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Zur Sichtbarmachung des Transzendenten in der byzantinischen Bildwelt

Das phantasma in der Ikone. Zur Sichtbarmachung des Transzendenten in der byzantinischen Bildwelt.

Madalena Jirka

Welche Rolle spielen phantasmen in der byzantinischen Ikonografie? Tragen sie zur Visualisierung einer kosmologischen Ordnung bei – und wenn ja – welche künstlerischen Strategien und Mittel kommen dabei zum Einsatz? Ausgehend von Theorien Georges Didi-Hubermans und Hans Beltings wird der Begriff phantasma als Erscheinungsform einer spirituellen, nicht-materiellen Realität verstanden. Phantasmen agieren als Vermittler*innen zwischen Diesseits und Jenseits.1

Ikonen, so Belting, eröffnen durch ihre Bildsprache eine zweite Realität, die über das Sichtbare hinausweisen.2 Henry Maguire beschreibt Ikonen als „Fenster zur Transzendenz".3 Sie sind mehr als ein Abbild der Heiligen, denn sie vergegenwärtigen spirituelle Vorstellungen.

Die Entwicklung der Ikone erfolgte aus spätantiker Porträtkunst.4 Trotz der ikonoklastischen Auseinandersetzungen im 8. und 9. Jh. etablierte sich mit dem 2. Konzil von Nicäa (787 n. Chr.) eine theologisch fundierte Bildsprache.5 Diese diente nicht nur kultischer Verehrung, sondern wurde Medium spiritueller Erfahrung. Ihre Bedeutung reicht weit über den religiösen Kult hinaus und durchdringt sämtliche Bereiche der byzantinischen Gesellschaft.6

Drei Ikonen aus dem Katharinenkloster am Sinai7 demonstrieren diese Bildfunktion exemplarisch. Die Darstellung des Christus Pantokrators8 (Abb. 1) veranschaulicht in paradigmatischer Weise die christlich-theologische Lehre von der göttlich-menschlichen Doppelnatur Christi.9 In der bewusst ambivalenten Wiedergabe – zwischen Strenge und Milde, Distanz und Nähe – manifestieren sich sowohl seine irdische als auch seine göttliche Präsenz. Diese Spannung erzeugt eine Bildwirklichkeit, die über das Sichtbare hinausweist und eine transzendente Sphäre eröffnet. Die hieratische Körperhaltung10 verweist auf seine Erhabenheit, während die fein modellierten Gesichtszüge seine Menschlichkeit betonen. Die asymmetrische Physiognomie unterstreicht diese doppelte Natur: Die streng wirkende linke Gesichtshälfte kontrastiert mit der sanften, zugewandten rechten – Christus erscheint zugleich als gerechter Richter und barmherziger Erlöser. Auch seine Gestik spiegelt diesen Dualismus: In der linken Hand hält er den Codex als Symbol des göttlichen logos, mit der rechten spendet er segnend das Wort. So vermittelt das Bild nicht nur theologische Inhalte, sondern macht die Einheit von Irdischem und Göttlichem als visuelle Transzendenz erfahrbar. In der Himmelsleiter des johannes Klimakos (Abb. 2) verweist der Goldgrund auf die Transzendenz. Als kostbarstes Material steht Gold sowohl im weltlichen Kontext als auch in der patristischen Literatur für das göttliche Königtum.11 Es verleiht den Figuren Raumlosigkeit und entrückt sie in eine überzeitliche Sphäre. Die vertikale Komposition der Leiter, die von Mönchen erklommen wird und von Engeln begleitet ist, inszeniert einen geistigen Aufstieg.12 Die Engel als vermittelnde Wesen zwischen Himmel und Erde verkörpern das phantasma – jenes uneindeutige, aber notwendige Dazwischen.13 In Verbindung mit den Mönchen entsteht ein Bild geistiger Ordnung jenseits linearer Zeitvorstellung14 und tatsächlicher Raumverhältnisse. Auch die sogenannte Theodoren-Madonna (Abb. 3) folgt der Logik ikonischer Transzendenz. Maria erscheint im Typus der thronende Theotokos – Gottesgebärerin – mit dem Christuskind, flankiert von den Heiligen Theodor und Georg (oder Demetrios)15 sowie schwebenden Engeln im Hintergrund. Der Goldgrund der drei Nimben verweist auch hier auf die überweltliche Sphäre, während die zentrale Anordnung auf dem Thron und die hieratische Strenge der Darstellung Maria als Himmelskönigin und Mittlerin kennzeichnen.16 Die Differenz zwischen der statuarischen Frontalität Mariens und der Heiligen einerseits und der dynamischen, pastosen Ausarbeitung der Engel andererseits unterstreicht ihre sakrale Überhöhung und verleiht der Komposition eine klare hierarchische Staffelung.17

Diese Beispiele verdeutlichen, wie byzantinische Bildkonventionen theologische Konzepte in visuelle Ordnungen überführen. Ikonen visualisieren eine hierarchisch gegliederte Weltordnung, in der Gott als höchste Instanz das Universum durchdringt. Engel, Heilige und Menschen bilden eine geistige Stufenleiter, die sich in der Ikonografie als vertikale Gliederung manifestiert. Künstlerische Mittel wie der Goldgrund, (a)symmetrische Kompositionen und die inverse Perspektive verweisen auf das Transzendente und entheben das Dargestellte dem Irdischen.18 Auch phantasmen erscheinen in diesen Bildwelten nicht als bloße Illusion, sondern als Vehikel spiritueller Präsenz:19 Sie strukturieren den Bildraum als Schwellenzone zwischen materieller und immaterieller Welt. Auf diese Weise machen sie das Unsichtbare sichtbar – als Bild gewordene Theologie einer göttlich geordneten Wirklichkeit.

Lässt sich das phantasma also mit dem Transzendenten gleichsetzen? Beide Konzepte durchdringen sich in einem wechselseitigen Verhältnis, in dem das phantasma zur sinnlich vermittelten Erscheinungsform des Transzendenten wird, während das Transzendente im phantasma seine bildhafte Entfaltung erfährt.20 In der Ikone verdichtet sich dieses Wechselverhältnis: Sie verweist auf eine jenseitige Ordnung, die nicht direkt zugänglich, aber in der Bildsprache als phantasma erfahrbar wird – zwischen Empfindung, Glaube und kosmischer Struktur.

[1]Georges Didi-Hubermann, Phasmes. Essais sur l'apparition, Paris 1998, 23f. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 82020, 65f.

[2] Belting 2020 (wie Anm. 1), 178f.

[3] Henry Maguire, Image and Imagination in Byzantium (Variorum collected studies series 386), Aldershot / Oxfordshire / New York 2007, 89ff.

[4] Ursprünglich entstanden sie in der Kontinuität der spätantiken Porträtmalerei, insbesondere der römischen Enkaustik-Porträts aus Ägypten vgl. Kurt Weitzmann, Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, Köln 1978, 8ff. Während diese noch stark naturalistisch geprägt waren, wandelte sich die Bildsprache mit der Christianisierung des Römischen Reiches. Die frühchristliche Kunst übernahm Elemente der spätantiken Symbolik und passte sie an die neuen theologischen Anforderungen an, Viktor Nikitič Lazarev, Die russische Ikone: von den Anfängen bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Darmstadt 1997, 25–30. Hilde Zaloscer, Vom Mumienbildnis zur Ikone, Wiesbaden 1969, 18.

[5] Belting 2020 (wie Anm. 1), 150ff.

[6] Marie-José Mondzain betont die Verflechtung von Ikonentradition mit theologischen und politischen Diskursen. Ikonen dienten nicht nur der Verehrung, sondern auch der Machterhaltung. Vgl. Marie-José Mondzain, Bild, Ikone, Ökonomie, Zürich 2011, 45ff.

[7] Das Katharinenkloster am Berg Sinai wurde im 6. Jh. unter Kaiser Justinian I. gegründet und zählt zu den bedeutendsten Bewahrern byzantinischer Kunst. Seine Wiederentdeckung im 19. und 20. Jh. führte zu einer intensiven kunsthistorischen Erforschung der Ikonen, die aufgrund des trockenen Klimas außergewöhnlich gut erhalten sind. Besonders die Mosaiken und Ikonen aus dem 6. und 7. Jh., vgl. grundlegend John Galey, Sinai und das Katharinenkloster, Stuttgart 31982. Sven Lichtenecker, Das Katharinenkloster auf dem Sinai. Geschichte – Kunst – Gottesdienst, in: Jürgen Schefzyk, Alles echt: älteste Belege zur Bibel aus Ägypten, Mainz 2006, 47-64.

[8] Die Ikone gehört zur frühbyzantinischen Ikonenmalerei und ist ein seltenes Beispiel für die vorkonstantinische Tradition, die sich nach dem Ende des Ikonoklasmus weiterentwickelte. Typisch für diese Zeit sind die feinen, naturalistischen Gesichtszüge, die noch Anklänge an die Spätantike Porträtmalerei aufweisen. Vgl. Weitzmann 1978 (wie Anm. 4), 8ff.

[9] Belting 2020 (wie Anm. 1), 103f.

[10] Belting 2020 (wie Anm. 1), 175ff. Mondzain 2011 (wie Anm. 6), 102f.

[11] Grundlegende Aspekte der Ikonografie des Goldgrundes in der frühchristlichen und mittelalterlichen Kunst und ihrer Deutung: Vgl. Renate Pillinger, Gold in der frühchristlichen Kunst, in: Siegrid Deger-Jalotzky / Nikolaus Schindel (Hg.), Gold. Tagung anlässlich der Gründung des Zentrums Archäologie und Altertumswissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaft, 19.-20. April 2007 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften 377, Origines. Schriften des Zentrums Archäologie und Altertumswissenschaften 1), Wien 2009, 83-86, bes. 85. Zusätzlich vgl. Thomas Zaunschirm, Die Erfindung des Goldgrundes, in: Agnes Husslein-Arco / Thomas Zaunschirn (Hg.), Gold, Ausstellungskatalog, Belvedere Wien, Wien/München 2012, 10-27, bes. 18-22.

[12] Belting 2020 (wie Anm. 1), 152-155.

[13] Didi-Huberman 1998 (wie Anm. 1), 102f.

[14] In der byzantinischen Theologie wird Zeit nicht linear, sondern zyklisch und liturgisch verstanden. Die Geschichte entfaltet sich nicht als chronologischer Fortschritt, sondern als ewiges, gegenwärtiges Mysterium. In der Ikone wird dies sichtbar. Sie zeigt nicht einen historischen Moment, sondern das zeitlose, göttliche Jetzt, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen. So vermittelt das Bild die spirituelle Gegenwart, nicht Geschichte. Vgl. Belting 2020 (wie Anm. 1), 152-155.

[15] Zur Deutung als Demetrios, vgl. Belting 2020 (wie Anm. 1), 148-151.

[16] Belting 2020 (wie Anm. 1), 175-179.

[17] Maguire 2007 (wie Anm. 3), 92f.

[18] Belting 2020 (wie Anm. 1), 160ff.

[19] Mondzain 2011 (wie Anm. 6), 149f.

[20] Didi-Huberman 1998 (wie Anm. 1), 76f.

 

Bibliografie

Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 82020.

Georges Didi-Huberman, Phasmes. Essais sur l'apparition, Paris 1998.

John Galey, Sinai und das Katharinenkloster, Stuttgart 31982.

Viktor Nikitič Lazarev, Die russische Ikone: von den Anfängen bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Darmstadt 1997.

Sven Lichtenecker, Das Katharinenkloster auf dem Sinai. Geschichte – Kunst – Gottesdienst, in: Jürgen Schefzyk, Alles echt: älteste Belege zur Bibel aus Ägypten, Mainz 2006, 47-64.

Henry Maguire, Image and Imagination in Byzantium (Variorum collected studies series 386), Aldershot / Oxfordshire / New York 2007.

Marie-José Mondzain, Bild, Ikone, Ökonomie. Die byzantinischen Quellen des zeitgenössischen Imaginären, Zürich 2011.

Renate Pillinger, Gold in der frühchristlichen Kunst, in: Siegrid Deger-Jalotzky / Nikolaus Schindel (Hg.), Gold. Tagung anlässlich der Gründung des Zentrums Archäologie und Altertumswissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaft, 19.-20. April 2007 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften 377, Origines. Schriften des Zentrums Archäologie und Altertumswissenschaften 1), Wien 2009, 83-86.

Kurt Weitzmann, Die Ikone: 6. bis 14. Jahrhundert, Köln 1978.

Hilde Zaloscer, Vom Mumienbildnis zur Ikone, Wiesbaden 1969.

Thomas Zaunschirm, Die Erfindung des Goldgrundes, in: Agnes Husslein-Arco / Thomas Zaunschirn (Hg.), Gold, Ausstellungskatalog, Belvedere Wien, Wien/München 2012, 10-27.

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