Von Susanne Reitmair-Juárez und Thomas Stornig
Politische Bildung hat eine zentrale Funktion für die Demokratie. Allgemein gilt, dass demokratische Bürgerschaft von jeder Generation neu erlernt werden muss, da sich auch der politische und gesellschaftliche Kontext ständig verändert. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Politischer Bildung und Staatsbürgerkunde: Es geht in der Politischen Bildung nicht um das auswendig gelernte und gleich wieder vergessene Wissen über Parlament oder Verfassung (Institutionenkunde). Es geht auch nicht um unkritische Überhöhung der Demokratie in ihrer bestehenden Form. Worum es der Politischen Bildung geht, ist die Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten: das Erkennen der eigenen Interessen und gesellschaftlichen Position, die Fähigkeit zu kritischer Reflexion, Kooperation und verantwortungsvoller politischer Beteiligung. Solcherart mündige und kritische Bürger sind allerdings weder "steuerbar" noch "bequem" für die Regierenden.
Gerade in Krisenzeiten mehren sich Rufe nach der "Krisenfeuerwehr" Politische Bildung. Bildungsmaßnahmen wirken aber nie von heute auf morgen. Stattdessen ist Politische Bildung als systematischer, langfristiger Prozess zu betrachten, in dem auch die Erfahrungswelt der Lernenden Berücksichtigung findet.
Um dies zu gewährleisten, braucht sie gesicherte Strukturen, die in Österreich immer noch unzulänglich sind. Hat der Reformgeist im Zuge von "Wählen mit 16" zwar gewisse Verbesserungen gebracht, sind wir dennoch weit von einer hinreichenden Professionalisierung entfernt: Nach wie vor gibt es in den meisten Schularten kein eigenes Fach. Politische Bildung ist Teil unterschiedlicher Fachkombinationen, deren Lehrpläne überfrachtet und in der Praxis kaum zu erfüllen sind. Als Stiefkinder gelten insbesondere die berufsbildenden Schulen. Nicht unmittelbar auf den Beruf ausgerichtete Gegenstände führen dort ein Nischendasein und stehen unter permanentem Rechtfertigungsdruck.
Den geringen Status Politischer Bildung sollen kompetente und engagierte Lehrkräfte ausgleichen. Allerdings ist gerade deren Ausbildung eine weitere strukturelle Schwachstelle: Es ist auch dort ein Anhängsel an Geschichte und in Relation dazu mit spärlichen Ressourcen ausgestattet. Auch gibt es keine Einführung für Lehrpersonen anderer Fächer, die per Grundsatzerlass zur Mitwirkung an Politischer Bildung verpflichtet sind.
Seit Jahren üben Lehrkräfte und Studierendenvertreter daran Kritik. Sie fühlen sich für die Anforderungen der Zeit zu wenig gerüstet. Mit Blick auf künftige Krisen und zur Stärkung der gesellschaftlichen Basis unserer Demokratie sollten sich politisch Verantwortliche dringend dieser Stimmen annehmen. Andere mit mehr Lobbymacht ausgestattete Initiativen haben gezeigt, dass die Einrichtung neuer Fächer durchaus möglich ist (Digitale Grundbildung). Die Etablierung von Politischer Bildung als Fach und ihre grundlegende Stärkung in der Lehreraus- und -fortbildung sind überfällig.
Susanne Reitmair-Juárez ist seit Juni 2021 Doktorandin im Bereich Politische Bildung an der Universität Innsbruck. Sie forscht und lehrt u.a. zu Politische Bildung, Konzepte von Citizenship und Partizipation (on- und offline) sowie Verschwörungstheorien und Desinformation auf social Media. In ihrem Doktoratsprojekt forscht sie zum individualisierten Nachrichtenkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener online.
Thomas Stornig, PhD ist Hochschullehrperson der PH Tirol und ist Absolvent des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Er beschäftigt sich mit Fragen der schulischen Politischen Bildung und unterrichtet auch am Institut für Fachdidaktik der Universität Innsbruck.
Der Artikel erschien zuerst in: Wiener Zeitung, https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2140858-Politische-Bildung-zu-staerken-ist-ueberfaellig.html, 16. März 2022.
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