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Niewiadomski Jozef: "Das Ganze ahnen"
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"Das Ganze ahnen"
(Predigt zum Aschermittwoch 2011, gehalten in der Jesuitenkirche am 9. März 2011 um 19.00 Uhr)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2011-03-14

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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„I haeve a dream" – Ich habe einen Traum . . . : – Die Kirchen des Landes zum Bersten voll ... Durchschnitttsalter zwischen 20 und 39. – Die Seminare und Ordenshäuser leiden an Platzmangel: die Zahl der Eintrittswilligen übersteigt die Kapazität, bei weitem. – Keine Pfarre muss sich den Pfarrer mit einer anderen teilen; Pfarrer und Kapläne bewohnen die bestrenovierten Pfarrhäuser; die Zölibatären und die Verheirateten reichen sich die Hände; Frauen und Männer, warum auch nicht. – Landesweit fallen die Menschen auf die Knie; morgens, mittags und abends schallt „Der Engel des Herrn" zum Himmel empor. Jeden Freitag bleiben die Metzgergeschäfte geschlossen, der Fastenzeit schon ganz zu schweigen. – Und dann die Liturgie – „Mein Gott". Das Burgtheater erblasst vor Neid bei so viel Schönheit und gepflegter Dramaturgie. Lateinische Hochämter hier, Eucharistiefern mit denkbar größter Beteiligung aller Gläubigen, Messen, die weniger hierarchielastig sind, da und Familiengottesdienste mit Herden von Kindern dort, Kinderscharen, die den bestgefüllten Kinderspielplatz in den Schatten stellen. Überflüssig zu erwähnen, dass auch die eucharistische Frömmigkeit gedeiht, und auch das Bußsakrament. Die Schlangen vor den Beichtstühlen weisen auf die Qualität des Angebots hin. Und dann die Wunder: Kaum ein Gottesdienst, ohne dass ein paar Kranke geheilt und auch ein paar Dämonen ausgetrieben werden. Mit einem Wort: Die kirchliche Welt funktioniert wie eine Schweizer Uhr aus den guten alten Zeiten. Und dann der Schock. Den von der lebendigen Kirchlichkeit faszinierten hierarchiefreudigen und basisorientierten Kirchenfreaks bleibt der Mund offen von Staunen und Schreck: „Ich kenne euch nicht. Fort aus meinen Augen. Nein . . . Nein! Nicht deswegen, weil eure Priester sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben und eure Bischöfe zu oft die Hosen voll haben. Auch nicht deswegen, weil ihr nichts so fürchtet wie einen Skandal. Ihr habt das Ganze aus den Augen verloren, selbst und gerade dann, wenn ihr betet und reformiert und Kirchenkritik übt. ‚Nicht jeder, der da sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich eingehen‘, und dies ganz gleich, ob er basisdemokratisch denkt oder hierarchieorientiert betet". Und da wachte ich auf. Der simple Traum von der kirchlichen Welt wurde mir zum Alptraum. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, da ich erkannte, dass die Kirche ihren Daseinsgrund verlieren würde, wenn sie die Welt zur Kirche verwandelt. Wir würden endgültig in ekklesialem Narzissmus ersticken, sofern wir noch nicht erstickt sind, und wir würden Gott draußen vor der Tür lassen. Eine verkirchlichte Welt braucht ja Gott nicht, sie hätte ja die Kirche!

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Einer solchen Logik waren schon die biblischen Sadduzäer verpflichtet, die Tempelaristokratie,

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die die Auferweckung der Toten leugnete. Auf den Tempeldienst fixiert, kultorientiert, sich mit der Pracht des Tempels zufriedengebend, bloß also in der Gegenwart lebend, hatten sie keine Sehnsucht nach der Begegnung mit Gott – irgendwann. Der bestfunktionierende Kirchenbetrieb ist noch lange kein Beweis dafür, dass Gott sich exklusiv an diesen Betrieb gebunden hat. Zum einen gibt es den Kult auch in anderen Religionen. Zum anderen – dem biblischen Zeugnis gemäß können selbst die Dämonen Wunder wirken. Schlussendlich aber, Christus selber hat die Perspektive des Ganzen ausgeweitet: Nicht der kirchliche Betrieb steht da im Zentrum, sondern die gerechtigkeit, die Solidarität, die Ängste und Hoffnung der Menschen, der Menschen vor der Tür. Wie gesagt: Eine verkirchlichte Welt würde Gott nicht brauchen, sie hätte ja die Kirche.

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Liebe Schwestern und Brüder!

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„Wenn alle je vier Äpfel hätten,
wenn alle gesund und stark wären wie ein Roß,
wenn alle gleich wehrlos wären in der Liebe,
wenn jeder dasselbe hätte,
dann brauchte keiner den anderen"

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dichtete in einem Gedicht mit dem Titel ‚gerechtigkeit‘ der polnische Priesterdichter Jan Twardowski, und er fährt fort:

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„Ich danke dir,
dass deine gerechtigkeit Ungleichheit ist,
was ich habe und was ich nicht habe,
sogar wofür es keine Abnehmer gibt,
all das kann doch jemand nötig sein,
es gibt die Nacht, damit es den Tag gibt,
es ist dunkel, damit die Sterne leuchten,
es gibt die letzte Begegnung und die erste Trennung,
wie beten, weil andere nicht beten,
wir glauben, weil andere nicht glauben,
wir sterben für die, die nicht sterben wollen,
wir lieben, weil anderen das Herz erkaltet ist,
ein Brief nähert, weil ein anderer entfernt ...
ungleiche brauchen einander,
sie verstehen am besten, dass alle auf alle angewiesen sind
und ahnen das Ganze"

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Es ist ein Irrtum, liebe Schwestern und Brüder, zu glauben, eine säkularisierte Welt brauche die Kirche nicht und sie brauche Gott nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht besteht die Tragödie unserer Zeit darin, dass wir als Kirche krampfhaft der Welt signalisieren: die Kirche sei der Welt gleich. Ihre Maßstäbe sollen mit denen der Welt identisch werden. Doch die Gleichen brauchen einander nicht.

Das was wir haben – unserer ach so schwachen Glauben und unsere ach zerbrechlichen Hoffnungen, das, wofür es auf den ersten Blick keine Abnehmer in unserer Welt gibt, all das kann doch jemand nötig sein. Wenn wir „das Ganze" ahnen, dann wissen wir, dass wir gerade deswegen beten, weil andere nicht beten, dass wir vielleicht auch deswegen glauben dürfen, weil andere nicht glauben können. Wenn wir das Ganze ahnen, dann werden wird nicht verzagen, nur weil unsere Kirche nicht zum Bersten voll sind und sich unsere Öffentlichkeit wenig aus dem Glauben und der religiösen Hoffnung macht.

Ungleiche brauchen einander! Als Katholiken stehen wir niemals isoliert vor Gott, wir sind immer in eine Gemeinschaft eingebunden, wir dürfen immer darauf vertrauen, dass das, was wir haben und was wir nicht haben, das, wofür es keine Abnehmer gibt, jemand nötig ist in den Augen Gottes. Wenn wir das Ganze ahnen, dann werden wir nicht nur jammern und klagen, nicht nur Reformpläne schmieden und Frustrationen pflegen, dass diese Reformpläne nicht umgesetzt werden oder scheitern. Vor allem werden wir uns der defätistischen Urteile enthalten: Es sei doch die letzte Chance – für wen? Für die Kirche, für Gott, für die Pflege des kirchlichen Narzissmus?

Wir wollen den Beginn der Fastenzeit dieses Jahr auch als Anlass zur Umkehr in unserem Denken nutzen. Wir wollen unser Denken umkehren und zu begreifen versuchen, dass gerade die entkirchlichte Welt und die säkularen Menschen uns brauchen. Ungleiche brauchen ja einander. Sie brauchen uns, aber nicht als Missionare, nicht als Menschen, die schon immer besser wissen, was dieser Welt zum Heile dient. Nein, sie brauchen uns, die wir glauben, weil sie nicht glauben. Sie brauchen uns, die wir beten, weil sie nicht beten können. Wenn unserer Haupt mit Asche bestreut wird, beten wir, dass uns die Gnade zuteil wird, das Ganze ahnen zu können, damit wir auch sterben können, sterben für alle, die nicht sterben wollen.

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