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Sandler Willibald: Mimesis und Gnade
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Mimesis und Gnade
(Im Gespräch mit René Girards "Figuren des Begehrens")

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:„Figuren des Begehrens“ (deutsch: 1999; französisch: 1961) ist René Girards erstes größeres Werk. In ihm entwickelte er anhand von Literaturanalysen zu Werken von Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust und Dostojewkij die Grundlinien seiner mimetischen Theorie. Die vorliegende Studie weist im Blick auf Girards Buch und die von ihm verwendete Literatur nach, dass Girards mimetische Theorie bereits in ihren Anfängen von Erfahrungen der Gnade und Bekehrung getragen ist.
Publiziert in:Verfasst im Jahr 2000. Leicht überarbeitet im Juni 2010.
Datum:2010-06-22

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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1. Annäherungen an René Girards mimetische Anthropologie

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1.1 Die anthropologische Grundlage des mimetischen Begehrens

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Girards mimetische Theorie setzt eine Anthropologie voraus, gemäß welcher der Mensch in seinen Zielen nicht eindeutig festgelegt ist.1 Er weiß sich als dynamisch hinorientiert auf ein Ziel, dessen Erreichung noch aussteht; aber zugleich weiß er nicht, worin dieses Ziel besteht oder wo er es überhaupt suchen soll. In dieser Orientierungslosigkeit lässt er oder sie sich unwillkürlich von anderen Menschen beeinflussen: von den Suchbewegungen anderer und vor allem von Anzeichen dafür, dass andere bereits im Besitz des ungekannten Zieles seien. Faszinierend wirken Menschen, die auf eine provozierende Weise überlegen, zufrieden oder selbstgenügsam erscheinen. Oft genug wird solche Vollkommenheit nur vorgetäuscht, – aus Angst, sich Blöße zu geben. So führt die allgemeine Orientierungslosigkeit zu einem riesigen Theater: im Extremfall tragen alle Mitglieder einer Gemeinschaft die Maske der Selbstgenügsamkeit. Jede(r) tut so, als ob er/sie im – selbstverständlichen – Besitz des Zieles wäre. Jeder glaubt den anderen, – und verzweifelt am ängstlich verborgenen eigenen Ungenügen.

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Wenn jemand leidenschaftlich nach etwas strebt, das mit der ersehnten und ungekannten Erfüllung zu tun haben könnte, wenn jemand selber Ziel von leidenschaftlicher Verehrung, faszinierter Bewunderung oder auch neidischer Kritik ist, oder wenn jemand sich so begierdelos und selbstgenügsam gibt, dass er den Eindruck erweckt, bereits im Besitz des begehrten Ziels zu sein, dann erregt das unwillkürlich das Begehren anderer Menschen. Diese werden beeinflusst durch das Verhalten, das Begehren und die Ansprüche von jener Person, die so zum Mittler des Begehrens wird, zu dessen Auslöser und Richtungsweiser. Den einen ist diese Mittlerperson fernes Ideal und Vorbild, andere kopieren bestimmte Aspekte von deren Verhalten, wieder andere wehren sich gegen diesen Einfluss und verhalten sich demonstrativ anders.

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Die Reaktion auf das Begehren anderer erfolgt spontan. Sie bewirken zwar kein blindes Kopieren – denn die beeinflusste Person kann selbst noch einmal zu diesem Einfluss in Freiheit Stellung nehmen – aber sie bilden einen Sog, ein Magnetfeld oder eine Anregung zur Resonanz, die es schwer machen, davon unberührt zu bleiben.

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Zwei anerkannt wichtige Eigenschaften des Menschen – Begehren und Nachahmung – sind damit in Girards Theorie eng miteinander verkoppelt:

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Erstens: Der Mensch ist ein nachahmendes Wesen, wobei die Gegenstände seiner Nachahmung nicht nur Ausdrucksformen und Verhaltensweisen sind, sondern primär die Artikulationen des Strebens und Begehrens anderer Menschen. Mögliche Muster für Nachahmungen – Ausdrucksformen und Verhaltensweisen – werden in dem Maße attraktiver für die Nachahmung, als sie mit dem Begehren anderer Menschen verkoppelt sind, – als deren Gegenstand oder Begleiterscheinung.

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Zweitens: Der Mensch ist ein begehrendes Wesen, wobei dieses Begehren weder einfach triebmäßig festgelegt noch das Resultat einer unbeeinflussten subjektiven Wahl ist, sondern induziert wird durch das Begehren anderer Menschen; es ist nachahmendes und nachgeahmtes Begehren oder – wie Girard sagt – mimetisches Begehren.

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Die mimetische Theorie wird in ihrer Kurzformulierung „Nachahmung des Begehrens“ häufig reduktionistisch missverstanden. Man weist darauf hin, dass die Vorlieben der anderen einen im allgemeinen kalt lassen. Bei aller Tendenz zum Nachahmen wäre das Kopieren von Begehrensverhalten doch eher die Ausnahme. Diese Kritik basiert auf einem Missverständnis. Wenn die mimetische Theorie einen Mechanismus des Nachahmens postulierte, so würde das der Grundvoraussetzung einer Nichtfestgelegtheit des Begehrens widersprechen. Die Menschen würden auf kurz oder lang alle dasselbe anstreben. Nun besteht der zentrale Punkt der mimetischen Theorie gerade darin, dass sich die Nachahmung nicht auf bloße Verhaltensformen bezieht, sondern auf das Begehren, das sich in höchst unterschiedlichen Verhaltensformen symbolisieren kann. Damit ist gerade innerhalb von mimetischen Beziehungen eine hochgradige Diversität von Verhaltensformen grundgelegt.
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Da die Nachahmung nicht primär auf Ausdrucksformen und Verhaltensweisen zielt, unterscheidet sie sich von einem bloßen Kopieren. Begehren ist ein hochgradig symbolischer Vollzug, er kann sich in unterschiedlichsten, ja gegensätzlichen Formen ausdrücken – in einer vorgetäuschten Gleichgültigkeit nicht weniger als in einem leidenschaftlichen Zugreifen – und deshalb auch verkannt oder irrtümlich unterstellt werden. Wenn ein Mensch im Verhalten eines anderen ein Begehren auszumachen meint, das ihm für die eigene Sinnsuche bedeutsam zu sein scheint, so wird er darauf spontan, das heißt vorgängig zu einem bewusst gefassten Entschluss – reagieren. Sein eigenes Begehren wird angefacht und durch den anderen, – den Mittler seines Begehren – verstärkt und (neu) ausgerichtet), und insofern kann von einer Nachahmung des Begehrens gesprochen werden. Das muss aber nicht notwendig eine Nachahmung des Verhaltens des Begehrenden bedeuten. Selbst im einfachsten Fall, wenn das Begehren des Mittlers auf die Aneignung eines Gegenstandes zielt, und dadurch im Beobachter die Besitzgier nach demselben Gegenstand angefacht wird, kann das ein ganz unterschiedliches Verhalten bewirken. Konfliktangst, einfache Höflichkeit oder taktische Raffinesse kann zur Unterdrückung des Begehrens auf der Ebene des Verhaltens führen. Erst wenn die Interaktionen zwischen Vorbild und Nachahmendem komplexer werden, wenn sie sich in einem Rückkoppelungsprozess gegenseitig verstärken, dann gleichen sich die Ausdrucks- und Sublimationsformen des Begehrens stärker an.

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Man denke an zwei Menschen, die sich an einer Tür gegenseitig den Vortritt anbieten. Hier kann sich ein wechselseitig stimuliertes Begehren in einer Verhaltenssymmetrie ausdrücken, die dem Begehren direkt entgegengesetzt ist: „Nach ihnen bitte“, sagen beide gleichzeitig. Nachahmung des Verhaltens und Nachahmung des Begehrens stehen hier gerade in der Gegensätzlichkeit in einem Bedingungsverhältnis, zentral für die These der Nachahmung des Begehrens ist aber allein letztere.
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Ist der Gegenstand des Begehrens nicht ein Ding, sondern eine Person, so unterscheidet sich die Nachahmung des Begehrens noch stärker von einer Verhaltensnachahmung. Die Begeisterung oder Verliebtheit einer Person A für eine Person B kann das Begehren einer dritten Person C auf A hinlenken. Dies kann, muss aber nicht bedeuten, dass C in analoger Weise wie A für B Begeisterung oder Verliebtheit empfindet. Abgesehen von diesem möglichen Fall, der wieder zu höchst unterschiedlichsten Verhaltensweisen aufgrund von Konfliktangst, Respekt oder bloßer Taktik führen kann, kann das in A durch B stimulierte Begehren auch darauf zielen, an der Stelle von B zu stehen, – insbesondere darauf, von A ebenso verehrt oder geliebt zu werden wie B.

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Nehmen wir als Beispiel eine Schlüsselszene aus dem Film bzw. Roman „Vom Winde verweht“: Der Abenteurer Rhett Butler wird zufällig Zeuge einer Szene, in der die junge, schöne und verwöhnte Scarlett O'Hara sich dem älteren Ashley Wilkes vor die Füße wirft.2 Diese auf Ashley gerichtete Leidenschaft Scarletts (eigentlich sogar zweier Frauen: Ashleys und Melanies) für Ashley stimuliert nun offensichtlich die Begierde Rhett Butlers. Heißt das, dass er das Begierdeverhalten von Scarlett nachahmen würde und in Verehrung oder gar Verliebtheit für Ashley entbrennen würde?3 Nein, seine Begierde zielt insofern auf Ashley, als er wünscht, an dessen Stelle zu stehen, das heißt selber Gegenstand der leidenschaftlichen und selbstdemütigenden Verliebtheit von Scarlett zu sein. Wie Ashley will er in der Lage zu sein, die selbstdemütigenden Äußerungen von Scarletts Verliebtheit zu empfangen, ohne sie selber zu erwidern. Rhetts „Nachahmung des Begehrens“, das er an Scarlett entdeckt, äußert sich so in der völlig verschiedenen Form eines Wunsches, Scarlett zu erobern. In der Interaktion zweier so eitler, verwöhnter, je für sich bereits mimetisch verstrickter Menschen wie Scarlett O'Hara und Rhett Butler ist Nachahmung des Begehrens fern von einem einfachen Kopieren von Verhaltensweisen, – zumindest solange man diese isoliert betrachtet. Achtet man aber auf komplexere strukturelle Zusammenhänge, so entdeckt man, dass Rhett Scarlett – und im Fortgang des Romans beide einander gegenseitig – auf verblüffende Weise kopieren: In einem Drang nach umfassender Dominanz fixiert sich Scarlett auf Ashley als den einzigen Mann, den sie nicht bekommen kann. Daraufhin entbrennt der verwöhnte Liebhaber Rhett in Leidenschaft für Scarlett als der einzigen Frau, die er nicht bekommen kann. Gegenstand der Nachahmung ist die donjuaneske Leidenschaft nach umfassender Dominanz.
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1.1.2 Die Dreieckstruktur der Begierde

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Verbreitete Auffassungen über das menschliche Begehren sind zweipolig strukturiert: Eine Person begehrt ein Objekt.4 Das Begehren ist dabei doppelt begründet: einerseits im objektiven, auch für Dritte feststellbaren Wert des Objekts: Nützlichkeit, Attraktivität, Schönheit, Liebreiz; anderseits im Subjekt: in dessen spezifischem Bedürfnis oder in dessen freier Entscheidung, gerade ein bestimmtes Objekt zu wollen. Girard hält diese Zweierstruktur für unvollständig. Für ihn ist zentral, dass das Begehren bestimmt wird durch ein weiteres begehrendes Subjekt – den Mittler des Begehrens – der durch sein Begehren einen Gegenstand als begehrenswert markiert.5 Zusätzlich zum objektiven Wert des Objekts und zur Selbstbestimmung des Subjekts zur Wahl eines bestimmten Objekts kommt somit als dritter zu berücksichtigender Aspekt die Vorbildwirkung des Strebens, Begehrens und Wollens weiterer Subjekte dazu.

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Das Verhältnis zwischen den beiden Begehrenden – Mittler des Begehrens und begehrendes Subjekt – steht in großer Gefahr, feindselig zu werden. Grundsätzlich ist zwar auch ein friedliches Verhältnis zwischen beiden, ja sogar eine intensivierte Freundschaft denkbar. Gehört es doch zum Schönsten einer Freundschaft oder Liebe, wenn beide die gleichen Interessen, Leidenschaften und Sehnsüchte teilen. Ist das Objekt des Begehrens aber von der Art, dass es nur von einer Person erreicht werden kann, oder wird das – an sich vielleicht gemeinsam anzielbare und in diesem Sinn „teilbare“ – Objekt in einer ausschließlichen Form angestrebt, dann führt das mimetische Begehren zum Konflikt.

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Versuchen wir das anhand verschiedener Klassen von Objekten zu konkretisieren. Der einfachste Fall mimetischer Rivalität ist die von Girard so bezeichnete Aneignungsmimesis.6 Das Objekt ist ein Gegenstand, und das Begehren besteht im Streben nach dem ausschließlichen Besitz dieses Gegenstandes. Bei einem einmaligen Gut führt das zu seiner Wertsteigerung, – z.B. ein bestimmtes Rassepferd, für das sich mehrere Bieter finden. In dem Umstand, dass schließlich nur eine Person sich das begehrte Objekt aneignen kann, liegt ein hohes Konfliktpotenzial. Dieses wird unter modernen Bedingungen der Massenproduktion entschärft und in Richtung auf eine Erhöhung des Absatzes kanalisiert. Die Objekte der Begierde lassen sich beliebig reproduzieren. An die Stelle des einmaligen Rassepferdes ist der massenproduzierte Sportwagen getreten.7

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Aneignungsmimesis beschränkt sich aber nicht auf materielle Gegenstände. Zynischerweise gehören zu den häufigsten und konfliktträchtigsten Objekten der mimetischen Begierde Menschen.8 Menschen bieten sich auf dem Stellenmarkt mit ihren Qualitäten an und lassen durchblicken, dass sie schon anderenorts gefragt sind. Dass Menschen sich derart zum Verkauf anbieten, mag im Bereich der Wirtschaft als unfreiwillige Anpassung an ein perverses System erscheinen. Freiwillig erfolgt Ähnliches aber im Bereich der Liebe, wobei die eigentliche Prostitution nur die verachtete Zuspitzung ist. Zur Kultur, die nicht nur toleriert, sondern sogar erwartet wird, gehört es, dass Menschen sich kleiden, schmücken und schminken, um das Begehren anderer zu erregen.

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Die Dreieckstruktur der Begierde dient Girard als Modell für ein weites Spektrum mimetischer Konstellationen, – und zwar durch eine Variation der Abstände, insbesondere zwischen Begehrendem und seinem Mittler-Vorbild. Großer Abstand bedeutet, dass der Mittler sich für den Nachahmenden in weiter Ferne befindet, entweder buchstäblich, wenn er eine Figur der Vergangenheit oder eine literarische Gestalt ist – wie Amadis von Gallien für Don Quijote – oder wenn er durch soziale Konventionen in unüberwindbarer Distanz zum Nachahmenden gehalten wird. Entscheidend für den „großen Abstand“ ist, dass der Nachahmende nicht in Versuchung gerät, mit dem Mittler zu rivalisieren, und dass der Mittler sich vom Nachahmungsverhalten des Anderen nicht bedroht fühlen kann. Diese Konstellation, die Girard als externe Vermittlung bezeichnet, ist konfliktfrei. Vor allem in Lehrer-Schüler- und Eltern-Kind-Verhältnissen sind solche Konstellationen erwünscht. Wenn der Schüler sich den Lehrer zum Vorbild erwählt, sind die motivatorischen Anreize für einen optimalen Lernerfolg gegeben.

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Was passiert, wenn in Girards Modell „strukturaler Geometrie“9 der Abstand zwischen dem begehrenden Subjekt und dem Vorbild verkleinert wird? An unserem Beispiel: Der Lehrer rückt für den Schüler in greifbarere Nähe, entweder durch seine Lernfortschritte, oder durch ein Schwinden sozialer Barrieren (etwa des „Respektabstandes“ zwischen Schülern und Lehrern) oder durch Fehler und Schwächen, die der Lehrer erkennen lässt. In diesem Fall kann Rivalität zwischen Schüler und Lehrer entstehen. Lehrer und Schüler fixieren sich auf gleiche Begierdeziele – etwa die Demonstration der Beherrschung des Wissensstoffes oder die dominante Rolle im Klassenzimmer – und geraten so in ein Konkurrenzverhältnis zueinander. Eine Eskalation des Konflikts kann erst entstehen, wenn der Lehrer seinerseits auf das mimetische Verhalten des Schülers mimetisch reagiert, wenn also seine Ziele und Ansprüche durch diejenigen des Schülers mimetisch stimuliert werden.

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1.1.3 Eskalierende Rivalität

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Die interne Vermittlung bietet somit die Voraussetzung für eine Eskalation der Rivalität. Eine solche erfolgt erst, wenn der Mittler auf die rivalisierende Begierde seines Nachahmers reagiert, indem er sich selber vermehrt auf den Gegenstand seines Begehrens fixiert. Dieses verstärkt akzentuierte Verlangen steigert dann rückwirkend das Begehren des Nachahmenden, welches wiederum das Begehren des Vorbildes hinauftreibt usw. In dieser Spirale der Rivalität wird der (anfängliche) Unterschied zwischen Vorbild und Nachahmendem nach und nach eingeebnet. Jeder kopiert den anderen in dessen zunehmendem Begehren, und die beiden Kontrahenten werden so einander immer ähnlicher.

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In dieser Eskalation der Begierde erscheint der Wert des Objekts als unverhältnismäßig gesteigert. Diese Wertsteigerung ist aber trügerisch. Sie ist nicht durch den „objektiven“ Wert des Begierdeziels gedeckt, sondern künstlich erzeugt durch die Konkurrenzsituation der gegenseitig sich hochspielenden Bedürfnisse. Die Rolle des Objekts der Begierde im Zustand der mimetischen Rivalität ist wie die des Geldes bei einer Inflation. Es ist allgegenwärtig und man meint alles damit machen zu können. Die präzise Analyse spricht aber mit Recht von einer Geldentwertung. Durch seine „objektiven Qualitäten“ kann der Gegenstand der Begierde keineswegs das einlösen, was er in der hochgespielten Rivalitätssituation verspricht. Nur scheinbar geht es um ihn selber. Was wirklich zählt, ist seine Position, der Umstand, dass auch andere ihn besitzen wollen.

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Wenn es nicht um den Gegenstand geht, sondern nur um seine Position, dann wird der Gegenstand ersetzbar durch andere Objekte des Begehrens.10 Ein Rivalitätsverhältnis zweier Personen, das sich an einem Gegenstand entzündet hat, kann leicht auf andere Gegenstände übergreifen. Die rivalisierenden Personen nähern sich solcherart einander an. Die fortgesetzte Erfahrung, dass der andere immer die gleichen Dinge mag und dieselben Interessen verfolgt als man selber, kann einerseits faszinierend wirken. Es steigert das Interesse füreinander und vermag eine Intimität zu schaffen, welche einer engen Freundschaft zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber diese Erfahrung überraschender Gemeinsamkeit enthält ein höchst störendes Moment: Wo immer eine Person etwas begehrt, begegnet sie jeweils schon der anderen Person als Hindernis, denn diese will dasselbe auch. Aus dieser Erfahrung kristallisieren sich zwei gegenläufige Einsichten heraus, deren Verknüpfung verhängnisvoll ist. Die erste Einsicht: Der verlässlichste Hinweis darauf, dass man bei der Suche nach dem wahrhaft lohnenden Begehrensziel auf dem rechten Weg ist, ist die Präsenz des Mittler-Rivalen. Um das wahre Ziel zu finden, orientiert man sich am besten an ihm. Die zweite Einsicht: Egal, worin letztlich das wahrhaft glücklichmachende Begehrensziel liegt, in jedem Fall muss zu dessen Erringung der Rivale überwunden werden, denn er ist es, der immer schon der Verwirklichung im Weg steht. Die Verbindung beider Einsichten treibt die beiden Rivalen immer näher aufeinander zu und hetzt sie immer stärker gegeneinander auf. Erst das Zusammenspiel beider Momente – Fixierung aufeinander und Fixierung gegeneinander – führt zu dem, was man eigentlich als Hass bezeichnet (von dem die sogenannte Hassliebe nur eine Variante ist).11 In einem solchen dramatischen Prozess wendet sich das eigentliche Interesse, Streben oder Gegenstreben immer mehr von den gegenständlichen Begehrenszielen weg und auf den Rivalen hin. Das Objekt fällt weg, die Struktur wird bipolar. Girard bezeichnet dies als Gegenspielermimesis, welche die Aneignungsmimesis ablöst.12

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Bis jetzt wurde die mimetische Wechselwirkung allein zwischen zwei Personen beschrieben. Das ist ein vereinfachender Sonderfall, von dem her nun die komplexere Realität mit der Involviertheit mehrerer Personen erschlossen werden kann. Das mimetische Dreieck als Elementarform der Mimesis führt dazu, dass zwei Menschen ihre Begierde für ein Objekt wechselseitig verstärken. Damit nimmt die Verlockung für dritte zu, sich in mimetischer Nachahmung den beiden anderen anzuschließen. Das Objekt gewinnt noch weiter an Attraktivität. Dieser Zusammenhang lässt sich gut veranschaulichen bei Jugendgruppen, in denen sich mehrere Burschen um ein bestimmtes Mädchen reißen, obwohl es für Außenbeobachter gar keine besonderen Vorzüge hat. Ähnlich lassen sich Modeerscheinungen auf kollektiv verstärkte mimetische Wechselwirkungen zurückführen. Diese können aus geringfügigsten Anlässen entstehen und sind in ihrer Entwicklung unvorhersehbar. Selbstverständlich hat die Wirtschaft ein hohes Interesse an der Auslösung und Beeinflussung solcher Zusammenhänge. Aber es handelt sich hier um Kettenreaktionen, die in einem begrenztem Ausmaß begünstigt und gelenkt, aber nicht vollständig gesteuert werden können.

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Eine kollektive Verstärkung ist auch bei der Gegenspielermimesis möglich, die aus der reziproken Steigerung rivalisierender Aneignungsmimesis entstehen kann. Gemeinschaften oder Gesellschaften können sich in wechselseitiger Faszination gegeneinander fixieren. Zum Beispiel haben Völker oder Nationen den Konflikt um einen unbedeutenden Landstreifen zu Kriegen hochgespielt, in denen das höchste nationale Interesse schließlich nur mehr in der nachhaltigen Ausschaltung des Feindes bestand. Es kommt aber auch vor, dass sich Gemeinschaften oder ganze Gesellschaften gegen einzelne Menschen polarisieren. Meist sind es exponierte Personen, etwa Filmstars oder Politiker, die zuerst vergöttert und dann kollektiv dämonisiert werden. Es ist eine verbreitete Erfahrung, dass furchtbare Skandale um Berühmtheiten, die zuerst hoch gestiegen und dann abgrundtief gefallen sind, die Menschen zusammenbringen. Fremde Menschen in Bussen oder auf Haltestellen tauschen sich in Betroffenheit oder Abscheu aus, und selbst Differenzen im Familien- oder Bekanntenkreis können vergessen werden, wenn man sich auf solche Themen konzentriert.13

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2. Romaneske Literatur als Erkenntnisquelle für Girards mimetische Theorie

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„Figuren des Begehrens“ ist René Girards erstes großes Werk. Es entfaltet die Grundlinien der mimetischen Theorie, die für ihn durchgängig bestimmend bleiben werden. Gleichwohl entwickelt Girard hier kein System der Mimesis, sondern betreibt eine selektiv-systematische Auslegung einiger Werke bestimmter Autoren, denen er eine besondere Wahrhaftigkeit zumisst und die er als „romanesk“ bezeichnet. Das ist bedeutsam für gewisse perspektivische Verengungen seines späteren Werks, die sich bereits in den „Figuren des Begehrens“ abzeichnen, aber darin durch den Rückgang auf die romanesken Quellen ausgeräumt werden können: Schon in seinem ersten Werk legt Girard bei der Reflexion auf die Überwindung mimetischer Rivalität den Akzent ganz auf das „intellektuelle“ Moment von Durchschauen und Aufdeckung der versklavenden Mechanismen, – ein Gesichtspunkt, der dann seine Deutung der christlichen Offenbarung dominieren wird. Schaut man mit Girard auf die romanesken Werke, dann zeigt sich noch anderes, nicht weniger Bedeutendes: Erfahrungen unverdienter und unerwarteter Liebe und Schönheit. Diese Aspekte widerlegen nicht Girards mimetische Theorie, sondern bereichern sie um den wichtigen Aspekt einer „Mimesis der Liebe“.14

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Leitend für das Werk ist die Unterscheidung von zwei Literaturtypen, die Girard scharf wertend als „romantische Lüge“ und „Wahrheit des Romans“ einander gegenüberstellt. Die romantische Lüge besteht für Girard in der illusorischen Annahme, dass die Menschen sich auf die Gegenstände ihres Begehrens frei, unabhängig und sachgemäß festlegen.

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Ein einfaches Beispiel: Ein Held entbrennt in Liebe zu einer Frau. Die romantische Interpretation wird die objektiven Vorzüge dieser Frau hervorheben; der Held wählt seine Geliebte aus gutem Grund: Oder eine höhere Macht des Schicksals und der Vorsehung hat beide füreinander bestimmt, und der Held folgt dieser Bestimmung. Ob objektive Gründe, souveräne Wahl oder Schicksalsbestimmung, – jedenfalls kommt diese Liebe aus Motiven zustande, die die Einflüsse von Mitmenschen transzendieren. Diese schmeichelhafte Selbstwahrnehmung des Verliebten wird vom romantischen Roman unkritisch übernommen. Dagegen bringt die romaneske Interpretation andere Perspektiven ins Spiel. Sie übernimmt nicht einfach subjektive Erklärungen, sondern beschreibt. Die Blickverengung des Verliebten auf das geliebte Du und das leidenschaftlich fixierte Ich (mit göttlichen Mächten als bestätigenden Instanzen) wird aufgerissen, und es werden neue Zusammenhänge sichtbar: Die Besonderheit der Frau zeigt sich vielleicht daran, dass sie von vielen verehrt wird, und dass sie bisher alle Werber abgewiesen hat. Vielleicht gibt es Rivalen, Nebenbuhler. Die geliebte Frau gewinnt ein gut Teil ihres Zaubers erst aus dem Spannungsfeld der Leidenschaften, die ihr von anderen entgegengebracht wurden.

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Analog verhält es sich mit anderen romantischen Werten, vor allem dem der Ehre. Ihr entsprechen keine objektiv feststellbaren Werte, sondern sie entfaltet ihren Glanz durchwegs erst unter den Blicken realer oder imaginierter Dritter. Es geht hier nicht primär um inhaltlich bestimmbare Tugenden des Helden, sondern um das Bild, das er in den Augen anderer hervorruft. So entzaubert die romaneske Interpretation auf ernüchternde Weise die Helden und ihre Leidenschaften. Unvoreingenommen betrachtet erweisen sich die Objekte der Begierde als durchaus mittelmäßig. Der heldenhafte Einsatz für sie entspringt nicht einem großen Charakter, sondern eher einer wahnwitzigen Fixierung. Die Idee, dass der Held das Ziel seiner Sehnsüchte wirklich in einem Objekt zum Greifen nah hat, und dass dieses Ziel mit dem Gewinn des begehrten Gegenstandes tatsächlich bleibend erreicht ist, erweist sich als gefährlicher Irrtum.

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Entscheidend für diese Dekonstruktion ist die Wahrnehmung einer triangulären Struktur menschlichen Handelns. Zwischen Begehrendem und Begehrten findet sich durchwegs als bestimmende Größe ein Dritter, der das Begehren anheizt.

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Es sind vor allem fünf Schriftsteller, die Girard als Meister einer derartigen romanesken Interpretation vorstellt: Miguel de Cervantes, Gustave Flaubert, Stendhal, Marcel Proust und Fedor Dostojewskij. Wir werden im Folgenden, geleitet von Girards „Figuren des Begehrens“ einen Blick auf das Werk dieser Autoren werfen, um dadurch eine Grundlage für die Diskussion seiner dort entwickelten mimetischen Theorie zu gewinnen.

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2.1 Cervantes: Don Quijote

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Girard macht von Anfang an klar, welcher Aspekt ihm an den besprochenen Autoren interessiert: die Vermitteltheit des Begehrens durch ein Vorbild. Noch ist die Konflikthaftigkeit dieses später als Mimesis bezeichneten Phänomens nicht bestimmend. In Cervantes’ „Don Quijote“ fehlen weitgehend die Konflikte bei den mimetischen Beziehungen. Zwischen Don Quijote und seinem Ideal Amadis von Gallien unterbleibt alles Rivalisieren. Denn Amadis ist ein fernes Ritterideal. Nicht nur, dass er nicht mehr lebt; in seiner Idealisierung ist er literarische Fiktion und als solches von Don Quijote durchaus erkannt.15 Als solche Idealisierung ist Amadis für den Ritter von der traurigen Gestalt wesentlich unerreichbar.16 Dieser Zusammenhang, der auch bei den konfliktträchtigen „inneren Vermittlungen“ (s.u.) vorkommt und sich dort in eine Spirale der Verzweiflung auswirkt, ist bei Cervantes konfliktfrei, weil Don Quijote die Überlegenheit seines Ritterideals grundsätzlich anerkennt. In ihm besteht seine Religion, der er sich auf demütige Weise unterwirft.17 Auch das Nachahmungsverhältnis von Sancho Pansa zu Don Quijote ist frei von Rivalität. Die Objekte des Begehrens der beiden gleichen sich nur äußerlich; in Wirklichkeit liegen sie in getrennten Welten. Sancho begehrt materielle Ziele, Don Quijote – wie sein imaginiertes Vorbild Amadis – ideelle Werte, – oder genauer: Sein Begehren bezieht sich auf reale Gegenstände, die für alle anderen ziemlich reizlos sind, für ihn aber als Symbolisierungen seiner Phantasiewelt höchste Bedeutung gewinnen: Mambrins Helm, die Windmühlen, Dulcinea. Die mimetischen Welten von Don Quijote und den anderen Menschen sind so verschieden, dass Don Quijote keine Rivalität bewirkt, sondern Missverstehen und Gelächter und allenfalls Ärger. Dennoch ist Don Quijotes mimetisches Universum nicht einfach kraftlos. Das merken diejenigen, die sich – aus Jux oder guten Absichten – auf seine Welt einlassen. Schnell verlieren sie den Boden unter den Füßen und werden von der mimetischen Kraft des Begehrens mitgerissen.18

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2.2 Flaubert: Madame Bovary

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Girards zweiter Referenztext ist Gustave Flauberts „Madame Bovary“. 250 Jahre nach Don Quijote begehrt auch sie ferne Ideale, – die mondäne Welt von Paris – die nicht nur räumlich und klassenmäßig in unerreichbarer Ferne liegen, sondern eigentlich jenseits der Wirklichkeit. Die romantische Welt der leidenschaftlichen Liebhaber ist eine Ausgeburt ihrer überspannten Phantasie, aufgeputscht durch Schundromane und projiziert auf eine imaginierte Realität. Dennoch ist ihr Ideal erdnäher als jenes von Don Quijote: die zu romantischen Liebhabern stilisierten Durchschnittsmänner, die Annehmlichkeiten eines durch Wucherkredite angeeigneten Luxus, – das sind die verheißungsvollen Trugbilder erfüllter Sehnsucht in ihrer kleinen Welt. An ihnen wird sie schließlich zerbrechen. Die Sehnen des mimetischen Dreiecks – die Abstände zwischen Begehrendem, Ziel und Mittler – sind also bei Flaubert gegenüber Cervantes verkürzt.19 Komik wandelt sich so zur Tragik. Und das liegt weniger am Schicksal der Figuren – nicht nur Emma, auch Quijano ist eine scheiternde Existenz – als an der größeren Nähe zu unserer Erfahrungswelt. Verschrobene Windmühlenritter liegen uns ferner als Hysterikerinnen.

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Emmas größere Nähe zu ihren Traumidealen hat noch eine andere tragische Wirkung: sie bekommt mehr von ihren Träumen zu kosten und spürt so deutlicher, dass die Bedeutung, die sie ihnen zuschrieb, Trug ist. Die Verzweiflung, die sie zuletzt in den Selbstmord treibt, ist nicht nur Folge ihres materiellen Ruins, sie hat auch zu tun mit dem Zusammenbruch ihrer Ideale.

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Allerdings bleibt die schmerzhafte Einsicht in den Trug ihrer Ideale für Emma noch ahnungshaft. Für sie dominiert der Eindruck, dass sie ihre Träume nicht entlarvt, sondern nur verfehlt hat. Und das schreibt sie bitter ihrer kleinkarierten Umwelt zu – repräsentiert durch ihren Ehemann Charles, den biederen Landarzt –, in die sie ein böses Geschick festnagelte und ihr so das Erreichen des wahrhaft erfüllenden Ziels verwehrt. So stirbt Emma auf den selbstverursachten Trümmern ihrer – und ihres Mannes und ihres Kindes – Existenz nicht schuldbewusst, sondern in Groll und Selbstmitleid.

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2.3 Stendhal: Rot und Schwarz

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Damit sich die Illusion ihrer romantischen Phantasien wirklich zerschlagen hätte, hätte Emma in der Verwirklichung ihrer Träume noch weiter gehen müssen. Sie hätte nach Paris ziehen und die Klassenbarrieren zu den Adeligen, ihren Göttern seligen Lebens überwinden müssen. Um deren Bitterkeit zu begreifen, hätte sie sämtliche Inkarnationen ihrer Phantasien gründlich auskosten müssen. Diesen Weg, der Emma Bovary verschlossen blieb, ist Julien Sorel gegangen, der Held von Girards drittem großen Referenztext, von Stendhals Roman „Rot und Schwarz“.20

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Begabung, Entschlossenheit, individuelles Glück, Geschlecht21 und eine gewandelte gesellschaftliche Situation, in der die Grenzen zwischen den Klassen durchlässiger geworden sind, waren die Voraussetzungen, die es Julien ermöglichten, eine Traumkarriere zu durchlaufen und seine Phantasien von Macht, Anerkennung und erotischer Attraktivität an der Wirklichkeit zu erproben. Das Resultat war eine Ernüchterung, die seinen Selbsterhaltungswillen lähmte. Nach einem unüberlegten Racheakt, der ihn um die Früchte all seiner Bemühungen brachte, weigerte er sich, jene ihm angebotenen Hilfen zu ergreifen, die ihn dem Todesurteil entrissen und der mondänen Welt zurückgegeben hätte. Sind sie erst greifbar geworden, verlieren die erträumten Ziele ihren Zauber. Sie offenbaren ihre wahre, armselige Natur: nichts als glänzender Schein.22 Damit ist nun aber auch die Form der Tragödie gebrochen. Der arrestierte Julien endet nicht wie Emma in auswegloser Verzweiflung. Vielmehr erschließt sich ihm im Angesicht des Todes – nicht nur seines leiblichen Todes, mehr noch des Todes seiner ehrgeizigen Phantasien – eine ruhige, abgeklärte Freude.

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„Das große Wort: ‚Ich werde sterben‘, riss ihm einen Ehrgeiztraum nach dem andern aus dem Herzen. Der Tod war an sich in seinen Augen nicht schrecklich“23. – „Er betrachtete alles unter einem neuen Gesichtspunkte; er hatte keinen Ehrgeiz mehr“24
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Das zeigt sich in seinen Frauenbeziehungen. Die vielumworbene Mathilde de la Mole, seine größte Eroberung, wird für ihn uninteressant. Es ist wie eine Ironie mimetischer Gesetzmäßigkeiten, dass das nunmehr echte, ungeheuchelte Desinteresse ihm den vollständigsten Sieg über die stolze Frau zuspielt: Sie wirft sich ihm zu Füßen, vergisst allen Stolz, missachtet allen Spott, verschleudert Geld und Ruf, verfällt in eine Raserei verliebter Leidenschaft. Doch dieser größte seiner Siege ist für Julien nunmehr ohne Bedeutung, ja er durchschaut Mathildes dramatisches Gebaren: nicht beständige Liebe, sondern ein gewaltig aufgeblähter Ballon aus Eitelkeit, der alsbald in nichts zerplatzen wird.25 Julien hat seine Lektion gelernt, er kennt den Trug der mimetischen Leidenschaft. Nicht mit Verachtung behandelt er Mathilde, sondern mit zartfühlendem Respekt. Aber mit ihren spektakulären Liebesbeweisen, die seinem Ehrgeiz und seiner Eitelkeit so wohlgetan hätten, kann er jetzt nichts mehr anfangen.26 Sein Herz aber hat sich zurückgewandt zu seiner ersten Liebe, Louise de Renal, – ausgerechnet jene Frau, die ihn um seine Karriere brachte und die er aus verletztem Ehrgeiz beinahe ermordet hätte – die hier, nach dem Zusammenbruch aller mimetischen Inflationen, ihn in einer kraftvollen aber äußerlich ruhigen Leidenschaft, „stark und ohne Falsch“27 entbrennen lässt. In ihren Armen „fühlte Julien ... ein Glück, das ihm ganz neu war. Es war nicht mehr wilder Liebesrausch, es war eine namenlose Dankbarkeit“28. Erst in der Einsamkeit der Zelle, in der alles erfolgsbestätigende Publikum verschwunden ist, erst im Angesicht des Todes, da ihm alle Zukunftserwartung verwehrt ist, mit ihrer Gier nach neuen Glückssteigerungen und ihrer angstvollen Sorge, das bisher Erreichte zu verlieren, – hier erst kann er sich dankbar dem gegenwärtigen Glück überlassen.

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2.4 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

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Von Cervantes über Flaubert zu Stendhal hat sich gemäß Girards Analyse die mimetische Begierde zunehmend in eine Richtung hin radikalisiert, die Girard als interne Vermittlung bezeichnet. Der Mittler ist für den Nachahmenden nähergerückt. Das heißt, die Qualitäten, die der Nachahmende ihm attestiert, sind seinem Zugriff zugänglich geworden. Diese Verschiebungen werden durch geänderte gesellschaftliche Verhältnisse erst möglich: Die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Klassen sind durchlässiger geworden.

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Eine weitere Steigerung dieser Entwicklung liegt dem Werk von Marcel Proust zugrunde.29 Die Differenzen zwischen Adel und Bürgertum sind noch mehr eingeebnet. Nicht nur, was den Reichtum und Lebensstil betrifft, sondern auch im Bereich von Kunst und Kultur hat das gehobene Bürgertum die adeligen Kreise eingeholt. Damit ist der Adelstitel, der in früheren Zeiten für eine echte Überlegenheit verfeinerter Lebensart stand, nur mehr ein Etikett. Wer auf rangmäßige Unterscheidungen auch in einer Zeit nivellierter Standesunterschiede nicht verzichten will, muss sie künstlich hochspielen. Das ist das Verhalten des Snobs. Ihm widmet Proust – und mit ihm Girard – umfangreiche literarische Studien.30 Unter Menschen, denen an Reichtum, Anerkennung und Bildung nichts abgeht, wird der Zutritt zu und die Anerkennung von einem bestimmten Personenkreis (bzw. der Besitz von bestimmten Zugehörigkeitsmerkmalen, etwa einem Adelstitel) zum entscheidenden Kriterium für die Selbst- und Fremdeinschätzung. Gegenstand der Begierde für den Snob sind profilierende Scheindifferenzen ohne jede sachlich begründbare Grundlage.31

48
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Prousts Hauptwerk, der umfangreiche Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“32 ist kreisförmig angelegt. Den Ausgangspunkt, der am Ende des Romans nach über 4000 Seiten als „wiedergefundene Zeit“ wieder eingeholt wird, markiert Marcels – des mit stark persönlichen Zügen ausgestatteten Icherzählers – behütete Kindheit im fiktiven Städtchen Combray, – ein Paradies, das im Begriff ist, verloren zu gehen. In der Folge beschreibt der Roman einen langen Irrweg Marcels sowie einiger anderer Hauptgestalten, der von dem Versuch geleitet ist, eine unbestimmte Sehnsucht zu verwirklichen und das verlorene Paradies wiederzufinden, vor allem durch Anerkennung im gesellschaftlichen Leben von Paris und durch Erfahrung von erfüllender Liebe. Damit verfehlen die Personen ihr ersehntes Ziel aber immer mehr. Ob es der Gewinn einer geliebten Frau ist, die sich lange entzog, oder der Zugang zu einem mondänen Salon, dessen Türen lange verschlossen blieben: Am Ziel der Wünsche liegt stets Enttäuschung. Der begehrte Salon erweist sich auch nur als gewöhnlich,33 und die verehrte Frau passt nicht zu einem.34 Indem Proust diese Einsicht an verschiedenen Personen demonstriert, erhärtet er ihre grundsätzliche Ausweglosigkeit. Auch wer ganz oben steht und wer somit über all das selbstverständlich verfügt, was die ambitionierten Aufsteiger sehnsüchtig entbehren, entrinnt nicht der Verzweiflung des Begehrens. Proust zeigt dies an der Figur des Baron Charlus, den es, da er oben seine Sehnsüchte nicht stillen konnte, nach unten zieht, in weniger vornehme Salons und sogar in die Gosse.35 In der Erfahrung des Ungenügens von allem Erreichbaren suchen Prousts Figuren ihr Glück im jeweils „anderen“, in dem, was sich ihnen gerade versperrt. So ergibt sich ein Abwärtsweg von zunehmender Verirrung und Verzweiflung, der geradezu programmatisch bereits in den Überschriften der Romanteile anklingt:36 Erst am Ende, nach vielen Enttäuschungen und langer Krankheit, beinahe an der Schwelle des Todes, öffnet sich für Marcel eine wirkliche Tür zur entbehrten Erfüllung. Der Schlüssel dazu liegt für Proust nicht, wie lange von seinen Protagonisten vermutet, in einer durch Tatkraft erzwungenen Zukunft, sondern in der Hingabe an die Erinnerung. Das ist das Thema des Schlussbandes „Die wiedergefundene Zeit“. Der alt und krank gewordene Marcel begegnet den Menschen und Dingen zunehmend kontemplativ. Eine Vielzahl von Assoziationen und Erinnerungen ist mit ihnen verbunden, und daraus knüpfen sich ihm Fäden entlang seiner Lebensgeschichte bis in seine frühe Kindheit. Durch den so gewonnenen Abstand erkennt er die Nichtigkeit vieler seiner Ambitionen; doch diese Einsicht ist eine friedliche. Nun erfüllt sich ihm auch unvermutet die lange gehegte und bereits aufgegebene Sehnsucht nach dichterischer Kreativität. Er beginnt zu schreiben. Dieser Endpunkt ist der eigentliche Einsatzpunkt für den Roman, – auch biographisch: Proust hat sein Werk vom Ende her konzipiert.37

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Die zahllosen minutiösen Beschreibungen von Einzelerfahrungen entspringen Prousts Interesse, die Bedeutungswerdung der Dinge, ihre Verwandlung in einen späteren Stoff der Erinnerung, vom Ursprung her mitzuverfolgen. Die Wahrnehmung von Menschen und Dingen ist niemals eine bloß objektive, sondern symbolisch aufgeladen durch eine Vielzahl von Erinnerungs- und Assoziationszusammenhängen: der Geschmack des in den Tee getunkten Madeleine-Gebäcks, der dem erwachsenen Marcel schlagartig den Zugang zur vergessenen Kindheit öffnet;38 der Wachsgeruch der Treppe im Heimathaus, an den sich unauslöschlich der Kummer kindlichen Zubettgehenmüssens gebunden hat;39 der Weißdornstrauch, in den die Leidenschaft von Marcels erster Verliebtheit hineingewoben ist;40 und zahllose andere Wahrnehmungen. Sie alle sind weit mehr als nur Summen von Sinneseindrücken, die – nach allgemeinen Kategorien synthetisiert – unterschiedslos jedes menschliche Erkenntnisvermögen bestimmen würden. Sie sind Verdichtungen von Erlebnissen, Hoffnungen und Ängsten, Erwartungen und Vorurteilen, – höchst wirksame Symbolisierungen eines Begehrens, das durch die Erwartungen und Bewertungen der Mitmenschen ausgelöst und geformt wurde.

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Die geradezu mikroskopischen Detailstudien, die für Prousts Werk so charakteristisch sind,41 gewinnen hier ihre unverzichtbare Bedeutung: Sie behaupten nicht nur, sondern zeigen auf: erstens, dass die Bedeutung und der Wert von Personen und Dingen kaum in diesen selber gründen, sondern durch die Einbildungskraft des Wahrnehmenden entworfen werden; zweitens, dass diese Einbildungskraft kein spontanes, in der Freiheit oder Genialität des Subjekts wurzelndes Vermögen ist, sondern zutiefst geprägt ist von seinen Mitmenschen, von deren Verhalten, deren Erwartungen und Bewertungen.42

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Damit entwickelt Proust eine narrative Ästhetik der Mimesis. Gemäß seinen Detailstudien beginnt die mimetischen Begierde bereits mit der Wahrnehmung der Dinge und Menschen. Das gefährliche Potenzial, das in der starken mimetischen Beeinflussbarkeit gerade des kindlichen Begehrens liegt, wird durch die starre Abgrenzung der Familie Marcels sowie von seinem Heimatstädtchen Combray als ganzem gegenüber seiner Umwelt zunächst stillgelegt. Damit bietet Combray für Girard ein Musterbeispiel einer Welt externer Vermittlung.43 Doch alle Überbehütung vermag nicht zu verhindern, dass Marcel auf Mittler einer zentrifugalen Begierde stößt: der Snobismus des Legrandin, der einen ersten faszinierenden Schein auf den Salon der Guermantes wirft;44 die Stimulierung seiner dichterischen Ambitionen und die Verehrung des Dichtervorbildes Bergotte durch den – den Eltern unwillkommenen – Alterskollegen Bloch, sowie durch Swann;45 die Anschlagsäule, deren Plakate eine strahlende Theaterwelt versprechen;46 in der Folge der von Marcel gegen das Verbot seiner Eltern stattfindende Besuch seines „zwielichtigen“ Großonkels, bei dem er erstmals Odette, der faszinierenden „Dame in Rosa“ begegnet;47 oder die vom Kind zufällig beobachtete Mademoiselle Vinteuil, ihrer lesbischen Liebe und ihrem Hass auf den verstorbenen Vater,48 – alles Motive, die der Fortlauf des Romans entfalten wird.

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Proust beschreibt die nur scheinbar harmlosen Anfänge einer solchen symbolhaften Weltentstehung für ein übersensibles Kind in überbehüteter Umgebung. In einer reichen und ereignisarmen Umwelt, in denen elementare Bedürfnisse ebenso ferngerückt sind wie Arbeit als notwendige Voraussetzung zu deren Erfüllung, wachsen kleinste Vorfälle zu tragischer Größe und verursachen Narben in der Symbolwelt kindlicher Erfahrung. So nimmt das Kind schon früh problematische Grundhaltungen der Erwachsenenwelt – etwa eine Neigung zu Snobismus und interner Vermittlung – über das familiäre Umfeld sowie über die gelesene Literatur in sich auf. Als Marcel, dessen Kindheit der erste Teil des Romans beschreibt, sich das erste Mal – unter einem Weißdornstrauch – in ein Mädchen verliebt, empfindet er in einer Weise, die so charakteristisch ist für die Abgründe der internen Vermittlung, dass sie für ein Kind zunächst unglaubwürdig wirkt: „Ich liebte sie, ich bedauerte, dass ich weder Zeit noch Einfallsvermögen genug gehabt hatte, um sie zu beleidigen, ihr Böses zuzufügen und ihr die Erinnerung an mich dadurch aufzuzwingen“49. Ein näherer Hinblick zeigt aber, dass dies die natürliche Frucht des in das Kind bereits gelegten Samens mimetischen Begehrens ist. Den Weg dahin zeigt Proust in minutiösen Detailstudien auf, die demonstrieren, wie der Geist der internen mimetischen Vermittlung sich über eine Unzahl unbedeutender Einzelereignisse in das Kind hinein fortzeugt. So sind es nicht gravierende Einzelereignisse, sondern einfach eine „ungesunde“ Atmosphäre, die eine solche Beeinflussung erzeugt.
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Zugleich zerbricht dem Kind die Geborgenheit des Elternhauses. Die von ihm durchgesetzte Erfüllung seiner Sehnsucht – einmal noch eine Nacht bei Mama – wandelt sich ihm unerwartet zur Enttäuschung. Marcel wird das Verlorene woanders suchen, und erst nach Jahrzehnten – und für den Leser: nach tausenden von Romanseiten – wird er die verlorene Zeit wiederfinden.

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2.5 Dostojewskij

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Dostojewskij ist der fünfte und bedeutendste Referenzautor in Girards „Figuren des Begehrens“.50 Anders als bei den anderen Schriftstellern bezieht sich Girard hier nicht auf ein einzelnes Werk, sondern auf einen breiten Querschnitt seines Schaffens. Dostojewskij erzählt von Menschen, die in ihrer zügellosen Leidenschaft denkbar weit von der Blasiertheit der Proustschen Welten entfernt sind. Und doch erweisen sich die bewegenden Kräfte der Mimesis als dieselben. Allerdings sind sie bei Dostojewskij ins Extrem gesteigert, im Blick auf Menschen, die – sei es aufgrund charakterlicher Veranlagungen, unter dem Einfluss radikaler Ideologien oder einfach aufgrund ihrer „russischen Seele“ – rückhaltlos in mimetische Verstrickungen stürzen.

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Nicht anders als Marcel Prousts literarisches Schaffen ist auch Dostojewskijs Werk eng verzahnt mit seiner Biographie. Die Grundthematik einer Vermittlung und Steigerung der eigenen Leidenschaft durch das Begehren anderer findet sich mit ihren extremen Auswüchsen von rivalisierendem Hass, obsessiver Liebe, Spielsucht und abgründigen Reflexionen in Dostojewskijs eigenem Leben. Mehrfach an der Schwelle zum Wahnsinn, verarbeitete er die erlebten Katastrophen in seinem Werk und erschloss sich daraus ein Heilmittel. Durch exemplarisch zugespitzte literarische Darstellungen erhellte er das Wesen seiner Abhängigkeiten und rückte Erfahrungen – der Liebe anderer Menschen, der ästhetischen Schönheit, der christlichen Religion – in den Mittelpunkt, die ihm zu einer Befreiung aus seinen Verstrickungen verhalfen.

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In zahlreichen Werken seiner frühen Phase reflektiert Dostojewskij auf Formen obsessiver Liebe, die durch Dreiecksbeziehungen angeheizt werden.51 Immer von neuem variiert er das gleiche Grundthema, gemäß dem das Interesse eines Mannes für eine Frau erst groß wird, wenn es einen Anderen gibt, der sich für sie interessiert. Der Andere ist somit nicht nur verhasster Rivale, sondern zugleich unverzichtbarer Katalysator für die Leidenschaft. Zieht er sich zurück, dann schwindet auch die Faszination der Geliebten. So entspinnen sich künstlich hochgespielte Scheinlieben, die in der Realität keinen Bestand haben. Dies ahnt der Held, und um das zu vermeiden, verfällt er auf den romantischen Ausweg, die eigene Liebe zugunsten des Mittlers aufzuopfern. Der Held tut alles, damit der Andere die Angebetete bekommt. Und im selben Maße, als er sich für die Leidenschaft des Anderen engagiert, wächst auch seine eigene Verehrung für die Frau. Der Held gewinnt aus seinem Verhalten einen doppelten Vorteil: die Leidenschaft für die Angebetete flammt hoch auf, ohne dass sie von der nüchternen Wirklichkeit beeinträchtigt würde (denn durch die Förderung des Rivalen hintertreibt er ihre Erfüllung), und er erweckt vor anderen – insbesondere vor ihr – und vor sich selber den Eindruck seiner Großherzigkeit. Der doppelte Gewinn ist in Wahrheit eine doppelte Selbsttäuschung.

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Dostojewskij hat diese vielfach variierte Problematik selbst durchlitten:52 Seine erste Ehe war das Resultat eines solchen Dreiecksverhältnisses. Als er Maria Dmitrijewna kennenlernte und sich in sie verliebte, war sie noch die Frau seines besten Freundes, der sich bald zu Tode soff. Maria war „eine veritable russische Emma Bovary“53, mit Sehnsucht nach dem Status ihrer Vorfahren, vereinsamt in einem sibirischen Provinznest und natürlich empfänglich für die Leidenschaft eines Schriftstellers. Zugleich fühlte sie sich hingezogen zu einem jüngeren, hübscheren, aber armen Lehrer. Dostojewskij engagierte sich rasend für diesen und steigerte sich in die Idee hinein, hier eine glückliche Ehe zu vermitteln. Doch der Lehrer verlor das Interesse für Maria, und damit befand sich Dostojewskij in der Klemme. Durch den Rückzug des Mittlers schwand auch seine Leidenschaft für Maria. Zugleich damit wurde er mit der Verantwortung konfrontiert, aus seiner feurigen Verehrung die Konsequenzen zu ziehen und Maria selber zu heiraten. Wie aus Briefwechseln Dostojewskijs hervorgeht, nahm er das als ein Opfer (!) auf sich. Es wurde eine katastrophale Ehe. Schlimmer als die armseligen Existenzbedingungen und die in dieser Zeit häufiger ausbrechenden epileptischen Anfälle des Schriftstellers war für Maria des Dichters vollständige Gleichgültigkeit ihr gegenüber.

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Dennoch erwies sich Dostojewskijs Schritt, sich nicht romantisch (etwa durch einen dramatisch hochgespielten Vorwand) von seiner Verantwortung davonzustehlen, als fruchtbar. Dadurch wurde ihm nämlich die Illusion seiner früheren rasenden Leidenschaft bewusst. Dies war ein erster Schritt zu seiner „romanesken Bekehrung“.

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Dostojewskij arbeitete seine Einsichten in eine Reihe von Erzählungen und Romanen ein, die ganz um die Thematik obsessiver Liebe in Dreiecksbeziehungen kreisen. Unaufhaltsam bröckelt der Putz von den romantischen Fassaden großherzigen Heldentums, und dahinter zeigt sich nichts als eine jämmerliche Abhängigkeit vom Begehren anderer.54

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Noch manche Abgründe von Dostojewskijs Helden spiegeln seine eigenen schmerzhaften Erfahrungen wider: die epileptischen Anfälle, die Spielsucht, der Absturz aus einer aus Rivalität erwachsenen Selbstüberhebung. Letztere Erfahrung gründet in der ungesunden und zuletzt katastrophalen Geschichte seiner frühen Dichterkarriere. Von Belinsky – dem bedeutendsten Literaturprotektor der damaligen Zeit – hochgelobt, verlor der junge Schriftsteller völlig den Boden unter den Füßen und überwarf sich mit seinem Gönner. Ganz gegen die Erwartung, nun ohne die Behinderung eines mediokren und neidischen Belinsky-Kreises in den Dichterhimmel emporzusteigen, sackte er in kurzer Zeit bis zur Bedeutungslosigkeit ab.55 Die Wechselbäder zwischen maßloser Eitelkeit und vernichtenden Selbstzweifeln56 spiegeln sich in seinem Werk „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.“ An dem Antihelden dieser Erzählung entfaltet Dostojewskij die Geographie einer veritablen Hölle interner Vermittlung, zu deren Inbegriff in der Folge das Wort „Kellerloch“ wird.57

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Der Kellerlochmensch kämpft verzweifelt gegen seine Abhängigkeiten. Er will die anderen besiegen, ihnen zeigen, dass er ehrenwert ist, zumindest nicht weniger als die anderen. Verbissen spielt er ein Spiel, an das er eigentlich gar nicht mehr glaubt. In dem verzweifelten Versuch, die Ehre, die Anerkennung der anderen, und dadurch eigene Selbstachtung zu gewinnen, bindet er sich immer stärker an diese. Aber der Versuch, sich von ihnen abzusetzen, sie zu überbieten, zu besiegen, gleicht ihn gerade den anderen an. Verliert er gegen einen überlegenen Gegner den Kampf, so verbleibt er im Gefühl seiner Minderwertigkeit, gewinnt er ihn, so zerrinnt ihm der Siegespreis zwischen den Fingern: weiß er doch, dass er – wie die verachteten Anderen – nur geheuchelt, simuliert hat. Der Kellerlochmensch ist auf eine doppelsinnige Weise fasziniert von seinem Gegner: er bewundert ihn, und er verachtet ihn, weil er ihn bereits durchschaut.
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In Dostojewskijs späteren großen Romanen dringt immer wieder ein Licht der Hoffnung durch. Es gibt echte Befreiungen und Bekehrungen, die sich höchst dramatisch vollziehen. Kandidaten dafür sind meist die verzweifelten Kellerlochmenschen. Sie sinken bis in den Bodensatz ihrer Hölle ab und erfahren sich gerade dort – oft am Ende ihres Lebens – unvermutet glücklich herausgerissen.

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Auch hier spiegeln sich persönliche Erfahrungen. Den absoluten Tiefpunkt von Dostojewskijs existentiellem Absturz nach seinem Bruch mit dem Belinsky-Zirkel bildete eine Schein-Exekution, die an ihm vollzogen wurde, nachdem er als Beteiligter eines revolutionären Zirkels verhaftet wurde. Das Todesurteil wurde in eine mehrjährige sibirische Gefangenschaft umgewandelt, in die er zum Lesen nichts anderes als ein Evangelium mitnehmen konnte.
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Dostojewskijs Werkgeschichte kennt also keinen kontinuierlicher Aufstieg von pessimistischen zu hoffnungvollen Werken, sondern eine dramatische Zuspitzung: gerade ausder äußersten Verzweiflung kann das Licht der Gnade entflammen.

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In „Schuld und Sühne“ geht die Hauptperson Rodion Raskolnikow weiter als der Kellerlochmensch, indem er seinen Nihilismus nicht nur durchdenkt, sondern durch einen Mord in die Tat umsetzt. Dadurch löst er eine lange Kette an Ereignissen aus, die ihn immer mehr mit dem Wahnsinn seiner Selbstherrlichkeit konfrontiert und ihn zuletzt – durch die Begegnung mit der selbstaufopfernden Sonja – dazu führt, zu seiner Schuld zu stehen und „sein Kreuz auf sich zu nehmen“.58

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In den „Dämonen“ messen gleich mehrere Menschen die Abgründe einer absoluten Selbstherrlichkeit aus: der lächerliche, moralisch korrumpierte Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, der radikale Antitheologe Kirillow, der seine atheistische Selbstvergötzung durch einen prometheischen Akt des Selbstmordes besiegeln will, – und Stawrogin, Dostojewskijs Modellfall eines Menschen, dem alles, was sich ein mimetisch Verstrickter nur wünschen kann, ganz von selber zufliegt und der an der erfahrenen Wertlosigkeit dieser Erfolge letztendlich zerbricht. Mehr als in anderen Romanen scheitern hier die Charaktere; – aber auch in diesem Werk gibt es eine unerwartete Bekehrung, ermöglicht durch eine einfache, hingebungsvolle Frau. Die bescheidene Schlichtheit der Bibelverkäuferin Ulitina lässt Stepans noch im Zusammenbruch aufgetürmte Lügengebäude endgültig einstürzen und führt ihn – an der Schwelle des Todes – zu einem wahrhaftigen, demütigen Bekenntnis der christlichen Wahrheit. Als ein mimetisches Modell der anderen Art, im seiner selbst unbewussten Beispiel der Demut, vermag die schlichte Magd, was starken Gestalten unmöglich war, nämlich den in seine lügnerische Selbstliebe Verfangenen aus seinem selbstbezogenen Scheingleichgewicht zu werfen und zu einem wahren Frieden zu führen. Dieser Weg ist kein Automatismus, er entspringt einem eigenartigen, ungleichen Kampf, nämlich zwischen Kämpfendem und (vordergründig) Nichtkämpfender: Immer wieder beschreibt Dostojewskij solches Ringen. Manchmal scheitern die wehrlosen Liebenden, wie Lisa beim Kellerlochmenschen, öfter aber gewinnen sie: Maria bei Stepan Trofimowitsch, Sonja bei Raskolnikow, Gruschenka bei Dmitrij, Aljoscha bei Iljuschenka.

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Auf die Bekehrungstexte in Dostojewskijs Werk und ihre zentrale Bedeutung für Girards „Figuren des Begehrens“ werden wir an späterer Stelle noch ausführlicher zu sprechen kommen.

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3. Der anthropologische Geltungsanspruch von Girards mimetischer Romantheorie

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Nach der inhaltlichen Entfaltung von Girards mimetischer Theorie der internen Vermittlung ist die Reichweite ihres Geltungsanspruchs zu prüfen. Dass es ihm nicht bloß um Literaturtheorie geht, sondern um ein Verständnis des Menschen, steht außer Zweifel. Aber wie weit reicht sein Erklärungsanspruch? Will er nur auf einen anthropologischen Gesichtspunkt neben möglichen anderen hinweisen? Oder zielt er ausgehend von den Autoren des 19. Jahrhunderts auf eine Zeitanalyse dieser Epoche, die als prometheische bezeichet werden kann? Oder beansprucht er, mit seiner Vorordnung der romanesken Wahrheit vor der romantischen Lüge eine zeitübergreifende, universal relevante Wahrheitseinsicht gewonnen zu haben? Es wird deutlich werden, dass Girards Anspruch auf die letzte, umfassendste und provozierendste These zielt, und von daher stellt sich die Frage, ob die Menschen gemäß dieser Theorie rettungslos durch die Fäden der Mimesis aneinander hängende Marionetten sind oder ob ihnen Möglichkeiten der Befreiung und Freiheit offenstehen.
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Vom Ansatz her scheint der von Girard für seine mimetische Theorie gewonnene Geltungsanspruch zunächst nicht sehr weit zu reichen. Ohne besondere Begründung wählt er ein bestimmtes Werk – Cervantes’ Don Quijote – aus und findet dort die Abhängigkeit des Begehrens von einem Vorbild. Diesen Zusammenhang entfaltet er systematisch und findet ihn dann in anderen literarischen Werken wieder, nicht genau gleich, aber stets mit strukturellen Gemeinsamkeit. Durch eine leitende Differenzierung – die Variation des Abstandes zwischen Begehrendem und Mittler von externer bis zu interner Vermittlung – fasst Girard seine These flexibler. Die mimetische Vermitteltheit des Begehrens ist nicht als starrer Mechanismus gefasst, sondern als eine Funktion, die sich zu sehr unterschiedlichen Phänomenen ausformen kann. Von den fünf Autoren, die Girard behandelt, gehören vier dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert an. Eine Analyse dieser Werke erhellt zugleich die gesellschaftlichen und interpersonalen Folgen einer epochalen Krise von Gesellschaft, Subjektivität und Interpersonalität in dieser Ära: den Zusammenbruch traditioneller Herrschaftsinstanzen wie Monarchie und Kirche, die Nivellierung der Klassenunterschiede, eine Konzentration auf die individuelle Schaffenskraft der Bürger, zusammen mit einer ungeheuren Verunsicherung einer aus ihren gesellschaftlichen Verwurzelungen entrissenen Subjektivität.59

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Da diese Krise bis in die Gegenwart fortwirkt, behalten Girards Analysen auch für heute Aktualität. Allerdings zeigt die weitere Werkentwicklung Girards, dass er in seinem Geltungsanspruch noch weiter geht. In „Das Heilige und die Gewalt“ findet er die Mechanismen mimetischer Rivalität samt ihren Auslösern, jener schmerzhaften Ungewissheit über den Selbstwert (wenn auch nicht immer des Individuums, sondern bestimmter Stände und Gemeinschaften) auch in vormodernen Literaturen wieder, vor allem in der griechischen Tragödie. Die Wurzel der mimetischen Konflikte ist für ihn eine alle Kulturen und Epochen übergreifende, allgemeinmenschliche: der Verlust der Ausrichtung auf die vertikale Transzendenz, auf Gott. Wir werden auf diesen entscheidenden Punkt, an dem sich Girards Theorie von Anfang an der christlichen Erbsündenlehre annähert, noch zurückkommen.

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Girard gibt sich damit aber nicht zufrieden. Mit seiner bewertenden Entgegensetzung von „romantischer Lüge“ und „romanesker Wahrheit“60 erhebt er den Anspruch, dass die „romaneske“ Einsicht in eine mimetischen Vermittlung des Begehrens zeit- und kulturübergreifend eine allgemeinmenschliche Wahrheit freilegt.61 Dagegen wird die „romantische“ Annahme eines spontanen, unvermittelten Begehrens von Girard ohne Einschränkung als Lüge und Täuschung disqualifiziert.

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Diese scharf wertende Entgegensetzung zweier Literaturtypen – mit denen Girard nicht nur Autoren desselben Zeitalters voneinander trennt, sondern zuweilen quer durch das Werk eines Autors hindurchschneidet62 – legt die Vermutung nahe, Girard generalisiere seine Annahme einer mimetischen Vermittlung des Begehrens zu einem geschlossenen anthropologischen System. Es ergibt sich folgender Einwand: Girard würde vergessen, dass die zentrale Rolle, welche die rivalisierende Mimesis in den von ihm untersuchten Texten hat, auf eine thematische Einschränkung zurückgeht. Er würde diese perspektivische Verengung (die in dieser Form erlaubt ist, denn jeder kann sein Thema frei wählen) unter der Hand fallen lassen und so den Anspruch vertreten, es handelte sich bei der rivalisierenden Mimesis um ein universal gültiges anthropologisches Gesetz. Danach müsste sich für jedes Wollen, Streben und Begehren ein Mittler ausfindig machen lassen, der diese Dynamik in Gang setzt und leitet. Freie Entscheidung wäre damit grundsätzlich unmöglich gemacht.

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Diesem Einwand kann von zwei Seiten her begegnet werden. Erstens lässt sich zeigen: Die Dreieckstruktur des Begehrens ist zwar nicht universal, hat aber zumindest die Tendenz, sich epidemisch auf Universalität hin auszuweiten. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Dreieckstruktur des Begehrens nach Girard gar nicht exklusiv universal ist, sondern – innerhalb von „Figuren des Begehrens“ – vierfach durchbrochen wird.

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Zum ersten: Die Dreieckstruktur der Begierde stellt eine Dynamik dar mit der Tendenz, sich ausgehend von (beinahe) Nichts grenzenlos auszubreiten. Der Anstoß für eine mimetische Rivalität kann lächerlich gering sein. Es ist nicht einmal notwendig, dass sich zwei Personen zufällig auf dasselbe Objekt fixieren. Es genügt bereits ein einfaches Missverständnis.

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In Stendhals „Rot und Schwarz“ will Monsieur de Renal Julien Sorel unbedingt zum hauslehrer haben, weil er fürchtet, dass sein Rivale Valenod ihn ebenso engagieren will. Das ist aber ein Missverständnis, – eine grundlose Furcht, die aus de Sorels Neigung zu Neid und Rivalität entsprungen ist. Der Wind, den de Renal um seinen hauslehrer macht, bleibt aber nicht ohne Auswirkungen auf Valenod. Dieser beginnt sich nun tatsächlich für den hauslehrer zu interessieren. Dadurch findet de Renal ex post seinen Verdacht gegen Valenod bestätigt. Sobald die beiden wechselseitig miteinander rivalisieren, ist die Frage, wer angefangen hat, unentscheidbar geworden. „Die Wirklichkeit entspringt der Illusion und verleiht dieser eine trügerische Gewissheit.“63
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Vergleicht man die Banalität des Anlasses – vielleicht die aus einer bloßen Laune heraus entsprungene Vorliebe64 – mit den Dimensionen, um die es im hochgespielten Konflikt geht, so erscheint er tatsächlich als vernachlässigbar: ein Nichts. Der nichtige Anlass einer mimetischen Rivalität kann wird dermaßen hochgespielt, dass er ein extremes Potenzial zur Ausbreitung hat. Die Kontrahenten suchen und finden ihre Parteigänger. Und so kann ein ursprünglich privater Konflikt eine ganze Gesellschaft polarisieren.

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Die Hochschaukelung mimetischer Konflikte aus einem Fast-Nichts gleicht jenen mit der Chaostheorie interpretierbaren Selbstverstärkungsmechanismen, die in der Metereologie einen Wirbelsturm auf den sprichwörtlichen Flügelschlag eines Schmetterlings zurückführen lassen. Für die Meteorologie bedeuten solche autopoietische Funktionalitäten nicht, dass das Wetter nur mehr aus unkalkulierbaren Stürmen besteht. Allerdings gehören die Stürme zu den am wenigsten vernachlässigbaren Aspekten. Und eine vollständige Windstille ist der absolute Sonderfall. Ähnlich ist es in der mimetischen Theorie: der hochgespielte mimetische Konflikt mag zwar nur vereinzelt vorkommen, ist aber in seinen fatalen Auswirkungen auf eine Gesellschaft keineswegs vernachlässigbar. Und die „Windstille“, einer vollkommenen Freiheit/Reinheit von mimetischer Rivalität ist ein kaum vorkommender Sonderfall.
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Erproben wir dieses Argument einer epidemischen Universalität an der Frage der universalen Reichweite mimetischer Rivalität. Die Gegenposition gegen Girards romaneske Perspektive würde lauten: Es gibt doch Menschen, die spontan aus sich heraus begehren, bzw. nur abhängig vom Wert der begehrten Gegenstände. Gestehen wir dem Kritiker diese Annahme zu, nicht aber, dass sich alle Subjekte oder auch nur die Mehrzahl in einer solchen Stabilität befinden. Damit ergibt sich nun die entscheidende Frage, ob sich solche reine Spontaneität in einem mimetisch infizierten Milieu rein erhalten kann. Und ebendies ist bis zur Ausgeschlossenheit unwahrscheinlich. Inmitten von Menschen, die durch die interne Vermittlung geprägt sind, die also fasziniert sind von der (im allgemeinen vorgespiegelten) Selbstherrlichkeit der anderen und deshalb selber diese Unabhängigkeit vorspielen, zugleich aber nach Mittlern suchen, die ihnen den Weg zu dieser dringend entbehrten Unabhängigkeit weisen, inmitten von solchen Menschen kann ein wirklich origineller Mensch nicht unbehelligt bleiben. Er wird selbst zum Vorbild, zum Mittler einer rivalisierenden Mimesis, selbst dann, wenn er – laut Voraussetzung – völlig frei ist von mimetisch-rivalisierenden Ambitionen. Es genügt ja bereits die irrtümliche Unterstellung, er hätte diese Ambitionen, dass sich eine fasziniert-rivalisierende Ambivalenz an ihm entzündet. Und diese Fasziniertheit ist nun eine Versuchung, ein Sog, dem zu widerstehen überaus schwierig ist. Auch dem unabhängig in sich selber Ruhenden – sofern es ihn überhaupt gibt – stellt das Wissen um seine Wirkung eine gefährliche Versuchung dar, die ihn aus dem inneren Gleichgewicht seiner Anmut herausreißen kann.65

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Die von Girard behauptete Universalität mimetischer Verstrickungen ist also keine absolute, sondern eine epidemisch-tendenzielle. Die Möglichkeit ihrer Durchbrechung ist nicht ausgeschlossen; vielmehr ist sie das eigentliche Leitthema des gesamten Werks.66 Girard hat solchen Durchbrechungen viel Raum in seinem Werk gewidmet, und zwar bereits in den „Figuren des Begehrens“. Es gibt nicht weniger als vier Kontexte, in denen mimetische Verstrickungen durchbrochen werden:

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(1) die Bekehrung des Romanhelden;

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(2) die Grenzüberlegung eines reinen Gottesbezugs, dessen Verlust erst die Entbindung der mimetischen Rivalität bedeutet;

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(3) die romaneske Perspektive des Romanautors, der in dichterischer Genialität die romantische Lüge durchschaut.

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(4) die Perspektive von René Girard selber, die ihm erlaubte, die romaneske Inspiration in einem theoretischen Werk freizulegen.

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Auf dieses Felder jenseits der mimetischen Begierde soll im Folgenden genauer eingegangen werden.

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3. Jenseits der mimetischen Begierde

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3.1 Bekehrung des Helden

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In den meisten der von Girard analysierten romanesken Werke überwindet der Romanheld seine mimetische Verstrickung.67 Meist ereignet sich das an der Schwelle seines Todes. Am Krankenbett kurz vor seinem Lebensende zeigt Don Quijote eine bemerkenswerte Einsicht in die Phantastik seiner Ritterambitionen. Überraschend deutlich distanziert er sich von ihnen. Im Angesicht seines Todesurteils verblassen für Julien Sorel die großen Mittler seiner ehrgeizigen Leidenschaft. Anders als früher hat bei seiner aufblühenden Liebe zu Madame de Renal sein Idol Napoleon keine Bedeutung mehr. Marcel, der Held von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gewinnt in seiner Erinnerung eine hellsichtige Distanz zu seinen mimetischen Verstrickungen. Und vor allem Dostojewskij schildert in seinen späteren Werken zunehmend Figuren, denen die mimetischen Rasereien fremd geworden sind.

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Bekommt damit die von Girard bekämpfte romantische Position – mit ihrer Annahme eines spontanen, mittlerunabhängigen Begehrens – Recht für die Deutung jener Befreiung von mimetischer Gebundenheit? Nein. Der Romantiker verherrlicht die spontan aus den Gründen eines genial-unberechenbaren Freiheitsentschlusses aufflackernde Leidenschaft. Dagegen beschreiben die romanesken Texte den Grenzzustand der Freiheit von der mittlerischen Begierde als unspektakuläre, abgeklärte, demütige Hingabe. Girard hat den Gegensatz zwischen beidem am schärfsten bei Stendhal aufgezeigt, der dem romantischen Ideal seiner frühen Reflexionsschrift „Über die Liebe“ in späteren Romanen Schilderungen einer ruhigen, abgeklärten, aber nicht weniger starken Liebe entgegenstellt. Stendhal spricht dabei immer noch von Leidenschaft, aber es ist eine Leidenschaft ohne Begierde. Zwischen triadisch hochgespielter Leidenschaft und einsamer Resignation öffnet sich hier damit ein dritter Weg der Liebe. Diese ist ruhig, fast nüchtern, und frei vom aufputschenden Einfluss durch einen Mittler des Begehrens.

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3.2 Bekehrung des romanesken Autors

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Eine weitere Stelle, an der Girard die Universalität der mimetischen Vermittlungen durchbricht, ist die Perspektive des romanesken Schriftstellers. Der Dichter, der die mimetischen Verwicklungen adäquat darstellt und so entlarvt, steht für Girard notwendig ein Stück weit außerhalb von diesen. Gerade dadurch, dass er sich seine mimetische Abhängigkeit von anderen eingesteht, vermag er sich davon in höherem Maße zu befreien als derjenige, der diese Abhängigkeit leugnet und sich damit dem Legitimationsdruck einer „romantischen“ Autonomie aussetzt, der ihn gerade in die geleugneten mimetischen Verstrickungen hineintreibt. Den romanesken Schriftstelle bezeichnet Girard durchwegs als genial, und zwar in dem Sinn, dass er nicht die allseits vertretene Lüge von autonomer Spontaneität weitersagt, sondern diese Lüge aufdeckend Wahrheit sieht und schreibt. Wenn Girard von der „umfassenden Intuition des genialen Romanciers“ (FB 238) schreibt oder dessen „hohe Hellsichtigkeit, Erinnerung und Prophetie“ (FB 314) preist, dann scheint am Romancier etwas von Genialität, Freiheit und Originalität auf, die es gerade gemäß romanesker Intuition gar nicht geben dürfte. Fällt Girard also mit der Beschreibung des romanesken Autors in jene Perspektive zurück, die er als romantische Lüge entlarvt hat?

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Eine genauere Prüfung zerstreut diesen Verdacht. Der romaneske Autor hält sich nicht einfach für spontan, sondern sieht und würdigt seine Mittler. Dadurch aber verlieren diese ihre gefährliche mimetische Qualität. Es ist nur scheinbar ein Paradox, dass die Anerkennung von Heteronomie Autonomie sichert, während das Insistieren auf Autonomie (im Abstreiten von Mittlern) den Menschen der Heteronomie ausliefert. Genialität – in dem Sinne, wie sie Girard den romanesken Dichtern zuschreibt – finden wir nur bei jenen Menschen, die sich nicht als genial betrachten, sondern ihre Meister anerkennen.

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Worin gründet diese geniale Leistung, die Girard den romanesken Dichtern zuerkennt? Was ermöglicht es ihnen, die mimetische Dreiecksstruktur und die Rolle des Mittlers bei der Entstehung des Begehrens freizulegen, und dies angesichts einer Verdeckung, die so wirksam ist, dass sie sogar brillanten theoretischen Reflexionen widersteht?68.

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Maßgeblich dafür dürfte zunächst ein Merkmal sein, das den Dichter vom reflektierenden Denker unterscheidet: Er ist eher in der Lage, sich auf präzises Beschreiben zu beschränken und auf Wertungen zu verzichten.69 Wo das Urteilsvermögen getrübt ist, kann die präzise Beschreibung des guten Beobachters freilegen, was das Urteil stets nur verdeckt. So können im Extremfall Dichter sogar darstellend aufdecken, was sie selbst in eigener Reflexion auf das Dargestellte nicht sehen. Gegenüber dem ursprünglichen Geschehen schafft die dichterische Reflexion einen Abstand, der ein Durchschauen der Zusammenhänge erleichtert. Sie führt den unvoreingenommenen Beobachter so nahe an das Geschehen heran, dass er die Einzelheiten erkennt, ohne ihn so unmittelbar hineinzuziehen, dass er von ihnen geblendet wird.

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Doch dürfte die außerordentliche Gabe von Beobachtung und Beschreibung nicht ausreichend sein. Über die Destruktion romantischer Illusionen hinaus gelang den romanesken Autoren immer wieder ein Blick in eine friedliche Welt jenseits der mimetischen Rivalitäten. Dieser Zugang wird nicht schon automatisch durch die Kritik freigelegt. Die Beschreibung der Abgründe mimetischer Rivalität, wie sie vor allem Dostojewskij mit seinen „Menschen im Kellerloch“ gibt70 zeigt, dass diese jämmerlich verstrickten Menschen eine luzide Einsicht in ihre Misere aufweisen. Doch weit entfernt davon, sie von ihrer Abhängigkeit zu befreien, vermag diese Hellsichtigkeit die Kellerloch-Menschen nur noch tiefer in ihren Sumpf hineinzuziehen. Der aufdeckende Tiefenblick in die eigene Verstricktheit vermag hier nur die Verzweiflung zu steigern.71 Die Einsicht in die mimetische Abhängigkeit bewirkt also nicht schon aus sich heraus die Befreiung aus ihr, sondern konfrontiert den Menschen mit einer Entscheidung, – entweder das Projekt der Autonomie noch weiter zu treiben, indem man sich von den erkannten Fesseln lossagt und autonome Superiorität den anderen und sich selbst noch radikaler vordemonstriert, oder indem man sich vom Projekt der Autonomie distanziert und seine Abhängigkeiten demütig anerkennt.72

97
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Für die romanesken Dichter muss also der nüchtern-demaskierende Scharfblick – der zumindest bei Phänomenen kollektiver Selbsttäuschung dem meisterhaften Beobachter einen Vorteil gegenüber dem versierten Analytiker gewährt – ergänzt werden durch ein weiteres bestimmendes Moment. Dieses liegt in der Lebenserfahrung der Autoren, die diese einerseits selber in mimetische Abhängigkeiten verstrickte, aber sie auch in Distanz dazu brachte: in Einsicht und Eingeständnis der Eitelkeit der Ambitionen und in einer ahnungshaften Erfahrung eines Friedens jenseits dieser mimetischen Abhängigkeiten. – Der Romancier ist „ein vom metaphysischen Begehren genesener Held“, jemand, „der das Begehren überwunden hat und der, sich erinnernd, vergleicht.“73

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3.3 Bekehrung des romanesken Analytikers

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Was für den romanesken Autor gilt, muss auch gelten für den Autor der Abhandlung zur romanesken Literatur. René Girard hat zwar immer wieder betont, dass er seine Einsichten nicht aus Eigenem gewonnen, sondern der Inspiration der Dichter verdankt.74 Aber um deren Einsichten rezipieren und analytisch darstellen zu können, musste er selber – wie die romanesken Dichter – in die mimetische Verstrickung hineingezogen und glücklich zumindest ein Stück weit daraus herausgerissen worden sein.

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Ein Blick in die Biographie Girards bestätigt diesen Eindruck. In zwei Interviews75 spricht er über einen persönlichen Bekehrungsprozess, der die Entstehung seines Buchs über die mimetische Romantheorie begleitete. Demnach ist er zunächst an die Arbeit am Buch im Geiste einer Entmystifizierung herangegangen: „cynical, destructive, very much in the spirit of the atheistic intellectuals of the time“76. Doch wirkten die romanesken Texte – insbesondere die Bekehrungsstellen bei Dostojewskij – auf Girard selber zurück und führten zunächst zu einer „intellektuell-literarischen Konversion“. Unter diesem Eindruck schrieb er das Schlusskapitel der „Figuren des Begehrens“. Eine persönliche Krise aufgrund eines Krebsverdachts und der dankbar erfahrenen Mitteilung, dass er völlig gesund sei, gab den Anstoß zu einer zweiten Bekehrung, die sich auch auf Girards Lebensführung auswirkte. Ostern 1959 wurde er aktiver Christ; er ließ seine Kinder taufen und holte mit seiner Frau eine kirchliche Trauung nach.

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Die ursprüngliche dekonstruktive Tendenz wirkt noch lange in Girards Schriften nach. Diese sind von einer scharfen Polemik durchzogen, der allerdings meist dadurch die Spitze genommen ist, dass sie sich nicht direkt gegen namentlich genannte Personen richtet. Im Unterschied dazu ist beim alt gewordenen René Girard die scharfe Feder einer größeren Toleranz und einem milden Humor gewichen, – eine Grundhaltung die viel zu einem toleranten Klima in der Forschergemeinschaft beigetragen hat, die sich um ihn gebildet hatte. Trotz einer Vielfalt unterschiedlicher Ausrichtungen sind Schulstreitigkeiten oder gar Ausschlüsse, wie sie etwa die psychoanalytischen Gesellschaften um Freud und um Lacan prägten, ausgeblieben. In seinen Vorträgen zeigt Girard keine Scheu, auch vor anspruchsvollem Publikum Bibeltexte in einfachen Worten auszulegen. All das hat der Schärfe der Analyse keinen Abbruch getan.77 Die Differenzierung zwischen Sachkritik und Personverurteilung ist eine Frucht der Bekehrung, die mit den Jahren noch weiter gereift ist.
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Dieser biographischen Seitenblick hat hermeneutische Relevanz. Girards Theorie geht davon aus, dass Menschen aufgrund einer eitlen subjektiven Befangenheit blind werden für die Wahrheit. Erst eine Abkehr von Grandiositätsansprüchen ermöglicht eine Befreiung von mimetischen Abhängigkeiten. Diesen Weg gehen die Helden in den romanesken Romanen. Dieser Weg blieb auch den romanesken Autoren nicht erspart, damit sie zu ihren Werken fähig wurden. Und diesen Weg musste Girard gehen, um die Eigenart des Romanesken wahrzunehmen und reflexiv entwickeln zu können.

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Diese Gebundenheit der Sicht an den selbst gegangen Weg, der Theorie an die Lebenspraxis, bedeutet aber auch eine Grenze. Diese Grenze finden wir zunächst bei den Helden der romanesken Werke. Julien Sorel konnte in seiner Bekehrung weiter gehen als Emma Bovary, die an der Schwelle zur möglichen Bekehrung scheiterte, Dmitrij Karamasoff oder Rodion Raskolnikoff weiter als Julien Sorel. Eine analoge Grenze findet sich – auf der zweiten Ebene der Reflexion – bei den romanesken Autoren. Girard stellt Gleichgewichtsverschiebungen fest, die für ihn belegen, „dass der Romancier selbst sich des eigenen Romantizismus nicht gänzlich entledigt hat: er bleibt Gefangener von Formulierungen, deren Rechtfertigungscharakter ihm entgeht“78. Als Grund dafür macht Girard vor allem Reste verbleibender Eitelkeit bei den romanesken Autoren aus. Sie scheuen vor der Darstellung einer Wahrheit zurück, die im Vergleich zum ästhetisch reizvollen Schillern der unerlösten Begierdespiele allzu bieder und fromm erscheinen kann.79

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Es kann nun gar nicht anders sein, als dass sich – auf dritter Ebene – auch bei Girard selber analoge Grenzen finden, die seine romaneske Einsicht begrenzen.80 Am Ende der „Figuren des Begehrens“ betont Girard die Schlichtheit der essentiellen romanesken Einsicht und ihre Verwurzelung in christlicher Symbolik. Diese ungeschützte Naivität kann eine Zumutung sein für den durch dialektische Schärfe verwöhnten Leser. Nach Girard gehört die Bereitschaft zu dieser Einfachheit zur romanesken Bekehrung (des Helden wie des Autors). Sie verlangt, jeden Anspruch auf eigene Brillanz und Raffinesse aufzugeben, um sich ganz in den Dienst einer schlichten, einfachen Wahrheit zu stellen. Girard sieht deutlich, dass dieser Anspruch an die romanesken Dichter auch ihn selber mit seiner Abhandlung betrifft. „Der Schluss der Romane ist auch der Abschluss unserer eigenen Untersuchungen“ (FB 315). Demgemäß schließt Girard mit dem Zitat des Schlussdialogs aus Dostojewskijs Brüdern Karamasoff, zwischen Aljoscha und den Kindern, der in seinem Überschwang und seiner kindlich-naiv artikulierten Auferstehungshoffnung als Schluss eines derart abgründigen Werkes manchem Leser als flach erscheinen könnte.

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Allerdings scheint es, dass Girard diese Einsicht nicht immer voll durchgehalten hat. In seinem wenig später erschienenen Dostojewskij-Buch schreibt er:

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„The pages devoted to the death of Father Zossima are beautiful, but they do not have the force of genius found in the invectives of Ivan. The critics who try to bend Dostoevsky in the direction of atheism insist on the laborious character that Dostoevsky's positive expression of the good always had. The observation is fair, but the conclusions usually drawn from it are not. Those who demand of Dostoevsy a 'positive' art see in this art solely the adequate expression of Christian faith. But these are always people who conceive a lame idea either of art or of Christianity. The art of extreme negation is perhaps, to the contrary, the only Christian art adapted to our time, the only art worthy of it. This art does not require listening to sermons, for our era cannot tolerate them. It lays aside traditional metaphysics, with which nobody, or almost nobody, can comply. Nor does it base itself on reassuring lies, but on consciousness of universal idolatry.
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Direct assertion and affirmation is ineffective in contemporary art, for it necessarily invokes intolerable chatter about Christian values. The art that emerges in its entirety from the miserable and splendid existence of the writer seeks affirmation beyond negations. Dostoevsky does not claim escape from the underground. To the contrary, he plunges into it so profoundly that his light comes to him from the other side. 'It is not as a child that I believe in Christ and confess him. It is through the crucible of doubt that my Hosanna has passed.“81
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Ist Girard hier vor dem schlichten Bekenntnis des Evangeliums – der „Banalität der Romanschlüsse“82 und der analogen Ungeschütztheit des Schlusses der „Figuren des Begehrens“ – zurückgeschreckt? „Jeder große romaneske Schluss ist banal, aber er ist nicht konventionell“83. Gewiss liegt hier ein Sachproblem zugrunde. Gerade die großen romanesken Autoren haben gezeigt, dass ein langer Vorbereitungsweg mit der Sondierung von Abgründen notwendig ist, damit das schlichte Bekenntnis seinen rechten Ort findet, wo es nicht mehr mit Naivität, Verlogenheit oder Konventionalität verwechselt wird. Jedenfalls werden wir im folgenden mit Girard auch auf schlichte, ungeschützte Stellen blicken müssen, an denen die Aufdeckungskraft des romanesken Genies vor dem Eingeständnis beglückender Erfahrung zurücktritt.

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3.4 Vertikale Transzendenz

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Eine vierte Durchbrechung mimetischer Triangularität bildet den Ausgangspunkt von Girards Genealogie des mimetischen Begehrens. In dem Schlüsselkapitel „Die Menschen werden einander Götter sein“84 schreibt Girard die Dreieckstruktur der Begierde einem „Sündenfall“ zu: Die Menschen haben die Ausrichtung auf eine vertikale Transzendenz, auf Gott verloren und machen nun andere Menschen, eben die mimetischen Mittler, zu Göttern. Nach Girard kann der Mensch ohne Transzendenz, ohne Göttlichkeit nicht leben. Die Leugnung Gottes führt für ihn zwangsläufig zur Vergötzung des Mittlers. Girards Abhandlung zur mimetischen Begierde und zur internen Vermittlung erweist sich so als eine Theorie des Götzendienstes.85

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Damit ergibt sich für Girards mimetische Theorie die Grenzüberlegung eines friedlichen Zustandes, der infolge einer Anerkennung des wahren Gottes frei von einer mimetisch vermittelten Begierde ist. Ist ein solcher Friede reine Fiktion, oder ist er zumindest ansatzweise erfahrbar? Und sollte er in unserer Welt wenigstens keimhaft vorkommen, ist er dann ein Zustand der Freiheit von aller Mimesis, oder öffnet er den Blick auf eine andere, konfliktfreie Form der Nachahmung des Begehrens? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir zuerst jene Erfahrungen näher beleuchten, die in der Darstellung der romanesken Autoren die Befreiung von den mimetischen Verstrickungen wesentlich begleiten.

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Girard interpretiert also die Dreieckstruktur der Begierde als Vergötzung des Mittlers und stellt dem die (Urstands-)Alternative einer Anerkennung des wahren Gottes entgegen. Dies legt die Frage nahe, ob die Befreiung des Helden von der mimetischen Verstrickung, wie sie in den romanesken Texten vielfach dargestellt ist, als Bekehrung im Sinne einer Rückkehr zum wahren Gott verstanden werden kann.

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Girard zieht diese Konsequenz ausdrücklich. Die Befreiung von der mimetischen Begierde, meist an der Schwelle des Todes, mit einer Absage gegenüber dem Projekt subjektiver Autonomie, bedeutet zugleich eine Wiederfindung der verlorenen vertikalen Transzendenz.86

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Allerdings verbleibt diese Anerkennung des wahren Gottes, der wiedergefundene Glaube nicht selten unausdrücklich.87 Nur bei Cervantes (noch) und dann wieder bei Dostojewskij kommt es zu einer ausdrücklichen Anerkennung des Gottes Jesu Christi. Nicht selten bleibt ein solches Bekenntnis verstellt durch defizitäre Vermittlungen des Christentums – bei Stendhal in der Pervertierung des wahren Evangeliums durch die heuchlerische Welt des klerikalen „Schwarz“, sodass die überkommenen Formen und Sprachformeln der Religiosität nicht mehr rein genug sind, um die authentische Bekehrungserfahrung ausdrücken zu können.

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5. Erfahrungen der Befreiung aus der mimetischen Verstrickung

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Durch welche Mittel wird die Befreiung aus der mimetischen Verstrickung ermöglicht? Meist werden Einsicht und Aufdeckung der mimetischen Abhängigkeiten als Antworten Girards auf diese Frage angenommen. In seiner späteren Theorieentwicklung hat Girard sich tatsächlich phasenweise ganz auf die dekonstruktive Kraft der Aufdeckung konzentriert. Auch in den „Figuren des Begehrens“ spielt dieser Aspekt eine bedeutende Rolle, aber er wird von anderen und wichtigeren Gesichtspunkte begleitet.

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An der Schwelle zu seiner Befreiung durchschaut und anerkennt der romaneske Romanheld seine Verstrickungen. Er lässt ab von der romantischen Illusion subjektiver Autonomie und Allmächtigkeit. Diese Einsicht des Romanhelden ist eine Widerspiegelung der Sehschärfe des romanesken Genies.

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Aber vor allem im Blick auf die zahlreichen von mimetischer Rivalität freien Akteure in Dostojewskijs Werk könnte man fragen, ob dieser Durchblick überhaupt ein wesentliches Kriterium für die Freiheit des Begehrens ist. Fürst Myschkin, der „Idiot“ aus Dostojewskijs gleichnamigem Roman, zerreißt die mimetischen Bindungen seiner Umgebung gerade ohne sie zu durchschauen. Dies trifft noch mehr auf die ganz einfachen Frauen zu, die den prometheischen Männern zu Mittlern ihrer Erlösung werden, und es gilt für Alexej Karamasoff, der nicht nur die Kinder liebt, sondern selber wie ein Kind ist. Diese Personen haben allerdings selber die mimetische Krankheit nicht erlebt. Wer in diese Abgründe gerutscht ist, kann daraus ohne Einsicht Befreiung nicht finden. Insofern ist die große Bedeutung, die Girard der Aufdeckung zumisst, berechtigt. Doch scheint die aufdeckende Einsicht nicht schon hinreichende Voraussetzung für die Befreiung, sondern eher deren Begleiterscheinung oder Folge. Es gibt auch eine verzweifelte Hellsichtigkeit, die dem Menschen nicht zur Befreiung wird, sondern ihn nur noch tiefer in die Hölle der internen Vermittlung hineintreibt. Dies wurde bereits deutlich an Dostojewskijs „Menschen aus dem Kellerloch“.88 Es muss also weitergefragt werden nach Voraussetzungen für die Einsicht in die mimetischen Abhängigkeiten und für eine segensvolle Wirkung dieser Einsicht.

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5.1 Erfolg und Misserfolg

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Eine erste Erfahrung, die den Boden für die romaneske Bekehrung bereitet, ist der Misserfolg, das Scheitern der eigenen Ambitionen. Wenn man die mimetisch stimulierten Ambitionen mit einer Spielleidenschaft vergleicht,89 dann muss es ein katastrophales Scheitern sein, das einem das Spielzeug aus der Hand schlägt, damit ein Innehalten, eine Besinnung erfolgen kann. Sonst stimuliert der Misserfolg nur neue Versuche, es besser zu machen.

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Dieser Misserfolg kann paradoxerweise auch durch einen ungeschmälerten Erfolg zustandekommen. Man hat all seine Ziele erreicht und ist nun ernüchtert von der Glanzlosigkeit des erzielten Gewinns. Die großen Erwartungen haben sich nicht erfüllt, und eine Illusion bricht zusammen.

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Solche Erfahrungen sind charakteristisch für Stars, die, an der Spitze ihres Ruhms angelangt, anstelle ihr Glück zu genießen, sich selber zerstören. Wer alles hat, dem ist die Verheißung des Habens geraubt. In diesem Sinn sind Superstars ärmer als die Menschen, die noch von etwas träumen, – ärmer auch, als jene Menschen, die davon träumen, so zu sein wie sie.90 Aber sie sind auch reifer an einer wichtigen Erfahrung und so der Wahrheit nähergekommen. Sie sind an eine Wegkreuzung gelangt, an der der eine Weg in die Selbstzerstörung führt, der andere in die romaneske Bekehrung.91
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Auf diese Thematik sind wir in der romanesken Literatur bei Julien Sorel gestoßen, der im Unterschied zu Madame Bovary seine Ambitionen verwirklichen konnte und davon ernüchtert wurde.92. Zentrale Bedeutung hat die heilsame Wirkung des Misserfolgs bei Marcel Proust, dessen Romanheld Marcel am Machtspiel der mimetischen Rivalität eigentlich immer gescheitert ist.93 Er hat zwar auch Erfolge zu verzeichnen – Eroberungen geliebter Frauen oder den Zutritt zum begehrten Salon – aber diese Erfolge sind zu begrenzt, als dass sie ihm den Trug der an sie gebundenen Erwartungen hätten aufdecken könne. So vermag Marcel die augenfälligen Widerlegungen seiner Erwartungen durch selbstkritische Zusatzhypothesen zu entschärfen. Der Salon strahlt nur deshalb nicht im erwarteten Glanz, weil seine Gegenwart ihn entweiht,94 und der Gesang der verehrten Berma hat ihn nur deshalb enttäuscht, weil er ihre Qualitäten nicht wahrzunehmen verstand.95 Wer nur mehr von Menschen umgeben ist, die zu einem aufblicken, dem sind solche Rettungsversuche der eigenen Illusionen versperrt. Das extremste literarische Beispiel für einen Menschen in dieser Lage ist Dostojewskijs Stawrogin, dessen Schicksal überdies auch belegt, dass die Krise der Einsicht nicht schon die geglückte Bekehrung bedeutet. Marcel hingegen gelangt auf anderen Wegen zu seiner heilsamen Krise: Es ist der natürliche Endpunkt des verzweifelten mimetischen Spiels in der Krankheit und an der Schwelle des Todes.

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5.2 Annahme des Todes

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Was führt die Romanhelden zur Selbstdistanzierung von ihren mimetischen Verstrickungen? Die Werke der romanesken Autoren lassen sich geradezu als Antwort auf diese Frage verstehen. Sie beschreiben zunächst einen Prozess zunehmender Verzweiflung, des „Höllenabstiegs“ der Romanhelden. Nicht selten führt er buchstäblich an die Grenze des Todes. Der sterbende Don Quijote durchschaut hellsichtig seine Fixierung auf das Rittertum und vermag sich davon zu distanzieren.96 „Auch der Proustsche Erzähler wird in der Wiedergefundenen Zeit sterben, und auch er wird im Tod genesen.“97 In Dostojewskijs Werken ist der unmittelbar bevorstehende Tod durchgängig der Ort äußerster Klarheit mit der Möglichkeit zur Entscheidung zwischen vollständiger Bekehrung98 oder totaler Verzweiflung (als Selbstmord),99 und diese Zentrierung ist grundgelegt in seiner eigenen Lebenserfahrung.100 Auf die Läuterung Julien Sorels in Erwartung seines Todesurteils sind wir schon eingegangen.101 Das Ende von Flauberts Madame Bovary zeigt – wie zahlreiche Situationen eines verzweifelten Todes oder Selbstmordes in Dostojewskijs Romanen – dass dieses Entrissenwerden aus allen Träumen und Erwartungen nicht automatisch in die Abgeklärtheit führt.

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Girard hat das deutlich herausgearbeitet: Die mimetische Begierde treibt den Menschen in den Tod102, aber im Tod zerbricht die mimetische Begierde. So bietet sich im Angesicht des Todes die Chance eines „späten Augenblicks der Hellsichtigkeit“103. Von daher gibt es „zwei Tode“,104 ein Dahinscheiden in Verzweiflung oder der in Bekehrung angenommene Tod, – je nachdem, ob der Romanheld seine Chance wahrnehmen konnte.

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Was aber ermöglicht es dem Menschen, die Herausforderung des Todes zu bestehen? Offenbar genügt nicht nur die eigene Entschlusskraft; es bedarf darüberhinaus eines Anstoßes von außen.

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5.3 Liebe und Vergebung als Gnadenerfahrung

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Der Zusammenbruch seiner ehrgeizigen Pläne und das drohende Lebensende konnten für sich die Befreiung Julien Sorels nicht bewirken. Sie schufen aber eine notwendige Voraussetzung: durch den völligen Ausfall aller Verheißungen für die Eitelkeit war erstmals ein Zustand der Indifferenz, der Entscheidungsmöglichkeit erreicht, in dem für Julien ein alternativer Weg nicht mehr von vornherein verstellt war.

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Diese Indifferenz artikulierte sich zunächst in einem unentschiedenen Schwanken Juliens zwischen den beiden Extremen einer verbissenen Wiederaufnahme seiner Ehrgeizpläne – im Versuch, sich aus der Schlinge mit allen Mitteln herauszuwinden und das mimetische Spiel der Selbstvergötzung wieder aufzunehmen – auf der einen Seite, und in einer völligen Resignation auf der anderen Seite. Damit Julien den Zustand eines abgeklärten Glücks erreichen konnte, bedurfte es eines Weiteren: der Verzeihung und Liebe von Louise de Renal. Eine nötige Voraussetzung, um diese annehmen zu können, reifte zuerst von Juliens Seite: Nach dem Zusammenbruch seines krankhaften Ehrgeizes regt sich ein wahrhaft menschliches Gefühl ihr gegenüber: Reue wegen seines Attentats. Als er zufällig erfährt, dass sie gar nicht gestorben ist, entwickelt sich daraus eine ganz intensive Zuneigung. Nur so konnte Louises Opferbereitschaft – anders als jene von Mathilde – bei ihm auf fruchtbaren Grund fallen, – und sich so auch in eine glücklichere Richtung entwickeln.105 Erst die Erfahrung einer gänzlich unberechnenden, auf alle äußerlichen Rücksichten verzichtenden Liebe versetzt ihn in jenen Zustand eines abgeklärten, von mimetischer Begierde freien, dankbaren Glücks.

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„‚Nachdem ich einmal zu dir ins Gefängnis gekommen bin, bin ich für immer in Besançon und der ganzen Freigrafschaft eine Anekdotenheldin,‘ sagte sie mit tiefbekümmerter Miene; ‚die Schranken der gestrengen Schamhaftigkeit sind durchbrochen... Ich bin eine Frau, die ihre Ehre verloren hat... Aber es ist ja dir zuliebe.‘ – Bei dem traurigen Tonfall dieser Worte fühlte Julien in ihren Armen ein Glück, das ihm ganz neu war. Es war nicht mehr wilder Liebesrausch, es war eine namenlose Dankbarkeit. Zum ersten Male übersah er das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, in seinem ganzen Umfange.“106
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In diesen wenigen Zeilen kulminiert Stendhals Darstellung von Juliens Zustandes jenseits der eitlen mimetischen Begierde. Die freie, rückhaltlose und entwaffnende Zuwendung von Louise de Renal gibt den entscheidenden Ausschlag. Das negative Moment des Entreißens und Durchschauens der mimetischen Verstrickung ist zwar unverzichtbar; ohne es wäre Stendhal wohl taub geblieben für alle noch so aufrichtige Zuwendung von seiten dieser Frau. Aber entscheidend war eine positive Erfahrung darüber hinaus. Allerdings bewirkte diese Erfahrung nicht automatisch die glückliche Alternative zur triangulären Begierde, – das zeigt das Scheitern einer ähnlichen Opferbereitschaft von Mathilde. Es bedurfte noch der freien Zustimmung von Julien, sich darauf ganz einzulassen. In der Einsamkeit des Schlossturms gelangte Julien in eine Verfassung, in der ihm dieser Schritt erstmals möglich war. So hat die Schlüsselerfahrung, die Julien in die Freiheit der Liebe versetzte, die Struktur von Gnade im christlich-theologischen Sinn: eine geschenkte Möglichkeit, die sich ihm unerwartet bietet und die glückliche Befähigung, diese Möglichkeit anzunehmen. Julien nimmt die Chance, den kairós, wahr. Und die Grundempfindung des Glücks, das sich ihm von daher zuschickt, ist demgemäß „namenlose Dankbarkeit“107.

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5.4 Befreiende Erfahrung des Schönen

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Es ist nicht immer die Erfahrung der Liebe, welche den Übergang in ein Glück jenseits mimetischer Begierde begleitet. Es kann auch eine ästhetische Erfahrung des unverzweckbar Schönen sein. Als Beispiel diene die Geschichte der Bekehrung des Staretz Sossima in Dostojewskijs „Die Brüder Karamasoff“.108

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Auch hier wird das Szenario der Bekehrung vorbereitet durch eine Situation des unmittelbar drohenden Todes. Der junge Sossima, ein gewissenloser junger Offizier, hat ein Duell mit einem voraussichtlich überlegenen Gegner provoziert. Der entscheidende Tag beginnt mit einer demütigenden Erfahrung eigener Niedrigkeit. Wegen einer Bagatelle schlägt er in blinder Wut auf seinen treuen Knecht ein. Die Betroffenheit, die er diesem schutzlos ihm ausgelieferten, ihm nach wie vor treu ergebenen Menschen gegenüber wahrnimmt, ist ein weiteres Schlüsselelement für seine Bekehrung, aber für sich allein noch nicht ausreichend. Es ist noch nicht eine direkte Erfahrung positiven Beschenktseins, zumindest teilweise noch Gericht, Verlust, Niederbrennen, – hier seiner Selbstachtung. Erst die unerwartete Erfahrung von etwas Reinem und Schönem – am Morgen des Duells – schenkt ihm die Kraft, sich von seiner Verzweiflung zu distanzieren:

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„Als ich aufwachte, fing es gerade an zu tagen. Ich erhob mich sofort, ging ans Fenster, öffnete es und lehnte mich in den Garten hinaus. Die Sonne ging gerade auf, es war warm und wundervoll, die Vögel zwitscherten. Warum, dachte ich, empfinde ich in meiner Seele etwas Hässliches und Gemeines? Etwa, weil ich im Begriff bin, Blut zu vergießen? Nein, denke ich, das kann es nicht sein. Vielleicht, weil ich den Tod fürchte? Auch das ist es nicht, das erst recht nicht ... Und plötzlich wusste ich, was es war: Ich hatte gestern abend Afanassij geschlagen! Plötzlich ist es mir, als wiederholte sich die Szene von neuem: Er steht vor mir, und ich schlage ihn mit aller Kraft ins Gesicht, er aber hält seine Hand an den Hosennähten, den Kopf gerade, die Augen geradeaus gerichtet. Bei jedem Schlag fährt er zusammen, und doch wagt er nicht, zum Schutze die Hände zu heben – und ich lasse mich gehen und schlage ihn! Es war wie ein Stich ins Herz. Mir schwindelte. Die Sonne aber leuchtete so hell, die Blätter blitzten vom Tau, und die Vögel lobten Gott. Ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen, warf mich aufs Bett und schluchzte. Da erinnerte ich mich der Worte, die mein Bruder Markell vor seinem Tode zu den Dienstboten gesagt hatte... – Und plötzlich tauchte vor mir die Wahrheit mit ihrem ganzen Licht auf...“109
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Tief verstrickt in die Hölle des Kellerlochs, die den mimetischen Kämpfen ausgeliefert ist, bis zum letzten Atemzug des um der bloßen Ehre willen gefochtenen Duells, bricht für den Offizier Sossima dennoch die Wahrheit durch. Das wird bewirkt durch das Zusammenspiel mehrerer – für sich wirkungsloser – Momente: die Haltung des Dienstboten, der ohne jeden Widerstand die Ungerechtigkeit seines Herren erträgt, das ferne Beispiel des an der Todesschwelle bekehrten Bruders, und die schmerzhaft-beglückende Erfahrung einer unschuldig schönen Natur.

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Dies alles zusammen bewirkt eine Erschütterung des Offiziers, die dennoch eine bloß momentane hätte bleiben können, im nächsten Augenblick weggewischt, um der nächsten Schritte im mimetischen Kreislauf willen. Im Angesicht des Todes könnten diese Schritte fraglich werden, und dies mag der durchgebrochenen Gnadenerfahrung etwas mehr Raum geben. Aber auch die Todesnähe bereitet nur den Boden und erzeugt den Durchbruch nicht. Es bleibt ein Moment der Freiheit – aus Gnade und zur Gnade –, das der spätere Mönch ohne jeden Kompromiss wahrnimmt. Sossima gibt seiner Gnadenerfahrung Raum und lässt sie groß werden, radikal und ohne Rücksicht auf die bisher bestimmenden Götzen. Entschlossen ergreift er den Strohhalm seiner aufbrechenden Schuldeinsicht und entschuldigt sich bei seinem Diener. Als er den Eindruck gewinnt, dass das nicht reicht, wirft er sich vor dem Irritierten zu Boden.110 Ein Schritt ergibt nun den nächsten. Das Duell hält er aus ohne selber zu schießen. Er verweigert seinen Schuss auch dann, als sein Gegner ihn verfehlt hat und er schießen darf, ja schießen muss, – nach den Regeln des Duells, jenes Gipfels interner Vermittlung, des mimetisch aufgebauschten Kampfes um ein Nichts. Sossima widersteht, die Wellen des mimetischen Hasses prallen an ihm ab. Schließlich geht er auf seinen Gegner zu, fällt vor ihm auf die Knie und bittet ihn um Vergebung. Erst jetzt kann und darf er das, erst jetzt kann sein Gefühl der Reue und der achtenden Liebe sich ausdrücken, ohne dass es mit Feigheit verwechselt würde.111 Doch selbst jetzt wird er nicht verstanden, eher als Spinner angesehen denn als Held, und dieses Missverstehen gibt ihm den Freiraum, in dem die zarte Pflanze einer Leidenschaft, einer Liebe ohne mimetische Vermittlung wachsen kann. Hätte man ihn bewundert wegen seiner Kaltblütigkeit, dann hätte der Keim von Wahrhaftigkeit daran ersticken können. So erfuhr er die nötige Distanz zur mimetischen Welt, dass dieser Keimling groß werden konnte.112 Viele Jahre lebte er unbeachtet in Stille, bis er die Berühmtheit des späteren Starzen erreichte. Und als das erfolgte, war er bereits stark genug, um von dieser mimetischen Versuchung nicht mehr aus dem Gleichgewicht geworfen zu werden.

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So war es eine Reihe günstig zusammentreffender Umstände, welche Sossimas Befreiung ermöglichte. Insofern wurde ihm die Bekehrung geschenkt, hat er sie nicht selber geleistet. Dennoch war es eine außerordentliche Konsequenz und Radikalität, mit der er den sich ihm bietenden Gnaden-Kairós wahrgenommen hat.

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5.5 Die Bedeutung der Erfahrung von Liebe und Schönheit in den „Figuren des Begehrens“

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An zwei literarischen Beispielen konnten wir zwei Typen von Erfahrungen ausmachen, die aus der mimetischen Verstrickung herausführten: bei Julien Sorel eine Erfahrung echter Liebe, beim späteren Staretz Sossima eine intensive Wahrnehmung der Natur. Bevor wir untersuchen, was an diesen so verschiedenen Erfahrungen wohl das Befreiende gewesen sein mag, wollen wir die phänomenale Grundlage erweitern. Da hier nicht der Raum ist, um weitere romaneske Texte zu analysieren,113 fragen wir nach Spuren in Girards Analyse, die in die Richtung ähnlicher Erfahrungen weisen.

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Zu beiden Erfahrungstypen gibt es in Girards „Figuren des Begehrens“ Indizien. Eine bemerkenswerte Textstelle bringt beide Typen in direkte Beziehung zueinander:

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„Bei Stendhal kann die Frau Mittlerin von Ruhe und Gelassenheit werden, nachdem sie Mittlerin von Begehren, Angst und Eitelkeit gewesen ist. Wie bei Nerval handelt es sich nicht so sehr um einen Gegensatz zwischen zwei Frauentypen als um zwei sich widerstreitende Funktionen, die das weibliche Element in der Existenz und im literarischen Schaffen des Romanciers besetzt. – In den großen Romanwerken ist der Übergang von Eitelkeit zur Leidenschaft mit ästhetischem Glücksempfinden untrennbar verbunden. Die schöpferische Lust triumphiert über Begehren und Angst ... Die Leidenschaft gemäß Stendhal ist ohne Einbezug der Problematik des ästhetischen Schöpfungsakts nicht zu begreifen“114
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Ästhetisches Glücksempfinden und Erfahrung der Liebe gegenüber einer Frau sind in dieser Stendhal-Analyse ineinander verzahnt. Gemäß Girards Darstellung bildet das ästhetische Empfinden auch bei Marcel Proust die Schlüsselpassage im Übergang zu einem Zustand der Freiheit von mimetischer Begierde, der bei Proust unter der Metapher „wiedergefundene Zeit“ firmiert.115 Allerdings neigt Girard eher dazu, ästhetische Glücksempfindung und Schöpferkraft als Folge der Befreiungserfahrung zu interpretieren. Es wäre zu prüfen, ob die romaneske Literatur nicht eher ein umgekehrtes Bedingungsverhältnis nahelegt, – so wie bei der Bekehrung des Offiziers Sossima die Erfahrung des Naturschönen nicht Folge seiner Befreiung war, sondern deren Auslöser.

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5.6 Von der Erfahrung zur Bekehrung

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Die Erfahrung des Schönen und der Liebe kann auch unentfaltet bleiben und so in unverbindlichen Genuss abrutschen. Das dermaßen kastrierte „Schöne und Erhabene“ verliert seine lebensverändernde Kraft116 und degeneriert zum willkommenen „Appetizer“ für ein gemeines Leben.

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Dieses Motiv wurde in Literatur und Film vielfach variiert. In Kubricks „Clockwork Orange“, Coppolas „Apocalyse Now“ und Polanskis „Der Tod und das Mädchen“, in denen jeweils ein Sadist aus seinen Greueltaten den letzten Genuss herauskitzelt, indem er sie bei klassischer Musik ausführt. Dostojewskij hat die diesen Ungeheuerlichkeiten zugrundeliegende „Logik“ in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ beschrieben. Dem Kellerlochmenschen sind die „Wallungen des Schönen und Erhabenen“ gerade in der Zeit seiner schmählichsten Ausschweifungen willkommen, denn „sie belebten sie geradezu durch den Kontrast und kamen genau in dem Maße, wie es zu einer guten Sauce nötig war.“117 Dieses teuflische Rezept versucht der Untergrundmensch dann an Lisa. Dort zeigt sich allerdings, dass dieses Spiel ein „gefährliches“ ist. Auch das zum Gemeinsten pervertierte Gute kann seine natürliche Wirkung entfalten und den Akteur unvermutet aus seiner Bosheit reißen.118
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Für die Bekehrung des jungen Sossima war es entscheidend, dass er sich auf den ethischen Anspruch einließ, der mit der schönen Naturerfahrung verbunden war. Diese erhob einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der Sossima überhaupt den Gegensatz des „Hässlichen und Gemeinen in Sossimas Seele“ schmerzlich fühlbar machte. Sossimas Konsequenz bestand darin, dass er diesen empfundenen Widerspruch nicht stehen ließ, sondern dem erfahrenen Schönen Raum gab. Aus der Kraft dieser Erfahrung überwand er alles Hässliche und Gemeine. Und im Glücken dieser Überwindung erwies das zunächst bloß subjektiv Gefühlte seine Wahrheit. So besteht die Vollendung der schönen Erfahrung in der Bekehrung.119

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Während Dostojewskij dieses ethische Moment der Bekehrungserfahrung durchgängig entfaltet, fällt es, soweit ich sehe, in Prousts Werk aus. Die Einsichten der „wiedergefundenen Zeit“ verbleiben im Subjektiven und Literarischen, und Prousts „Wahrheit“ erschöpft sich demgemäß in der hellsichtigen dichterischen Darstellung.120 Nichts treibt den Helden Marcel selber in die Welt und zu den Menschen zurück.121

150
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Marcel verharrt zwar keineswegs in ästhetischem Genuss. Die Einsicht treibt ihn zur Tat seines schriftstellerischen Werks, das er der Nachwelt überlassen will, und zwar – anders als der junge Sartre122 – nicht zum eigenen Ruhm, sondern als Instrument der Wahrheitsfindung.123 Aber diese Frucht der Bekehrung hat nichts Lebendiges an sich, – sie ist ein „großer Friedhof“.124

151
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Damit steht Proust im Gegensatz zu Dostojewskij, für den nicht nur die ethischen Konsequenzen aus der Erfahrung von Liebe und Schönheit unabdingbar sind, sondern für den daraus eine brennende Liebe zum Leben erwächst. Für ihn mündet die Bekehrung an der Schwelle des Todes in die Auferstehung.125 Mancher seiner Helden entkommt dem Tod und ist bereit, die Konsequenzen seiner Lebensschuld demütig zu ertragen in Offenheit auf ein sich bereits anzeigendes besseres Lebens;126 Andere nehmen die Zuversicht auf die Letztgültigkeit von Leben und Auferstehung mit ins Grab;127 wieder Andere geben dieses Licht an die Zeugen ihres guten Sterbens weiter und verbreiten so den Glauben an die Auferstehung.128 Auch wenn der Bekehrte stirbt, vermag er im Weggehen, den Zeugen seines Sterbens etwas von dieser gewandelten Sicht, von dieser Gelassenheit mitzugeben. Das gibt den so Beschenkten Hoffnung auf Auferstehung. Im Kontext der Krise und ihrer Überwindung durch den romanesken Helden gewinnt die ins Zwielicht geratene „Symbolik der vertikalen Transzendenz“, die Sprache des Christentums, neue Plausibilität.129

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6. „Gute Mimesis“

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6.1 Liebe als Durchbrechung der mimetischen Gewalt

154
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Was ist es, das – den Erfahrungen der ästhetischen Schönheit und der Liebe gemeinsam – das Glück einer begierdelosen Leidenschaft auszulösen vermag? Wir sahen, dass zu der Liebe, die Julien von Louise erfährt, entscheidend das Moment der Selbsthingabe gehört. Louise setzt sich rückhaltlos für Julien ein, ohne auf ihre Rolle, ihre Position in der Gesellschaft zu achten. Eitelkeit ist hier einer echten Leidenschaft gewichen.130 Die Liebende begegnet dem Gefangenen in einem Zustand der wehrlosen Offenheit. Louise hat sich – durch den Verzicht auf alle gesellschaftliche Anerkennung – gegenüber Julien freiwillig in diese Lage gebracht. In Dostojweskijs „Brüdern Karamasoff“ befand sich der Knecht des jungen Sossima bereits in einer Position gesellschaftlicher Missachtung, doch duldete er die Übergriffe des ungerecht-zornigen Herrn mit einer nicht erwartbaren Loyalität.131. Es offenbart sich hier ein anderer wesentlicher Aspekt der Liebeserfahrung, der bei Stendhal verdeckt bleibt. Der Liebende widersteht der Bosheit und dem Unrecht des Helden; er zahlt nicht mit selber Münze zurück und lässt sich von den ihm angetanen Aggressionen nicht mimetisch hinreißen. Dieser paradoxe „Widerstand“ – ein Widerstand gegen die mimetische Logik der Vergeltung, der gerade im Verzicht auf den Widerstand gegen den anderen besteht, im „die-andere-Backe-Hinhalten“ – ist die äußerste Provokation für die aufflammende Wut des Helden.132 Anstatt weiterzugeben, was er an Demütigung von anderen empfängt, widersteht ein Mensch diesem mimetischen Sog; er schlägt nicht zurück und entzieht sich dennoch nicht dem Aggressor. So unterbricht er den Fluss der mimetischen Gewalt und provoziert damit den mimetisch Verfangenen aufs Äußerste. Dieser sieht sich vor die Wahl gestellt, entweder das gestörte Gleichgewicht durch einen vernichtenden Schlag gegen den Widerstehenden wiederherzustellen, indem er den Störenden aus seiner Welt vertreibt, ihn vernichtet, oder den Zusammenbruch des dynamischen Gleichgewichts mimetischen Hasses zuzulassen: indem er auch selber den täuschenden Gestus der Selbstherrlichkeit ablegt und die Niedrigkeit seines Verhaltens demütig eingesteht.

155
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Widerstand gegen den mimetisch im Hass Verstrickten leistet auch das Schöne in seiner Unschuld und Wehrlosigkeit. Es war schon die Rede vom warmen Sonnenaufgang und dem Vogelgesang, – in seiner Unschuld und seinem Frieden ein stiller Vorwurf gegen das Hässliche und Gemeine in Sossimas Herzen. Solcher Widerstand kann auch den Hass des Unglücklichen auf sich lenken. Der Hass erträgt das Schöne nicht, und so muss der Hassende oder das Schöne, der Hass oder die Schönheit weichen.

156
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Diesen Kampf hat – mit unterschiedlichen Ausgang – Dostojewskij vielfach beschrieben. Vielleicht am eindrucksvollsten in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, wo der Gedemütigte auf eine noch sehr junge Prostituierte trifft. In einem luziferischen Spiel erweckt er Regungen der Menschlichkeit in ihr, wird aber dadurch selber aus seiner Bahn der Bosheit gerissen und verliebt sich in sie. Als sie ihn einige Tage später besucht, vermag er seine kranke Eitelkeit nicht zu bezwingen und er demütigt sie zutiefst. Doch aus einem tiefen Gefühl von Liebe begreift das einfache Mädchen, dass das nur der Ausdruck seiner abgrundtiefen Verzweiflung ist. Noch einen Schritt geht sie auf ihn zu, und beinahe ist sein Stolz besiegt; da bricht er nochmals machtvoll auf, und mit der äußersten Gemeinheit, derer er fähig ist, stößt er sie von sich.133 Während sie zutiefst gedemütigt davonläuft – er besinnt sich, versucht sie einzuholen, doch findet sie nicht mehr – hat er seine große Chance verpasst, dem Kellerloch zu entkommen.

157
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Noch oft spielt sich in Dostojewskijs Werken dieser Kampf ab. Er scheitert, wo sich Menschen mit ihrer Gutmütigkeit übernommen haben, wo sie sich auf diesen Kampf unberufen, nicht aus den ehrlichsten Motiven eingelassen haben,134 und er wird – gegen alle Erwartung – gewonnen, wo jemand mit „reinem Herzen“ auch die Reaktionen verletzten Stolzes auf seine Großmut demütig zu tragen vermag.135

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6.2 Die Weitergabe des empfangenen Guten, – am Beispiel der „Brüder Karamasoff“

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Wo die demütige Liebe oder das Schöne den Stolz des mimetisch Verstrickten zu brechen vermag, da besteht die Chance, dass das Gute durch diesen weitergegeben wird. Der Bekehrte oder die Zeugen der Bekehrung werden selber zum Träger dieser Erfahrung und werden befähigt, der Selbsucht anderer Menschen Widerstand zu leisten. Auch dies wird erst bei Dostojewskij zum eigentlichen Thema. Don Quijote stirbt, ohne dass von einer Wirkung seiner Bekehrung am Totenbett auf die Umstehenden berichtet wird; nicht nur Emma Bovary, sondern auch Julien Sorel hinterlassen ihre Angehörigen mit einem gebrochenen Lebenswillen. Und Marcel zieht sich – wie sein Schöpfer Marcel Proust – vollkommen zurück; der einzige Zeuge wird sein Werk sein. Anders bei Dostojewskij. Wer das Angebot der Gnade angenommen hat, wird selber zum Zeugen. Er wird fähig, gegen den mimetischen Sog Widerstand zu leisten. Erkennbar ist diese Befähigung daran, dass er den Spott der Menschen aushält, – ihr höhnisches Urteil, das der Kellerloch-Mensch mehr fürchtet als alles andere.136 Er ist bereit – in einer Leichtigkeit, in einem Überschwang – von den Menschen für einen Narren gehalten zu werden.137 Und mit dieser Unbefangenheit, mit dieser neu gewonnenen Unschuld, gewinnt er die Macht, in anderen das Eis der Eitelkeit zu brechen. Die Bekehrung geht mit einem Auftrag zusammen – die „Befreiung von...“ wird zur „Bekehrung zu...“.

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Dies wird am deutlichsten in den „Brüdern Karamasoff“, bei Sossima, der den ersten Anstoß für seine spätere Bekehrung von seinem noch als Kind verstorbenen – und in schwerer Krankheit glücklich bekehrten – Bruder Markell erhalten hatte und nach seiner Umkehr das Licht an viele andere weitergibt: zuerst an einen „geheimnisvollen Gast“, der als anerkannter Bürger an einem längst zurückliegenden Mord fast zerbricht,138 und zuletzt – nach vielen, vielen Menschen, die sich bei ihm Rat und Hilfe geholt hatten, an seinem Lieblingsschüler Alexej Karamasoff, der ihn so sehr an seinen verstorbenen Bruder erinnert.

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Nicht anders der als Vatermörder verdächtigte Dmitrij Karamasoff. Auslöser für seine Bekehrung ist die Erfahrung einer echten Liebe Gruschenkas, deren Stolz angesichts des zu erwarteten Untergangs des als Mörder beschuldigten Dmitrij zusammenbricht. Eine entscheidende Vertiefung erfährt diese Bekehrung durch einen Traum Dmitrijs, in dem ein tiefes Mitleid mit einem hilflos leidenden „Kindelchen“ in ihm aufbricht.139 Durch den fest verspürten Entschluss, um jeden Preis helfen zu wollen, sich für das Kind verantwortlich zu fühlen, überwindet er endgültig seine krankhafte Selbstbezogenheit. Das spontan aufbrechende Begehren, nicht für sich zu haben, sondern anderen zu geben, verbindet sich mit der Erfahrung der selbstlosen Liebe Gruschenkas.140

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Abschließend thematisiert ist die gegenseitige Durchdringung von Erfahrung und Handeln, von „Ästhetik“ und „Ethik“141 im Epilog des Romans, in der Schlussszene mit Aljoscha und den Kindern: der Tod des Buben Iljuschenka, den die Kinder zuerst mit Steinen bewarfen, dann unter der Führung Aljoschas lieben lernten, bekommt einen Sinn. Er führt zur gemeinsam bekannten vertrauensvollen Hoffnung auf Auferstehung.142 Hier geht Dostojewskij am weitesten: Wo – durch das Vorbild eines einzelnen, Aljoschas – der verbindende Hass der Gruppe zur verbindenden Liebe umgeschlagen ist, wird die neue heitere Zuversicht, – in Opferbereitschaft! – nicht nur an einzelne weitergegeben, sondern wirkt gemeinschaftsbildend. Dostojewskij schließt so mit einer Vision – ohne die Illusion einer beständigen Liebesgemeinschaft.143 Diese Vision bildet ein Gegenmodell zum Sündenbockeffekt, – zur Scheinversöhnung am Grabe des ausgestoßenen Opfers, das für Girards weiteres Werk so bestimmend sein wird.

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6.3 Gute Mimesis – gutes Begehren – göttlicher Mittler

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Wenn das Gute sich über die Menschen, die sich durch es befreien lassen, fortzeugt, kann es dann auch als Mimesis, – als friedvolle, befreiende, „gute“ Mimesis – begriffen werden?

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Zweifellos bestimmt dieses Gute die Menschen, die sich von ihm erfassen lassen, nicht bloß äußerlich, – sie verfügen ja nicht darüber –, sondern erfasst sie tiefer, in ihrem unwillkürlichen Verhalten. Die vorrationale, vorbewusste Eigenart der Mimesis, die Girard als quasi-osmotisch bezeichnet hat144, ist bei der Weiterwirkung dieses Guten also auch gegeben.

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Es ist aber noch ein zentraler Aspekt zu prüfen. Mimesis ist wesentlich Nachahmung des Begehrens. Von einer „guten Mimesis“ kann bei den ausgeführten Wirkungen nur gesprochen werden, wenn die Eigenart dieser Erfahrung auch als ein Begehren begriffen werden kann.

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Welche Anhaltspunkte gibt hier Girard im Blick auf die romanesken Werke?145 Zunächst wird der Zustand der Bekehrung als begierdefrei beschrieben, – so bei Stendhal und bei Proust. Das besagt allerdings nicht eine Gleichgültigkeit, die sich interesselos von allen Menschen und Dingen abwenden würde. Wie vor allem Dostojewskij entfaltet hat, wächst aus der Bekehrungserfahrung ein echtes Interesse an anderen Menschen. Dieses Interesse am Anderen ist allerdings nicht mehr ichbezogen, sondern ganz auf die glückende Selbstentfaltung des Anderen ausgerichtet. Es bricht vor allem dort als drängendes Bedürfnis auf, wo der Bekehrte auf beschädigtes Leben stößt.146 Daraus kann ein leidenschaftliches, bis zum Äußersten gehendes Engagement erwachsen, das bei Stendhal nur in Ansätzen147 und bei Proust eigentlich gar nicht zur Geltung kommt.

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Man kann also nicht sagen, dass der Bekehrte frei von Begehren ist; wohl aber muss man festhalten, dass dieses Begehren von ganz anderer Art, nämlich mit einer völlig anderen Zentrierung ist.148. Girard geht in FB auf diese Frage nicht direkt ein, er setzt aber beim Bekehrten insofern auch ein Begehren voraus, als er ihm ebenso einen Mittler zuspricht, und zwar im Unterschied zu den mimetisch Verstrickten einen göttlichen Mittler.

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„Das Bewusstsein wendet sich vom göttlichen Mittler nur ab, um dem menschlichen Mittler zu verfallen. Wie die dreidimensionale Perspektive alle Linien eines Bildes auf einen Punkt richtet, der sich entweder 'hinter' oder 'vor' dem Gemälde befindet, so orientiert das Christentum die Existenz auf einen Fluchtpunkt hin – entweder auf Gott oder auf den Anderen. Wählen, das bedeutet immer, sich ein Vorbild wählen, und die wahre Freiheit liegt in der grundsätzlichen Alternative zwischen menschlichem Vorbild und göttlichem Vorbild.“149
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Wenn es gemäß Girards Bestimmung die Funktion des Mittlers ist, das Begehren auf Personen und Gegenstände auszurichten, dann ist der Bekehrte, – der durchaus im Sinne Girards als anonymer Christ bezeichnet werden kann – nicht einfach frei von Begehren, sondern er ist durch ein Begehren geleitet, das nicht durch absolutgesetzte Mittler, sondern durch Gott selber gelenkt wird. So wie der göttliche Mittler Mittler ist, aber in einem ganz anderen Sinn als in mimetischen Dreiecksverhältnissen, so ist auch das von Gott geleitete Begehren ein Begehren, aber in einem völlig anderen Sinn. Berücksichtigen wir dazu noch, dass das vom göttlichen Mittler geleitete Begehren auf andere ausstrahlt und diese zumindest im Ansatz vorgängig zu jeder willentlichen Stellungnahme erfasst.150 Damit kann nun das vom göttlichen Mittler geleitete Begehren ebenso als mimetisch begriffen werden, wobei die Rede von Mimesis hier ebenso wie Girards Rede vom Mittler zu einer analogen wird. Die vom göttlichen Mittler angeregte „göttliche Mimesis“ ist zwar immer noch Mimesis, aber auf eine ganz andere Weise.

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Es kann also jene Erfahrung und Haltung, die die rivalisierende Mimesis zu brechen vermag, selbst nochmals als mimetisch begriffen werden. In der Begegnung mit der liebenden Person wird der Held nicht einfach frei von aller Mimesis, sondern bekehrt sich von der rivalisierenden, tendenziell gewalttätigen Mimesis zu einer konfliktfreien Mimesis, – nämlich zur unwillkürlichen Nachahmung der begierdefreien Liebe. Oder genauer: Indem sich der Held der begierde- und aggressionsfreien Zuneigung der ihn liebenden Person öffnet, ihr respondiert, indem er sich selber so verhält – und in diesem Sinn diese Liebe nachahmt – wird er erst wirklich frei von den Verstrickungen interner mimetischer Vermittlung. Damit ist nicht nur der Götzendienst – mit den Momenten der Vergötzung der Mittlers und der Selbstvergötzung – mimetisch ansteckend, sondern auch jene selbstlose Liebe, die den Zustand begierdefreien Glücks kennzeichnet, und den Girard letztlich in einer Anerkennung des wahren Gottes wurzeln lässt. Strukturell ist beides Mimesis – unwillkürlich responsorisches Nachahmen eines Begehrens –, aber die Art des Begehrens und die Wirkung der Nachahmung (nämlich wirklich einigend und versöhnend statt rivalisierend) sind völlig verschieden.

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Das vom göttlichen Mittler geleitete Begehren – bezeichnen wir es kurz als „gutes Begehren“ – bricht nicht einfach spontan auf, sondern wird durch Erfahrungen des absichtslos Schönen und durch Begegnungen mit einer sich aufopfernden Liebe angestoßen. Und der von ihr Erfasste wird dazu qualifiziert, diese Erfahrung an andere weiterzugeben. In diesem Sinn ist das gute Begehren mimetisch, und es gibt eine „gute Mimesis“. Dieses Ergebnis der vorausgehenden Überlegungen wird durch unsere Untersuchung der romanesken Bekehrungserfahrung gestützt.

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Damit gibt es aber für das gute Begehren nicht nur den göttlichen Mittler, sondern auch innerweltliche Mittler. Allerdings unterscheidet sich der innerweltliche Mittler des guten Begehrens vom Mittler in der internen Vermittlung: Letzterer setzt sich selbst absolut und/oder er wird vom Nachahmenden absolutgesetzt. Dagegen ist der innerweltliche Mittler des guten Begehrens „transparent“ für den göttlichen Mittler. D.h. er verdeckt ihn nicht; er nimmt nicht dessen Stelle ein, sondern er verweist auf ihn.

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Damit ergibt sich für den die Gnade annehmenden Menschen ein doppelter Bezug: einerseits auf den Gegenstand, das Ziel, auf das er sich handelnd bezieht; anderseits auf Gott, der den Modus dieser Bezugnahme bestimmt. Dadurch ist es ihm möglich, den anderen um seiner selbst willen anzunehmen; und diese Fähigkeit zeigt sich vor allem daran, dass man imstande und bereit ist, zurückzutreten und loszulassen was einem wertvoll ist, wenn das der Entfaltung des Anderen zuträglich ist.

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In dieser Fähigkeit und Bereitschaft zum Loslassen besteht das unterscheidende Merkmal jener Liebe, die allein die Kraft hat, den mimetisch Verstrickten zu befreien. Damit können der verletzte Stolz des zunächst glücklich Beschenkten und seine daraus möglicherweise erwachsende Ungerechtigkeit aufgefangen werden.151 Nur so kann der selbstzerstörerische Wille des Stolzen bezwungen werden, der nur mehr an Kalkül und Manipulation und nicht mehr an das wahre Gute glaubt, und der, um das sich und anderen zu beweisen, Gutes mit Bösem vergilt. Und nur der derart Liebende vermag sich von dem glücklich Beschenkten so zurückzuziehen, dass er den Befreiten nicht in der Abhängigkeit der Dankesschuld hält.

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6.4 Die Erfahrung des göttlichen Mittlers

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Was ist der göttliche Mittler? Das ist nicht leicht zu beantworten, wenn wir uns – wie bisher – nicht zu weit von der Grundlage literarischer, romanesker Erfahrung entfernen wollen.

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Gemäß Girards funktionaler Bestimmung besagt die Rede vom göttlichen Mittler, dass das Begehren seinen letzten Fluchtpunkt nicht in einem innerweltlichen Mittler hat.152 Durch die Annahme eines transzendenten Mittlers entkommt Girard der Beschränkung auf zwei unbefriedigende Alternativen: einerseits die Undurchbrechbarkeit der internen Vermittlung, – eine Annahme, die durch die romanesken Erfahrungen gründlich widerlegt wird; anderseits die Möglichkeit einer völligen Freiheit von allem Begehren153 oder eines autonomen Begehrens: die „romantische Lüge“, d.h. eine lockende Illusion, die die Menschen nur noch tiefer in die mimetische Verstrickung treibt.

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Der göttliche Mittler ist aber mehr als eine Grenzannahme, die unablässig ist für die Möglichkeit der Befreiung von der internen Vermittlung. Er wird miterfahren in jenen Schlüsselerfahrungen, dank derer die mimetische Verstrickung durchbrochen werden kann. Der liebende Mensch, der einen Dritten oder den mimetisch Verstrickten in wahrhaft selbstloser Liebe anzunehmen und loszulassen vermag, lässt durch seine unaufdringliche Zuwendung den göttlichen Mittler durchscheinen: Das Licht einer unbedingten Bejahung – „nicht weil ich dich brauche, sondern weil du gut bist, deshalb liebe ich dich“ – strahlt auf den geliebten Anderen. Und der schöne Gegenstand, das schöne Werk, die schöne Natur ist schön nicht durch Selbstbezüglichkeit oder Selbstverweis, sondern durch seine Transparenz auf einen guten transzendenten Grund. Dies zeigt sich bei Dostojewskij durch eine tendenziell grenzenlose Ausweitung der beglückenden Erfahrung: Der Glanz breitet sich aus, er will sich allem mitteilen, alles soll daran teilhaben.154. Damit führt die Transparenz des göttlichen Mittlers nicht zur Fixierung auf einzelne Gegenstände, sondern zu einer Offenheit für alle,155 – mit einer Präferenz für das unscheinbare und beschädigte Leben. Im Licht des göttlichen Mittlers scheinen auch darin die Spuren des Schönen und Guten auf, und es wächst das Verlangen, sich für dessen umfassende Entfaltung einzusetzen.

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Dem guten Begehren geht es nicht um das Für-mich-Sein des Anderen, sondern um sein In-sich-Selber-Sein. Diese Ausrichtung ist möglich, weil und insofern die Sorge um den eigenen Wert und die eigene Stellung beruhigt ist, – der Glaube, dass das Gute im anderen aus sich heraus ein umfassendes Gutes ist, und dass man deshalb selber gar nicht zu kurz kommen kann. Damit unterscheidet sich die gute Mimesis nicht nur von der internen Vermittlung, sondern auch von den Verwirklichungsformen der externen Vermittlung.156 Diese ist zwar „friedlicher“ als die interne Vermittlung, ist aber bereits vom Keim der Rivalität und der Selbstbezogenheit infiziert. Es sind nur äußere Gründe – der Abstand des Mittlers, anerkannte Grenzen zwischen Nachahmenden und möglichen Mittlern – die die destruktiven Kräfte der mimetischen Begierde in Schranken halten. Die Unterscheidung zwischen guter Mimesis und externer Vermittlung ist bei Girard ganz deutlich: Das Verhältnis von Don Quijote zu Amadis von Gallien, Girards Musterbeispiel für die nichtrivalisierende externe Vermittlung, ist dennoch ein problematisches, von dem sich Quijano bei seiner Bekehrung am Totenbett deutlich distanziert. Girards zweites großes Beispiel für externe Vermittlung, die Kindheit Marcels in Combray in Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“, trägt in sich bereits den Keim zu allen späteren Abgründen interner Vermittlung.157

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7. Ambivalenz der Mimesis

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7.1 Zwei Typen von Unterscheidungen

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Girard operiert in den „Figuren des Begehrens“ mit zwei Typen von Unterscheidungen. Unterscheidungen des ersten Typs begründen seine systematisierende Modellbildung, insbesondere seine „strukturale Geometrie“158 mit der Leitmetapher der Dreieckstruktur der Begierde. Dazu gehört die Unterscheidung zwischen Begehrendem, Begierdeziel und Mittler, die Variation des Abstandes zwischen Begehrendem und Mittler mit der daraus resultierenden Unterscheidung zwischen externer und interner Vermittlung. Diese Unterscheidungen sind intelligibel, nicht im Sinne einer direkten Ablesbarkeit an den Phänomenen, aber aufgrund ihrer erklärenden und synthetisierenden Kraft. Es werden erhellende Zusammenhänge sichtbar nicht nur zwischen verschiedenen romanesken Autoren, sondern – was für die Bewährung der Theorie bedeutsamer ist – auch innerhalb der Werke.159 Vor allem für extreme Situationen, in denen die Rivalität eskaliert und der Freiheitsspielraum der Beteiligten massiv eingeschränkt ist, erweist Girards strukturales Modell seine Stärken gegenüber konventionellen psychologischen Interpretationen.

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Der andere Typ der Unterscheidungen ist nicht weniger zentral, aber an den Phänomenen nur schwer aufweisbar und in festen Gesetzen nicht fixierbar. Dazu gehören die Unterscheidungen zwischen göttlichem und menschlichem Mittler, fehlgeleiteter und wahrer Transzendenz usw. Der eine Pol in dieser Unterscheidung – die fehlgeleitete Transzendenz – ist durch die Gesetze der mimetischen Vermittlung im Sinne des ersten Unterscheidungstyps scharf analysierbar. Der andere Pol der vertikalen Transzendenz ist direkt nicht fassbar, er bleibt den von Girard aufgewiesenen strukturalen Gesetzmäßigkeiten verschlossen. Vielleicht rührt es daher, dass die Unterscheidung zwischen vertikaler und fehlgeleiteter Transzendenz, die – begonnen von dem Buchmotto160 bis zum Schlusskapitel – die eigentlich zentrale ist – immer wieder übersehen wurde. Sonst hätte man Girards mimetische Theorie nicht wie ein geschlossenes System interpretieren können. Die Unfassbarkeit des Bereiches vertikaler Transzendenz hat auch Girard dazu geführt, sich mit seinen Analysen auf die Bereiche fehlgeleiteter Transzendenz zu konzentrieren, in denen die Gesetze der Mimesis ihre zwingende Kraft beweisen. Solange seine mimetische Theorie auf die romanesken Texte rückgebunden ist – wie in den „Figuren des Begehrens“ – bleibt auch die andere, zugleich unverzichtbare und unfassbare Dimension der vertikalen Transzendenz gegenwärtig. Wird die Theorie aus diesem Kontext herausgelöst, wie in ihrer systematisierenden Rezeption durch manche Anhänger und viele Kritiker, aber auch durch Girard selber in seiner späteren Ausweitung der Theorie in „Das Heilige und die Gewalt“, dann droht diesem schwer fassbare Bereich die Vernachlässigung und der Theorie damit der Reduktionismus. Erst als Girard sich in „das Ende der Gewalt“ an den jüdisch-christlichen Texten orientierte, für welche die vertikale Transzendenz leitend ist, konnte die zeitweilige Einseitigkeit wieder ausgeglichen werden.

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Die Unterscheidung zwischen vertikaler und fehlgeleiteter Transzendenz liegt somit quer zu Girards Entfaltung einer Strukturtheorie mimetischer Begierde. Es wurde schon gezeigt, dass vertikale Transzendenz sich nicht nur von der internen Vermittlung, sondern auch von der externen Vermittlung grundsätzlich unterscheidet. Alle Realisierungen der Dreiecksstruktur der Begierde, begonnen von der scheinbar harmlosen Verehrung des fernen Mittlers bis zu den verzweifelten Windungen des Dostojewskijschen Kellerloch-Menschen gehören dem Typus der fehlgeleiteten Transzendenz an. Damit stellen sie ausnahmslos Karikaturen der echten, vertikalen Transzendenz dar. Das bedeutet, dass sie den Realisierungsformen vertikaler Transzendenz zum Verwechseln ähneln können. Außerdem gibt es in der Realität nicht die Reinformen von vertikaler und fehlgeleiteter Transzendenz, sondern stets nur Übergänge. Beides bedingt eine durchgängige Ambivalenz in den Erscheinungsformen mimetischen Begehrens, auf die im folgenden näher einzugehen ist.

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7.2 Vermischungen zwischen den Transzendenzen

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Wie lassen sich die Äußerungen der vertikalen und der fehlgeleiteten Transzendenz unterscheiden? Der wesentliche Gegensatz der beiden Formen von Mimesis wurde oben bereits ausgeführt, – doch erfolgten diese Differenzierungen idealtypisch. Faktisch kommen nicht diese Reinformen, sondern nur Mischformen vor.

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Wenn die Intuition guter Mimesis nicht völlig falsch ist, dann muss in jedem Seienden ein Restanteil echter, vertikaler Transzendenz vorhanden sein. Die Verstellung des transzendenten Fluchtpunktes durch einen immanenten „Götzen“ kann niemals restlos erfolgen. Damit sind auch die abgründigsten Phänomene interner Vermittlung eigentlich Mischformen. Jeder Mittler – selbst der diabolisch selbstverherrlichende – enthält noch einen unverlierbaren Rest an Transparenz auf den wahren Gott hin und ist deshalb zumindest in Ansätzen auch „guter Mittler“.161.

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Auch die Erfahrung vertikaler Transzendenz hält sich nicht in ungetrübter Reinheit durch. Ein Rest an ängstlichem oder überheblichem Selbstbezug bleibt stets vorhanden. Den vollkommen „guten Mittler“, der in reiner Transparenz den Zugang zum vertikalen Mittler offenhält, ohne daraus auch nur irgendeinen Glanz auf sich selbst als Ursprung des Guten abzuleiten, gibt es faktisch nicht. Und wenn es ihn gibt – wie Jesus Christus in der glaubenden Einschätzung durch Christen – dann kann er von Menschen, die nicht dieselbe Reinheit aufweisen, in dieser Reinheit nicht begriffen sondern nur als selbstherrlich missverstanden werden.

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7.3 Ambivalenz der Transzendenz

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Die faktische Unterscheidbarkeit zwischen vertikaler und fehlgeleiteter Transzendenz wird nicht nur durch den Bestand eines Kontinuums von Mischformen erschwert, sondern darüberhinaus durch die verblüffende Strukturähnlichkeit von beiden. Girard hat das ausführlich entfaltet.

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Der wahren Liebe entgegengesetzt und dennoch streckenweise ihr zum Verwechseln ähnlich ist die „Kommunion des Hasses“162 zweier voneinander faszinierter Rivalen. Und wie bereits früher deutlich wurde,163 erweist sich das „selbstlose“ Engagement Dostojewskijs bzw. seiner Helden in den Dreiecksgeschichten erst nach genauer Prüfung als versteckte Selbstsucht. Aus einer bloßen Laune heraus versucht der Untergrundmensch, in der jungen Prostituierten Lisa menschliche Regungen zu wecken.164 Als sein immer ehrgeiziger verfolgtes Spiel Erfolg zeigt, wird es – durch die Rückwirkung ihrer authentischen Menschlichkeit – beinahe ein aufrichtiges Bemühen um das Mädchen. Dieses literarische Beispiel zeigt, dass das Wesen des Engagements für Andere streckenweise nicht nur uneindeutig erscheinen, sondern es tatsächlich sein kann. Aus dem Zusammenspiel der Akteure kann sich eine ganz andere Bedeutung herauskristallisieren als ursprünglich von jedem von ihnen intendiert wurde.165

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Als entscheidendes Merkmal einer selbstlosen Liebe, die imstande ist, den Hass der internen Vermittlung zu durchbrechen, erwies sich die Bereitschaft, begangenes Unrecht auszuhalten, ohne es weiter- oder zurückzugeben. Selbst diese Haltung des Die-andere-Backe-Hinhaltens ist pervertierbar. Dieser Gleichmut kann auch die Pose eines Anspruchs auf totale Autonomie sein, – Haltung des souveränen, selbstgenügsamen Menschen, den auch der anbrandende Hass der Andern unberührt lässt. Dostojewskijs extremste Verkörperung eines solchen lieblosen, selbstbezogenen Gleichmuts ist Stawrogin, die Hauptperson von „Böse Geister“. Dostojewskij bringt ihn in ganz ähnliche Situationen wie jene Helden, die aus einer echten Liebe heraus agieren. Wie Myschkin hält Stawrogin der Ohrfeige eines Beleidigers stand, ohne sich zu rächen.166 Und wie Sossima besteht er ein Duell, ohne auf den Gegner zu schießen.167 Aber wie gegensätzlich sind Kontext und Wirkung! Obwohl sich Stawrogin keineswegs hochmütig gebärdete – er schluckte manche Beleidigung und bot bis zuletzt mehrfach Versöhnung an – wirkt sein Verhalten auf den Gegner Gaganow wie eine bodenlose Demütigung. Und Stawrogins Duldung der Ohrfeige ist abgrundtief verschieden vom mitfühlenden Altruismus, mit dem Fürst Myschkin in „Der Idiot“ ebenso eine öffentliche Ohrfeige erträgt,168 noch weniger aus einer selbstvergessenen Einfühlung in den Anderen, wie bei Aljoscha,169 sondern ist eine äußerste Kraftprobe seines Eigenwillens.170 Dementsprechend ist die Wirkung völlig verschieden: Er gewinnt den Gegner nicht – wie es Aljoscha mit dem Knaben gelang – sondern demütigt ihn.171

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Der wahren Indifferenz des guten Mittlers steht somit die vorgetäuschte oder „kalte“ Indifferenz des internen Mittlers gegenüber, mit der dieser das Begehren der Anderen auf sich lenkt. Und je raffinierter der interne Mittler sein Begehren verschleiert, desto mehr ähnelt er dem guten Mittler und desto wirkungsvoller ist seine Verstellung. Das besagt wieder umgekehrt, dass die Indifferenz des guten Mittlers vom mimetisch Kranken als äußerste Raffinesse beargwöhnt werden und ein rivalisierendes Verhalten auslösen kann.172 Das führt weiters dazu, dass der von vertikaler Transzendenz bestimmte Mensch in einer Welt der mimetischen Vermittlung seine Reinheit nur schwer bewahren kann. Er wird durch das Missverständnis der mimetisch Verseuchten in deren Welt der internen Vermittlung hineingezogen.

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Der vorgetäuschten Indifferenz entspricht die „Askese um des Begehrens willen“173. Daraus ergibt sich eine „Ambivalenz des Priesters“174 oder des aksetischen Menschen: Während der authentische religiöse Asket durch gezielten Verzicht auf Gegenstände des Begehrens seine Erfahrung vertikaler Transzendenz zu bewahren und seine echte Indifferenz zu erhalten bzw. wiederzuerlangen sucht, betreibt der mimetisch Verstrickte eine nicht minder harte Askese im Verzicht auf den Zugriff lockender Gegenstände auf der Ebene der Erscheinung. Will er die Bewunderung der Anderen auf sich lenken, so darf er sich keinesfalls den Anschein geben, dass er selber anderes begehre und entbehre oder gar Andere beneide.

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Eine echte Indifferenz wäre dagegen seinen Interessen hinderlich. Denn die mimetische Begierde bildet ein unverzichtbares Sensorium für den Erfolg im Kampf der Rivalen um die Anerkennung. Verlässlich vermag sie den Kurswert der Begierdeobjekte innerhalb des Spiels der Eitelkeiten festzustellen. Die vollkommene Ausbildung dieses Sensoriums ist die besondere Fähigkeit des Snobs.175

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Erst in späteren Stadien der mimetischen Krankheit – wenn der Kranke die Eitelkeit und Fruchtlosigkeit seiner Ambitionen erkannte, aber weder den Mut noch die Kraft zur Bekehrung aufbrachte – schwindet auch das Interesse am eitlen Wettbewerb. Es bleibt eine maßlose Langeweile, ein Grundgefühl des Ekels und der Wunsch nach Betäubung des Begehrens in einer „luziden Abstumpfung“176. Wer dieses Stadium erreicht hat, scheint von der innerweltlichen Absolutsetzung von Mittlern frei geworden und gleicht in dieser Hinsicht der Freiheit des Christenmenschen, ja sogar Christus selber. In der romanesken Literatur hat diese Untiefen Dostojewskij ausgelotet, – vor allem mit dem Stawrogin der „Dämonen“, bei dem „ungewiss bleibt, ob er zu begehren aufgehört hat, weil die Anderen ihn begehren, oder ob die Anderen ihn begehren, weil er zu begehren aufgehört hat“177. – „Er ist als eine Verkörperung des Antichrist zu begreifen.“178 Nahe an diese Thematik des Antichristen als Double Christi kommt in der Philosophie – auf der Schwelle zur Literatur – Nietzsche. Sein Übermensch aus „Also sprach Zarathustra“, dessen Überlegenheit „auf einer zweifachen Entsagung beruh[t], der Absage an die vertikale Transzendenz und der Absage an die fehlgeleitete Transzendenz“,179 wird folgerichtig in biblischem Stil und mit biblischen Bildern entwickelt.

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So ergibt sich am Ende des Abstiegs in den mimetischen Untergrund eine zugespitzte Ambivalenz zwischen der Resignation einer äußersten Verzweiflung und einer Annahme des Todes in liebender Gelassenheit.180 Im Kontinuum zwischen den Erscheinungsformen vertikaler und fehlgeleiteter Transzendenz ähneln sich die äußersten Gegensätze am stärksten. Es gibt Situationen, in denen sich beide strukturell aufs Haar gleichen. Der Unterschied besteht in einer deutlich spürbaren aber reflex schwer einholbaren atmosphärischen Wärme des letzteren und einer Kälte, die vom ersteren ausgeht. Girard entfaltet diesen Aspekt an Paul Valérys „Monsieur Teste“: „Der Hochmut zeigt sich nicht mehr anders, als von seinen theologischen Tugenden umgeben. Madame Testes Beichtvater erkennt in diesem Zug sämtliche christlichen Tugenden – mit einer Ausnahme: der Liebe (caritas). Der Denker bietet uns ein Ideal von Quasi-Heiligkeit an, das nun dazu gemacht ist, die edelsten und stärksten Geister zu verführen.“181

199
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Die Analogie der Transzendenzerscheinungen betrifft nicht nur die Zustände, sondern auch die Übergänge zwischen ihnen. Die romaneske Literatur kennt radikale Seitenwechsel, ja sogar religiöse Bekehrungen, die sich als Scheinbekehrungen herausstellen, bei denen nicht der Götze durch Gott, sondern durch einem mit Gott verwechselten neuen Götzen ersetzt wird.182 Auch die im Kern authentische Bekehrungserfahrung – und jede Veränderung hat einen wenn auch noch so verstellten authentischen Kern – kann leicht in eine neue, sogar noch schlimmere mimetische Abhängigkeit abgleiten.183

200
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Girard vermag so die Welt der internen Vermittlung als eine quasi-religiöse Gegenwelt, als eine „verkehrte Religion“184 zu beschreiben, die sich am adäquatesten mit Metaphern und Symboliken beschreiben lassen, die dem eigentlich religiösen Bereich entlehnt sind.185 Die Rede von einer Analogie zwischen vertikaler und fehlgeleiteter Transzendenz wird von Girard vielmals wiederholt und zieht sich wie ein roter Faden durch sein Buch. Demgemäß besteht eine „strenge Analogie“ ebenso wie eine „radikale Differenz von Christentum und Begehren gemäß dem Anderen“186. Oder wie Girard in seinem Dostojewskij-Buch ausgeführt hat:

201
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„Spiritual structures themselves are doubles. All the images, metaphors, and symbols that describe them have a double meaning, and one must interpret them in opposing fashion according as the structures are oriented toward what is high, toward unity, toward God, as in Christian life, or toward what is low, as in Demons, i.e., toward the duality that leads to fragmentation and finally to the total destruction of personal being.“187
202
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Woher kommt diese Analogie? „Die fehlgeleitete Transzendenz ist eine Karikatur der vertikalen Transzendenz.“188 Die Vergötzung (seiner selbst oder von anderen) kann ihre Wirkung nur durch eine möglichst täuschende Nachbildung des vertikalen Gottesbezugs erreichen. Wenn es zum guten Mittler gehört, dass er sich nicht nur frei gewährt, sondern auch entziehen kann (im Sinne eines Loslassens), so gehört eine analoge Doppeldeutigkeit zum Wesen des selbstverherrlichenden Mittlers, der sich selber an die Stelle Gottes setzt: Er bietet sich an und entzieht sich.189 Das kann auf täuschende Weise den Eindruck der Unverfügbarkeit des sich gewährenden Guten erwecken. Doch wirkt das strukturanaloge Verhältnis von Gewährung und Entziehung völlig entgegengesetzt: Es hält fest, wo es loslassen sollte – wenn der Nachahmende im Begriffe ist, sich zu entfernen –, und es lässt los, weist ab, wo Halt, Zuwendung nötig wäre: wenn der Nachahmende seine Hand begehrend, aus Bedürfnis, Mangel ausstreckt). Damit bewirkt es nicht Freiheit, Liebe und Gemeinschaft, sondern Abhängigkeit, Hass und Spaltung.

203
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Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, entsprechen der Analogie der Transzendenz eine Analogie des Begehrens, eine Analogie des Mittlers und eine Analogie der Mimesis. Auch wenn das „gute“ Begehren, die „gute“ Transzendenz und die „gute“ Mimesis sich jeder systematisierenden Festschreibung entziehen, können deren systematisierbare, weil die Freiheit zerstörende Fehlformen nur als abkünftig von ihren „guten“ Ursprüngen recht begriffen werden. Die Begierde ist nur deshalb so anfällig für die wechselnden Mittler, weil sie an keinem innerweltlichen Gegenstand beruhigt werden kann. Sie ist „metaphysische Begierde“190, die immer auf mehr zielt als auf die Gegenstände, die sie gerade meint oder auch erreicht. Deshalb bedeutet der Erfolg der Ambitionen Misserfolg, und deshalb kann Girard im Rahmen einer innerweltlichen Perspektive (unter methodischer Ausklammerung der Dimension vertikaler Transzendenz) sagen, dass die metaphysische Begierde auf nichts zielt. Beschränkt auf eine innerweltliche Perspektive ist dies die programmierte Enttäuschung, und eine Welt, in der der Zugang zur vertikalen Transzendenz blockiert ist, wird dadurch zwangsläufig zur „Hölle der Dinge“.191 Girards mimetische Theorie bietet vor allem eine hervorragende Analyse dieser transzendenzblockierten Welt. Insofern ist sie von großem apologetischem Wert, denn sie zeigt, dass eine solche „säkularisierte“ Welt das Religiöse niemals wirklich überwinden, sondern nur in zerstörerische Fehlformen abdrängen kann.

204
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7.4 Abhängigkeit der Wirkung vom Rezipienten

205
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Würde diese Ambivalenz sich auf die beschriebenen Unterscheidungskriterien – Strukturanalogie bei gegensätzlichen Auswirkungen – beschränken, so könnte man beide Formen doch relativ einfach an ihren „Früchten“ unterscheiden. Aber es kommt komplizierend hinzu, dass für den mimetisch Verstrickten die Begegnung mit der echten Liebe des „guten Mittlers“ sich zunächst verhängnisvoll auswirken kann,192 während die fehlgeleiteten Formen als wohltuend heilsam erscheinen.193 So kann Klarheit über den wahren Geist, in einer Unterscheidung an den Früchten, oft nur längerfristig gewonnen werden.194 Damit ist eine Grenze in der mimetischen Diagnostik gegeben, die dann leicht übersehen wird, wenn man sich von literarischen Topoi (die immer auch den Charakter eines idealtypischen Konstrukts an sich tragen) realen Ereignissen und deren textlicher Dokumentation zuwendet. Hier muss mit einer Unbestimmbarkeit zwischen den beiden Formen der Transzendenz stets gerechnet werden.

206
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7.5 Überwindung eines Manichäismus

207
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Die Einsicht in die Ambivalenz und Mischgestalt der Äußerungsformen menschlichen Begehrens ist für Girard zentraler Teil der romanesken Bekehrung. Der mimetisch verstrickte Zustand ist gezeichnet durch eine scharfe Entgegensetzung zwischen dem eigenen Status und dem Status der anderen, – entweder in einer Vergöttlichung der anderen als Mittler mit dem Gefühl des eigenen ontologischen Ungenügens – „Ich bin allein, sie aber sind sie alle!“195 – oder in der Abwertung der Rivalen, wobei sich beide Einstellungen wechselseitig hervorbringen und verschärfen. Demgegenüber ist die romaneske Bekehrung dadurch gekennzeichnet, dass man mit der eigenen Durchschnittlichkeit seinen Frieden gemacht hat. Man vermag nun der Tatsache ins Auge zu schauen, dass man selber auch nicht besser ist als der verachtete Andere. Die Schwarz-Weiß-Malerei weicht einer gelasseneren Sichtweise, die imstande und bereit ist, im verteufelten Anderen den guten Kern und im hochgepriesenen Idol die verborgenen Blößen wahrzunehmen. Der zur vertikalen Transzendenz Bekehrte hat die Aufteilung der Welt in Gut und Böse hinter sich gelassen, nicht weil ihm der Unterschied zwischen beidem verlorengegangen wäre, sondern im Gegenteil, weil er ihn überhaupt erst begriffen hat. Begriffen hat der Bekehrte, dass die wahre Transzendenz innerweltlich keinen festen Ort hat, und dass deshalb alles innerweltlich Erscheinende immer erst unterwegs ist zum vollkommenen Guten, – dies im Gegensatz zur Vergötterung des Mittlers; und begriffen hat er, dass auch das Böse innerweltlich keinen festen Platz hat, weil es in seinem Wesen abkünftig vom Guten ist – eben fehlgeleitete Transzendenz – und diese Herkunft niemals vollkommen verleugnen kann. Diese Einsichten hat Girard in seinen Interpretation der romanesken Werke mitvollzogen: „There are no longer righteous and wicked characters in themselves. There is no longer but one sole human reality.“196 Am Maßstab dieser Einsichten in die Ambivalenz und faktische Mischgestalt der mimetischen Phänomene sind auch seine weiteren Theorieentwicklungen zu messen.

208
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Abkürzungen für häufig verwendete Literatur:

209
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EG: R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-MIchel Oughourlian und Guy Lefort. Freiburg i.Br.-Basel-Wien 2009.

210
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FB: R. Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Thaur-Münster-Hamburg-London 1999.

211
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HG: R. Girard, Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Einsiedeln-Zürich-Köln 1987.

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Anmerkungen

213
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214
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1Diese dynamische Unbestimmtheit des Menschen soll hier zunächst als anthropologische Basis für eine mimetische Theorie nur konstatiert werden. Sie findet Rückhalt in zentralen Bestimmungen philosophischer Anthropologien: in Nietzsches Rede vom Menschen als dem nicht festgelegten Tier, in der Exzentrizität als Grundbestimmung des Menschen nach Plessner, in Gehlens Begriff des Menschen als Mängelwesen. (Vgl. dazu W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen 1983, 25-150.) Eine theologische Anthropologie wird an dieser Stelle die fundamentale Ausgerichtetheit des Menschen auf das göttliche Geheimnis ins Spiel bringen. Augustins berühmtes Wort von der Seele, die unruhig ist, bis sie in Gott ruht, fasst das Gemeinte treffend zusammen.

215
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2Scarletts Verliebtheit ist mimetisch stimuliert durch eine Rivalität mit Melanie Hamilton, deren Verlobung mit Ashley eben bekannt gegeben wurde. Genauer geht es aber eher darum, dass der ruhige, gleichmütige Ashley der einzige junge Mann der Umgebung ist, der sich nicht der verwöhnten und eitlen Scarlett zu Füßen liegt.

216
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3Solche Reaktionsweisen sind möglich und spielen in Girards Interpretation bestimmter Formen von Homosexualität eine Rolle. Vgl. René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Freiburg i.Br.-Basel-Wien 2009, (im Folgenden kurz: EG) 390-393.

217
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4Dieser Ausgangspunkt ist hier im weitesten, noch ganz unspezifischen Sinn gemeint. Objekt kann ein Gegenstand sein oder ein immaterieller Wert – zum Beispiel Anerkennung oder Ehre – oder ein anderer Mensch – z.B. für einen Mann eine Frau, als Freundin oder Ehefrau. Wegen dieser weiten, auch auf Personen ausgedehnten Bedeutung werde ich das Wort Objekt öfters unter Anführungszeichen setzen.

218
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5Den konkreten Phänomenen mimetischen Begehrens entspricht besser ein unspezifischer Plural: Das Begehren wird bestimmt durch das Begehren anderer Subjekte. Damit ist aber eine Struktur angesetzt, die auf eine elementare Dreieckstruktur, mit dem Bezug auf ein zweites begehrendes Subjekt, zurückgeführt werden kann.

219
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6Vgl. EG 31-34. Abkürzungsverzeichnis am Ende des Textes.

220
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7Damit wird das Konfliktpotenzial aber letztlich nur verschoben. Die Menschen streben nach Einmaligkeit, die sie durch Besitz und Konsumverhalten zu demonstrieren suchen. Gegenstand der Begierde ist nicht nur das, was auch die anderen haben, sondern mehr noch zu haben, was die anderen nicht haben können. Durch künstliche Verknappung (limitierte Sonderauflagen von Sammlerstücken, exklusive Sondermodelle, Modeartikel, deren unverhältnismäßiger Preis als Selektionskriterium in Kauf genommen wird) reagiert der Markt darauf. Der durchschnittliche Zuwachs des Wohlstandes stellt die Menschen nicht zufrieden, da Wohlstand relativ zu ärmeren Schichten wahrgenommen wird. Vgl. dazu P. Dumouchel - J.-P. Dupuy, Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie (BMT 9). Thaur; Münster-Hamburg-London 1999.

221
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8Es mag entwürdigend erscheinen, dass Girards Theorie Menschen als Objekte qualifiziert, und dagegen genügt es nicht, auf die bloß technische Begriffsverwendung hinzuweisen. Allerdings ist die Beschreibung von Menschen als Objekten hier präzise, weil die Dreieckstruktur der Begierde das Ziel des Begehrens tatsächlich herabwürdigt und entwertet.

222
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9Vgl. FB 323.

223
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10Diese Ersetzbarkeit ist ein deutliches Indiz dafür, dass eine Person, die Begierdeziel ist, hier zum Objekt degradiert wird.

224
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11Dieses Zusammenspiel von Orientierung am Anderen und Opposition zum Anderen ist analog zu der von Gregory Bateson erschlossenen berühmten double-bind Struktur. Vgl. dazu R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Einsiedeln-Zürich-Köln 1987 (im Folgenden kurz: HG) 217f und EG 346-349.

225
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12Vgl. EG 52

226
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13An dieser Stelle steht der Übergang zu dem von Girard so bezeichneten Sündenbockmechanismus unmittelbar bevor. In Girards Werkgenese markiert er aber eine spätere Phase – mit „Das Heilige und die Gewalt“ – der in seinem literaturorientierten Frühwerk, auf welches sich der vorliegende Text weitgehend beschränkt, noch nicht vorkommt.

227
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14Zur positiven Mimesis bei Girard vgl. unten, Kap. 6.

228
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15Don Quijote bezeichnet gegenüber Sancho Pansa ausdrücklich das (auf Aristoteles' Poetik zurückgehende) poetische Prinzip, dass die Romanautoren ihre Helden „nicht malen oder darstellen wie sie waren, sondern wie sie sein sollten, um den zukünftigen Menschen ein Musterbild ihrer Tugenden vorzuhalten“ (vgl. das Zitat aus Don Quijote in FB 11).

229
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16Gelänge es Don Quijote, bestimmte Aspekte von Amadis' Rittervorbild zu verwirklichen, dann würden dadurch nur neue, noch höhere Idealvorstellungen in den Blick kommen.

230
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17Die Anerkennung der Uneinholbarkeit des Ideals – als das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, um es mit Anselms Gottesbegriff zu sagen – erweist sich in Girards mimetischer Perspektive als Voraussetzung für eine wesentlich nichtkonfliktive Religion.

231
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18Das trifft auf den Bakkalaureus Simson Carrasco zu, sowie auf Altidisidora, die Dienerin der Herzogin. Beide geben sich als Figuren von Don Quijotes Wahnwelt aus, um ihn von innen heraus daraus zu vertreiben. Unversehens werden sie in die Begehrensdynamik hineingezogen. Vgl. FB 105.

232
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19Vgl. FB 17.

233
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20Vgl. Stendhal, Rot und Schwarz. Eine Chronik des 19. Jahrhunderts. Zürich 1981.

234
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21Emma Bovary war eine kleinbügerliche Frau, Julien Sorel ein Mann mit der Möglichkeit einer geistlichen Karriere.

235
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22„Es geschah, was auch sonst überall geschieht: die schlichte, bescheidene Güte verlässt man, um dem glänzenden Schein nachzulaufen,“ – so resümiert Julien im Gefängnisturm. Vgl. Stendhal, Rot und Schwarz, s. Anm. 19, 20, 680.

236
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23Ebd. 638.

237
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24Ebd. 642.

238
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25Vgl. ebd. 663f.

239
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26„Sein moralisches Unbehagen in Mathildes Gegenwart war um so ausgesprochener, als er ihr gerade jetzt die ungewöhnlichste, wildeste Leidenschaft einflößte. Sie sprach immer nur von den außerordentlichen Opfern, die sie zu seiner Rettung bringen wollte... So vieler Hingabe fühlte sich Julien wenig würdig; er war im Grunde des Heldenmutes müde. Für schlichte, natürliche und etwas zaghafte Zärtlichkeit wäre er empfänglich gewesen, aber Mathildes hochmütige Seele brauchte immer die Vorstellung eines Publikum, sie brauchte die anderen.“ (Rot und Schwarz, ebd. 659).

240
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27Ebd. 707.

241
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28Ebd. 690.

242
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29Vgl. außer FB auch: René Girard, Introduction. In: Proust: A Collection of Critical Essays. Edited by R. Girard. Westport 1977 (reprint of 1962), 1-12.

243
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30Vgl. FB 32-36, 75-85, 212-221, 226-232.

244
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31Vgl. bes. FB 226 zur Anziehungskraft der mondänen Pariser Vorstadt und seiner exklusiven Salons: „Seit hundert Jahren existiert der Faubourg nicht mehr. Und dennoch lebt er, löst er doch die allerheftigsten Begehren aus. Wo beginnt der Faubourg, wo endet er? Wir wissen es nicht. Aber der Snob weiß es: er zögert nie. Es ist, als verfüge der Snob über einen sechsten Sinn, der den gesellschaftlichen Wert eines Salons präzis zu messen vermag.“

245
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32Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. Von E. Rechel-Mertens, 3 Bde. (mit durchgängiger Paginierung) Frankfurt a. Main 1976.

246
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33Vgl. FB 98.

247
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34Als er meint, sich von Odette endlich gelöst zu haben, stellt Swann fest: „Wenn ich denke, dass ich mir Jahre meines Lebens verdorben habe, dass ich sterben wollte, dass ich meine größte Leidenschaft erlebt habe, alles wegen einer Frau, die mir nicht gefiel, die nicht mein Genre war!“.

248
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35Vgl. dazu FB 215-217, sowie Girard, Introduction (s. Anm. 29) 4f.

249
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36In Swanns Welt – Im Schatten junger Mädchenblüte – Die Welt der Guermantes – Sodom und Gomorra – Die Gefangene – Die Entflohene – Die wiedergefundene Zeit.

250
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37Vgl. Girard, Introduction (s. Anm. 29) 7-11.

251
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38Vgl. Proust (s. Anm. 32) 63-67

252
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39Vgl. ebd. 41f.

253
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40Vgl. ebd. 187-194, sowie 3700f.

254
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41Vgl. FB 241, sowie zu Prousts Vergleich des dichterischen Werks mit einem Vergrößerungsglas, Mikroskop oder Teleskop: Proust, ebd. 4175, 4185

255
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42Vgl. dazu FB 39f.

256
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43Vgl. FB 241-244, sowie Girard, Introduction (s. Anm. 29) 1-3.

257
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44Vgl. Proust (s. Anm. 32) 172.

258
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45Vgl. Proust, ebd. 123-134. Zur Faszination von Guermantes auf Marcel vgl. ebd. 218-237.

259
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46Vgl. ebd. 101f.

260
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47Vgl. Proust, Suche 104-110. Sie ist die Halbweltdame Odette (vgl. ebd. 4115), die für Swann ein Irrlicht mimetischer Begierde darstellen wird; mit dieser Thematik wird Proust im zweiten Romankapitel die Welt der internen Vermittlung betreten.

261
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48Vgl. Proust, ebd. 212-220

262
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49Proust, ebd. 190.

263
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50Girard bezeichnete Dostojewskij als „the greatest modern revealer of that [mediated] desire“ (R. Girard, To double business bound: Essays on Literature, Mimesis, and Anthropology. Baltimore 1978, 77.)

264
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51Die Thematik der Dreiecksbeziehung ist leitend in den Erzählungen „Die Wirtin“, „Ein schwaches Herz“ und „Helle Nächte“ (vgl. Girard, ebd. 36f), sowie in den Romanen „Erniedrigte und Beleidigte“ (mit zwei ineinander verschlungenen Dreiecksgeschichten, vgl. ebd. 43-45), sowie „Der ewige Gatte“ (vgl. ebd. 47-52).

265
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52Zum Folgenden vgl. R. Girard, Resurrection from the Underground: Feodor Dostoevsky. Translated and Foreword by J. G. Williams. New York 1997, 38-42.

266
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53Vgl. Girard, Resurrection, ebd. 37 mit ebd. 38.

267
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54Am schonungslosesten ist das ausgeführt in Dostojewskijs Roman „Der ewige Gatte...“, Vgl. dazu Girard, Resurrection, ebd. 47-52, sowie FB 52-59.

268
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55Vgl. Girard, Resurrection, ebd. 21.

269
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56Zu Dostojewskijs Minderwertigkeitskomplexen vgl. ebd. 118.

270
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57Vgl. z.B. in der Begegnung mit der ihn liebenden Lisa: „Ich wollte sie fort haben. Ich wünschte ‚Ruhe‘, ich wünschte das Alleinsein im Kellerloch. Das ungewohnte ‚lebendige Leben‘ erdrückte mich dermaßen, daß mir sogar das Atmen schwerfiel.“ (Fjodor Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Übersetzung von Swetlana Geier, Stuttgart 1984, 140, Hervorh. W.S.).

271
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58Vgl. die beiden Schlusskapitel von Dostojewskij, Schuld und Sühne.

272
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59Mit dieser epochalen Begrenzung wird FB von Gebauer/Wulf als „wesentlicher Beitrag zur Geschichte der Mimesis im 19. Jahrhundert“ gewertet (Gunter Gebauer - Christoph Wulf, Mimesis: Kultur - Kunst - Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg 1992, 334 Anm.1). Girard hat diese begrenzte Rezeption seiner mimetischen Theorie – besonders im Hinblick auf die Rezeption durch Lucien Goldmann – als ein bedauerliches Missverständnis bezeichnet. Vgl. Girard, To double business bound (s. Anm. 50) viii.

273
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60Vgl. den französischen Originaltitel: „Mensonge romantique et verité romanesque“.

274
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61Dies wird vollständig deutlich in HG, wo Girard eine konfliktträchtige mimetische Vermittlung als hermeneutisches Prinzip auch für vormoderne Literaturen annimmt – griechische Tragödien, sowie Mythen von vorstaatlichen Gesellschaften – und die konfliktuelle Mimesis schließlich ausdrücklich als eine anthropologische Grundbestimmung festlegt.

275
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62So zu Stendhal in FB 28f.

276
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63FB 109.

277
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64Statt dem hauslehrer hätte der Gegenstand der Rivalität auch etwas beliebiges anderes sein können, etwa schöne Pferde. Vgl. Stendhal, Rot und Schwarz (s. Anm. 19, 20) 22.

278
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65Auf höchst beklemmende Weise hat Heinrich Kleist diesen Verlust der Anmut in seiner Abhandlung „Über das Marionettentheater“ dargestellt: Der Verlust des selbstverständlichen Ruhens-in-sich-selbst und die mimetische Ausgesetztheit gegenüber den Begehrensartikutationen anderer fallen faktisch zusammen.

279
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66Vgl. vor allem das abschließende 12. Kapitel von FB.

280
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67Girard generalisiert sogar: „Jeder romaneske Schluss ist Bekehrung“ (FB 301). Allerdings kann diese „Bekehrung“ sich auf die Perspektive des Erzählers beschränken, der am Schluss keinen Zweifel mehr daran lässt, dass er sich von den Ambitionen des Helden distanziert, – auch und gerade, wenn der Held unerlöst bleibt, wie Emma Bovary bei Flaubert.

281
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68Zur Unterscheidung der romanesken und mimetischen Einsicht zu soziologischen Theorien vgl. FB 224-236.

282
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69Vgl. Flaubert: „Ein Romancier hat nach meiner Auffassung nicht das Recht, seine Meinung über die Dinge der Welt zu sagen.“ (Flaubert an Amélie Bosquet, 20. August 1866), zitiert nach Michel 449.

283
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70Vgl. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (s. Anm. 57).

284
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71Vgl. FB 256: „Wie immer wächst die Verblendung mit der 'Luzidität'. Die Opfer des metaphysischen Begehrens sind von einem immer rascheren Wirbel erfasst, dessen Kreise immer enger werden.“ – „Man tritt, so scheint es, in die gefährliche Helle der Wahrheit ein. Zwar vermag sich der Kellerloch-Mensch vor dieser Helle nicht zu schützen, aber er versteht es, ihren Glanz zu verschleiern“ (FB 273f).

285
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72Sobald das begehrende Subjekt die Rolle der Nachahmung im eignen Begehren erfasst, muss es entweder sein Begehren oder seinen Hochmut ablegen. ... Was ansteht, ist die Wahl zwischen Hochmut und Begehren, denn das Begehren verwandelt uns in Knechte“ (FB 279).

286
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73FB 240. Vgl. auch FB 227: „Der Romancier, der das trianguläre Begehren freilegt, kann kein Snob sein, aber er muss ein Snob gewesen sein. Es ist unabdingbar, dass er begehrt hat und dass er nicht mehr begehrt.“ Die Bedeutung einer eigenen Bekehrungsgeschichte für das dichterische Werk ist gewiss am augenfälligsten bei Dostojewskij. Zumindest bei ihm dürften persönliche, aufrichtige Selbstdistanzierung von den eigenen leidenschaftlichen Verstrickungen und dichterische Kraft der Beschreibung, die gerade bei den extremsten Thematiken zugleich ein gewisses Maß an Distanz dazu voraussetzt, sich gegenseitig befruchtet haben.

287
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74Vgl. René Girard, Nachwort zu: Paul Dumouchel – Jean-Pierre Dupuy, Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie (BMT 9). Thaur; Münster-Hamburg-London 1999, 309f.

288
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75Vgl. René Girard, The Girard Reader. Edited by James G. Williams. New York 1996, 283-288, sowie: René Girard, Wenn all das beginnt ... Ein Gespräch mit Michel Treguer (BMT 5). Thaur-Wien-München/ Münster 1997.

289
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76Girard, Reader ebd. 283.

290
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77Vgl. den ganzen Interviewband „Wenn all das beginnt“.

291
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78FB 303

292
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79Dass diese Furcht nicht grundlos ist, zeigt sich daran, dass die bestehenden Romanschlüsse romanesker Autoren tatsächlich mit solchen Vorwürfen konfrontiert wurden. Vgl. dazu FB 298f, 317.

293
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80So wie Girard die Grenzen der romanesken Inspiration bei seinen Autoren nicht in oberlehrerhafter Besserwisserei ausmachte, sondern im vergleichenden Blick auf verschiedene Autoren sowie verschiedene Stadien derselben Autoren, so bezieht auch diese Kritik ihre Kriterien aus dem Blick mit dem Kritisierten auf die ausgewiesenen Quellen seiner Erkenntnis. Natürlich trifft die hier behauptete lebensgeschichtlich mitbedingte Begrenztheit der Einsicht in die „romaneske Wahrheit“ auch – in vierter Ebene der Reflexion – die hier vorgelegten Ausführungen. Auch wenn die höhere Reflexionsstufe ein Mehr an Überblick erlaubt, ist mit einer auch berechtigten Kritik an übersehenen Aspekten keineswegs garantiert, dass das die Einsicht des Kritisierten bereits insgesamt eingeholt ist. Einen solchen Anspruch stellt auch Girard nicht im Hinblick auf die „unerschöpflichen Werke“ (so Girard über Dostojewskijs Dämonen in FB 281) der romanesken Autoren. Und einen solchen Anspruch stelle auch ich nicht gegenüber dem Werk René Girards.

294
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81RU 137f

295
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82Vgl. FB 315-317.

296
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83FB 317.

297
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84Vgl. FB 61-90.

298
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85Das dem Buch vorangestellte Motto – ein Zitat von Max Scheler – bestätigt diese Akzentuierung: „... der Mensch glaubt entweder an Gott, oder er glaubt an einen Götzen. Kein Drittes!“

299
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86„Die Lüge macht der Wahrheit Platz, die Angst der Erinnerung, die Rastlosigkeit der Ruhe, der Hass der Liebe, die Demütigung der Demut, das Begehren gemäß dem Andern dem Begehren gemäß dem Selbst, die fehlgeleitete Transzendenz der vertikalen Transzendenz“ FB 301.

300
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87So zweifelt in Stendhals „Rot und Schwarz“ Julien Sorel zuletzt immer noch am Gott der Gerechtigkeit. Vgl. Stendhal, Rot und Schwarz (s. Anm. 19, 20) 700-702.

301
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88Vgl. oben, Kap. 3.2.

302
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89Vgl. Dostojewskijs Roman „Der Spieler“ und dazu Girards Interpretation in ders., Resurrection 74f.

303
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90Diese Diskrepanz zwischen dem Bild, das sich die Anderen von einem machen – „Was hast du denn, du musst doch glücklich sein, wo du alles erreicht hast?“ und der Erfahrung eigener Leere verschärft die Krise noch.

304
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91In gemäßigter Form sind solche Erfahrungen heute als „Midlife-Crisis“ verbreitet. Ab einem gewissen Punkt hat der erfolgreiche Mittelklassebürger zwar nicht den absoluten Gipfel erreicht, aber er konnte alles verwirklichen, was sich innerhalb seines Horizonts realistisch verwirklichen ließ.

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92Vgl. oben, Kap. 2.3.

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93Vgl. FB 179.

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94Vgl. FB 98.

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95Vgl. FB 40f.

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96Vgl. dazu FB 298f.

310
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97FB 240

311
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98V.a. Dmitrij Karamasow, sowie Raskolnikow in „Schuld und Sühne“, vgl. FB 298, weiters Stepan Trofimowitsch in den Dämonen, Staretz Sossima in den Brüdern Karamasoff

312
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99Vgl. Girards Ausführungen zu Dostojewskijs Kirillow in den „Dämonen“: FB 282f; zum Suizid in Dostojewskijs Romanen auch: FB 286.

313
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100Im Alter von 28 Jahren machte Dostojewskij die grausame Erfahrung einer Scheinexekution. Außerdem brachten ihn seine epileptischen Anfälle immer wieder in äußerste Grenzsituationen, die er mit Erfahrungen unmittelbar vor dem Tod in Zusammenhang brachte.

314
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101Vgl. oben, Kap. 2.3, weiters FB 299.

315
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102vgl. FB

316
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103Dieser Formulierung Marcel Prousts misst Girard eine hohe Bedeutung zu. Vgl. FB 308f.

317
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104Vgl. FB 312f.

318
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105Es geht nicht an, die Opferbereitschaft von Mathilde und jene von Louise einander einfach als überspannte und aus echter Liebe entsprungene gegenüberzustellen. Äußerlich zeigen beide Anzeichen einer extremen Übersteigerung. Es ist das Glück von Louise, dass ihr Opfer angenommen wird, welches dasselbe in eine gesündere Richtung wachsen lässt.

319
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106Stendhal, Rot und Schwarz 690

320
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107Siehe vorige Anm.

321
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108F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff. Aus dem Russischen von E.K. Rahsin. München-Zürich 61999.

322
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109Dostojewski, Die Brüder Karamasoff (s. Anm. 108) 231f.

323
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110Damit sind die bestimmenden Formen von Rang und Anstand nun völlig gesprengt. Über den Abgrund der Rangverschiedenheit beginnen Liebe und religiöse Einsicht zu wirken.

324
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111Vielleicht war dieses Zögern mit der Bitte um Entschuldigung der letzte Tribut, den er der mimetischen Logik geleistet hat.

325
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112Vgl. die Wachstumsgleichnisse zum Gottesreich in den Evangelien. „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn ...“ (Mt 13,31).

326
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113 Insbesondere müsste ein Beispiel die Bedeutung der Erfahrung des Kunstschönen belegen. Dies wäre etwa möglich an Myschkins Betroffenheit von einem Gemälde Holbeins („Der tote Christus im Grabe“) – eine Schlüsselszene aus Dostojewskijs Roman „Der Idiot“, der auf seine persönliche Erschütterung angesichts dieses Bildes zurückgeht. Vgl. F. Dostojewskij, Der Idiot. Aus dem Russischen neu übersetzt von Swetlana Geier. Zürich 1996, 315f (Kapitel II/4).

327
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114FB 30f.

328
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115„Das ästhetische Empfinden ist nicht Verlangen, sondern Aufhören allen Begehrens, Rückkehr zu Ruhe und innerer Freude. Diese privilegierten Momente befinden sich – wie die Stendhalsche 'Leidenschaft' – bereits außerhalb der Romanwelt. Sie bereiten die Wiedergefundene Zeit vor, deren Ankündigung sie in gewisser Weise sind“ (FB 42).

329
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116Vgl. den Schlusssatz von Franz Werfels, „Eine blassblaue Frauenschrift“: „Während er unter der drückenden Kuppel dieses stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.“ (Werfel, Frauenschrift 151).

330
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117Ebd. 64.

331
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118Ohne Ernst versucht der Untergrundmensch der neben ihm liegenden, trotz ihrer Jugendlichkeit schon abgestumpften Prostituierten menschliche Regungen zu entlocken. Der Erfolg überrascht ihn selber: „Doch ich hatte schon alles begriffen: in ihrer Stimme zitterte bereits etwas anderes, nicht das Schroffe, Rauhe und Unansprechbare wie vorher, sondern etwas Weiches und Verschämtes, dermaßen Verschämtes, daß ich mich plötzlich selbst vor ihr schämte und mich vor ihr schuldig fühlte.“ (Dostojewskij, ebd. 109). Zu seinem und Lisas Unglück hält der Untergrundmensch dieser „Versuchung“ stand.

332
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119Der in der ästhetischen Erfahrung enthaltene ethische Anspruch ist eine Schlüsseleinsicht von Hans Urs von Balthasars Theologischer Ästhetik. Er bringt diese auf den poetischen Punkt mit dem Schluss von Rilkes „Archaischem Torso“: „... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Vgl. H. U. v. Balthasar, Theodramatik. Band II: Die Personen des Spiels. Teil 1: Der Mensch in Gott. Einsiedeln 1976, 22.

333
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120Girard stellt zur Veränderung der literarischen Offenbarungsperspektive von Dante über Dostojewskij zu Proust fest: „The metaphysical significance is lost first, then the ethical; to Proust, finally, the revelation is primarily aesthetic but it remains as irrational as ever“ (Girard, Introduction 12).

334
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121Von daher verbleibt die romaneske Bekehrung in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ambivalent. Es bleibt fraglich, ob er die Menschen, denen Marcel begegnete und durch die er litt, bei allem schlechten Gewissen und Mitleid nicht doch als Material für das Werden seines dichterischen Werks missbrauchte. Vgl. Proust, Suche 3994f, sowie ebd. 3998f: „... dass selbst die Wesen, die dem Schriftsteller die teuersten gewesen sind, ihm schließlich nur wie einem Maler Modell gestanden haben“. Eine analoge Ambivalenz in Prousts Werk hat auch Girard festgestellt, und zwar auf der Ebene von Prousts „Symbolik der vertikalen Transzendenz“. Girard verweist auf Prousts Thematisierung des Auferstehungsmotivs beim Begräbnis des gefeierten Dichters Bergotte. „Er wurde begraben, aber während der ganzen Trauernacht wachten in den beleuchteten Schaufenstern seine jeweils zu dreien angeordneten Bücher wie Engel mit entfalteten Flügeln und schienen ein Symbol der Auferstehung dessen, der nicht mehr war“ (Proust, Suche 3010; vgl. FB 320). Auch die Hoffnung der Auferstehung, für Girard der Höhepunkt des romanesken Schlusses, verbleibt bei Proust im Literarischen: der Künstler bleibt tot; die Auferstehung beschränkt sich auf sein Werk.

335
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122Vgl. Sartre, Die Wörter 110f.

336
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123Vgl. Proust, Suche 4004-4006.

337
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124„[E]in Buch ist ein großer Friedhof, in dessen Bezirken man auf den meisten Gräbern die verwischten Namen nicht mehr entziffern kann.“ (Proust, Suche 3996).

338
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125Vgl. den Schluss der Romane „Schuld und Sühne“ und „Die Brüder Karamasoff“.

339
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126So Raskolnikoff in „Schuld und Sühne“ und Dmitrij in „Die Brüder Karamasoff“, die beide im Bewusstsein einer liebenden Frau zuversichtlich den Weg ins Straflager antreten

340
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127Vgl. das Sterben des Stepan Trofimowitsch im vorletzten Kapitel der „Dämonen“.

341
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128Vgl. die Schlussszene der Brüder Karamasoff.

342
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129Vgl. FB 318, wo Girard feststellt, „dass die christliche Symbolik universal ist, denn sie allein vermag der romanesken Erfahrung Gestalt zu geben“.

343
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130Zur für Stendhal zentralen Unterscheidung dieser beiden Begriffe vgl. FB 27-31.

344
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131Dies im Gegensatz zum Diener des Ich-Erzählers in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ (vgl. Anm. 57, 124-131), – unmittelbar vor dessen Scheitern in einer Situation romanesker Herausforderung.

345
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132Vgl. in diesem Sinn auch Röm 12,19-21 „Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn (Gottes); denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr. 20 Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. 21 Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“

346
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133Er steckt ihr, die sich ihm aus barmherziger Liebe hingegeben hat, einen Geldschein zu. Vgl. Dostojewskij, Kellerloch (s. Anm. 57) 141.

347
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134So die Großmut, die Karina Iwanowna gegenüber Gruschenka spüren lässt, bis diese es schamlos ausnützt. Vgl. Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff (s. Anm. 108) 115-117.

348
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135wie Aljoscha gegenüber dem „Bastwisch“. Vgl. Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff (s. Anm. 108) 329-343 (Buch IV, Kap. 7), und die weitere Entwicklung der Handlung v.a. im Schlusskapitel des Buchs.

349
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136vgl. den Schluss von Dostojewskijs Erzählung „Der Traum eines lächerlichen Menschen“: „... Und seitdem verkündige ich nun! Ich füge hinzu: ich liebe alle, die über mich lachen, mehr als alle übrigen“ (F. Dostojewskij, Der Traum eines lächerlichen Menschen und andere Erzählungen. Frankfurt 1986, 353); vgl. auch die Anfangssätze dieser Erzählung. Dass Demütigung und Hohn anderer Menschen nur aus Gnade, nicht aus stolzer Willenskraft ertragen werden kann, macht Dostojewskij an Stawrogin in „Böse Geister“ deutlich. Ihn warnt der Geistliche Tichon: „‚Sie stehen vor einem fast unüberschreitbaren Abgrund.‘ – „Weil ich es nicht aushalten werde? Weil ich ihren Haß nicht mit Demut ertragen werde?‘ – ‚Nicht nur den Haß‘ – ‚Was denn noch?‘ – ‚Ihren Hohn‘, flüsterte Tichon mühsam und gleichsam wider Willen“ (F. Dostojewskij, Böse Geister. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich 1998, 594.

350
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137So vermag Sossima nach dem Duell Schmähungen mit Leichtigkeit zu ertragen. Vgl. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff (s. Anm. 108) 488.

351
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138Vgl. Dostojewskij, Brüder Karamasoff 235-244. Dazu auch W. Sandler, "Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen". Gratwanderungen zwischen dem liebenden und dem zornigen Gott im Licht einer Erzählung von Dostojewskij. In: W. Sandler / N. Wandinger (Hg.), Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (theologische trends 11). Thaur 2002, 47-84, im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/264.html

352
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139„In seinem Herzen erhebt sich eine noch nie empfundene Rührung, so dass er weinen, für alle etwas tun möchte, damit das Kindelchen nicht mehr weine, auch die schwarze, verhärmte Mutter des Kindelchens nicht mehr trauere, damit von diesem Augenblick an niemand mehr eine Träne vergieße, und er fühlt, dass er sofort, unverzüglich etwas tun will, ohne Aufschub oder Verzug, ohne Rücksicht oder Bedenken, mit der ganzen Karamasoffschen zügellosen Leidenschaft“ (ebd. 384f).

353
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140„Sein Herz brennt auf und strebt zu etwas Lichtem, Hellem, und leben will er, leben, auf dem Wege zu dem neuen, winkenden Licht will er gehen, nur schnell, schnell, jetzt gleich, sofort!“ (Ebd.) – Ein ähnliches Motiv der Begegnung mit einem hilfebedürftigen Kind bildet die entscheidende Klammer in Dostojewskijs Erzählung „Traum eines lächerlichen Menschen“. Vgl. Dostojewskij, Traum 333 und 355.

354
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141Vgl. Balthasar ...

355
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142Vgl. den Schluss von FB, sowie den Schluss von Dostojewskij, Brüder Karamasoff.

356
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143Dem Konzept der geplanten Fortsetzungsromane nach sollte Alexej noch in tiefe Abgründe gestoßen werden, bevor er einen reifen Frieden finden würde. Vgl. Natalie Reber, Dostojewskij's "Brüder Karamasow" : Einführung und Kommentar. München 1990, 98f.

357
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144vgl. René Girard, To double business bound. Essays on Literature, Mimesis and Anthropology. Baltimore 1978, 89.

358
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145In FB hat Girard zu dieser Frage nicht direkt Stellung bezogen (außer FB 68 im Blick auf Dostojewskij: „Die Welt der Besessenen ist das Gegenbild der christlichen Welt. An die Stelle der positiven Vermittlung des Heiligen tritt die negative Vermittlung von Angst und Hass“). In EG spricht Girard von einer „Transzendenz der Liebe“ (EG 224f) und von einer „gewaltlosen Nachahmung“ (EG 491).

359
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146Vor allem Levinas hat die zentrale Bedeutung des Mitleids in Dostojewskijs Werk wahrgenommen und sich davon leiten lassen. Die Kraft des Mitleids ist für Dostojewskij so groß, dass sie sogar den mimetisch verstrickten Menschen erfassen und zur Bekehrung führen kann. Vgl. z.B. in „Verbrechen und Strafe“ Sonjas „unstillbares Mitleid“ mit ihrer gewalttätigen und unterdrückerischen Stiefmutter, in Anwesenheit von Raskolnikow, dessen Umkehr sie später zu bewirken vermag (F. Dostojewskij, Verbrechen und Strafe. Neu übersetzt von Swetlana Geier. Zürich 82000, 429). Darauf hat sich Levinas bezogen in: E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg i. Brsg. 1992, 220.

360
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147Stendhal bezeichnet diesen Zustand immerhin als Leidenschaft, im Gegensatz zur Eitelkeit, – und etwas davon in gelassener, aber gleichwohl starker Zuneigung bricht ja auch in Julien Sorel gegenüber Louise de Renal auf, aber es vermag weder seine Lebensmüdigkeit noch – nach seinem Tod – diejenige von Madame de Renal zu besiegen. Zeitweise spürbar ist es allerdings bei Louises rückhaltloser Selbsthingabe. Vgl. dazu oben, Kap. 2.3.

361
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148 Levinas spricht von einem „Begehren des Unendlichen, das vom Begehrenswerten nicht befriedigt, sondern statt dessen geweckt wird“ und das sich auf das Antlitz des Anderen in einer nicht vereinnahmenden, sondern rückhaltlos gebenden Weise als Güte bezieht. Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg i. Brsg. 1987, 63.

362
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149FB 66.

363
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150Wie die untersuchten literarischen Beispiele belegen, schließt das die Möglichkeit, diese Erfahrung anzunehmen oder sie abzuwürgen nicht aus. Aber diese Stellungnahme erfolgt nicht mehr gegenüber etwas Fremdem, sondern gegenüber einer Haltung, die schon ein Stück weit zum Eigenen geworden ist, – womit deren Ablehnung immer auch Selbstablehnung ist.

364
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151Vgl. Bastwisch

365
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152Vgl. FB 66.

366
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153Vgl. FB 279f.

367
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154 Vgl. Kirillows Gnadenerfahrung an einem Herbstblatt in „Verbrechen und Strafe“ (s. Anm. 146) 311-315: „‚Hm ... ich zürne jetzt nicht mehr. Wußte damals noch nicht, daß ich glücklich bin. Haben Sie ein Blatt gesehen? Ein Laubblatt?‘ – ‚habe ich‘ – ‚Ich sah vor kurzem ein gelbes, ganz wenig Grün, schon vermoderte Ränder. Flog im Wind. Als ich zehn war, machte ich im Winter absichtlich die Augen zu, um mir ein Blatt vorzustellen, ein grünes, frisches, mit feinen Adern und Sonnenglanz. Ich machte die Augen auf und traute ihnen nicht, weil es so schön gewesen war, und machte sie wieder zu.‘ – ‚Was ist das, eine Allegorie?‘ – ‚N-nein ... Wieso? Keine Allegorie, ein Blatt, ein einzelnes Blatt. Ein Blatt ist gut. Alles gut.‘ – ‚Alles?‘ – ‚Alles. ...‘“ Vgl. dazu: Henri de Lubac, Über Gott hinaus. Tragödie des atheistischen Humanismus. Einsiedeln 1984, 248f.

368
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155Vgl. dazu Mt 5,44f.

369
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156 Externe Vermittlung darf nicht mit positiver Mimesis verwechselt werden. Das wird am deutlichsten in: René Girard, Battling to the End. Conversations with Benoît Chantre. East Lansing 2010. Vgl. zur dortigen Unterscheidung von positiver Mimesis und externer Vermittlung: Willibald Sandler, Apokalypse und geistlicher Kampf. René Girards „Clausewitz zu Ende denken" im Blick auf eine dramatische Theologie und Spiritualität, demnächst in: http://theol.uibk.ac.at/itl/876.html; v.a. die Kapitel 1.2 und 3.4.

370
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157S.o. Kap. 2.4. Es gibt hier allerdings auch eine Ahnung echter, vertikaler Transzendenz, symbolisiert in der Kirche Combrays als eigentliche Mitte des kindlich behüteten Familienlebens (vgl. Proust, Auf der Suche [s. Anm. ] 82-93; aber der Abfall davon ist bereits allenthalben deutlich.

371
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158FB 12, Anm. 2 (=FB 322).

372
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159Die unverzichtbare Bedeutung der romanesken Romanschlüsse von Cervantes bis Dostojewskij (vgl. FB 297-322), die Zusammenhänge zwischen interpersonalen und gesellschaftlichen Dimensionen (etwa bei Proust zwischen den individuellen Liebesgeschichten und den gesellschaftlichen Beziehungsspielen zwischen den Salons); die Erklärungskraft im Hinblick auf extrem und seltsam anmutende Phänomene in der Literatur wie etwa jene des Untergrundmenschen oder des Doppelgängers bei Dostojewskij u.v.a.

373
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160 „... der Mensch glaubt entweder an Gott, oder er glaubt an einen Götzen. Kein Drittes!" Max Scheler.

374
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161„Die wahre Natur des Begehrens durchschauen heißt, den Mittler in seiner Doppelrolle, mithin als dämonisch und heilig, zu durchschauen“ (FB 89). Als pervertierte Formen der ursprünglichen vertikalen Transzendenz behalten die Äußerungen fehlgeleiteter Transzendenz schon in sich einen unauslöschlichen Verweis auf ihren Ursprung; sie bleiben damit sekundär und können das Ursprüngliche nicht völlig verdrängen.

375
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162FB 218.

376
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163Siehe oben, Kap. 2.5.

377
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164Vgl. oben, Kap. 5.6.

378
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165Dieser Umstand, dass bei komplexen Interaktionen Bedeutung und Ziel der Handlung sich wandeln können, ist wichtig für eine dramatische Soteriologie. Vgl. W. Sandler, Was ist dramatische Theologie? In: P. Tschuggnall (Hg.), Religion - Literatur - Künste. Aspekte eines Vergleichs. Anif/Salzburg 1998, 41-57; vgl. im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/156.html

379
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166Vgl. Dostojewskij, Idiot 153 mit Dostojewskij, Dämonen 267-271.

380
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167Vgl. Dostojewskij, Dämonen 372-383 mit Dostojewskij, Brüder Karamasoff 230-234, sowie oben, Kap. 5.4.

381
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168„‚Willst du mir denn ewig in die Quere kommen!‘ brüllte Ganja, ließ Warjas Hand los, holte aus und versetzte auf dem Gipfel seiner Raserei mit der freigewordenen Hand dem Fürsten eine Ohrfeige. — ‚Ach!‘ Kolja schlug entsetzt die Hände zusammen. ‚Ach, mein Gott!‘ — Stimmen erhoben sich von allen Seiten. Der Fürst erbleichte. Mit einem seltsamen und vorwurfsvollen Blick sah er Ganja gerade in die Augen; seine Lippen zitterten und bemühten sich vergeblich, etwas auszusprechen; sie verzogen sich zu einem seltsamen und völlig unpassenden Lächeln. ‚Nein, dann lieber mich ... Aber sie ... das lasse ich nicht zu! ...‘, sagte er endlich leise; aber plötzlich hielt er es nicht länger aus, ließ Ganja stehen, schlug die Hände vor das Gesicht, trat in eine Ecke, stellte sich mit dem Gesicht zur Wand und sprach mit stockender Stimme: ‚Oh, wie werden Sie sich Ihrer Tat schämen!‘“ Dostojewskij, Der Idiot (s. Anm. 113) 170.

382
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169Vgl. seine Reaktion auf den ungerechten und schmerzhaften Fingerbiss des Knaben Iljuschetschka! Dostojewskij, Brüder Karamasoff 137f.

383
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170Vgl. Dostojewskij, Dämonen 270: „Ich glaube, dass, wenn es einen Menschen gäbe, der zum Beispiel eine rotglühende Eisenstange packen und fest mit der Hand umklammern würde, mit der Absicht die eigene Charakterfestigkeit zu prüfen, und dann zehn Sekunden lang gegen den unerträglichen Schmerz kämpfen und ihn schließlich überwinden würde – dass dieser Mensch, glaube ich, etwas Ähnliches aushalten würde, was in diesen zehn Sekunden Nikolaj Wsewolodowitsch ausgestanden hat.“

384
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171“Schatow war der erste, der die Augen niederschlug, offenbar, weil er sie niederschlagen mußte. Darauf drehte er sich langsam um und ging zur Tür, aber seine Haltung war nun völlig anders als vorhin beim Näherkommen. Jetzt ging er alngsam, die Schultern besonders linkisch hochgezogen, mit hängendem Kopf und wie in ein Selbstgespräch versunken. Ich glaube, er flüsterte etwas vor sich hin. Bis zur Tür trat er behutsam auf, ohne irgendwo hängenzubleiben und ohne etwas umzustoßen, die Tür stieß er nur einen Spalt breit auf, so daß er sich seitwärts fast hindurchzwängen mußte. Dabei fiel der widerspenstige Haarwirbel am Hinterkopf besonders auf.“ (Ebd.)

385
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172Vgl. in Dostojewskijs „Der Idiot“ der Zweifel, ob Myschkin so naiv oder überaus raffiniert ist. Dazu: FB 172.

386
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173Vgl. FB 161-163

387
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174„Tiefste Heuchelei unterscheidet sich von Tugend nur durch ihre vergifteten Früchte. Der Kontrast zwischen dem guten und dem schlechten Priester ist total, aber subtil“ (FB 165).

388
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175Wem die mimetische Begierde und damit das Gespür für das Schickliche, Schicke, „Coole“ oder „Hippe“ abgeht, der wird gerne als naiv verlacht. Das Musterbeispiel einer solchen Figur bei Dostojewskij ist Fürst Myschkin, der „Idiot“ im gleichnamigen Roman.

389
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176FB 297f.

390
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177FB 170

391
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178FB 67; vgl. ebd. 68-70.

392
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179FB 280

393
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180Zur Annahme des Todes: Vgl. Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg i.Br.-Basel-Wien 1976, 288-292, 301f, 310f.

394
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181FB 281.

395
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182Vgl. die Wechsel zur Gegenpartei von Monsier de Renal in Stendhals „Rot und Schwarz“ (vgl. FB 139f) und von Madame Verdurin in Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (vgl. FB 211f). Religiöse Scheinbekehrungen begleiten mehrfach die Abstiegsgeschichte von Flauberts Madame Bovary.

396
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183Dieses Thema, das die Evangelienperikope von der Rückkehr des unreinen Geistes (Lk 11,24-26) auf den Punkt bringt, hat Dostojewskij immer wieder beschäftigt. Bekehrung ist für ihn stets ein riskanter Prozess, der die Gefahr eines Scheiterns mit einem Rückfall in schlimmere Verzweiflung und Hochmütigkeit mit sich trägt. Besonders deutlich ist das in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, wo das Verhältnis des Icherzählers zu Lisa über weite Strecken zwischen Wahrhaftigkeit und Zynismus schwankt, bis es ihn in eine noch tiefere Verzweiflung zurückstößt.

397
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184FB 165

398
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185Ähnliches wurde für den Bereich der Wirtschaft und des Managements unternommen in: Grote... Clever as Serpents...

399
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186FB 67. Die Analogie der Transzendenzen wird von Girard auch ausdrücklich thematisiert in FB 70, 163-165, 248, 280f und 284.

400
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187Girard, Resurrection 89.

401
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188FB 69.

402
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189Dies ist die zentrale Double-bind-Struktur: Ahme mich nach und „ahme mich nicht nach“. Vgl. dazu Girard, EG 346-349.

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190Vgl. FB 63f.

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191Vgl. Dumouchel/Dupuy, Die Hölle der Dinge (s. Anm. 7).

405
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192Das zeigt Dostojewskij an der Figur des Fürst Myschkin im Roman „Der Idiot“. „Er bietet den übrigen Figuren nie die Stütze seiner Eitelkeit an, und in seiner Umgebung stolpern alle unaufhörlich. ... In der Dostojewskijschen Welt ist der Triumph des Bösen derart vollkommen, dass die Demut eines Myschkin, sein bewundernswertes Bemühen, die Existenz seines Nächsten durch die Liebe zu verklären, dieselben giftigen Früchte trägt wie die grausame Gefühlskälte des Hochmuts“ (FB 171f).

406
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193Dieser Intuition entsprechen die Regeln zur Unterscheidung der Geister des Ignatius von Loyola. Vgl. ders., Geistliche Übungen, Freiburg i. Br. 61983, Nr. 314f.

407
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194So brauchte Julien Sorel Jahre, bis er das authentische Priestertum des Abbé Pirard unterscheiden lernte (vgl. FB 165). Und der verblendete Geist des asketischen Paters Ferapont in den „Brüdern Karamasoff“ äußert sich erst in der extremen Situation nach dem Tode des Starzen. Vgl. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow (s. Anm. 108) 538-542.

408
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195So der verzweifelte Ausruf von Dostojewskijs Kellerloch-Mensch. Vgl. FB 65. In der Übersetzung Swetlana Geiers heißt es: „Ich bin Einer, und sie sind Alle“ (Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch [s. Anm. 57] 50)

409
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196Girard, Resurrection 138; vgl. FB 147-154, 195, 277.

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