Das Aufkommen des Radios in Österreich fällt in eine Zeit, die oft als die „Goldenen Zwanziger“ bezeichnet wird. „Golden“ waren die 1920er Jahre für die Durchschnittsbürger_innen tatsächlich vielfach nicht. Nach Ende des Ersten Weltkrieges 1918 sah man sich mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die das tägliche Leben prägten: finanzielle Schwierigkeiten in weiten Teilen der Gesellschaft (u.a. Pensold 2018), politische Polarisierung zwischen den Parteien des linken und rechten Spektrums und schneller technologischer Fortschritt, der ein allgemeines Gefühl der Hast und des Unwohlseins zu verbreiten schien (u.a. Blom 2016).
Neue technische Entwicklungen machten es aber auch möglich, ein starkes Bedürfnis der Menschen nach Informationen und Unterhaltung zu stillen. Das Radio begegnete diesem Anspruch in Österreich ab 1924 auf neuartige Weise mit regelmäßigen Sendetätigkeiten durch die Radio-Verkehrs-AG (Ravag) und den Sender Radio Wien. Es entstand mit dem Rundfunk eine völlig neue Form von Massenmedium, die dazu befähigte, eine große Zahl an Menschen zeitgleich und direkt zu erreichen. Räumlich konnten durch das Sendernetz ohne Verzögerungen große Distanzen überwunden werden und länderübergreifende Rundfunkübertragungen erfreuten sich schon in der Anfangszeit großer Beliebtheit. Mit diesen grenzüberschreitenden Eigenschaften dringt das Radio in den Wirkungsbereich des damals vorherrschenden Informationsmediums, der Presse, ein. Zeitungen waren zu Anfang des 20. Jahrhunderts durch hohe Auflagenzahlen omnipräsent und erschienen für bestmögliche Aktualität der Berichterstattung teilweise sogar dreimal täglich. Mit dem Radio wurde das Tempo der Übertragung noch einmal signifikant erhöht.
Rezeptionssituation des Radios in der zeitgenössischen Presse
Das Dissertationsprojekt hinter diesem Beitrag verfolgt das Ziel, einen Einblick in die Rezeptionssituation des Radios in seiner Anfangszeit in Österreich (1924-1934) zu geben. Der spezielle Fokus liegt in der Untersuchung der Beziehungen des Radios zu anderen zeitgenössischen Medien, wie Presse, Theater, Film und Buch. Die Arbeit soll sich nicht auf eine Einzelmediengeschichte des Radios beschränken, sondern gleichzeitig andere Medien der Zeit in den Blick zu nehmen.
Der transmediale Fokus hält auch in Quellen und Methodik Einzug: So dient die zeitgenössische Presse als Quellenmaterial, das aus medienhistorischer Perspektive qualitativ analysiert wird. Die Presse war seit jeher ein wichtiges Medium für die Verbreitung von Information, Meinung, ebenso von literarischen Werken und Kunst. Als Quelle bieten historische Zeitungen und Zeitschriften die Möglichkeit einer Momentaufnahme der zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskurse und der darin enthaltenen Medienkritik. Sie können zudem ein Gefühl davon vermitteln, wie spürbar der Medienwandel durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch war. Der Erkenntnisgewinn aus einem umfassenden Korpus von Zeitungstexten basiert auf einem medienhistorischen Zugang, der Theorien der Mediengeschichte, des Medienwandels und der Medienkonkurrenz berücksichtigt.
Welche Debatten treten zutage, wenn ein neues Medium sich etabliert? Wie zeigen sich die Konkurrenzverhältnisse zu anderen Medien? Welche Potentiale und mögliche Risiken werden diskutiert? Zu diesen Fragestellungen werden im Folgenden einige vorläufige Erkenntnisse und Auszüge des Quellenmaterials dargestellt.
Kontroversen über das Radio
Im Bereich der Unterhaltung drängte sich das Radio in das Terrain von Theater, Musik und Literatur. Die Debatten in den Zeitungen der 1920er und -30er Jahre geben einen Einblick, wie intensiv es in diesen Kreisen diskutiert wurde. Mit dem Hörspiel hat das Radio ein eigenes Format entwickelt, um Theaterstücke neu zu inszenieren, beziehungsweise eigens dafür konzipierte Werke umzusetzen. Eine der drängenden Fragen war: Müssen Theater- und Konzerthäuser nun, da die Menschen von zuhause Hörspiele und musikalische Darbietungen genießen können, um ihr Publikum fürchten? Die Positionen waren vielfältig und bewegten sich von Vorhersagen über den kulturellen Verfall bis hin zu utopischen Vorstellungen von Frieden, Bildung und Kultur für alle Menschen und einer besseren Welt durch das Radio. Für die Künstler_innen und Schriftsteller_innen bedeutete es, dass ihre Werke auf bisher ungekannte Weise technisch reproduzierbar wurden. Walter Benjamin hat diesem Umstand seinen Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (erste deutsche Fassung 1936) gewidmet.
Nicht zuletzt bekam das Radio vonseiten der Politik große Aufmerksamkeit, man war sich des großen Einflusspotentials schnell bewusst. Dementsprechend wurde das Radio nicht nur in Österreich in politische Institutionen eingeflochten und Kontrollinstanzen unterworfen, um den Informationsfluss zu steuern (Hickethier 2003, S. 295). Um das Risiko ungewollter Dynamiken möglichst gering zu halten, kontrollierte man die Berichterstattung zu Innenpolitik, Religion und anderen kontroversen Themengebieten oder unterband sie gänzlich (Pensold 2018, S. 20f.).
Faszination für das neue Medium
Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass die Faszination und Begeisterung über das neue Medium in der Bevölkerung außerordentlich groß waren. Die Zeitungen in den Jahren von 1924 bis 1934 sind voll von Lobpreisungen des Radios, wie die folgenden zwei Ausschnitte zeigen:
„Gibt es auf der Welt etwas Bequemeres als dieses unscheinbare Kästchen, das uns ein ganzes philharmonisches Orchester ins Zimmer bringt, Theatervorstellungen, […] Sprachkurse, denen wir sonst bei schlechtem Wetter Meilen Weges nachlaufen müssten, Zeit und Geld verlören, um schließlich todmüde nur mit halben Ohren zuzuhören? […] Das Radio zwingt den Menschen, mit der Zeit zu sparen. Es bereichert das Leben. Es erweitert den Horizont, weitet den Blick, reißt Mauern nieder, überwindet das harte Diktat der Zeit, gibt den Menschen neue Hoffnungen und stärkt den Optimismus.“ (Arbeiter Zeitung, 03.11.1932, S.7)
„Viele in letzter Zeit erschienene Büchlein und Broschüren, fast jede größere Tageszeitung brachte Anleitungen zum Radioapparatebau. Da ist es denn auch kein Wunder, daß dieser jüngste sport so ungeheure Verbreitung findet, wo noch dazu so mancher findige Junge, der nur einigermaßen etwas Bastlertalent besitzt, seine Ehre daran setzt, einen selbst zusammengestellten Detektor zu besitzen. […] Ist es ein Wunder, daß die Jugend sich begeistert einer beinahe mystischen Sache zuwendet, von der eben jetzt die ganze Welt in Bann gehalten wird?“ (Grazer Tagblatt, 27.01.1925, S. 7f.)
Überwindung von Grenzen
Während das Radio innerhalb von Österreich zunehmend präsenter wurde, ist auch die länderübergreifende Dimension des Radios schon in der Anfangszeit nicht zu unterschätzen. Schon damals war der Empfang von ausländischen Sendern sehr beliebt. Zahlreiche Texte in den Zeitungen zeugen vom Interesse der Menschen, wie in der Illustrierten Kronen Zeitung 1927: „Was aber dem Programm nicht fehlen sollte, schon deswegen nicht, weil die überwiegende Mehrzahl der Hörer das Bedürfnis nach Abwechslungen oder Sensationen im Programmteile empfindet, ist die programmmäßige und daher regelmäßige Übertragung von Auslandsstationen.“ (Illustrierten Kronen Zeitung 14.09.1927, S.7)
Ein Text im Ausferner Bote (13.08.1925, S. 3) berichtet über einen Schulleiter, der sogenannte „Ätherreisen“ anbot, wobei er die eingeladenen Personen mit dem Radio über 38 Sendestationen Europas führte und u. a. Signale aus Moskau, Helsinki und Paris empfing. Dies macht deutlich, wie sehr das Radio schon in frühen Jahren in der Lage war, den Menschen mediale Inhalte anderer Nationen und Kulturen näherzubringen, und dies nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlicheren Regionen, wo diese Revolution noch spürbarer gewesen sein dürfte.
Äußerung von Bedenken
Im Kontrast zu den Lobreden auf das neue Medium gab es auch Bedenken, die mit dem Aufkommen des Radios einhergingen. Sie bewegten sich auf unterschiedlichen Ebenen und waren politischer, idealistischer oder gesundheitlicher Natur. So gibt es Berichte über Unfälle (z.B. Radio Wien, 01.03.1926, S. 28, siehe Grafik), die vielfach mit der fehlerhaften Nutzung der Antennen einhergingen und verhängnisvolle Unfälle von Menschen mit Elektrizität provozierten. Zudem wurde von einer Hauterkrankung berichtet, die durch Inhaltsstoffe des Kopfhörermaterials ausgelöst werden sollte (z.B. Grazer Tagblatt, 27.01.1925, S. 7). Bedenken gänzlich anderer Art waren im Bereich von Kunst, Kultur und Literatur präsent, wo man das Radio einerseits als Chance sah, eine größere Zahl an Menschen mit den eigenen Werken zu erreichen, anderseits seine Konkurrenz fürchtete. Die Sorgen zeigen sich etwa in einem Text des tschechischen Schriftstellers und Journalisten Josef Kopta, veröffentlicht in der Arbeiter Zeitung vom 03.11.1932. Während Kopta über die Faszination und das „beinahe [M]ystische“ des Radios schreibt, weist er ebenso auf damit einhergehende Herausforderungen hin: „Die Konzerte, wie die Opernaufführungen, müssen billig sein, erschwinglich für Verarmte. Das Radio, bedenken Sie, meine Herren Veranstalter, ist billig und oft sehr gut. Wenn es Schallplatten sendet, gibt es gefährliche Maßstücke.“ Die Tatsache, dass das Radio die Möglichkeit bot, von einem anderen Ort aus an Veranstaltungen teilzunehmen, war ein kritischer Punkt mit schwer vorhersehbarer Dynamik: Was geschieht, wenn die Menschen den Weg ins Theater und Konzert zunehmend nicht mehr in Kauf nehmen wollen und es stattdessen vorziehen, sich von zuhause aus kulturell zu bereichern? Zumal mit dem Radio schon bald auch Musik von Platten übertragen werden konnte. Kopta machte sich keine Illusionen: „Der Plattenfreund wird oft zu Hause bleiben.“
Die angeführten Ausschnitte sind Beispiele für die vielfältigen Debatten, die in der Presse der 1920er und 1930er Jahren zum Radio geführt wurden. Unterschiedlichste Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wurden durch das neue Medium berührt und dementsprechend ausgiebig wurde in den Zeitungen darüber berichtet. Aus der zeitgenössischen Presse können spannende Erkenntnisse gewonnen werden, die nicht nur Aufschluss über die Beziehungen zwischen den Medien der Zeit, sondern auch zu vielen weiteren Themenbereichen in Verbindung mit der Rezeption des Radios geben.
Literaturverzeichnis
Benjamin, Walter (2016): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Die drei deutschen Fassungen in einem Band. Unter Mitarbeit von Michael Holzinger und Viktor Harvion. 4. Aufl. Berlin: Holzinger.
Blom, Philipp (2016): Die zerrissenen Jahre. 1918-1938. Ungekürzte Ausgabe. München: dtv (34878).
Hickethier, Knut (2003): Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler.
Pensold, Wolfgang (2018): Zur Geschichte des Rundfunks in Österreich. Programm für die Nation. Unter Mitarbeit von Otmar Moritsch. 1. Auflage 2018. Wiesbaden, Germany: Springer VS.
(Johanna Walcher)
Zur Person
arbeitet seit November 2020 im Rahmen des Doktoratsstudiums Sprach- und Medienwissenschaft an ihrem Dissertationsprojekt zur Rezeption des Radios in der österreichischen Presse (1924-1934). Das Forschungsinteresse liegt im Bereich der Mediengeschichte, Mediendiskurse und Rezeptionsgeschichte. Parallel zum Studium war Johanna Walcher im EU Horizon 2020 Projekt READ (Recognition and Enrichment of Archival Documents) tätig, in dessen Zuge die Transkriptionsplattform Transkribus entwickelt wurde. Aktuell ist sie im Projekt Zeit.shift der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol beschäftigt, das sich mit der Bewahrung, Erschließung und Vermittlung von historischen Zeitungen Gesamttirols beschäftigt. Sie ist zudem Mitglied des Doktoratskollegs Grenzen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen in Sprache, Literatur, Medien.