This is a cache of https://www.uibk.ac.at/literaturkritik/rezensionen/-totgeglaubte-leben-laenger-...-.html. It is a snapshot of the page at 2024-11-21T23:39:31.137+0100.
"Totgeglaubte leben länger ..."
block-cover

"Totgeglaubte leben länger ..."

Zu Friedrich W. Blocks "p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie". Von Renate Giacomuzzi

 

Friedrich W. Block: p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie. Klagenfurt und Graz: Ritter 2015. 224 S. ISBN 978-3-85415-527-0. Preis [A]: 18,90 €

 

Friedrich W. Blocks Rückblick auf die digitale Poesie mit Kathy Reichs 2005 erschienenem Kriminalroman Totgeglaubte leben länger 2005 (Cross Bones) in Verbindung zu bringen, scheint reichlich abwegig zu sein, doch erstens ist „everything  […] deeply intertwingled“ (Ted Nelson)[1] und zweitens zeigen beide Geschichten, dass das, was wie der Anfang einer Geschichte aussieht, nichts anderes als die Fortsetzung einer sehr alten Geschichte ist. Die Geschichte von p0es1s hat zwei Anfänge. Der eine ist der konstruierte Anfang, denn „Anfänge braucht man, um Geschichten zu erzählen“ (Block, S. 201). Die Geschichte, die Block in seiner Retrospektive erzählen möchte, ist die Geschichte des mittlerweile ein gutes Vierteljahrhundert alten Projekts p0es1s, das er als Ausstellungsleiter betreut, als Künstler mitgestaltet und als Wissenschaftler begleitetet hat. Der zweite Anfang ist nichts weniger als der Ursprung und das Wesen künstlerischen Schaffens: poiesis, „das allgemein den schöpferischen Prozess des Hervorbringens und insbesondere die Dichtkunst bezeichnet“[2]. In dieser Geschichte, nämlich in der Geschichte der Kunst, gibt es „keinen voraussetzungslosen Anfang, nur Anfänge ohne Anfang“, schreibt Block im ‚Rückblick’ seines „Rückblicks“.[3] Genau darum ging es dem Verfasser in all seinen zahlreichen Beiträgen zu digitaler Poesie oder Kunst, nämlich um das Aufspüren und Aufzeigen von literatur-  und kunsthistorischen Zusammenhängen zwischen den neuen, mit Computertechnologie und Internet arbeitenden Formen und den historischen Avantgardebewegungen, aus denen sich ein internationales Netz entwickelte, das immer wieder neue Knoten bildete, aus denen sich wiederum neue Anstöße und Verbindungslinien ergaben, siehe – nur um die bekanntesten zu nennen – die brasilianische Gruppe Noigandres von Augusto de Campos u.a. (1952), die Stuttgarter Schule um Max Bense mit Reinhard Döhl und Theo Lutz und die 1960 von Le Lionnais und Queneau gegründeten Gruppe OuLiPo.[4] Diese Zusammenhänge sind mittlerweile gut dokumentiert, wenn auch – wie ich vermute – immer noch nicht wirklich ‚verinnerlicht’. Die Geschichte der Wiener Gruppe wird immer noch als nationale, österreichische Geschichte erzählt, obwohl nachweislich die Werke Ernst Jandls und Gerhard Rühms im Kontext dieser Gruppen entstanden und verstanden werden müssen. Aber das ist eine andere Geschichte...[5]

Der 2015 im österreichischen Ritter-Verlag erschienene Band p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie ist eine Sammlung von größtenteils in Sammelbänden und Katalogen erschienen Beiträgen von Friedrich W. Block, der seit 1992 die p0es1s-Projekte begleitete. Der Direktor der Brückner-Kühner-Stiftung und der Kunsttempel Galerie in Kassel[6] hat noch vor der Einführung des WWW 1992 gemeinsam mit dem brasilianischen Künstler und Poeten André Vallias die Vilém Flusser gewidmete Ausstellung p0es1e. digitale dichtkunst in der Galerie am Markt in Annaberg-Buchholz organsiert; 2000 folgte das ebenfalls von einer Ausstellung im Kunsttempel begleitete Symposion p0es1is an der Universität Kassel sowie die Erstellung der gleichnamigen Website; 2001 fand ein weiteres internationales Symposion an der Universität Erfurt unter dem Titel p0es1s. Poesie digitaler Texte statt, das wiederum Anlass für eine weitere p0es1s-Austellung wurde, die 2004 im Kulturforum Berlin stattfand und von dem mittlerweile als Klassiker geltenden Band[7] begleitet wurde, der unter demselben Titel mit Beiträgen von namhaften Protagonisten der digitalen Kunstszene und des damit eng verwobenen Theoriediskurses erschien: Edoardo Kac, Marc America, Mez, Giselle Beiguelman, johannes Auer, Christiane Heibach, Roberto Simanowski, Philippe Boots, Mark Bernstein, Florian Cramer und andere – wie eben auch Friedrich W. Block. Dieser Band ist deshalb so erwähnenswert, weil es keine andere deutschsprachige (de facto zweisprachige) Publikation gibt, die gleichzeitig die breite, internationale Ausdehnung dieser Kunstgattung erfasst und auch deutlich zu zeigen vermag, wie sich diese Form von anderen Kunsttraditionen abgrenzt bzw. diese überschneidet. Block fasst es in der Einleitung seines neuen Bandes noch einmal zusammen:

Digitale Poesie geht wie ihre Schwestern, wie experimentelle Poesie generell, nicht in Literatur auf – womöglich noch als einer ihrer marginalisierten Randbereiche. Es macht mehr Sinn, sie als eigene Kunst zwischen den Künsten zu begreifen. Dafür spricht, dass sie mit einer anderen Rezeptionshaltung als der, wie sie in der Literatur geläufig bzw. sozialisiert ist, wesentlich besser zu erfassen ist. Dafür sprich auch, dass ihre Erzeugnisse besonders in der bildenden Kunst oder der Musik und nicht nur in der Literatur kommuniziert worden sind. (S. 21)

In dem ersten Kapitel gibt Block eine „Bedienungsanleitung“ zum Verständnis der Gattung „Digitale Poesie“.[8] Der Text beruht auf einem Beitrag, der in dem von Peter Gendolla und Jörgen Schäfer herausgegebenen Band Beyond the Screen[9] erschienen ist und darlegt, dass die verwendeten Gattungsbegriffe wie „Electronic Literature“, „Net Literature“, „Netzliteratur“ oder „digitale Poesie“ nicht von den Künstlern selbst entwickelt und verwendet wurden, sondern von den diversen Organisationen, die die Kunstprojekte in Ausstellungen gezeigt, in Zeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen dokumentiert und in digitalen Repositorien archiviert haben:

Die Bedeutung der Gattung entspringt vor allem diesem Komplex der Vermittlung und Beobachtung, weniger der individuellen künstlerischen Produktion. Künstler verfolgen tendenziell eher Individualprogramme, akzeptieren aber die Teilhabe an Organisationsformen unter dem Begriff ‚digitale Poesie’. (S. 29)

Die verschiedenen Ausdifferenzierungen des Terminus ‚Poesie’ schlägt Block ‚mit einer Klappe’, nämlich mit der ‚Universal’-Formel: „(x) Poesie – (x)“ (S. 31). So offen diese Formel für alle Möglichkeiten der Form, also der medialen Umsetzung und der Präsentation ist, so eng ist sie, was das Konzept, also die inhaltliche Ausrichtung der damit gemeinten Kunstrichtung betrifft. Selbstreflexivität, nämlich die kritische Auseinandersetzung mit dem verwendeten Material und dem medialen Dispositiv, in dem die Kunst auftritt, ist das ‚Maß’, nach dem hier entschieden und unterschieden wird. So einleuchtend es ist, dass Block den Fokus auf eine ganz bestimmte Kunstform lenken möchte, die wie keine andere sich kritisch mit den technischen Bedingungen unserer Zeit auseinandersetzt, so kommen doch (zumindest bei mir) Zweifel auf, ob der Blick des Autors hier nicht zu dogmatisch und eng ist, was ihm die Sicht auf eine möglicherweise breitere Palette an vorhandenen literarischen und künstlerischen Praktiken verstellt, als sie von ihm konstatiert wird. Er stellt nämlich in Bezug auf die Anzahl der zur Verfügung stehenden Werke der ‚digitalen Poesie’ fest: „Diesem sprachreflexiven Anspruch, der dem Programm experimenteller Poesie entspricht, scheinen sich bis heute nicht viele Künstler zu stellen, die an elektronischen Medien interessiert sind.“ (S. 9). Dieser negative Befund könnte vielleicht etwas positiver ausfallen, wenn die ‚Ärmel’ etwas ‚breiter’ wären und auch Raum ließen für weniger radikal-experimentelle Formen. Ich denke hier an die Auswahl des Marbacher Netzliteratur-Projekts, das insgesamt 75 deutschsprachige Quellen umfasst und auch Werke enthält, die im Rahmen der p0es1s-Publikationen keine Erwähnung fanden. Ich möchte hier nur ein Beispiel nennen, nämlich Kyon’s Metapage, ein bis heute (‚Totgesagte leben länger’...) ständig weiterwucherndes Hypertext-Konglomerat von audiovisuell gestalteten Seiten, das auf anschauliche Weise den Metadiskurs digitaler Poesie zeigt.[10]

Doch es bleibt fraglos das Verdienst der p0es1s-Projekte und der zahlreichen Aktivitäten und Publikationen Friedrich W. Blocks, die Aufmerksamkeit auf eine Vielzahl äußerst spannender digitaler Werke gelenkt zu haben und darüber hinaus stets nach dem gemeinsamen Nenner in den immer wieder auseinanderdriftenden und schwer zu überblickenden theoretischen Diskursen gesucht zu haben. Das „Vergnügen“ bei der Veranschaulichung des „Zusammenhang[s] von Sinnerzeugung und Sprachgeschehen“ (S. 19), zu dem der Autor sich in seiner Einleitung bekennt, kann man nur teilen, beispielsweise mit den im Kapitel „In the Beginning“[11] vorgestellten Projekten, die sich mit den sozialen Netzwerken Facebook und Co. (kritisch) auseinandersetzen: „Also auf zu suicidemachine.org, wo ich mir bei Myspace und Twitter den Rest geben kann. Dann weiter zu seppukoo.com, um Seppukoo bei Facebook zu begehen“ (S. 165)[12]. Wer den digitalen sozialen Selbstmord hinter sich hat, dem bleibt genügend Zeit, um in Ruhe in den (hoffentlich) ewigen Gefilden der diversen Datenbanken und Archive nachzuschauen, was von der vergänglichen Kunstbewegung noch zugänglich ist: ELMCIP ist ein europäisches Projekt zur Dokumentation von „Electronic Literature“, auf netzliteratur.net von johannes Auer, Christiane Heibach und Beat Suter findet man einen umfassenden und laufend aktualisierten Überblick über die deutschsprachige Netzliteratur, ELO (Electronic Literature Organization) bietet in mittlerweile drei Ausgaben Zugang zu einer großen Auswahl von digitalen Werken aus aller Welt, das bereits erwähnte Marbacher Projekt vom DLA umfasst ein Korpus von Werken deutschsprachiger Netzliteratur, die nicht nur archiviert, sondern teilweise auch restauriert wurden. Und ganz ‚Lebendiges’ findet sich bei dem auch von Block immer wieder hervorgehobenen Künstler Jörg Piringer unter piringer.net. Das eine und andere fand auch Eingang ins Webarchiv des Innsbrucker Zeitungsarchivs, so johannes Auer, Susanne Berkenheger und kyon. Die Website von p0es1s selbst wird übrigens von ELO dokumentiert und archiviert.

Renate Giacomuzzi, 27.07.2016

 

Anmerkungen:

[1] Theodor Nelson: Computer Lib: You Can and Must Understand Computers Now; Dream Machines: New Freedoms Through Computer Screens— A Minority Report. Redmond, Wash.: Tempus Books of Microsoft Press, 1987, S. 68.

[2] Friedrich W. Block, Christiane Heibach, Karin Wenz: Ästhetik digitaler Poesie. Eine Einführung. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2004, S.11-36, hier: S.12

[3] „POESIS – und weiter: Eine Retrospektive.“ In: Block 2015, S. 201-208, hier: S. 201.

[4] Beat Suter zeichnet in seiner „Geschichte der deutschsprachigen Netzliteratur“ den Einfluss dieser Gruppen auf die Entwicklung der digitalen Literatur im deutschsprachigen Raum nach. Vgl. Suter: Von Theo Lutz zur Netzliteratur. Die Entwicklung der deutschsprachigen elektronischen Literatur, 2012 .

[5] Vgl. Reinhard Döhl: Der Kreis um Max Bense. In: Als Stuttgart Schule machte. Ein Internet-Reader, hrsg. v. Reinhard Döhl, johannes Auer, Friedrich W. Block. Ab 2005, URL: http://www.stuttgarter-schule.de/bensekreis.htm

[6] Siehe den Eintrag in der ELMCIP-Datenbank: https://elmcip.net/person/friedrich-w-block

[7] Siehe Fußnote 2.

[8] „Wie man die Gattung Digitale Poesie konstruiert. Eine Bedienungsanleitung“, S. 20-36.

[9] Jörgen Schäfer / Peter Gendolla (Hrsg.): Beyond the screen. Transformations of literary structures, interfaces and genres. Bielefeld: Transcript Verlag, 2010.

[10] Siehe dazu Kyon’s Metapage (Sammlung Netzliteratur DLA Marbach) und kyon.metatrons.net (Sammlung Autorenhomepages Innsbrucker Zeitungsarchiv).

[11] „In the Beginning – Eine Entgegnung“, S. 161-218.

[12] Seppukoo ist seit 2009 nicht mehr aktiv.