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Wie und wohin sich orientieren? Viele Menschen in unterschiedlichsten Lagen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens spüren diese bedrängende Frage. Kann die Katholische Soziallehre ihnen antworten? Was ist dazu nötig, daß sie die Katholische Soziallehre als Antwort an sie hören und daß die Katholische Soziallehre in sich selber Antwort und Frage, Angebot eines Dialogs ist? Dem geht dieser Text nach.
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Wir können uns auf die Katholische Soziallehre in zwei völlig verschiedenen Weisen einlassen; und ähnliches gilt wohl für jede andere Ethik auch:
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* Entweder wenden wir uns - und sei es auch nur für eine kurze Zeit der Besinnung und Prüfung, oder der Mitteilung und Belehrung - vom Alltag ab.
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Wir konzentrieren uns also auf Fragen wie: Was ist der Inhalt der Katholischen Soziallehre? Was ist womit verknüpft, was hat Vorrang vor anderem, welches Verfahren ist einzuhalten?
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* Oder wir erinnern uns inmitten des Alltags mit seinen Turbulenzen, Komplikationen, Verwirrungen an die Katholische Soziallehre und fragen uns aus dieser Befindlichkeit heraus: Was hilft sie uns für die Klärung der Lage, für das Orientieren des Handelns hier und jetzt?
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Die erstgenannte Weise des ethischen Redens ist die des Spezialisten - und als solche kann sie über die Existenz des Spezialisten hinaus ihre Berechtigung haben. Der Spezialist, als Amtsträger oder Wissenschafter, wird nach den Regeln seines Handwerks verfahren. Er (oder sie) wird wohl zuerst auf den richtigen Zusammenhang der Sätze achten, die Struktur des Inhalts, die Rangordnung der Normen, die Methode des Verbindens und Unterscheidens, und ähnliches. Vermutlich wird die einzelne Frage, die aus dem Alltag aufspringt, mittels der anerkannten Methode zur Hierarchie der Normen in Verbindung gesetzt, wird durch Ableiten aus ranghöheren Normen und Anwenden der gefundenen Norm auf die Sache sodann die Antwort gefunden und weitergegeben.
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Wer allein in dieser Weise des Spezialisten denkt und redet - "was ist der Inhalt der Katholischen Soziallehre?" - und die aus dem Alltag anspringende Frage - "Was heißt das hier und jetzt, für mich und meine Gegner und Partner?" - wegschieben möchte, sie arbeitsteilig abschieben möchte, darf sich nicht wundern, wenn ethisches Reden im allgemeinen und die Katholische Soziallehre im besonderen weithin gleichsam im luftleeren Raum schweben.
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Ist es nicht so, daß wir ethischer Rede heute vielfach mit Bedenken, Skepsis, Argwohn, ja mit Mißtrauen und innerem Widerstand begegnen? Ist dies so, weil ich angesichts der Überkomplexität der Wirklichkeit, der herrschenden Steuerungsmechanismen, der Verflechtungszwänge und Sachgesetzlichkeiten schon jeden ersten Schritt als desavouiert ansehe? Ist dies so, weil ich mich (meine Mitmenschen) aufgrund meiner Brüchigkeit, meiner Konflikt- und Kommunikationsschwäche und des Verstricktseins in den eigenen Selbstbehauptungs- und Überlebenskampf durch den Sollensanspruch als überfordert erfahre, weil dieser Anspruch mich eher entfremdet und entmutigt, als daß er mich zu einem verwandelnden Handeln inspiriert und befähigt? Erweist nicht die Geschichte die Vergeblichkeit jedes ethischen Mühens? Ist dies so, weil ethisches Reden zu abstrakt bleibt, weil es weder die Mächtigen noch die Mitläufer herausfordert? Ist dies so, weil die Normangebote zumeist nicht aus Engagement und Betroffenheit ergehen und deshalb nur als eine Variation von "Geräusch" wahrgenommen werden? Ist dies so, weil ich mir aufgrund des Mangels an Sachwissen ein ethisches Antworten nicht anmaße?
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Was tun? Sollen wir uns fatalistisch dem "Lauf der Dinge", dem Mitläufertum überlassen, sollen wir uns dem Zynismus und der Anmaßung derer ausliefern, die das herrschende System zur Wirklichkeit schlechthin erklären?
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Soll ethische, d.h. orientierende und wegweisende Rede verstummen? Aber auch ein Schweigen ist zu verantworten, wie ein Nichthandeln zu verantworten ist. Wir können uns aus unserer Verantwortung nicht stehlen. Das Leben ist zu verantworten. Dies gehört zum Menschsein des Menschen. Warum? Der Mensch erfährt sich als unvollendet. Das Dasein ist ihm aufgegeben, es stellt ihn vor Fragen, auf die er antworten muß. Das Antworten-Müssen zwingt ihn zur Entscheidung: in welcher Weise er auf die Fragen antwortet, die das Leben an ihn stellt: sein Leben selbst, seine Mitwelt und Umwelt. Es ist der Daseinskampf, der uns - letztlich - vor die Alternative stellt: das Leben oder den Tod zu wählen. Wenn wir nicht wegen Hungers, Krieges, Zerstörung der Umwelt, Machtanmaßung sterben, dahinvegetieren, einfach nur "überleben" wollen, dann müssen wir für die Bedingungen und Voraussetzungen kämpfen, die ein erfülltes Leben in Friede und Gerechtigkeit für alle Menschen möglich machen.
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Ein Handeln ohne Einsicht ist blind, wie Einsicht ohne Handeln leer bleibt. Wir bedürfen der Orientierung, der Wegweisung so notwendig, wie wir des Brotes zum Stillen unseres Hungers bedürfen. Es bleibt also wahr: Wer immer eine Wandlung zum Besseren verhindert oder ihre Verhinderung geschehen läßt, muß sich darüber klar sein, daß er damit Partei ergriffen hat, nämlich für den Status quo und somit für jene, die von ihm profitieren, und gegen jene, die vor allem seine Last zu tragen haben: Er hat - von den Grundmechanismen her betrachtet, die die Weltgesellschaft bestimmen - Partei ergriffen für den Tod und gegen das Leben.
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Führt ein Weg aus der Not und dem Leiden an herrschender ethischer Rede? Die Alternative ist als "Weg" zu beschreiben: Niemand und nichts erlöst uns vom "Weg". Die Frage nach dem "Weg" schließt ein, daß der Mensch nach Orientierung sucht, nach der Sinndeutung seines Daseins. Sein ganzes Leben ist "Weg": Die Frage nach dem Weg ist die Frage nach dem Lebens-Weg: nach Sinn und Ziel des Daseins. Die Frage nach dem Weg schließt also die Frage nach dem rechten Weg ein: Wir können den Weg ja auch verfehlen, wir können in die Irre gehen. Welcher Weg ist ein Heils-Weg - für mich und für meine Mitmenschen?
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Wenn ich will, daß sich in dieser Welt etwas zum Positiven hin verändern soll, dann geschieht dies nur, wenn ich mich mit anderen verbünde, um es zu tun - in kommunikativer Gegenseitigkeit: Ich kann in meiner Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit, in meiner Lebensfreude und in meinem Lebensmut nur wachsen, wenn ich Hilfe annehme und zugleich anderen helfe.
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Ein qualitativer Wandel gesellschaftlicher Strukturen kann sich nur aus der erhöhten Widerstands- und Erneuerungskraft der Menschen ergeben, wobei der qualitative Umschlag zweiseitig zu geschehen hat: das Sichverändern der Menschen muß mit dem Verändern der gesellschaftlichen Verhältnisse zusammengehen.
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Eine Gesellschaft mit Zukunft kommt weder als Hofdekret einer christlich erzogenen Majestät noch von einer kirchlichen Zentralstelle, noch durch irgend einen Trick, sondern ergibt sich vielmehr nur aus der erhöhten Widerstands- und Erneuerungskraft des Menschen.
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Herrschaftserhaltung und Rivalisierung um Macht- und Privilegienpositionen machen weithin blind für die allgemeinen und langfristigen Interessen einer Gesellschaft. Eine gerechtere und freiere Gesellschaft kann daher nicht durch Appelle allein durchgesetzt werden, sondern es bedarf zu deren Verwirklichung eines produktiven Prozesses der Auseinandersetzung und der Konfrontation, indem u.a. die Sonderinteressen benannt und die verborgenen Konflikte aufgedeckt werden. In einer Zeit wie der unseren ist der offene und öffentliche Gegensatz zu den Verneblern, Verschweigern, Beschönigern und Profiteuren - und zwar aller Blöcke, Lager und Parteien - von Armut, Verelendung, Zerstörung und Krieg unumgehbar.
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Mit der Proklamation ethischer Grundsätze ist es daher nicht getan, sondern es kommt darauf an, eine Konfliktdynamik in Gang zu setzen, in der nicht nur klargestellt wird, für wen, sondern auch gegen wen Position zu beziehen ist und welche Strukturen geändert werden müssen.
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Diese Konfliktaustragung führt aber nur dann zu einer freieren und gerechteren Gesellschaft, wenn sie sich ausschließlich rechtsstaatlicher und gewaltfreier Mittel bedient. Nur eine solche Konfliktaustragung setzt einen gemeinschafts- und gesellschaftsbegründenden Prozeß frei, der zur Verwirklichung der drängenden politischen Ziele führt.
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Wir Menschen wollen gemeinhin den "Weg" nicht gehen: der Einsatz der zu verantwortenden Freiheit ist uns zu mühsam, oder wir versprechen uns nichts von ihm. Wenn ich nicht die Sicherheit habe, daß alles "dort" besser ist als in "Ägypten", drehe ich gleich wieder um. Die einen glauben nicht an ein "Gelobtes Land" jenseits der "Wüste", andere verfallen einem Guru oder einem falschen Messias, der ihnen verspricht, sie ins Gelobte Land zu führen, notfalls es herbeizuzwingen - aber unter der Voraussetzung, daß sie ihm ihre Freiheit überantworten.
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Zwei Formen der Bequemlichkeit und der Faulheit gilt es heute vor allem zu sehen und zu bekämpfen. Zum einen eine technokratische Herrschaftsanmaßung, die - unter "rechtem" bzw. "linkem" Vorzeichen - sich nicht die Mühe macht, sich auf die Menschen einzulassen: Es gehe darum, die Marktkräfte wirken zu lassen, oder: Es gehe darum, gesetzlich geregelte Sozialstaatseingriffe, wirtschaftslenkende Maßnahmen zu setzen. Zum anderen der Ruf der "Basis": die Regierung sei abzuwählen, oder spiegelbildlich dazu: die "Manager und Technokraten" sollten ausgewechselt werden.
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Beide "Reform"-Rufe sind elitäre Weisen von Veränderungsvorschlägen. In all diesen Fällen entfällt das Wichtigste, nämlich der Mut, sich einzumischen, sich selbst auf den Weg zu machen und die Beteiligten, die Betroffenen selbst zu Partnern der Umgestaltung zu gewinnen. Die allzu menschliche Faulheit, Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit schafft sich Vermeidungen und Umwege, die das Drama der Freiheit und Verantwortung ersparen sollen bzw. es gar nicht in den Blick bringen.
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Es geht zuerst und vor allem nicht nur um den richtigen Weg, der einzuschlagen ist, sondern entscheidend ist, daß die Menschen sich aufmachen, den Weg zu gehen, zu "tun" - die Menschen müssen Weg-Geher werden; wobei die Art des Gehens entscheidend den Inhalt prägt und der Inhalt entscheidend die Art des Gehens bestimmt.
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Meine Antwort auf diese Situation ist der Gedanke der "komponierenden Ethik" (1). Dieser Gedanke soll an einfachen Beispielen skizziert werden.
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Wie bereiten wir Essen zu oder lassen es für uns zubereiten? Wir können dabei industriell-technizistisch vorgehen. Die Kettenküche ist so organisiert, etwa die Küche Mc Donalds. Die Küche wird zur "Fabrik" - mit homogenisierten Grundstoffen, Computerprogramm, Apothekerwaage und einem strengen Ablaufprogramm für die einzelnen Handgriffe. Wenn das Programm da ist, ist nur mehr der Nachvollzug nötig = Mc Donald.
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Wichtig ist die verläßliche Kalkulation des Ablaufs und des immergleichen, an jedem Ort und zu jeder Zeit gleichen Markenträgers. Was das für die Qualität der Zubereitung und die Qualität des Gerichts bedeutet, ist Nebensache. Kalkulieren können unabhängig davon, wer Koch oder Köchin ist, wer Kunde ist. Unabhängig sein von den "Launen der Küche", des Kochs und der Köchin, von den sonst üblichen Schwankungen des Mitteleinsatzes, des Lieferangebots, der Instrumente; unabhängig sein von den dadurch vermeidbaren Kosten, Risken, Fehlschlägen.
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Koch und Kunde sind Störfaktoren, ebenso wie eine Vielfalt lokaler Lieferanten nur Störfaktoren sind. Störfaktoren aber sollen nach Möglichkeit ausgeschaltet werden. In diesem Sinn ist diese wirtschaftliche Strategie analog zur "Politik des kleineren Übels" konzipiert, die auch überall sonst in Wirtschaft und Politik praktiziert wird.
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Wer sich ein anspruchsvolleres Essen wünscht, wird den erhofften Geschmack des Gerichts - ich nenne dieses Ziel für die Zwecke der Ethik den "utopischen Horizont" - Schritt für Schritt durch das "Komponieren" von Zutaten und Arbeits- und Handlungsschritten ansteuern, wobei jeder nächstfolgende Schritt danach variiert wird, was bei dem Schritt davor herauskam und wie sich der weitere Weg aus einer möglicherweise veränderten Zwischenstation - denn nicht alles vollzieht sich planmäßig - darstellt.
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Die herrschenden Eliten (Politiker, Unternehmer, Banker) tendieren dazu, möglichst alles in den Griff zu bekommen. Das Paradigma dieses Vorgehens ist das wissenschaftliche Erkennen und technizistische Realisieren. Sie sind fasziniert von der herrschenden wissenschaftlichen Methode. Es ist das die längst überholte, beginnend mit der Physik aufgegebene Methode der alten Naturwissenschaft, die ihren Untersuchungsgegenstand von allen Störfaktoren bereinigt, alles auf die Anwendung mathematischer Modelle zurichtet. Die Anwendung dieser Methode hat bekanntlich ungeheuere Zuwächse an wissenschaftlichen Erkenntnissen und an Produktivität gebracht. Dieser Weg schien zu immer mehr Gewißheit, zu immer mehr Naturbeherrschung zu führen. Und weil dieses Rezept überall Erfolg zu garantieren schien, wird versucht, es auf alle menschlichen Lebens- und Handlungsfelder zu übertragen.
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Aber seither haben wir eine andere Erfahrung gemacht. Freiheit ist so nicht lebbar, weil sie ausgeblendet wird; auf diesem Weg wächst und reift keine konfliktiv-kommunikative Kultur der Freiheit. Der Mensch wird zum Teil eines bereinigten Erkenntnisfeldes. Das ist die "Prokrustes-Methode". Die Menschen werden hier nur als Exekutivorgane angesprochen: daher sabotieren sie diese Zumutung mit einem unangepaßten Verhalten.
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Technokraten binden die Menschen an ihre Macht. Sie setzen die Menschen zu bloßen Momenten des Verfügens herab. Der Mensch wird nicht in seiner Freiheit und sozialen Verantwortlichkeit angesprochen. Durch den Zwang, den technokratische Politik auf den Menschen ausübt, wird ihm suggeriert: Du bist ein Bündel von Willkür; in dir ist keine Ordnung; ich muß sie dir von außen auferlegen. Der Mensch wehrt sich gegen diese Willkür mit Willkür; er wehrt sich gegen diesen Zwang von außen, er versucht auszuweichen. Es entsteht Verstellung, Hintergehen, Betrug, Unredlichkeit, Korruption. Die Bürokratie versucht, den Betrug zu kontrollieren. Zynismus, Skepsis und Verdächtigung der Bürokratie sind die Folge - , dadurch wird neue Willkür erzeugt; sie verlangt neue Regelungen. Mit einem Wort: der Mensch erfährt sich durch diesen Zwang von oben als Opfer oder als Exekutierender einer Fremdbestimmung, gegenüber der er sich arrangiert: sein Handeln wird durch das "individuelle Nutzenkalkül" bestimmt.
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Die Macht der Technokratie läßt die Menschen alles Heil von Technik und Bürokratie erwarten, verstärkt ihre technokratische Mentalität, entmündigt, vereinzelt und isoliert sie - durch ein System vielfältiger Abhängigkeit - in einem Konkurrenzsystem gegeneinander. Einer ist für den anderen nur als Mittel (als Produzent oder Konsument) bedeutsam.
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Der Grundgedanke der komponierenden Ethik ist also sehr einfach. Wenn es das Ziel ist, den Vorrang der lebendigen Arbeit vor dem Kapital (LE 13) zu verwirklichen, so beginnen wir nicht "von hinten", also einem möglicherweise utopischen Fernzustand, sondern "von vorne", dort, wo wir eben stehen - beim "Vorrang des Kapitals" gegenüber der "lebendigen Arbeit".
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Das komponierende Vorgehen ist von diesem Ausgangspunkt her darauf gerichtet, für den jeweils nächsten Schritt das eigene Selbstverständnis und Problembewußtsein zu schärfen, die Bündnispartner und die notwendigen Mittel zu gewinnen, sodaß der nächste Schritt tatsächlich nicht irgendwohin, sondern in Richtung des gesetzten Zieles führt.
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Der jeweils nächste Schritt muß also durchaus nicht etwa eine allgemeine Gesetzesnorm sein, etwa eine ab einer bestimmten Größe des Unternehmens verbindliche Unternehmensverfassung, sondern kann die Gründung einer Selbsthilfegruppe von und für Arbeitslose sein, oder die Gründung eines selbstverwalteten Unternehmens bzw. einer Verbraucher-Erzeuger-Genossenschaft. Solche Initiativen lösen keines der Probleme der Gesellschaft insgesamt: weder das Beschäftigungsproblem, noch die politische Apathie, noch ist durch sie "der Vorrang der Arbeit vor dem Kapital" verwirklicht. Aber für jedes dieser drei Probleme ist durch jede dieser Initiativen eine bessere Voraussetzung geschaffen.
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In den Kontext einer komponierenden Ethik kommen solche Schritte erst dadurch, daß sie nicht als Stückwerk-Technologie aufgefaßt werden, sondern von den Beteiligten als winzige Schritte auf einem zielbewußten Weg erfaßt werden: Schritte auf einem Weg zu einem Ziel.
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In Österreich stärker als anderswo hat sich der Spielraum für energiepolitische Entscheidungen in den letzten zehn Jahren ganz offensichtlich verändert. Das geschah weder auf dem Weg einer prinzipiellen Neukonzeption, nämlich etwa eines umfassenden Energiekonzepts, das - sei es über Medien und Bewußtseinsbildung, sei es durch Gesetze und Regierungsakte - zur Grundlage des Umgangs mit Energie wurde, noch durch die Aneinanderreihung einzelner Entscheidungen bei Unternehmungen, Verbrauchern und Behörden. Die Änderung ist auf einem Weg vollzogen worden, der viele Momente eines komponierenden Vorgehens zeigt. Am Beginn standen einzelne punktuelle Initiativen, die zugleich einzelne Inhalte der Energiepolitik neu bewerteten und zugleich soziale Bewegungen ins Leben riefen, die sich mit den neuen Inhalten auseinandersetzten. Das Nein zu "Zwentendorf" hat für wichtige Minderheiten oder sogar für eine Mehrheit ein neues Verständnis der Bewertungskriterien für Energiesysteme zugänglich gemacht. Damit muß heute jeder Akteur der Energiewirtschaft und Energiepolitik ebenso rechnen, wie er mit staatlichen Gesetzen oder Marktgegebenheiten rechnet. Es geht also um die Verschränkung von "Inhalt" und sozialer Bewegung, durch die der "Inhalt" politisch erst interessant oder relevant wird.
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In der Auseinandersetzung über die Zweidrittelgesellschaft, Arbeitslosigkeit und das damit erzeugte Elend stehen wir vergleichsweise an einem Punkt, an dem wir vor 15 Jahren in Österreich in der Energiepolitik standen.
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Innenpolitisch sind sich alle einig, daß die beiden großen Herausforderungen einerseits die galoppierende Umweltzerstörung und andererseits die sozialen Zerstörungen (Arbeitslosigkeit; neue Armut; Elendsgruppen; Normalwerden des Elends) bilden. Auf beiden Feldern wird mit den Methoden der Stückwerktechnologie reagiert: hier ein Grenzwert, dort eine Subvention, hier eine Million für eine Arbeitsmarktinitiative, dort ein Kraftwerksprogramm - aber in beiden Feldern wachsen die Zerstörungen schneller als Kompensation und Reparatur gutmachen können. Und was schlimmer ist, die Abhilfen vergrößern oft die Schäden (z.B. die Subventionen für die "chemisierte" Landwirtschaft oder für die Autoindustrie, wie das in Österreich geschehen ist).
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Die scheinbar radikale Alternative dazu ist unter vielen Titeln zunächst als perfekte Wirtschaftsordnung, als "dritter Weg" einer Wirtschaftsdemokratie, neuerdings immer mehr auch ergänzt durch die Forderung einer "öko-sozialen Marktwirtschaft" vorgestellt worden. Niemand hat aber bisher praktische Schritte zur Verwandlung dieser "Ideale" in praktische Politik angeben oder verwirklichen können.
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Das komponierende Vorgehen ist im Unterschied zur Stückwerktechnologie sehr wohl einer Vision verpflichtet. Aber im Unterschied zu praxisfremden Utopien lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf jene Schritte, in denen materielle Veränderungen angezielt werden - ähnlich denen, die in der "Stückwerktechnologie" angewandt werden -, die zugleich aber die beteiligten Menschen in ihrer Fähigkeit stärken, ihre Lage wahrzunehmen und aus ihrem Selbstbewußtsein und ihrer Ausdrucksfähigkeit heraus sich auf der jeweils nachfolgenden Etappe besser einmischen zu können.
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Erste Schritte eines komponierenden Handelns können mit den Stichworten öko-soziale Steuerreform, Förderung von Eigentätigkeit, Aufbau sozialer Netzwerke, Einführung eines Grundeinkommens, öko-soziale Beschäftigungspolitik angegeben werden.
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Was heißt das praktisch? Eine schrittweise Belastung von Wirtschaftshandlungen, die Ressourcen verbrauchen oder Abfall verursachen und eine dazu symmetrisch steuerliche Entlastung der lebendigen Arbeit hat unmittelbar günstige Wirkungen sowohl in sozialer wie in ökologischer Hinsicht und zugleich eine mobilisierende Wirkung auf alle diejenigen, die sich der öko-sozialen Steuerreform politisch anschließen. Denn in der Auseinandersetzung darüber können sie wahrnehmen, daß ökologische Schäden wie Ressourcenverbrauch und unnötige Abfallerzeugung auch sie selber treffen und daß die steuerliche Entlastung von Erwerbstätigkeit zumindest für die große Mehrheit ein unmittelbar einsichtiger Vorteil ist. Dasselbe gilt für die anderen Schritte. Ein öko-soziales Beschäftigungsprogramm kann zugleich die bedrohlichsten ökologischen Schäden mildern oder beseitigen, einen nachhaltigen Beschäftigungs- und Einkommensimpuls geben und den Beteiligten zu einem intensiveren Bewußtsein sowohl ihrer Betroffenheit wie ihrer Handlungsfähigkeit verhelfen.
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Um den Kontrast möglichst scharf herauszuarbeiten: Ein Beschäftigungsprogramm für den Kraftwerksbau oder für Rüstungsexporte erzeugt - im günstigsten Fall - ebenfalls Beschäftigung und Einkommen. Die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit der Bauarbeiter oder Kanonenbauer wird dabei jedoch nach aller Erfahrung nicht gestärkt.
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Ein Handeln, das einer "Ethik der Stückwerkstechnologie" und nicht einer "komponierenden Ethik" verpflichtet ist, sieht so aus: Unternehmer, Gewerkschafter, Politiker rufen Menschen dazu auf, zusätzliche Kraftwerke zu bauen. Damit können Maschinen und auch einige Menschen beschäftigt, kann mehr Energie umgesetzt und - so hofft man - besser und mehr produziert werden. Abgesehen von der inhaltlichen Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit des Kalküls verschütten diese Unternehmer, Gewerkschafter und Politiker mit diesem Vorgehen aber die wichtigste Quelle für wirtschaftlichen Wohlstand, nämlich die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit der von ihnen mobilisierten Menschen. Denn wahrzunehmen ist kein Energiemangel, sondern einerseits eine enorme Energievergeudung (die zum Anlaß erfolgreicher Wirtschaftsstrategien gemacht werden kann), andererseits eine Benachteiligung der Interessen vieler oder die Begünstigung der Interessen einiger weniger, nämlich der Gruppen, die von einer Energiebereitstellungspolitik profitieren.
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Im Kontrast dazu wird ein Handeln im Sinne der komponierenden Ethik die Menschen dazu einladen - beispielsweise - die öffentlichen und auch die privaten Gebäude umzubauen, die eine Hauptquelle der Energievergeudung sind. In diesen Strategien lassen sich ebenso und sogar besser Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten organisieren. Vor allem aber - und das ist der noch wichtigere Unterschied - werden im Vollzug dieser Strategien die Menschen befähigt, die materiellen wie auch die organisatorischen Ursachen der Energievergeudung wahrzunehmen und sich der Frage zu stellen, ob sie dafür die Kosten und Verantwortung weiter mittragen wollen. Es geht also darum, Menschen als verantwortliche Beteiligte zu gewinnen und nicht als technizistische Mitmacher.
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Komponierendes Handeln knüpft an Alltagserfahrungen an. Aber in der gehobenen, der wissenschaftlichen Rede spielt dieses komponierende Handeln keine Rolle. Warum? Die gehobene wissenschaftliche Rede vom menschlichen Handeln zielt auf Inhalte, auf Zielvorstellungen und passive Realisierungsmittel, nicht auf die Wege zu einem Ziel, d.h. auf die Menschen, die - mit all den Unfaßbarkeiten menschlicher Beziehungen, eben weil Menschen handelnde Menschen sind - den Weg gehen. Konventionell interessiert eine angestrebte Gewinnvermehrung durch Vergrößerung des Marktanteils, und als Mittel zu diesem Zweck die Manipulation von möglichst passiv gedachten instrumentalisierten Menschen und sonstigen Werkzeugen. Der beste Gehilfe dieser Strategie ist der Konsument, der gar nicht weiß, wie ihm als Folge von Marktpflege und Werbung geschieht.
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Wie können wir heute unsere gesellschaftspolitische Verantwortung wahrnehmen? Dadurch - so meine ich - daß wir die Verantwortung für den Lauf des Wirtschaftens und seine Folgen nicht länger auf Experten, Interessenverbände und Inhaber wirtschaftlicher und politischer Macht abschieben.
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Wirtschaft ist unser aller Sache ebenso wie die demokratische Mitwirkung im Staat unser aller Sache ist.
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4.3 Komponierendes Vorgehen
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Was wir tun können, jede und jeder - auch wenn wir nicht Experten, Funktionäre oder Inhaber wirtschaftlicher oder politischer Macht sind, ist ein "komponierendes" Vorgehen. Vier Phasen sind bedeutsam:
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Menschen sind bedroht. Dieser Umstand betrifft mich. Bisher Selbstverständliches wird fraglich. Etwas Überraschendes, Neues taucht auf, das mich betroffen macht. Meine Bequemlichkeit, meine Feigheit wird erschüttert. Ich verhalte mich nicht mehr passiv, ich werde in einem gewissen Sinn aktiv. Die Phase der Betroffenheit ist eine Phase der Achtsamkeit: Es ist nicht nur ein neutrales Aufmerken, sondern ein aktives Interesse. Die Achtsamkeit auf das, was mich betrifft, führt mich einen Schritt über mich hinaus. Dadurch relativiere ich bisherige Vorstellungsweisen, Urteile, Gewohnheiten, Standpunkte. Je tiefer die Betroffenheit, umso tiefer vollzieht sich die Umstimmung des Aufmerkenden angesichts dieser Sache.
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Bleiben wir bei den schon angeführten Beispielen. Ich nehme Pläne der Energiewirtschaft wahr, die als große Menge von künstlicher Radioaktivität uns ein nicht beherrschbares Schadenspotential aufbürden, oder zwecks vermehrtem Energieeinsatz letzte Biotope vernichten. Oder ich beginne wahrzunehmen, wie Menschen durch Arbeitslosigkeit und neue Armut bedroht sind. Solche Betroffenheit ist noch lange kein verantwortliches Handeln. Aber es wird mir bewußt, daß ich nur in dem Maße die gesellschaftliche Realität erkennen und Veränderungsmöglichkeiten wahrnehme, wie ich mich auf den Weg theoretischer und praktischer Veränderungsversuche begebe.
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Menschen sind durch Arbeitslosigkeit und neue Armut bedroht. Andere Menschen sind bedroht durch riskante Kraftwerke, und sie beginnen sich zu wehren. Ich trete bewußt auf die Seite dieser Menschen. Ich lasse mich auf die Sache ein: auf eine konkrete geschichtliche Situation mit einem eigenen Profil. Aus alten Zusammenhängen bin ich in neue eingetreten, die ihren eigenen Akzent, ihre eigene Logik besitzen.
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In dieser Phase sind wir aktiv und passiv zugleich. In dieser Etappe stellt sich ethisch die Frage vor allem als die Frage nach dem Wissen um Veränderung. Es geht nicht um ein Vorauswissen im Sinne eines Wissens um die "Lösung", sondern um jenes best-mögliche, beschränkte Wissen, das aus der Anteilnahme zu gewinnen ist. Aus ihr heraus wird der neue Zusammenhang durchsichtiger: Menschen sind bedroht. Die Ursachen der Bedrohung lichten sich; durch die Analyse wird vor allem das Nicht-Wissen "handbarer": wir wissen mehr und mehr, was wir noch zu wissen haben.
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Als Antwort auf die Bedrohungen aus der Energiewirtschaft treten Initiativgruppen auf, die die Risken im einzelnen aufdecken und Widerstand organisieren. Als Antwortstrategie auf die Arbeitslosigkeit taucht der Vorschlag auf, die Wochenarbeitszeit geringfügig zu verringern. Die 35-Stunden-Woche soll durchgesetzt werden. Aus der Anteilnahme hier und dort werden neue Antworten und neue Fragen zugänglich. Ist es der technologische Fortschritt, der eine verstärkte Arbeitslosigkeit verursacht? Sind es Sachzwänge, die zu vermehrtem Kraftwerksbau zwingen? Die Anteilnahme ermöglicht eine Vertiefung des Wissens.
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Die technologische Produktivitätssteigerung wird deswegen zur Existenzbedrohung für wachsende Teile der jetzigen und künftigen ArbeiterInnen, weil sie Hand in Hand geht mit einer sprunghaft angewachsenen Souveränität der Kapitalverfüger im Aufsuchen der bestmöglichen Kontrollbedingungen über den Arbeitsprozeß - ausgelöst und ermöglicht unter anderem durch eine national wie international wachsende Arbeitsteilung; durch den Klassenkampf als Kampf innerhalb der Arbeiterschaft usw. Dieser Gesamtprozeß ist wiederum dadurch bestimmt, daß die Kapitalverfüger in nationalen wie internationalen Verflechtungen mit ihren Macht-Konkurrenz-Bedingungen und den sie verursachenden Zwängen eingebunden sind.
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In gleicher Weise wird sichtbar, daß erst die Investitionen in mehr Energiebereitstellung die Sachzwänge erzeugen, die als Rechtfertigung gelten sollen.
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Erst aus der Anteilnahme heraus erhellen sich die tieferen Zusammenhänge, aus denen Arbeitslosigkeit und neue Armut, andererseits ökologische Bedrohungen resultieren. Die Menschen, die bedroht sind, kennen sehr oft die eigentlichen Ursachen dieser Bedrohung nicht; zumeist sind es andere als diejenigen, die ihnen eingeredet werden. Ohne daß ich ein Rezept zur Lösung der bedrohlichen Situation wüßte, habe ich jetzt jedenfalls soviel gelernt, daß die Ursachen tiefer liegen und verflochtener sind, als die, die man üblicherweise anführt.
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In dieser Phase geht es also vor allem darum, aufzuzeigen, was ist. Was sind - neben der Versorgung mit Gütern, dem Wohlstand für viele und dem Reichtum für einige - die Folgen des Wirtschaftens?
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Soziale Folgen: Zehntausende, Hunderttausende werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, werden ausgegrenzt. Inmitten großen Reichtums wächst altes und neues Elend, werden entwürdigende Abhängigkeit von Bürokratien, ungerechte Schuldzuweisungen (Sozialschmarotzer) und ein stumpfes Ignorieren des Elends geduldet. Solidarität wird verächtlich gemacht, und das Glücksspiel in allen Formen (einschließlich mancher Praktiken an Börsen) und die rücksichtslose Bereicherung wird zum öffentlichen Vorbild. Das Schweigen gegenüber den Aufrufen zur Feindschaft - Ausländer raus, Verachtung gegenüber den Menschen aus südlichen Kontinenten - ruiniert den sozialen Zusammenhalt überall und in allen Beziehungen.
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Ökologische Folgen: die Lebensgrundlagen werden gefährdet und immer rascher ruiniert, reines Wasser, Atemluft, tragfähige Böden, die Vielfalt der Geschöpfe, unsere Mitgeschöpfe, werden als Folge des Wirtschaftens zerstört.
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Ein konkreter Vorschlag als erster Antwortschritt auf die Bedrohung ist zur Diskussion zu stellen oder wird zur Diskussion gestellt. Eine Parteinahme darf nur aus gewichtigen Gründen um der Sache selbst willen vermieden werden. Die Entscheidung erfordert einen Spielraum der Besinnung: Was ist sinnvoll veränderbar und was nicht? Ist dieser erste Schritt eine sinnvolle Veränderung? Gibt es zu ihm eine Alternative?
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Zuerst habe ich für die Wahrheit vor allem in dem Sinne Partei zu ergreifen, daß alle Fragen und Alternativen diskutiert, alle gehört werden. Jede Parteinahme, die parteiisch ist, weil sie fürchtet, die Wahrheit könne ans Licht kommen, ist zu bekämpfen.
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Zu achten ist auch auf eine schlechte Neutralität: angesichts der drängenden, Menschen und Gesellschaft bedrohenden Frage in den Status quo zu flüchten, nur um einer Entscheidung zu entkommen, oder um Angst zu beschwichtigen, oder um einfach nichts tun zu müssen.
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In den ersten Phasen, den Phasen der Betroffenheit und der Anteilnahme, analysierte ich die Situation der Bedrohung. Diese ersten Schritte befähigten mich zu einer Parteinahme, und zwar nicht in dem Sinne, daß ich das zweifelsfrei Gute vom zweifelsfrei Schlechten unterscheiden könnte. Ich nehme vielmehr Partei auf der Basis eines verringerten Nicht-Wissens und eines zugewachsenen Mehr-Wissens. Ich tue, was eben dem Kairos gemäß nach bestem Wissen und Gewissen jetzt zu tun möglich ist.
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Ich sehe nicht, wie ich verantwortlich gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche Stellung nehmen könnte. Soweit die Notlage der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit eben doch auf technologischen Fortschritt zurückzuführen ist, wird in irgendeiner Proportion das Maß der notwendigen Erwerbsarbeit sinken. Die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist daher als Teilantwort realistisch und angezeigt. Eine quantitative Senkung des Arbeitszwanges auf die 35-Stunden-Woche bietet die Chance, substantiellere Antwort- bzw. Befreiungsstrategien mit ihr zu verbinden.
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Ich sehe, ich soll die Partei derer ergreifen, die das nächstliegende schädliche Kraftwerk verhindert. Das ist eine Teilantwort. Sie erlaubt es, die Frage nach einem verantwortbaren Umgang mit Energie zu stellen.
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In dieser Phase geht es also vor allem darum, nicht mehr mitzumachen und notfalls Widerstand zu leisten - d.h.: nicht länger diese schlimmen Folgen ignorieren, sie ableugnen oder kleiner machen als sie sind. Nicht länger als Konsument, als Beschäftigter oder Selbständiger, als Unternehmer oder Verbandsfunktionär und Politiker an diesen sozialen und ökologischen Zerstörungen mitwirken, also sich nicht darauf herausreden, "alle machen es ebenso", "wenn nicht ich, dann machts eben wer anderer" - wie es exemplarisch geschah bei den gesetzwidrigen Kanonenexporten in Österreich.
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Die Freiheit ist gegen Diktatoren und Tyrannen immer nur durch aktiven Widerstand erkämpft worden; das ist uns in den letzten Jahren von den Nachbarn im Osten und Norden im Widerstand gegen die Unrechtsregime so deutlich vor Augen geführt worden wie selten zuvor. Widerstand kann auch geboten sein gegen ein Wirtschaften und gegen wirtschaftliche Machthaber, die soziale und ökologische Zerstörungen zu verantworten haben.
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Der vierte Schritt trägt der Erkenntnis Rechnung, daß jede zur Parteinahme veranlassende Entscheidungskonstellation unvollständig, wenn nicht teilweise sogar schädlich ist. Gesehen von den Problemen der Industrie- und Weltgesellschaft her ist die Parteinahme für die 35-Stunden-Woche genaugenommen eine Lösung für nichts. Das Verhindern einzelner Kraftwerke ist noch nicht eine Erneuerung der Energiewirtschaft. Die Phase der Parteinahme kann nur eine Etappe sein. Der vierte Schritt ist daher zwingend, wenn ethisches Handeln sich entfalten soll - , ja ein Stehenbleiben bei der "Parteinahme" wäre unverantwortlich.
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Wie die beiden ersten Schritte unverzichtbar sind, so ist es auch der dritte: Die Parteinahme. Denn erst durch die "Parteinahme" eröffnet sich die Chance, über den ersten Antwortschritt hinauszuführen, ihn weiterzuführen. Die Gegenprobe ist: hätte ich es unterlassen, betroffen bzw. aufmerksam zu werden, Anteil zu nehmen und Partei zu ergreifen, so wäre ich überhaupt nicht kompetent, zu einem Handeln über die Parteinahme hinaus anzuregen. Aufgrund meiner Parteinahme kann ich präziser die nötigen Entscheidungs- und Antwortmöglichkeiten vorstellen, und zwar Entscheidungs- und Antwortmöglichkeiten, die nicht bloß wohlmeindende moralische Aufforderungen zum Abbau von Feindbildern und Aufrufe zur Versöhnung beinhalten, sondern einen inhaltlich begründeten Vorschlag in den Blick rücken - zur Überprüfung alter Gegnerschaften und zum Nutzen neuer Bündnisse.
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Ethische Rede erschöpft sich also nicht in der Parteinahme für eine erste "partielle" Antwort, sondern durch die Parteinahme ist die Voraussetzung zum vierten Schritt gefunden: nämlich mir selbst, den Bündnispartnern und Streitparteien zu helfen, die bislang verengte und unzulängliche Frontstellung zu überwinden: vor allem im Präzisieren der Konflikte, ihrer Ursachen und ihrer Lösungsmöglichkeiten.
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Auf unsere Beispiele angewandt, heißt dies etwa: Wir gehen weiter von der nur quantitativen zur qualitativen Verminderung des Arbeitszwanges - von der Aufteilung der schlechten Arbeit zur gerechten Verteilung auch der guten Arbeit (der "Tätigkeit", in der menschliche Lebensäußerung vor allem auch als Lebensinhalt und Lebensfreude erscheint). Es gilt weiterzugehen von der Verteilung des Arbeitsquantums zu einer gerechteren Einkommensverteilung.
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Zudem werden durch eine Änderung des Arbeitsquantums (=35-Stunden-Woche) die Probleme nur dann nicht nur verschoben, wenn es gelingt, die Fehlsteuerung von Angebot und Nachfrage insgesamt in den Blick zu rücken. Die Sozial- und Umweltverträglichkeit der Produktion und des Konsums wird nur in dem Maße wachsen, wie die heute schon vielfach verkündete Veränderung von Ziel-Mittel-Kombinationen durch eine vermehrte Mitverantwortung und Mitgestaltung der Produzenten und Konsumenten operativ gemacht werden kann (z.B. durch Produzenten- und Konsumenten-Netze; durch den Aufbau einer Konsumentengewerkschaft, durch eine öko-soziale Steuerreform). (2)
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Im zweiten gewählten Beispiel, in der Parteinahme für Initiativen gegen besonders schadensträchtige Kraftwerke, kann der Schritt über die Parteinahme zu einer Öffnung der Auseinandersetzung führen - über den Streit um konkurrierende Varianten der Energiebereitstellung hinaus. Etwa ja zu sagen zu Wasserkraft und Kernenergie, nein zur Verbrennung fossiler Brennstoffe.
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Lasse ich mich auf den mühsamen Weg ein, der mich durch die Phasen der Betroffenheit, Anteilnahme und Parteinahme führt, so kann sich herausstellen, daß ein Fragen im Rahmen konkurrierender Methoden der Energiebereitstellung sich gerade als ungenügend erweist; ein erfolgversprechenderer Weg bahnt sich erst dort, wo der Frage nach der Energienutzung Vorrang eingeräumt wird.
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Ich lerne dabei, daß ich nicht sosehr Fachkenntnisse über die wirtschaftlichen und technischen Aspekte der Energiebereitstellung benötige, sondern daß es vielmehr darauf ankommt, ein bis ins Detail gehendes Sachwissen zu besitzen, um das mögliche Ausmaß der Vorteile lebensgünstiger Strategien der Energienutzung unter Vermeidung unnötiger Energieanwendung beurteilen und aufweisen zu können.
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Gelingt dieser Aufweis, dann können auch Industrielle und ihre gewerkschaftlichen Hilfsmannschaften, die sich bislang auf die alte Modernisierungsstrategie der Energiebereitstellung (bis hin zum Einsatz der Kernenergie) festgelegt haben, ihre Interessen neu definieren. Sie sind nun in der Lage, ihre Gewinn- und Lohnchancen gerade im Hinblick auf die Umstellung auf rationellere Energienutzung und umweltschonendere Energien zu überprüfen.
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Symmetrisch dazu können Atomgegner, die aufgrund ihres Engagements zu Modernisierungsgegnern und zum Feind aller Teile des Modernisierungsblockes geworden sein mögen, erkennen, daß beispielsweise die Forstindustrie und die Waldbesitzer sowie ein Teil der Anlagenbauer und der Bauindustrie zu Verbündeten werden können, sobald die Anti-Atombewegung sich zu einer Bewegung der konstruktiven Energieopposition fortentwickelt.
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Frühere Gegner werden jetzt zu Verbündeten - und dies gerade aufgrund der Aufmerksamkeit, die ihnen die Parteinahme für ein sinnvolles Projekt der Energienutzung und das aus ihr entstehende konstruktive Konzept einer neuen Energiepolitik (im Sinne des vierten Schrittes "über die unvermeidliche Parteinahme hinaus") abnötigt.
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In der Phase 4 geht es vor allem darum, uns in die eigenen Angelegenheiten einzumischen - d.h.: auch das Wirtschaften und die Einrichtungen in Unternehmen, Betrieben, Handel und Wirtschaftspolitik als unsere Angelegenheit erkennen und wahrnehmen.
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Die bloße Nothilfe genügt nicht. Das Strohfeuer vereinzelter Spenden ist immer wieder rasch verloschen; vereinzelte Klagen und Anklagen - gegen Umweltsünder und gegen sozial-unsolidarisches Verhalten - lassen wie ein Ventil die Empörung oder auch das eigene Schuldbewußtsein entweichen. An den Ursachen der Umweltzerstörung und der Desolidarisierung ändern sie nichts.
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Auch die nachträgliche Reparatur von schon eingetretenen Schäden, oft mit großem Aufwand an Meinungsmache und Geld verbunden, ist nicht immer der beste Weg.
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Das Eintreten beispielsweise für bürokratische Hilfen in einer Vielzahl von sozialen Notlagen - so sehr sie im Einzelfall unentbehrlich sind - kann uns von den Ursachen der immer noch beschleunigten Spaltung und Splitterung unserer Gesellschaft ablenken. Denn damit ist nichts erreicht für eine verläßliche Grundsicherung für jede und jeden, unabhängig von entwürdigenden und übermäßig teuren Bürokratien.
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Hochherzige Spenden für notleidende Menschen in den revolutionierenden Ländern Ost- und Mitteleuropas können uns von der Verantwortung dafür ablenken, was wir zugleich diesen Ländern antun, wenn wir über staatliche Garantien fragwürdige, ja schädliche Investitionen in diesen Ländern mitfinanzieren. So lenken wir uns von der Aufgabe ab, gemeinsam mit den zu freier Selbstbestimmung erwachenden Menschen der Nachbarländer herauszufinden, wie eine beiden Teilen nützliche Partnerschaft gestaltet werden kann.
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Das Eintreten beispielsweise für Lärmschutzwände und Mülldeponien - so sehr sie im Einzelfall unentbehrlich sind - kann uns von den Ursachen der immer noch beschleunigten Verwüstung unseres Lebens ablenken. Denn damit wird nichts getan für die Zähmung eines teilweise überflüssigen Verkehrssystems. Das gleiche gilt für die anderen Ursachen der Umweltschädigung ebenso.
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Wichtiger als Nothilfe und Reparatur ist es daher, die Ursachen zu erkennen, sie öffentlich auszusprechen und aufzuzeigen, und alle, die guten Willens sind, zu Widerstand und Erneuerung einzuladen.
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Verantwortung nicht länger abschieben, das verlangt von uns mehr: Über Aufzeigen der Gefährdungen und Schäden hinaus, über unsere Weigerung, dabei mitzumachen, und über den fallweise nötigen Widerstand hinaus ist ein aktiveres Eingreifen uns aufgetragen. Unsere Einmischung sollte in ein Mitgestalten einmünden.
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Die schon bestehenden Wege öffentlicher Einflußnahme - und wenn nötig auch neu zu bahnende Wege - zu gehen, das erst heißt heute Verantwortung; die leise Meinungsäußerung im kleinen Kämmerchen genügt dafür ebensowenig wie die nur isolierte einzelne begrenzte gute Tat.
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Längst schon hat die Katholische Soziallehre sich geöffnet für das Ernstnehmen der konkreten Situation der Menschen, mit denen der Dialog gesucht wird und die sie in ihrem Dialog mit der Umgebung unterstützen will.
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Achten auf das, was vorgeht, Anteil nehmen, Partei nehmen und das Hinausgehen über die Parteinahme - das sind Phasen des ethischen Handelns, die mit wachsender Aktualität in den lehramtlichen Dokumenten zur Sprache kommen.
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Immer weniger ist es ein Drüber-hinweg-reden, immer deutlicher ein Aus-dem-hier-und-jetzt-reden. Längst ist es "untunlich, ein für alle gültiges Wort zu sagen oder allerorts passende Lösungen vorzuschlagen, doch ist das auch weder Unsere Absicht noch Unsere Aufgabe. Das ist vielmehr Sache der einzelnen christlichen Gemeinschaften; sie müssen die Verhältnisse ihres jeweiligen Landes objektiv abklären, müssen mit dem Licht der unwandelbaren Lehre des Evangeliums hineinleuchten und der Soziallehre der Kirche Grundsätze für die Denkweise, Normen für die Urteilsbildung und Direktiven für die Praxis entnehmen..."(OA 4).
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Das Hören und Teilnehmen wird nicht geringer geachtet als das Bewahren und Mitteilen der Lehre. "Wenn sie (die kirchliche Soziallehre) auch nicht interveniert, um eine bestehende Struktur kraft ihrer Autorität zu bestätigen oder ein vorfabriziertes Muster vorzulegen, beschränkt sie sich doch nicht darauf, einige allgemeine Grundsätze in Erinnerung zu rufen. Nein, sie entfaltet sich durch Überlegung und Forschung in ständiger Anwendung auf den ständigen Wechsel der Dinge dieser Welt, alles unter dem Impuls des Evangeliums als einer Quelle der Erneuerung, sofern nur seine Botschaft und seine Forderungen in ihrem vollen Umfang ernstgenommen werden." (OA 42).
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Auch wohin das Horchen geht, wird immer deutlicher gesagt. Es geht um nichts Geringeres als eine Fundamentaldemokratisierung in der Form einer immer eindringenderen Mitgestaltung. Es geht um "die Übernahme von Verantwortung als eine elementare Forderung der Natur der Menschen und zugleich als Bestätigung seiner Freiheit und als Weg zur persönlichen Entfaltung";... auch um "Mitbestimmung... im Bereich der Wirtschaft, insbesondere in den Unternehmungen..."; und weiter: "Heute erstreckt dieser Bereich sich noch weiter und umfaßt auch den gesellschaftlichen und staatlichen Raum, in den gleichfalls Beteiligung an Pflichten und Entscheidungen eingeführt und weiter ausgebaut werden sollten". Die auftretenden Schwierigkeiten dürfen "auf keinen Fall verzögern, daß immer mehr Menschen an der Vorbereitung von Entscheidungen, an den Entscheidungen selbst und deren Ausführung beteiligt werden. Um gegen die um sich greifende Technokratie ein Gegengewicht zu schaffen, müssen neue, dem heutigen Leben angepaßte Formen einer echten Volksherrschaft gefunden werden, die dem einzelnen Menschen Möglichkeit zur Information und zu Meinungsäußerung geben und ihn auch zur Übernahme von Verantwortungen verpflichten." (OA 47).
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Zu einer kritischen Sicht, zu einer gewandelten Einstellung an einer Sache gelange ich erst dann, wenn ich mich auf sie persönlich einlasse. Der Aktionsradius möglicher Veränderung wächst im Maße des Sicheinlassens und der gegebenen Parteinahme. Wie ich einem Menschen nur dann weiterhelfen kann, wenn ich ihn nicht von Normen her beurteile, sondern wenn ich mich ganz auf ihn einlasse, ihn zuerst einmal annehme, wie er ist, erst diese Offenheit und dieses Engagement für ihn eröffnet die Möglichkeit, ihn auf seinem Weg zu begleiten, der ihn über den "Status quo" hinausführen soll.
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Das Bild des Weges ist nicht zufällig. Wer sich auf den Weg macht, bleibt frei, wie er weitergehen wird; und bleibt ungesichert, wie es dort aussehen wird, wohin ihn die nächste Wegbiegung führt. Wege haben es an sich, daß man am Anfang nicht sehen kann, wohin sie führen. Wege gehen ihren eigenen Weg. Sie kommen oft ins Stocken, zuweilen eröffnen sie einen überraschenden Ausblick - kleinere und größere Veränderungen werden möglich. In dem Entwurf einer Weg-Skizze ist niemals das Ziel schon beherrscht von einem Endziel; Weg-Ziele sind nicht aus Prinzipien oder Sachgesetzlichkeiten abgeleitete Produktions- oder Gesetzesnormen. Ziele sind stets die vorläufigen Wegmarken, sie sind nicht wichtiger als der Weg selber, als die Menschen, die den Weg von Etappe zu Etappe selber gestalten können - und auch selber gestalten müssen. Gewiß ist "Wahrheit" in diesen Weg-Skizzen immer gegenwärtig: nicht als faßbares Ziel, sondern als Wegspur, damit das Zwischenziel überhaupt erkannt und der Weg zu ihm erblickt und gegangen werden kann.
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Der Verzicht auf "Wahrheit", auf einen "utopischen Horizont" ist ein Resignationsphänomen gegenüber der Wirklichkeit. Der "utopische Horizont" - gesellschaftlich formuliert: die Grunderfahrung der Freund-Freund-Beziehung zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk - ist schon - in aller Vorläufigkeit - die anschaubare Überwindung und der konkrete Imperativ der sein-sollenden Überwindung jedes Feind-Feind- und jedes Macht-Gegenmacht-Verhältnisses, aus denen die Eigendynamik der Mittel mit allen ihren destruktiven Folgen entspringt.
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Das Freund-Freund-Verhältnis als tragende Wirklichkeit dieser Verkehrung gibt dem Handeln die Kraft und eröffnet auch den Blick sowohl für die Zwischenziele als auch für die Mittel, die zur Erreichung von Zwischenzielen eingesetzt werden müssen. Wenn ich nicht weiß, was ich will, dann bin ich nicht nur blind für das, was ich will, sondern auch blind für das, was ich brauche, um zu erreichen, was ich will. Der "utopische Horizont" gibt einen realistischen Weg frei, einen Weg, der in der Kraft der Vorwegnahme eines Ziels schon in der Gegenwart gegangen werden kann. Um dieses Ziel zu verwirklichen, muß die Wirklichkeit dieses Zieles bereits auf dem Weg gegenwärtig sein, sonst ist es nicht der Weg, der zu diesem Ziel führt, auch wenn dieses Ziel immer nur Weg-Ziel sein kann und nicht ein für allemal und für die ganze Geschichte das Freund-Freund-Verhältnis endgültig realisiert bzw. ausschöpft. Instrumentelles Handeln als der adäquate Mitteleinsatz für ein Zwischenziel meint immer Wegstrecke und das (Zwischen-)Ziel am Ende einer Wegstrecke, niemals aber die Vollendung der Wahrheit: sie ist das Ende der Geschichte.
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Die Vision erleuchtet unseren Weg mit Sinn, Erkenntnis und Einsicht. Es beginnt ein Weg, der ganz konkret im Hier und Jetzt der Lebensgeschichte anfängt; es bedarf aber eines Entschlusses zum Weg - einer persönlichen, freien und willentlichen Entscheidung.
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Der reife Mensch weiß, daß er stets von neuem als Anfänger anfangen muß. Immer dort, wo er glaubt, am Ziel zu sein, entdeckt er am vermeintlichen Weg-Ende einen neuen Anfang. Das Leben verlangt von uns den Mut zu einem ständigen Neubeginnen. Der Ausgangspunkt einer Ethik als Weg-Lehre ist die Wahrheit: zu dem zu stehen, was ist. Es geht darum, die Lügen zu entlarven und die Illusionen zu demaskieren.
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Ohne den "Weg" zu gehen, wandelt sich der Mensch nicht; er wird kein anderer. Ohne den Weg wäre jedes Ereignis, jede Freude, Kreativität und Phantasie eliminiert, weil Freiheit und Liebe aufgehoben wären. Der "Weg" zeigt an, daß das Leben ein Reife- und Wachstumsgeschehen ist. Das Delegieren seiner Freiheit an andere, die für ihn sein und tun sollen, was er selbst nicht sein und tun will, ist Zeichen der Lebensunfähigkeit und Flucht aus der Verantwortung: dies ist das eigentliche Kriterium des Untergangs der schöpferischen Kultur, Unfähigkeit zum Leben, Dekadenz, Absterben im Tod.
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Wenn Jesus in den Jordan steigt, um sich von johannes taufen zu lassen, dann deshalb, um sich ganz auf den in seinen Sünden verstrickten Menschen einzulassen; es ist ein Akt der Solidarität mit dem sündigen Menschen. Diese Parteinahme für den sündigen Menschen ist der erste Schritt über das hinaus, wofür er Partei nimmt: den Menschen Wege zu bahnen von der Sünde zum Heil und das heißt von der Gottgeschiedenheit zu dem ihn rufenden Gott.
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Wer sich auf den Weg macht, geht ins Risiko. Das nimmt niemand ihm und ihr ab. Welche ersten Schritte tun? Wie sich vergewissern, daß es nicht irgendwelche erste, sondern die ersten Schritte auf dem Weg sind, der in die richtige Richtung führt? Und wenn wir dann an Weggabelungen kommen, welche Abzweigung wählen?
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Anfangs mag es Wegweiser geben, auf die wir uns verlassen. Ein Wegweiser, das ist selbstverständlich, taugt nur, wenn er starr immer in seine Richtung zeigt, nicht nach Wind und Vorliebe sich dreht. Aber angesichts der sozialen und ökologischen Katastrophen kommen wir an Weggabelungen, wo die alten Wegweiser weit hinter uns liegen. Es wäre töricht, sie von ihrem Platz wegzureißen und an die neue Verzweigung des Wegs zu verpflanzen: Wohin sollen sie dort uns weisen?
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So wird klar, wir brauchen auch anders beschaffene Wegweiser: Sie sollen getreu durch alles Auf und Ab die Richtung weisen, aber sie müssen mitten unter uns auf dem Weg mitgehen, Schritt für Schritt mit uns die Orientierung suchen. Neben den starren brauchen wir die mitgehenden Wegweiser. Allein mitgehende Menschen können für uns mitgehende Wegweiser sein.
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Das ist zuletzt am komponierenden Vorgehen das Entscheidende. Komponiert wird niemals nur das Sachergebnis allein. Ebenso wichtig wie das Ankommen am nächsten Etappenziel ist das Wecken und Entfalten der Fähigkeiten, die für das Begehen der übernächsten Wegstrecke nötig sind.
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Das Vorgehen zielt auf das relativ Bessere. Aber an den wichtigen Verzweigungspunkten beginnt der nächste Schritt oft mit einem Nein. Die heute in jedem Sachbereich des Wirtschaftens allein als Wege zur Wahl gestellten Schnellstraßen sind auf soziale und ökologische Katastrophen angelegt. Das unbequeme Nein zum Weiterrasen ist die Voraussetzung für das Umschwenken auf die Pfade des komponierenden Vorgehens. Das Nein befreit zur Suche nach dem nächsten Wegabschnitt.
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Ein Komponieren - wie ein Lied oder eine Aktion von der noch unvollkommenen Vorstellung der fertigen Komposition ausgeht - ist das Begehen des Wegs auch darin, daß mit jedem Schritt die Kenntnis der Landschaft und der für den Wegbau geeigneten Materialien ebenso wächst wie die Fähigkeit, mit den Weggefährten sich auf dem Weg zu orientieren.
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Anmerkungen:
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1. S. dazu auch: Herwig Büchele, Christlicher Glaube und politische Vernunft. Für eine Neukonzeption der katholischen Soziallehre. Wien-Düsseldorf 21990, 85-113.
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2. Ders., Grundeinkommen als Moment eines öko-sozialen Umbaus, In: L. Wohlgenannt/H. Büchele, Den öko-sozialen Umbau beginnen: Grundeinkommen. Wien 1990, 217-225.
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