Brandkatastrophen trafen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa viele Städte, Märkte und Dörfer nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach. Noch im 19. Jahrhundert wurden immer wieder einzelne Häusergruppen auf dem Land und in der Stadt, größere urbane Bereiche und nicht selten auch nahezu ganze Siedlungen beachtlicher Größe ein Raub der Flammen. So existiert in Tirol wohl kein einziger größerer geschlossener Ort, der im Lauf seiner Geschichte nicht zumindest einmal fast ganz oder zu einem großen Teil abbrannte.
Der Brand von Imst im Mai 1822 zählt zu jenen Geschehnissen, die in der Stadthistoriografie relativ breite Rezeption fanden. Da es sich dabei um ein Ereignis von außergewöhnlicher Dimension handelte – laut dem Imster Kreishauptmann Johann Ebner (1790–1876) blieben von den insgesamt 220 Häusern des damaligen Marktes nur 14 unbeschädigt – verwundert dies nicht. Bei intensiver Auseinandersetzung mit den Quellen – seien sie schriftlicher oder vor allem baulicher Natur – überraschen jedoch die Schlüsse, die für die Situation der Imster Bausubstanz gezogen wurden und werden. So sei von den „alten, beschaulichen Häusern […] fast gar nichts übriggeblieben“ und nach dem Brand seien ausschließlich „schnell aus dem Boden gestampfte, nüchterne Zweckbauten“ errichtet worden. So oder so ähnlich lautet die gängige Meinung in der aktuellen heimatkundlichen Literatur hinsichtlich der baulichen Folgen des Großen Brandes von 1822.
Dass dieses Urteil nicht zutrifft, zeigt sich dem Kundigen aber bereits nach einem aufmerksamen Spaziergang durch die Straßen und Gassen der Stadt – und das selbst heute noch, nachdem Jahrzehnte intensiver Bautätigkeit bereits viel historische Bausubstanz für immer zerstört haben. Das laufende Dissertationsprojekt versteht sich somit unter anderem als ein Versuch, auf Grundlage einer systematischen und umfassenden Auseinandersetzung mit den Quellen die baulichen Folgen der Katastrophe neu zu bewerten. Umfassende, bisher nur sehr rudimentär oder gar nicht ausgewertete Aktenbestände stellen die schriftliche Grundlage der Analyse dar. Eine weitere und zugleich die anschaulichste Quelle bilden die im Kontext der Studie relevanten historischen Bauten in den beiden Siedlungskernen der Ober- und der Unterstadt von Imst, die trotz der massiven Zerstörungen der letzten Jahrzehnte immer noch in einer erheblichen Anzahl vorhanden sind. Bei bereits abgegangenen Objekten besteht in der Regel immerhin noch die Möglichkeit über historisches Bild- oder Planmaterial Aussagen zu treffen und auf die baugeschichtlichen Beobachtungen von Adalbert Klaar oder Martin Bitschnau zurückzugreifen. Die Arbeit ist insofern interdisziplinär, als der Wiederaufbau nicht nur unter Berücksichtigung von Forschungsfragen und Methoden der Geschichtswissenschaft, sondern auch nach Kriterien der historischen hausforschung und Bauforschung untersucht wird. Durch die Verschränkung von schriftlichen, baulichen, ikonographischen, kartographischen und planzeichnerischen Quellen ergeben sich neue Einsichten, die den bisherigen Blick auf die Ereignisse des Jahres 1822 grundlegend verändern.
Erste Ergebnisse – ein Ausschnitt
Die intensive Auseinandersetzung mit der Thematik hat die bereits vor Beginn der Bearbeitung gewonnene Überzeugung, dass viel spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Bausubstanz das Unglück überstand, bestätigt. So lassen sich dutzende von Wohnhäusern ausmachen, die mit ihren vielfach gewölbten Fluren über zwei Geschosse (Erd- und Obergeschoss) weitgehend erhalten blieben. Klar gezeigt hat sich zudem, dass das Streben nach möglichst rascher Wiederherstellung des Ortes mit jenem nach baulicher Qualität grundsätzlich einherging. Von einem Wiederaufbau, der oft übereilt und mit ungeeigneten Materialien vonstattengegangen sei, wie dies der Imster Heimatforscher Alois Rupert Plattner 1954 in Bezug auf die Wohnbauten behauptete, kann im Allgemeinen also nicht die Rede sein.
Von wesentlicher Bedeutung für das Forschungsprojekt war die Frage, ob für den Wiederaufbau auf damals etablierte Bau- und Konstruktionsweisen zurückgegriffen wurde oder ob man bewusst innovative Wege beschritt. Für beide Tendenzen lassen sich Beispiele finden. So bediente man sich in Imst an mehreren Gebäuden des Bohlendachs, das damals in Tirol eine völlig neue Konstruktionsweise darstellte und besondere handwerkliche Kenntnisse erforderte. Im 16. Jahrhundert in Frankreich entstanden, dann wieder in Vergessenheit geraten und schließlich im späten 18. Jahrhundert in Paris wieder aufgegriffen, handelt es sich dabei um ein bogenförmiges Dachwerk, bei dem sich die Sparren im Unterschied zu anderen historischen Dachkonstruktionen nicht aus langen Vollhölzern, sondern aus vergleichsweise kurzen und krummen zusammengenagelten Brettern oder Bohlen zusammensetzen.
Der für den gesamten deutschsprachigen Raum und damit auch für Imst entscheidende Impuls ging jedoch nicht von Frankreich, sondern von Berlin aus. Auf Vorarbeiten anderer aufbauend, war es der deutsche Architekt und Baureformer David Gilly (1745–1808), der sich mit der neuen Bauweise intensiv auseinandersetzte, sie stetig zu optimieren versuchte und ihr durch zahlreiche Publikationen große öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte. Durch ihn wurde 1797 auch der Begriff „Bohlendach“ in die Fachliteratur eingeführt. Es ist anzunehmen, dass der möglicherweise aus Preußen stammende Imster Kreisingenieur Raimund Besser bereits während seines Studiums mit der schon zur Zeit ihrer Hauptverbreitung um 1800 nicht unumstrittenen Bauweise in Berührung kam und – ebenso wie später Kreishauptmann Ebner – großes Gefallen an ihr fand. Bevor er diese Dachform in Imst einführte, war sie schon an der 1820/21 bis auf den Turm neu entstandenen Pfarrkirche von Oberleutasch, für deren Bauplan er mitverantwortlich gezeichnet hatte, verwirklicht worden. Ein imposantes Beispiel für ein solches Bohlendach bietet in Imst das ehemalige Verwaltungsgebäude der Österreichischen Bundesforste in der Schustergasse. Mit einer dendrochronologisch in die Zeit um 1580 datierenden Deckenkonstruktion – im konkreten Fall handelt es sich um eine Bretter-Balken-Decke – ist es überdies ein Beleg dafür, dass beim Großen Brand nicht sämtliche hölzernen Bauteile zugrunde gingen.
Entgegen auf Veränderung abzielender Tendenzen, wie sie vor allem auf Seite staatlicher Instanzen zu erkennen sind, konnte sich beim Wiederaufbau in vielen Bereichen jedoch eine konservative Sichtweise durchsetzen. So etwa blieben Häuser erhalten, wo sie nach Meinung so manches Beamten zugunsten eines störungsfreien Verkehrs besser beseitigt worden wären. Als Beispiel kann hier das im Kern spätgotische ehemalige haus Kramergasse 10 angeführt werden, vor dem sich bis zu seinem weitgehenden Abbruch in den 1950er-Jahren eine markante Engstelle befand. Auch hölzerne Scheunen wurden an Stellen wiedererrichtet, wo sie von obrigkeitlicher Seite – nicht zu Unrecht – als Risikofaktor im Fall eines erneuten Brands eingestuft wurden. Hier kann als Beispiel wiederum die Kramergasse erwähnt werden, deren (vom sogenannten Würtenberger-haus betrachtet) linken Bereich noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine Reihe von Städeln säumte.
Gesinnungswandel intendiert
Die Beschäftigung mit dem Brand von 1822, der bis heute stark im kollektiven Gedächtnis eines Teils der Imster Bevölkerung verankert ist, ist die Auseinandersetzung mit einem Schlüsselkapitel der Geschichte der Stadt. Die in den Köpfen der Menschen existierenden Vorstellungen sind dabei in der Regel stark von etablierten Vorurteilen und Fehlmeinungen geleitet. „Bei Ihrem letzten Besuch haben Sie auch den sogenannten Alten Widum [das heutige „Fåsnåchtshaus“] besichtigt, eines der ganz wenigen Gebäude in Imst, die historischen Wert haben.“ So schreibt der Imster Bürgermeister Josef Koch (1904–1993) im Juni 1951 an das damalige Landesdenkmalamt in Innsbruck, das zu diesem Zeitpunkt von Oswald Trapp (1899–1988) geführt wurde. Aussagen wie diese sind noch heute symptomatisch für die vorherrschende Denkweise in Imst und veranschaulichen in aller Kürze die Misere, vor der fast alle Bemühungen um den Erhalt historischer Bausubstanz in der Stadt stehen. Es ist unter anderem diese Geisteshaltung, die dazu geführt hat, dass seit den 1950er-Jahren ohne Rücksicht auf Verluste abgerissen wurde und der Neubau Priorität hatte. Die Aussage von Bürgermeister Koch und häufig auch der sorglose Umgang mit dem baulichen kulturellen Erbe sind ohne den Hintergrund jener Ansichten, die in der Bevölkerung über die baulichen Folgen des Großbrandes von 1822 verbreitet sind, nicht zu verstehen. Dementsprechend stellt der Verweis auf dieses Ereignis oft ein entscheidendes Argument dar, um einen bevorstehenden Abriss zu rechtfertigen.
Erhaltungsrichtlinien für schützenswerte Bereiche gewachsener baulicher Strukturen, wie sie das Bundesdenkmalamt vorschlägt und für die auch ich eintrete, wurden von der Stadtführung bisher mit dem Argument, nicht in das Eigentumsrecht Privater eingreifen zu wollen, abgelehnt. Es ist das sich hier an einem konkreten Beispiel zeigende große Dilemma der österreichischen Denkmalschutzbehörde, dass sie aufgrund der derzeit für Unterschutzstellungen geltenden (viel zu strengen) Kriterien, die nur einen Bruchteil der existierenden historischen Bauten als denkmalwürdig einstufen, in den allermeisten Fällen selbst nicht tätig werden, sondern lediglich Empfehlungen aussprechen kann. Wenn allerdings, wie in Imst, Initiativen des Bundesdenkmalamts oder privater Akteure auf kommunaler Ebene abgelehnt werden, sind angesichts einer boomenden Bauwirtschaft dramatische Verluste die logische Konsequenz. Dass die Tiroler Gemeinden durch das Stadt- und Ortsbildschutzgesetz (SOG) von 2003 ausdrücklich zur Förderung der dort artikulierten Ziele verpflichtet wären, zu denen ganz wesentlich die Erhaltung und Pflege charakteristischer baulicher Strukturen zählt, gibt der Situation einen besonders bitteren Beigeschmack.
Eine vorrangige Absicht der Studie liegt somit auch darin, in möglichst weiten Teilen der Imster Bevölkerung ein Bewusstsein für die noch immer umfangreiche Existenz von Bausubstanz, die vor die Zeit des Brandes von 1822 zurückreicht, zu schaffen bzw. zu schärfen und zugleich für den historischen und kulturellen Wert von Bauten oder Bauteilen zu sensibilisieren, die nach dem Unglück errichtet wurden und mehr sind als bloße „Zweckbauten“.
(Stefan Handle)
Zur Person
Stefan Handle ( historicalimst@gmail.com, Link) ist freier Historiker und Bauhistoriker. Er ist Doktorand am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Als bauhistorischer Gutachter war er bisher für diverse öffentliche Stellen tätig, unter anderem für die Abteilung für Tirol des Bundesdenkmalamts. Er war Universitätsassistent und Projektmitarbeiter am Institut für Archäologien der Universität Innsbruck, Fachbereich Mittelalter- und Neuzeitarchäologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Diözesanarchivs Innsbruck sowie Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck und an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Er legte zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur seiner Heimatstadt Imst vor, deren bauliches kulturelles Erbe ihm besonders am Herzen liegt.