur

Ulrich Baron: „Teufelskreis der Namenlosigkeit“, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 5. 7. 1991

Gerrit Bartels: „Schönheit und Schrecken“, in Tagesspiegel, 9. 7. 2012

Gerrit Bartels: „Hallo, hallo, erster Tag!“, in: Tagesspiegel, 3. 7. 2015

Roman Bucheli: „Von der Bibel lernen“, in: NZZ, 9. 7. 2012

Roman BuchelI: „Das ist kein Wanderpokal“, Interview mit Burkhard Spinnen, in: NZZ, 28. 6. 2013

Roman Bucheli: „Alles bleibt, wie es nie war“, in: NZZ, 8. 7. 2013

Roman Bucheli: „Die jungen Wilden“, in: NZZ, 6. 7. 2015

Alexandra Föderl-Schmid: „Provinzielle Erpressung“ in: Der Standard 29 6 2013

Stefan Gmünder: „Schamlos in Klagenfurt“, in: Der Standard, 6. 7. 2013

Richard Kämmerlings: „Facelift für Bachmann“, in: Die Welt, 1. 12. 2012

Richard Kämmerlings, „Jubel für eine Verstörungskomödie“, in: Tages-Anzeiger, 6. 7. 2015

Richard Kämmerlings: „Man ist ja nicht zum Schlemmen hier“, in: Die Welt, 3. 7. 2016

Sandra Kegel: „Die Taufe im See, der Autor auf der Bühne“, in: FAZ, 22. 6. 2013

Sandra Kegel: „Bachmannpreisträger, verzweifelt gesucht“, in: FAZ, 7. 7. 2014

Stefan Kister: „Finales Wettschlachten in der Arena“, in: Stuttgarter Zeitung, 3. 7. 2013

Harald Klauhs: „Bachmann-Wettbewerb: Aufgeblähte Bilder perfekte Rollenprosa“, in: Die Presse, 5. 7. 2013

Harald Klauhs: „Floskel-Reptil und Jury-Krokodil“, in: Die Presse, 4. 7. 2015

Angela Leinen „Schießen mit Platzpatronen“ in: Der Standard 29. 6. 2013

Judith Liere: „Beislpoesie“, in: Stern, 7. 7. 2016

Ijoma Mangold: „Neue Gattung: Witz und Leichtigkeit“, in: Die Zeit, 11. 7. 2013

Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. Wien: Böhlau 2004

Andreas Platthaus: „Literatur und Show“, in: FAZ, 24. 6. 2016

Marcel Reich-Ranicki: „Vorwort“, in: Humbert Fink / Marcel Reich-Ranicki / Ernst Willner (Hg.): Klagenfurter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1977

Marc Reichwein: „Umgetopft, zum Sieger mutiert“, in: Die Welt, 7. 7. 2014

Karin Röhricht: Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Innsbruck: Studien-Verlag  2016

Christopher Schmidt: „Eingeklemmt in den Schulterschluss“ in: SZ, 5. 7. 2013

Christopher Schmidt: „Bitte mal aufwachen“, in: SZ, 6. 7. 2015

Marie Schmidt: „Jemensch am Wörthersee“, in: Die Zeit, 7. 7. 2016

Christoph Schröder: „Das 38. Jahr“, in: taz, 5.7. 2013

Brigitte Schwens-Harrant: „Der kleine und feine Unterschied“, in: Die Furche, 9. 7. 2015

Brigitte Schwens-Harrant: „Von Nerz und anderen Möglichkeiten“, in: Die Furche, 10. 7. 2014

Claudius Seidl: „Mir fehlt der tolle Juror“, in: FAS, 23. 6. 2013

Jan Wiele: „Im Backshop stimmt die Chemie nicht mehr“, in: FAZ 9. 7. 2012

 


 

Anmerkungen

[1] Das IZA wertet regelmäßig 30 deutschsprachige Tages- und Wochenzeitungen aus, seit 2001 in digitalisierter Form. Dank an das IZA-Team für die Datenerhebung!

[2] Als erfolgreich verbuchte man den ersten Bewerb nicht zuletzt aufgrund der Medienresonanz: acht umfangreiche Berichte in den großen deutschsprachigen Feuilletons.

[3] Kurze Meldungen wurden nicht berücksichtigt.

[4] Verteilung der Beiträge: FAZ 9, FAS 4, FAW 1.

[5] Erwähnt sei hier, dass die Kleine Zeitung (Graz und Klagenfurt), die den Bewerb selbstverständlich auch kommentiert, erst seit 2016 im IZA ausgewertet wird und deshalb in der quantitativen Verteilung nicht aufscheint.

[6] Doris Moser wertete 15 Kategorien aus, auf die in fast allen Beiträgen (197 von 203) mit unterschiedlicher Häufigkeit verwiesen wurde, im Detail siehe Moser 2004.

[7] Nicht nur in den Beiträgen, auch als Ergebnis einer Umfrage zeigte sich, dass „Kontakte, Gespräche, Begegnungen“ für 45% das Wichtigste an den TDDL sind, und zwar ungeachtet der Gruppenzugehörigkeit oder der Funktion der einzelnen TeilnehmerInnen – AutorInnen, Publikum, Verlage, und auch Medienvertreter (Moser 2004, S. 174).

[8]Nicht nur wegen des nahe gelegenen Sees, der am Abend die Hierarchien des Tages sprengt, wenn der Juror, vor dem der Autor eben noch zitterte, in der Wasserschlacht besiegt wird“ (FAZ, 22. 6. 2013); „Dann radeln alle zum Wörthersee, als müssten sie zeigen, dass sie auch Körper haben“ (Die Zeit, 27. 6. 2013).

[9] „Der schönste Literaturbetriebsausflug der Literatur! – ein Bonmot, das inzwischen so oft zitiert worden ist, dass nicht zu eruieren war, wem das Urheberrecht dafür gebührt“ (Moser 2004, S. 17). Vgl. etwa: „Die alljährliche Fahrt nach Klagenfurt hat sich längst zum großen Literaturbetriebsausflug entwickelt“ (Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 5. 7. 1991).

[10]). Auffällig ist die personelle Konzentration; die meisten dieser Beiträge stammen von Harald Klauhs, Roman Bucheli und Richard Kämmerlings.

[11] Vgl etwa: „Ob handwerklich gelungen schon ein Wert an sich sei oder ob Kunst nicht doch darüber hinausgehen müsse, war Thema der beiden letzten Jurydiskussionen“ (Die Presse, 5. 7. 2013).

 

Abbildung: Das ORF-Landesstudio Kärnten im Jänner 2019 (c) Claudia Dürr.