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Schwager Raymund: Brauchen wir einen Sündenbock?
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Brauchen wir einen Sündenbock?
(Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften)

Autor:Schwager Raymund
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Buch: 2. Aufl. Thaur; Wien; München: Kulturverlag 1994 (vergriffen)
Datum:2002-11-19

Inhalt

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Über dieses Buch

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Terror und Kriminalität, Krieg und Rüstungswettlauf weisen auf die bedrängende Problematik der Gewalt in der modernen Gesellschaft hin. Trotz zahlreicher Bemühungen sind die Wissenschaften dieser vitalen Frage gegenüber noch ziemlich hilflos. Auch der Theologie fehlt das Instrumentarium, um sich dieser Frage zuzuwenden. Die aufsehenerregende neue Theorie René Girards über den Ursprung und die Rolle der Gewalt im gesellschaftlichen Leben hat diese Situation geändert. Sie ermöglicht eine ganz neue Interpretation der biblischen Schriften im Hinblick auf das Thema der Gewalt.

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In den Schriften des Alten und Neuen Testaments spielen die menschliche Gewalt und der rächende Zorn Gottes eine eminente Rolle. Sowohl die Exegese wie die systematische Theologie sind diesem Thema aber sorgfältig aus dem Weg gegangen. Man übersah jedoch dabei, daß die Erlösung nur auf dem Hintergrund der Sünde zu verstehen ist, von der sie befreit. Die Gewalt und die Lüge sind die konkrete Gestalt dieser Sünde. Jesus hat sich dieser Sünde gestellt und uns von ihr erlöst. Er trug die Sünden der Welt, indem er zuließ, daß alles Böse auf ihn als Sündenbock übertragen wurde.

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Raymund Schwager, Professor für Dogmatische Theologie an der Universität Innsbruck, hat das Problem der Gewalt in der Bibel spannend und lebendig dargestellt.

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Vorwort zur 1. Auflage

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Das vorliegende Werk ist im tieferen Sinne eine Gemeinschaftsarbeit. Wie der Leser gleich bemerken wird, verdanke ich die entscheidende Inspiration René Girard, einem französischen Literaturkritiker, der zur Zeit an der Universität Baltimore (USA) unterrichtet. Die Anregungen, die ich durch seine Bücher empfangen habe, konnte ich zudem durch lange Gespräche weiter klären und entfalten. Girard stimmt mit der hier vorgelegten Anwendung seiner Theorie auf die biblischen Texte nicht in allen Punkten überein. Gerade dies dürfte ein Zeichen der inneren Weite seiner Analysen sein.

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Weitere Anregungen habe ich von Professor Dr. Norbert Lohfink, Frankfurt, empfangen. In ausführlichen Gesprächen wurde eine erste Fassung des zweiten Kapitels kritisiert, und in einem gemeinsamen Seminar wurden die Voraussetzungen für den vorliegenden Text geschaffen. Kritische Bemerkungen verdanke ich ferner Professor DDr. Rudolf Pesch, Frankfurt, zum neutestamentlichen Teil, Professor DDr. Walter Kern, Innsbruck, zum Verhältnis Girard-Hegel, und Professor Dr. Peter Knauer, Frankfurt, zum gesamten Text.

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Zürich, im Januar 1978 Raymund Schwager

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Vorwort zur 3. Auflage

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Seit der Ausarbeitung dieser Studie hat sich die Weltlage stark verändert. Beim ersten Erscheinen und auch noch in den 80er Jahren hörte ich oft die Kritik, René Girard, auf den ich mich hier wesentlich stütze, überschätze das Phänomen der Gewalt. Die Welt wäre viel friedlicher, wenn es nur die Kommunisten nicht gäbe. Sie seien vor allem an den weltweiten Spannungen schuld. Dem gegenüber ergab sich für mich von den biblischen Texten und der Girardschen Deutung her schon 1979 die These, daß jede »objekti-

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ve Überlegung« von der Einsicht auszugehen hat, »daß die Menschen in allen Ländern grundsätzlich gleich gut oder gleich schlecht sind«. Die Polarisierung auf den ›bösen‹ Osten habe auch für den Westen ein stabilisierendes Element. Große Probleme würden zu erwarten sein, wenn dieser Gegensatz einmal wegfallen werde: »Gegenwärtig stehen die Supermächte gleichsam in einem Zustand der Hypnose einander gegenüber. Wie für einen Schlafwandler, der nachts über Dächer turnt, wird auch für sie der kritischste Augenblick beim Erwachen sein.« (1) Diese schon vor mehr als zehn Jahren vermutete kritische Situation ist inzwischen zu einem schönen Teil eingetreten. Deshalb haben sich auch viele politische Urteile seither im Sinne Girards verändert. So stellte etwa Theo Sommer in »Die Zeit« fest: »Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wanken nun auch die Fundamente der Demokratie.« (2) Noch deutlicher wird U. Beck: »In allen bisherigen Demokratien gibt es zwei Arten von Autorität: Die eine geht vom Volke, die andere geht vom Feinde aus. Feindbilder integrieren. Feindbilder ermächtigen. Feindbilder haben höchste Konfliktpriorität. Sie erlauben es, alle anderen gesellschaftlichen Gegensätze zu überspielen, zusammenzuzwingen. Feindbilder stellen sozusagen eine alternative Energiequelle für den mit der Entfaltung der Moderne knapp werdenden Rohstoff Konsens dar.« (3)

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Gemäß der Theorie Girards sind vor allem ›Übergänge‹ in großen und kleinen Gruppen oder Gesellschaften besonders gefährlich, weil dabei jene Strukturen in Bewegung geraten, die in ›normalen‹ Zeiten die Konflikte niederhalten. In den traditionellen vorstaatlichen Gesellschaften wurden deshalb diese Phasen mit vielen Riten (»Übergangsriten«) begleitet, die den kritischen Zeitpunkt zu ›dehnen‹ und die neuen Strukturen auch religiös-emotional zu verankern hatten. (4) Andere Gesellschaften bedurften in Übergangszeiten analoger ›Riten‹. Aus dieser Sicht erwies sich die westliche Politik beim Zusammenbruch des kommunistischen Blockes als kurzsichtig, weil sie in der Euphorie der Umwälzung kaum ein Gespür zeigte für die drohenden kommenden Konflikte in den ›befreiten‹ Ländern und weil deshalb die internationale Welt die gefährlichen Übergänge nicht durch längerdauernde politische und diplomatische ›Riten‹ zu ›dehnen‹ und besser abzusichern suchte. Besonders gefährliche Situationen waren in jenen neu-

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en Ländern zu befürchten, wo keine atomaren Waffen lagern, die in der Krise ein Minimum an festen Strukturen aufrecht erhalten können (Randstaaten der ehemaligen UdSSR, Jugoslawien).

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H. M. Enzensberger macht durch sein Essay »Aussichten auf den Bürgerkrieg« (5) sehr deutlich, wie drängend heute in allen Erdteilen die Gewaltproblematik ist. Er sieht - wohl mit Recht - im »Bürgerkrieg nicht nur eine alte Gewohnheit, sondern die Primärform aller kollektiven Konflikte« (6), und er meint: »Zwischen Nächsten- und Fremdenhaß existiert ein unaufgeklärter Zusammenhang« (7). Was Enzensberger noch für unaufgeklärt hält, hat Girard aber schon vor zwei Jahrzehnten zu deuten versucht.

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Bezüglich zahlreicher innerbiblischer Fragen (Zorn Gottes, Gericht, Einheit von Altem und Neuem Testament, Gewaltproblematik und Erlösungslehre, Opfer etc.) ist in der vorliegenden Arbeit noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ich habe sowohl theologiegeschichtlich (8), wie biblisch inzwischen weitergearbeitet.(9) Die biblische Problematik wird in »Jesus im Heilsdrama« (10) differenzierter behandelt, obwohl die grundsätzliche Sicht die gleiche geblieben ist. Bei einer nuancierten und sehr abwägenden Darstellung drohen aber - wegen der Vielfalt der Detailfragen - jene Grundlinien, die für die Deutung größerer Zusammenhänge und für die Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen wichtig sind, aus dem Auge zu geraten. Deshalb scheint mir die weniger differenzierte, dafür aber deutlicher hervortretende Sicht ihre Bedeutung zu behalten. Zur Kritik von theologischer Seite möchte ich hier nur bemerken, daß in der vorliegenden Studie der Begriff »Sündenbock« nicht im Sinne des biblischen Ritus, bei dem der Hohepriester die Sünden des Volkes bewußt auf den Kopf eines Bockes geladen hat, gebraucht wird, sondern im modernen Sinn, gemäß dem Menschen unbewältigte Probleme zum großen Teil unbewußt auf ›Opfer‹ abladen. Girard

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führt diesen Bedeutungswandel auf die langfristige kulturelle Wirksamkeit des Neuen Testaments zurück.

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Die internationale theologische Rezeption von Girard hat im letzten Jahrzehnt stark zugenommen. Sie führte bereits zu Hunderten von Artikeln und Büchern. Seit 1990 gibt es eine eigene internationale wissenschaftliche Gesellschaft (»Colloquium on Violence & Religion at Stanford« [COV&R]), die die Anregungen Girards kritisch aufgreift und weiterführt und die jedes Jahr ein Symposium veranstaltet. Im Rahmen dieser Gesellschaft wird an der Theologischen Fakultät in Innsbruck ein Bulletin (in englischer Sprache) herausgegeben, das zweimal jährlich über neue Veröffentlichungen und über entsprechende wissenschaftliche Aktivitäten informiert (»The Bulletin of the Colloquium on Violence & Religion«; Adresse: COV&R, Institut für Dogmatische und Ökumenische Theologie. Universitätsstr. 4, A-6020 Innsbruck). Ab 1994 wird auch ein Jahrbuch in englischer Sprache erscheinen, in dem die Beiträge zu den jährlichen Symposien veröffentlicht werden.

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Innsbruck, im November 1993 Raymund Schwager

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Einleitung

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Die moderne Welt ist sehr kompliziert geworden. In den Naturwissenschaften wurden vor allem durch eine fortschreitende Spezialisierung Resultate erreicht, die einen großen Teil der Menschen faszinieren. Die Humanwissenschaften sind diesem Trend weitgehend gefolgt. Je kleiner der Bereich ist, der mit immer komplizierteren Methoden bearbeitet wird, desto stärker drängt sich der Eindruck auf, es gehe wissenschaftlich zu und her. Die Wissenschaft aber hat einen hohen Klang.

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In der Theologie gelten ähnliche Gesetze. Hinter den vielfältigen Bemühungen der letzten Jahrzehnte stand zwar einerseits das zentrale Anliegen, die Glaubenswahrheiten den heutigen Menschen näherzubringen, anderseits folgte man aber der modernen Tendenz zur Spezialisierung. Die Theologie erreichte auf diese Weise jedoch nicht jene faszinierenden Resultate wie die Naturwissenschaften. Im Gegenteil, je mehr sie sich in komplizierte Einzelfragen verlor, desto mehr entfernte sie sich von den tatsächlichen Anliegen der Menschen.

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Die führende Rolle im theologischen Bemühen spielte die neue Bibelwissenschaft mit ihrer historisch-kritischen Methode. Die moderne Exegese zog selbst die systematische Theologie stark in ihren Bann. In weiten Kreisen fürchtete (oder hoffte) man, die kritische Erforschung der biblischen Schriften werde eine fundamentale Erschütterung bisheriger Glaubensüberzeugungen zur Folge haben. Manche »naive« Vorstellungen vom Wirken Gottes in der Welt und vom Vorgang der Offenbarung wurden tatsächlich in Frage gestellt. Die großen Befürchtungen (oder Hoffnungen) waren im wesentlichen aber unbegründet. Je mehr die Forschung voranschritt, desto deutlicher zeigte sich, daß auch sehr kritische Arbeiten, solange sie sich der Grenzen ihrer Methoden bewußt bleiben, nirgends die Substanz des Christlichen treffen. Wurden durch die neue Exegese aber auch starke positive Kräfte geweckt?

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Arbeiten an den biblischen Schriften, die sich der historisch-kritischen Methode bedienen, neigen unweigerlich dazu, vor allem das Werden des Textes zu erhellen. Die verschiedenen äußeren Einflüsse werden aufgespürt, und die Forschung versucht, jene Traditionen zu rekonstruieren, aus denen der vorliegende Text entstanden ist. Mit diesem Vorgehen ist unwillkürlich die Tendenz verbunden, den Gesamttext in immer kleinere Einheiten aufzulösen und jeden einzelnen Splitter gesondert zu untersuchen. Dieser Weg

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drängt sich durch das heute vorherrschende Wissenschaftsverständnis direkt auf. Er hat aber unweigerlich zur Folge, daß die Resultate immer spezialisierter und damit für ein größeres Publikum immer uninteressanter und bedeutungsloser werden. Der Theologie stellt diese Tendenz, will sie den Kontakt mit der Gemeinschaft der Glaubenden nicht verlieren, eine bedrängende Frage. Sie droht heute genau das Gegenteil von dem zu erreichen, was sie erstrebt. Sie möchte die christliche Wahrheit den modernen Menschen näherbringen, wegen der wachsenden Spezialisierung schließt sie sich aber ungewollt in immer engere Kreise ein. Sie steht in Gefahr, wie die anderen Wissenschaften zu einer reinen Angelegenheit von Fachleuten zu werden. Sie schafft sich ihre eigene Welt und teilt diese zudem noch in viele unüberschaubare Unterwelten auf. Was für die Naturwissenschaften in bestimmter Hinsicht sehr fruchtbar war, erweist sich in den Humanwissenschaften als fraglich, und droht sich in der Theologie direkt verheerend auszuwirken.

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Die starke Spezialisierung führt zudem fast unweigerlich zu einer einseitigen Intellektualisierung. Die vitalen und affektiven Probleme, die auf ihre Weise immer ganzheitlich sind, werden nicht mehr in ihrer vollen Eigenart erfaßt. So spielt zum Beispiel die Aggression und die Gewalt heute in allen Bereichen menschlichen Zusammenlebens (von der Familie bis zur Weltpolitik) eine eminente Rolle. Auch in den biblischen Schriften taucht diese Thematik sehr oft auf. Dennoch hat die christliche Theologie es bis jetzt nicht verstanden, zu dieser Frage einen Beitrag zu leisten, mit dem sich auch die psychologie, Soziologie, Verhaltensforschung, Anthropologie, Politologie und Militärwissenschaft auseinandersetzen müßte. Die Zersplitterung und Verintellektualisierung verleitete vielmehr dazu, sich auf sogenannte Fachfragen zurückzuziehen und den großen und vitalen Problemen des modernen Lebens und der heutigen Gesellschaft in beachtlichem Maße auszuweichen. Dabei wurde ungewollt in weiten Kreisen die Ansicht geweckt, die Theologie habe zu konkreten Fragen tatsächlich nichts zu sagen.

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Das Werk von René Girard weckt nun die Hoffnung, der eben skizzierten Tendenz mit Erfolg entgegensteuern zu können. Beim Erscheinen seines bisherigen Hauptwerkes »La violence et le sacré«(11) schrieb die bekannte französische Tageszeitung »Le monde«: »Das Jahr 1972 müßte in den Annalen der Humanwissenschaften mit einem weißen Kreuz bezeichnet werden: ›La violence et le sacré‹ ist nicht nur ein großes Buch, es ist au

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ßerdem einzigartig und zutiefst aktuell.« (12) Ein Jahr später veröffentlichte die in kulturellen und gesellschaftlichen Fragen führende französische Zeitschrift »Esprit« eine große Diskussion mit Girard (13), an der sich Ethnologen, Psychologen, Sprachwissenschaftler und Philosophen beteiligten. Das faszinierende der Arbeit Girards liegt gerade darin, daß sie direkt oder indirekt fast den ganzen Bereich der Humanwissenschaften umfaßt. Ausgehend von der Literaturwissenschaft und der Ethnologie wirft sie psychologische, soziologische, religiöse und politische Fragen auf. Sie liefert ein einheitliches begriffliches Instrumentarium für die verschiedenen Einzelwissenschaften und verspricht so den bereits bekannten rhetorischen Forderungen nach interdisziplinärer Arbeit endlich eine konkrete Basis zu geben. So wird auch in Kürze von den beiden bekannten Pariser Psychiatern J.-M. Oughourlian und G. Lefort ein umfangreiches Werk zum Thema »Girard und die Psychopathologie« erscheinen.

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Am herausforderndsten wirken die Arbeiten Girards aber auf die Theologie. Sie beanspruchen, die alt- und neutestamentlichen Schriften in ein neues Licht zu stellen und eine neue Einsicht in die innere Einheit der großen biblischen Themen zu ermöglichen. Im Unterschied zur vorherrschenden Spezialisierung zeichnen sich hier die Umrisse einer neuen Synthese ab. Bei der Veröffentlichung eines Vortrags, den René Girard in Genf zum Thema »Les malédictions contre les pharisiens et la révélation évangélique« gehalten hat, schrieb Marc Faessler: »Der Leser muß von vornherein und ohne Umschweife darauf aufmerksam gemacht werden, daß es sich um einen außergewöhnlichen Text handelt, der einen ganz neuen Weg eröffnet zur Interpretation des Kreuzes und der darin sich manifestierenden Offenbarung.« (14) Das literarische Verfahren Girards ist tatsächlich sehr verschieden von der historisch-kritischen Methode. Wohl aber hat es Ähnlichkeiten mit dem typologischen Denken der Kirchenväter. Es bewegt sich allerdings auf einer Reflexionsstufe, die voll durch die moderne Kritik hindurchgegangen ist.

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Die Theorie Girards erhebt einen so hohen Anspruch, daß viele geneigt sein werden, sie ungeprüft abzulehnen. Sie ist von ihrem Ansatz her außerdem so umfassend, daß sie von einem einzelnen Forscher unmöglich in alle Einzelbereiche ausgefaltet und mit all ihren Implikationen durchschaut werden kann. Entsprechend ihrer Weite verspricht sie aber sehr viel. Hier soll deshalb der Versuch unternommen werden, die Fruchtbarkeit dieses

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neuen Entwurfes für eine synthetische Interpretation des Alten und Neuen Testaments in einem ersten Anlauf näher zu prüfen. Dazu wird zunächst das Werk Girards in groben Zügen vorgestellt, und einige wichtige Einwände werden kurz besprochen. Im zweiten Kapitel werden die großen alttestamentlichen Themen im Lichte der neuen Theorie gesichtet. Im dritten Kapitel kommt es schließlich zur eigentlichen Prüfung. Die von den alttestamentlichen Schriften her sich abzeichnende Interpretation wird mit den neutestamentlichen Aussagen konfrontiert.

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1. Kapitel. René Girard: Die Gewalt und das Sakrale

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Daß Menschen in Frieden miteinander zusammenleben, ist für viele Denker und Forscher eine selbstverständliche Tatsache, die kaum weiter zu be-denken ist. René Girard ist hier ganz anderer Ansicht. Seine Analysen führen zum Ergebnis, daß gerade das Zusammenleben unter Menschen eines der größten anthropologischen Probleme stellt. Er wendet sich mit Entschiedenheit gegen die Vorstellungen J. J. Rousseaus, gemäß denen der Staat und die menschliche Gesellschaft auf einem Gesellschaftsvertrag (contrat social) beruhen, durch den jeder einzelne aus wohlverstandenem Eigeninteresse sich in einer bewußten Entscheidung einem »allgemeinen Willen« unterwirft. Girard sieht in dieser Idee nur den Mythos eines Humanismus und Romantizismus, der die Abgründe des menschlichen Herzens nicht begriffen hat. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag traut der Vernunft und dem guten Willen die Kraft zu, das gesellschaftliche Zusammenleben zu ordnen. Doch sind die Menschen tatsächlich jene vernünftigen und überlegenen Wesen, die aus Einsicht ihre persönlichen Interessen hinter das Allgemeinwohl zurücksetzen? Handeln sie nicht zu oft aus einem dunklen Drang oder aus einer maßlosen Begierde selbst gegen ihr wohlverstandenes Eigeninteresse? Sind jene, die es ganz der Vernunft zutrauen, die menschliche Gemeinschaft zu ordnen, im geheimen nicht schon einer abgründigen Unvernunft erlegen?

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René Girard kommt von der Literaturkritik her. Sein erstes großes Werk »Mensonge romantique et vérité romanesque« (15) behandelt die Lüge jener Romantik, die mit großem Pathos die tugendhafte Einzelpersönlichkeit preist und meint, eindeutig zwischen den Helden des Tages und den dunklen Gestalten der Nacht unterscheiden zu können. Gegen diese neue und subtile Form des Manichäismus weist er auf jene tiefere Wahrheit hin, die vor allem in den Werken einiger großer Dichter und Romanciers zutage tritt. Als Professor für französische Literatur beschäftigt er sich nicht bloß mit jenen Dichtern, die direkt zu seinem Fach gehören. Er wendet sich großen Gestalten aus der gesamten europäischen Literatur zu. Dante und Cervantes sind ihm ebenso vertraut wie Shakespeare und Hölderlin. Beson-

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ders bedeutungsvoll für die Ausarbeitung seiner Theorie war aber der Russe F. M. Dostojewski. Bei ihm fand er ein in den Romanfiguren inkarniertes Wissen über die menschliche Begierde, das entschieden über das hinausgeht, was Anthropologen und Psychologen normalerweise zum gleichen Thema zu sagen haben. In seiner Arbeit »Dostoïevski, Du double à l'unité«(16) legt er die Grundstrukturen einer abgründigen psychologie offen, die eng mit dem christlichen Glauben verbunden ist.

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Die eigentliche Herausforderung für die christliche Theologie bildet das bisherige Hauptwerk Girards »La violence et le sacré«(17). In ihm wird der Bogen noch weiter gespannt. Einerseits werden die griechischen Tragödien sehr eingehend analysiert, anderseits kommt zur Literatur im engeren Sinne ein neuer Bereich hinzu: die Ethnologie. Girard kennt sich in ihr überraschend gut aus. Er zeigt sich, um nur einige Beispiele zu nennen, vertraut mit den indianischen Kulturen Südamerikas, den alten Monarchien Afrikas und mit dem Schamanismus. Alle literarischen und ethnologischen Zeugnisse lehren ihn unzweideutig, daß sich der Mensch normalerweise nicht als ein vernünftiges und autonomes Subjekt zeigt, sondern immer wieder der (blinden) Leidenschaft unterworfen ist. Girard eröffnet sein Hauptwerk mit einer Analyse der Opferriten.

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1. Opfer und Gewalt

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In den sogenannten »primitiven« Gesellschaften spielte die Religion eine zentrale Rolle, ja sie beherrschte das ganze öffentliche und private Leben. Heute glaubt selbstverständlich kein aufgeklärter Wissenschaftler mehr an die alten Mythen mit ihren Göttern, Dämonen und Kulthelden. Dennoch sieht Girard in der bunten religiösen Welt weit mehr als ein abartiges Produkt menschlicher Einbildungskraft. Da für die Mitglieder »primitiver« Gesellschaften ihre religiösen Praktiken eine Frage von Leben oder Tod waren, müssen alle Erklärungen zu kurz greifen, die diesem tödlichen Ernst nicht gerecht werden. Es gilt zu begreifen, welche Erfahrungen Menschen

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gemacht haben, daß sie sich mit sakralem Schrecken bestimmten Vorstellungen und Riten unterwarfen.

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In der Welt der religiösen Mythen herrschte ein unübersehbares Durcheinander. Alle primitiven Völker praktizierten aber Opferriten, die einander sehr ähnlich waren. Wo lag der Grund für diese verhältnismäßig einheitliche Struktur? Aus den religiösen Vorstellungen konnte sie nicht abgeleitet worden sein, denn diese vermochten mit ihren wirren und bunten Formen keine Einheit zu begründen. Da die Opfer praktisch überall nicht als individuelle religiöse Akte, sondern als kollektive Riten vollzogen wurden, sieht Girard einen Zusammenhang zwischen der einheitlichen Opferstruktur und dem vitalsten Bedürfnis jeder »primitiven« Gesellschaft. Bereits Jahrzehnte vor ihm hat E. Durkheim die Stammesreligionen ausschließlich von ihrer gesellschaftlichen Funktion her gedeutet. Durch die Analyse des Totemismus wurde er dazu geführt, die religiösen Vorstellungen als kollektive Selbstdarstellungen zu verstehen. Girard denkt letztlich ganz anders als Durkheim; auf der Reflexionsstufe, die dem Werk »La violence et le sacré« eigen ist, bedient er sich aber ähnlicher Denkkategorien. Dabei geht er allerdings weit über Durkheim hinaus, indem er nicht bloß auf allgemeine Parallelen zwischen der gesellschaftlichen Ordnung und den religiösen Vorstellungen hinweist. Er beansprucht vielmehr, jenen Mechanismus genau zu umschreiben, von dem her die religiösen Riten und sakralen Vorstellungen entstanden sind. Haben die Menschen in »primitiven« Gesellschaften vor den sakralen Mächten gezittert und die Opferriten mit skrupulöser Genauigkeit befolgt, so waren sie keineswegs von einem irren und letztlich bedeutungslosen Wahn befangen. Sie konnten nicht anders handeln, wenn ihr Stamm oder ihr Clan weiterbestehen wollte. Nach Girard hat die moderne Wissenschaft deshalb bis jetzt keine befriedigende Erklärung für die Stammesreligionen mit ihren sakralen Mächten und Schrecken gefunden, weil sie die letzten Impulse nicht nur der »primitiven«, sondern auch der eigenen modernen Gesellschaft noch nicht klar durchschaut hat.

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Der Mensch ist ein Wesen der Leidenschaft. Er wird nur zu leicht von Wut und Zorn überwältigt. Zornige Menschen, welcher Kultur und welcher Religion sie auch angehören, sehen einander aber sehr ähnlich. Bei ihnen treten fast die gleichen psychologischen und physiologischen Reaktionen auf. Vor allem macht der Zorn alle Menschen in gleicher Weise blind und führt sie dazu, dem Gegner alles Böse anzudichten.

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Die Psychoanalyse hat in den dunklen Tiefen des Menschen Triebe aufgedeckt, deren sich der einzelne bei vielen seiner Handlungen nicht bewußt ist. Sein Verhalten wird von Impulsen geprägt, die er nicht ausdrücklich bemerkt. Nach Freud entspringen die verborgenen Kräfte der sexuellen Libido. Girard steht insofern in der psychoanalytischen Tradition, als auch

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seine Analysen darauf hinauslaufen, daß sich die Menschen der letzten Triebfedern ihres Tuns normalerweise nicht bewußt sind. Er sieht aber im Unterschied zu Freud die verborgene Antriebskraft nicht in der Sexualität. Sowohl in der Literatur wie in den Stammesreligionen wird die Sexualität keineswegs verdrängt. Ihre faszinierende Kraft tritt ganz offen zutage. Viele Mythen sind ganz durchdrungen von sexuellen Vorstellungen. Bei manchen Stämmen gehörten zu religiösen Riten orgastische Akte, und nicht selten wurde im Rahmen von Opferfeiern die Übertretung des Inzest-Verbotes, auf dessen Beobachtung normalerweise äußerst scharf gewacht wurde, direkt gefordert. Die Sexualität erweist sich im allgemeinen keineswegs als eine verborgene Kraft, und Menschen, die sich ihr hingeben, wissen sehr wohl um ihr Tun.

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Anders aber verhält es sich mit dem Zorn. Zwar ist auch von ihm in den Mythen sehr oft die Rede. Aber die Betroffenen sehen nie ihre eigene Erregung, sondern immer nur die der andern. Menschen, die in Wut geraten, vermögen die eigenen bösen Taten nicht mehr wahrzunehmen; um so mehr projizieren sie alles Böse auf den Gegner. Die Blindheit des Zornes kann sich derart steigern, daß selbst der konkrete Gegner aus dem Auge verloren wird und die aufgewühlte Leidenschaft auf irgendein zufälliges Objekt überspringt, das nicht den geringsten sachlichen Grund für den Ausbruch der Erregung geboten hat. Die Eigenart des Zornes liegt darin, daß er sich fast nach Belieben Gegner »schaffen«, grundlos auf andere überspringen und sich auf zufällige Objekte entladen kann. Er ist blind gegenüber den Objekten seiner Erregung.

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Ein weiteres Merkmal menschlichen Zornes zeigt sich im Vergleich mit dem Trieb der Tiere. Zwischen artgleichen Rivalen kommt es sehr oft zu Kämpfen; diese enden aber äußerst selten mit der Tötung des Schwächeren durch den Stärkeren. Das Verhalten der Tiere wird von Instinkten mit eingebauten Hemmungsmechanismen gesteuert. Die Kämpfe werden deshalb an einem bestimmten Punkt spontan abgebrochen. Wie die vergleichende Verhaltensforschung durch lange Beobachtungen festgestellt hat, macht das schwächere Tier einen Gestus der Unterwerfung und der Demut. Dadurch wird beim Sieger der Aggressionsdrang fast augenblicklich gestoppt und der Kampf abgebrochen. Die Menschen aber besitzen keine derartigen Hemmungsmechanismen. Geraten sie in Zorn, wird ihre Aggression keineswegs an einem bestimmten Punkt automatisch gebremst. Im Gegenteil, sie können einander im Zorn nur zu leicht töten. Welche Kraft verhindert, daß durch die rasch aufflammende Wut sich nicht alle mit der Zeit gegenseitig umbringen? Ist es die Vernunft und der gute Wille? - Aber die Geschichte, die Literatur und die Ethnologie zeigen, daß sich die Menschen längst nicht immer von der Vernunft leiten lassen. Sie sind

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Wesen der Leidenschaft. In den modernen Gesellschaften verhindert die staatliche Macht, daß individuelle Gewalttaten sich ansteckend ausbreiten. Wie aber konnten »primitive« Gesellschaften überleben, die keine zentrale Autorität hatten und keine Justiz kannten? Gab es eine andere Institution, einen anderen Hemmungsmechanismus, um der aufbrechenden Gewalt Einhalt zu gebieten?

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Der Zorn ist mächtig und blind. Weil er mächtig ist, vermögen die Vernunft und der gute Wille ihm kaum frontal zu widerstehen. Weil er aber auch blind ist, verliert er leicht das Objekt seiner Erregung aus den Augen und springt auf einen anderen Gegenstand über. Dadurch kann er manipuliert werden. Märchen und Mythen zeigen, daß zornigen Unmenschen und fauchenden Ungeheuern immer wieder Ersatzobjekte zur Ablenkung vorgeworfen wurden. Die ungestüme Macht der Aggression läßt sich kaum direkt bändigen. Sie kann aber wegen ihrer Blindheit verhältnismäßig leicht überlistet und in bestimmte Kanäle geleitet werden. Die Helden des Zornes in der Literatur haben Girard gelehrt: »Alle erschreckenden Eigenschaften der Gewalt, nämlich ihre blinde Brutalität und die Absurdität ihrer Ausbrüche, sind nicht ohne Gegenstück: sie sind identisch mit ihrer seltsamen Neigung, sich auf Ersatzobjekte zu entladen; sie erlauben es, diesen Feind hinter das Licht zu führen und ihm im günstigen Augenblick ein lächerlich kleines Opfer vorzuwerfen, um ihn dadurch zu befriedigen« (Violence, S. 17).

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Die Einsicht in das blinde Ungestüm des Zornes weckt zusammen mit der weiter oben erwähnten Erkenntnis der sozialen Funktion der Stammesreligionen bei Girard die Frage, ob nicht gerade die rituellen Opfer heimlich das Ziel verfolgten, der Gewalt ein Ersatzobjekt vorzuwerfen, um dadurch ihre gefährliche Macht auf kontrollierte Weise zu entladen und die Menschen vor gegenseitiger Zerstörung zu bewahren. Bei den Opfern wurden einzelne Menschen oder Tiere getötet (oder mindestens Naturalgaben zerstört). Im Falle der Menschenopfer wählte man die Betroffenen nie unter den eigentlichen Stammesmitgliedern aus. Geopfert wurden nur solche, deren Tötung nicht den gefährlichen Kreislauf der Blutrache auslösen konnte (Kriegsgefangene, Sklaven, Kinder usw.). Die blutigen Riten fanden zudem normalerweise in einer Atmosphäre der Erregung und der (rituell streng kontrollierten) Aggression statt, und getötet wurden Wesen, die nicht zum eigentlichen Kreis der Opfernden gehörten. Dienten die rituellen Opfer also dazu, die eigene unterschwellige Gewalttätigkeit auf ein äußeres Objekt abzuleiten?

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Die modernen Ethnologen, die nicht mehr an Götter und Dämonen glauben, vermochten in den Opfern meistens nur eine nutzlose imaginäre Tätigkeit zu sehen. Sie wußten deshalb auch keine befriedigende Antwort, wieso

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die Menschen in den unterschiedlichsten »primitiven« Kulturen den rituellen Handlungen einen derartigen Wert beimaßen und in Schrecken gerieten, wenn sie nicht peinlich genau vollzogen wurden. Girard ist überzeugt, die ungelöste Frage beantworten zu können: »Das Opfer beansprucht, die Zwistigkeiten, die Rivalitäten, den Neid und die Streitigkeiten zwischen Verwandten und Nachbarn zu eliminieren. Es stellt die Harmonie in der Gemeinschaft wieder her; es stärkt die soziale Einheit. Alles übrige ergibt sich daraus. Wenn man das Opfer unter dieser Rücksicht, über diesen königlichen Weg der Gewalt, der sich vor uns öffnet, angeht, bemerkt man rasch, daß kein Aspekt der menschlichen Existenz, nicht einmal die materielle Prosperität, ihm fremd bleibt. Wenn die Menschen sich nicht mehr gegenseitig ertragen, scheint zwar die Sonne und fällt der Regen wie gewöhnlich; aber die Felder werden weniger gut gepflegt, und die Ernte leidet darunter« (Violence, S. 22).

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Menschen, die in Staaten mit einem soliden Regierungssystem und einer gut funktionierenden Justiz leben, machen sich normalerweise kaum eine Vorstellung, wie sehr Gesellschaften ohne diese Institutionen durch innere Streitigkeiten bedroht waren. Da der Mensch keinen angeborenen Mechanismus besitzt, um die Aggression spontan zu hemmen, führen Erregung und Zorn leicht zum Totschlag. Ist das Blut aber einmal geflossen, wirkt es ansteckend wie die Pest. Gewalt ruft nach Gegengewalt. Wo nicht eine übergeordnete Autorität die Verfolgung der Verbrechen in die Hand nimmt, kennt der Kreislauf der Blutrache aus sich heraus überhaupt kein Ende. In »primitiven« Gesellschaften mußte deshalb durch vorbeugende Maßnahmen alles unternommen werden, daß die Gewalt überhaupt nicht zum vollen Ausbruch kam und die unterschwellige Aggressivität in einem rituell streng kontrollierten Rahmen nach außen entladen wurde. Aus dieser Sicht läßt sich leicht die Tatsache erklären, daß einerseits nie die eigentlichen Stammesmitglieder geopfert wurden, anderseits aber doch Wesen, die diesen nahestanden (Kinder, Sklaven etc.) oder diesen angenähert wurden. (Opfertiere wurden oft fast wie Menschen behandelt.) Die durch die erregenden Riten geweckte Aggression konnte leicht auf die menschenartigen Opferobjekte überspringen und auf verhältnismäßig harmlose Weise aus der Stammesgemeinschaft nach außen abgeleitet werden.

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Für die weitere Analyse der Gewalt, der Opfer und des zwischenmenschlichen Verhaltens bedient sich Girard der griechischen Tragödien. Er läßt sich dabei von Einsichten über die menschliche Begierde und Leidenschaft führen, die er im Werk Dostojewskis gefunden hat.

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Für das methodische Vorgehen Girards bei seinen literarischen Analysen ist entscheidend, daß er nie eine Szene oder ein Werk isoliert für sich betrachtet. Er deutet einen Roman Dostojewskis mittels aller andern, und er richtet

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seinen Blick immer auf das gesamte Corpus der griechischen Tragödien. Bei diesem methodischen Vorgehen fällt unmittelbar auf, daß es keine eindeutig guten Helden oder bösen Übeltäter gibt und daß keiner auf die Dauer nur zu den Zornigen oder nur zu den Verständigen gehört. Tritt Ödipus eine Zeitlang in ruhiger Überlegenheit auf, so verfällt er bald der Raserei. Erscheint er in der Tragödie »König Ödipus« von Sophokles als Vatermörder und als Gatte seiner Mutter wie ein einmaliges Monstrum, so tritt er in »Ödipus auf Kolonos«, die vom gleichen Dichter stammt, als Unschuldiger und als Segensbringer auf. Kreon hingegen, der »Dritte im Bunde« zwischen Ödipus und seiner Gattin-Mutter Iokaste, spielt in »König Ödipus« die Rolle des weisen und überlegenen Fürsten, in »Ödipus auf Kolonos« aber erweist sich gerade er als Lügner und Gewalttäter. Auf sehr ähnliche Weise entpuppen sich in den Königsdramen von Shakespeare jene Prinzen, die zunächst als Verteidiger und Vorkämpfer für das Recht auftreten, im folgenden Drama meistens als ausgemachte Gewaltmenschen.

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Die Tragödien handeln von bedrohten Gemeinschaften. Helden treten auf, um die gefährliche Situation zu meistern und um dem Recht zum Sieg zu verhelfen. Doch keiner bleibt auf die Dauer der besonnene Verfechter des Rechtes und der Held des Tages. Jeder wird früher oder später in den Strudel und in den Streit hineingezogen; er wird von der Gewalt verführt und verwandelt sich in eine finstere Gestalt der Nacht. Die Tragödien verfolgen die Tendenz, die anfänglich klaren Unterschiede aufzulösen. Auf die Dauer gibt es nicht den Weisen und den Rasenden; alle werden früher oder später unweigerlich von der Leidenschaft und vom Wahn übermannt. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen tendieren auf ein Verhältnis gegenseitiger Gewalttätigkeiten, in dem Anklage auf Anklage und Hieb auf Hieb folgen. Girard zeigt, daß selbst die literarische Form der Tragödien diesem Gesetz gehorcht: »Wenn man die tragische Kunst in einem einzigen Satz definieren müßte, wäre auf die eine Tatsache hinzuweisen: die Opposition symmetrischer Elemente... Im tragischen Rededuell wird für den Einzelkampf das Schwert durch das Wort ersetzt« (Violence, S. 70). Jeder der Protagonisten ist letztlich gewalttätig, jeder glaubt aber »gute Gründe« für sein Handeln zu haben. Da er wegen seines aufflammenden Zornes zugleich blind für die Argumente des Gegners ist, kann er nicht einsehen, daß der andere ähnliche, ja letztlich die gleichen Gründe für die Gegengewalt hat: »Die Tragiker zeigen uns Gestalten, die von einer Mechanik der Gewalt gefangen sind, die viel zu unerbittlich funktioniert, als daß sie uns einen Ansatzpunkt für das mindeste Werturteil und für eine Unterscheidung, sei sie einfach oder subtil, zwischen den Guten und den Bösen gäbe« (Violence, S. 74). Girard leitet daraus die weitere entscheidende Einsicht ab: »Den Menschen widerstrebt es zuzugeben, daß die ›Gründe‹ auf beiden

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Seiten die gleichen sind, d. h. daß die Gewalt vernunftlos ist« (Violence, S. 72). Iokaste sagt erschreckt zu ihrem Gatten-Sohn Ödipus und zu ihrem Bruder Kreon, die untereinander in Streit geraten sind: »Macht nicht ein Nichts zur allgemeinen Not.« Der Zorn gründet letztlich in einem Nichts. Dennoch ist er sehr gefährlich. Gerade das Grundlose verwundet. Der Chor singt kurz nach dem Wort der Iokaste den abgründigen Vers:

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Es war in des Königs Herzen erwacht

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doch ohne Grund ein leerer Verdacht,

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auch das Grundlose verwundet.

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2. Die Mimesis

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Woher kommt es, daß der grundlose Verdacht und die vernunftlose Gewalt sich so leicht ausbreiten und so ansteckend wirken? Zur Beantwortung dieser Frage führt Girard das große Thema der Mimesis (Nachahmung) ein. Er umschreibt damit ein zentrales Element menschlichen Verhaltens, nämlich die Grundstruktur der Begierde: »Sobald seine Grundbedürfnisse befriedigt sind und oft schon vorher, erstrebt der Mensch intensiv etwas; er weiß aber nicht genau was, denn er erstrebt das Sein, ein Sein, von dem er sich beraubt fühlt und das ein anderer zu besitzen scheint. Der einzelne erwartet von diesem andern, daß er ihm sage, was er zu erstreben habe, um dieses Sein zu erwerben. Wenn das Modell, das anscheinend schon mit einem höheren Sein ausgestattet ist, etwas erstrebt, muß es sich um ein Objekt handeln, das eine noch größere Fülle des Seins zu verleihen vermag. Das Modell bezeichnet nicht durch Worte, sondern durch sein eigenes Streben dem Subjekt das höchst erstrebenswerte Objekt« (Violence, S. 204 f.). Diese Aussagen über das menschliche Streben hat Girard aus dem französischen Roman der Romantikerzeit, vor allem aber aus dem Werk Dostojewskis gewonnen.

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In den Romanen des großen russischen Dichters zeigt sich die Leidenschaft fast immer in Form von Dreiecksbeziehungen: der begehrende Held, das Modell, das zugleich Rivale ist, und die begehrte Person. Girard sieht darin den entscheidenden Unterschied zwischen der Weisheit Dostojewskis und der Triebtheorie von Freud: »Die Begierde hat bei Dostojewski kein ursprüngliches und privilegiertes Objekt. Dies ist ein erster und entscheidender Unterschied zu Freud. Die Begierde wählt ihre Objekte mittels eines Modells. Sie ist Begierde gemäß einem anderen und dennoch identisch mit

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einem irren Durst, alles auf sich selbst zurückzuführen. Die Begierde ist von ihrem Ursprung her zerrissen zwischen sich und einem anderen, der immer überlegener und autonomer als das Ich erscheint. Darin liegt das Paradox des Stolzes, das Wesen der Begierde und der Grund für die unumgängliche Katastrophe. Das Modell bezeichnet das Begehrenswerte, indem es dieses selbst begehrt. Die Begierde ist immer die Nachahmung einer anderen Begierde, Begierde des gleichen Objekts und folglich unerschöpfliche Quelle von Konflikten und Rivalitäten. Je mehr sich das Modell in ein Hindernis verwandelt, desto intensiver tendiert die Begierde, die Hindernisse zu Modellen zu machen« (Critique, S. 11).

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Mit Dostojewski hat auch Nietzsche erkannt, daß die menschliche Begierde kein bestimmtes ursprüngliches Objekt hat. Hinter Hochmut und Bescheidenheit, hinter Wollust und asketischer Selbstbeherrschung steht letztlich der »Wille zur Macht«. Der »Wille zur Macht« ist aber nur ein Symbol. Nietzsche meint damit nicht das Streben nach einer konkreten Herrschaft. Zarathustra, der ganz vom »Willen zur Macht« geleitet wird, begehrt kein irdisches Königtum und keine sichtbare Tyrannenmacht. Er geht in die Einsamkeit. Wie aber findet die menschliche Begierde ihr Objekt, wenn sie auf kein bestimmtes Gut naturhaft hingeordnet ist. Klarer als Nietzsche hat Dostojewski erkannt, daß der begehrende Mensch immer ein Modell nachahmt. Die Begierde des Vorbilds bezeichnet dem eigenen Streben, was begehrenswert ist. Bei Dostojewski taucht deswegen immer wieder der »Traum von Leben zu dritt« auf (Critique, S. 39, 44, 49, 74, 80, 91). Doch dieser Traum führt unweigerlich zur Katastrophe. Wo zwei das gleiche begehren, muß es zum Konflikt kommen. Bereits in der Tragödie »König Ödipus« löst Kreon, der sich selbst als »der Dritte im Bund« zwischen Ödipus und Iokaste bezeichnet, das kommende Unheil aus. Girard verdeutlicht seine aus literarischen Texten gewonnene Einsicht in die mimetische Struktur der menschlichen Begierde durch eine direkte Auseinandersetzung mit der Theorie vom Ödipuskomplex. Er stimmt folgendem zentralen Text von Freud vorbehaltlos zu: »Der kleine Knabe legt ein besonderes Interesse für seinen Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen wir ruhig: er nimmt den Vater zu seinem Ideal. Dieses Verhalten hat nichts mit einer passiven oder femininen Einstellung zum Vater (und zum Manne überhaupt) zu tun, es ist vielmehr exquisit männlich.«(18) Freud hält ausdrücklich fest, daß der kleine Knabe den Vater zum Vorbild nimmt und in allen Stücken an seine Stelle

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treten will. Er möchte ihn in allem nachahmen. Doch daraus entsteht ein Konflikt. Wenn der kleine Knabe »in allen Stücken« an die Stelle des Vaters treten will, dann erstrebt er auch jene besondere Beziehung zur Mutter, die er beim Vater erahnt. Doch da taucht ein Hindernis auf. Freud sagt: »Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei der Mutter im Wege steht.« (19) Die Nachahmung der väterlichen Begierde führt unweigerlich zum Konflikt.

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Freud zieht keine Konsequenzen aus den Einsichten, die er im zitierten Text formuliert hat. Im Gegenteil, gemäß seiner Theorie vom Ödipuskomplex entsteht der Konflikt aus einem anderen Grund, nämlich aus dem ausdrücklichen Wunsch des kleinen Knaben, seine eigene Mutter sexuell zu besitzen. Zum Teil gegen eigene Einsichten hält Freud hartnäckig daran fest, daß die menschliche Begierde in erster Linie auf das sexuelle Objekt gerichtet ist. Girard aber sieht in der Theorie vom bewußten Inzestwunsch des kleinen Knaben eine reine Mystifikation, durch die Erwachsene ihre eigenen Wünsche in Kinder hineinprojizieren. Er stimmt zwar Freud ganz zu, wenn dieser feststellt, daß es zwischen dem kleinen Knaben und dem Vater leicht zu offenen oder verborgenen Konflikten kommen kann. Um die aufbrechende Rivalität zu erklären, braucht er aber nicht die seltsame Theorie vom bewußten Inzestwunsch. Er folgt vielmehr den eigenen Aussagen Freuds, gemäß denen der kleine Knabe seinen Vater zum Vorbild nimmt, ihn nachahmt und »in allen Stücken an seine Stelle treten« möchte. Spürt er beim Vater mehr oder weniger bewußt eine besondere Beziehung zur Mutter, möchte er wegen der mimetischen Struktur der Begierde die gleiche Beziehung zu ihr haben. Der Vater wird so - ohne jeden ausdrücklichen Inzestwunsch - zum Rivalen. »Zwei Streben, die auf das gleiche Objekt konvergieren, werden sich gegenseitig zu einem Hindernis. Jede Mimesis eines Strebens endet automatisch im Konflikt« (Violence, S. 205).

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Die Problematik der Mimesis erschöpft sich nicht darin, daß sie zum Konflikt führt. Die besondere Verwicklung menschlicher Beziehungen rührt daher, daß der Rivale zugleich Modell ist und daß das Modell zum Rivalen wird. In den Romanen Dostojewskis verfolgen die Helden ihre Rivalen längst nicht nur mit Haß. Sie ziehen sich immer auch gegenseitig an. Nicht selten suchen sie sich sogar zu verbünden, und jeder arbeitet zeitweise offen oder heimlich für den Erfolg des Rivalen. In solchen »masochistischen« Beziehungen hat man oft einen Ausdruck der krankhaften Welt Dostojewskis gesehen. Girard zeigt jedoch, daß der russische Romancier

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nur die menschliche Mimesis genau beschreibt. Da die Begierde immer ein fremdes, ihr als Modell dienendes Streben nachahmt, will sie einerseits den fremden Erfolg, anderseits bekämpft sie ihn, da der Rivale das gleiche Objekt ersehnt. Die Begierde kann sich sogar derart steigern, daß das Modell zugleich zum Idol und zum totalen Feind wird.

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Die Verwandlung geht in doppelter Richtung. Je mehr das Vorbild als Rivale zum Hindernis wird, desto intensiver tendiert die Begierde danach, die Hindernisse in Vorbilder zu verwandeln. Girard folgert daraus: »Weil die Begierde ständig diesen Wandel sieht, macht sie ihn sich zu eigen. Sie glaubt schneller ans Ziel zu kommen, indem sie das Hindernis anbetet. Sie entbrennt von nun an jedesmal, sobald die Bedingungen für einen neuen Mißerfolg gegeben sind. Für den unverständigen Psychiater scheint es, als ob die Begierde direkt ihren eigenen Mißerfolg anstrebe. Für dieses seltsame Phänomen erfindet man die Etikette des Masochismus, die endgültig die Einsicht in den wahren Sachverhalt verhüllt. Die Begierde zielt keineswegs auf den Mißerfolg, sie will den Erfolg des Rivalen« (Critique, S. 11). Bei diesen Aussagen denkt Girard an Beziehungen, wie sie von Dostojewski immer wieder beschrieben werden.

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Die Romane des russischen Dichters zeigen, wie die Mimesis dazu führt, daß nicht mehr das durch die fremde Begierde bezeichnete Objekt, sondern die fremde Begierde selber als hohes, ja höchstes Gut erscheint. In den Augen des Begehrenden besitzt der andere (der Rivale oder das begehrte Objekt, das zum Rivalen wird) jene Fülle, die dem eigenen Ich fehlt. Er ist hassenswert, weil er dem eigenen Ich dessen fundamentales Ungenügen zur Kenntnis bringt; zugleich wird sein Erfolg angestrebt, weil er als Vorbild die Norm und das Idol für das eigene Streben ist. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Begehrenden und dem Rivalen können sich bis zur Halluzination steigern. Girard analysiert den Vorgang auf folgende Weise: »Der verachtende Beobachter, der Andere, der in Mir ist, nähert sich beständig jenem Anderen, der außer Mir ist, dem triumphierenden Rivalen... Anderseits nähert sich der triumphierende Rivale, dieser Andere außer Mir, dessen Begierde ich nachahme und der die Meine nachahmt, unaufhörlich dem Ich. Im Maße, wie sich die innere Spaltung des Bewußtseins verstärkt, verschwindet die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Anderen; die beiden Bewegungen laufen aufeinander zu, um die ›Halluzination‹ des Doppelgängers zu erzeugen« (Critique, S. 56).

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Dostojewski hat einen Roman geschrieben, der direkt den Titel »Doppelgänger« (1846) trägt und in dem dieses Thema ausführlich behandelt wird. Girards Analysen wollen zeigen, daß es sich dabei nicht um ein Einzelthema neben vielen anderen handelt. Alle Helden bei Dostojewski, ja alle wahrhaft großen Romangestalten, haben, sofern sie die mimetische Struktur

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ihrer eigenen Begierde nicht durchschauen, in der einen oder anderen Form einen Doppelgänger. Dieser kann rein halluzinatorischer Art sein wie etwa bei Nietzsche, der über seine berühmte Vision in Rapallo (Jan. 1883), aus der das Werk Zarathustra entstanden ist, in einem Gedicht schreibt: »Da plötzlich Freundin! wurde Eins zu Zwei - Und Zarathustra ging an mir vorbei...« Normalerweise ist der Doppelgänger aber eine Mischung aus jenem andern im eigenen Ich, den der Begehrende nach außen projiziert, und dem konkreten Rivalen, der seinerseits die auf ihn gerichtete Begierde nachahmt. Durch die Mimesis werden Menschen zu Feinden und zugleich aneinander gekettet. Je unerbittlicher die Begierde sich entfaltet, um so mehr ahmen die beiden Rivalen sich gegenseitig nach, und um so stärker verschwinden die Unterschiede zwischen ihnen. Das in der Literatur so weit verbreitete Thema der feindlichen Brüder bringt genau diesen Sachverhalt zum Ausdruck. Im Paroxysmus des Begehrens ist der andere nur noch eine Halluzination des eigenen Ichs, ein Doppelgänger, ein feindlicher Bruder.

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Dostojewski hat in seinen Romanen immer wieder mit Unerbittlichkeit die Frage gestellt, ob sich der Mensch durch selbstlosen Edelmut oder durch maßlosen Stolz von den andern, vom Modell, vom Vorbild und Rivalen, unabhängig machen kann. In immer neuen Anläufen verfolgte er diese Problematik. Doch alle Versuche scheiterten. Das romantische Ideal vom selbstlosen Edelmut enthüllte sich ihm immer stärker als die Kehrseite eines untergründigen Stolzes. Diesen aber durchschaute er als sklavische Abhängigkeit. Mag es dem Stolzen nämlich noch so gut gelingen, seinen eigenen Mangel und seine eigene Begierde zu verbergen, so bleibt er dennoch ganz davon abhängig, daß andere seine Größe anerkennen. In sich selbst hat er keine Kraft. Je mehr einer sich folglich zum Zentrum macht, desto mehr bedarf er dazu der Bestätigung durch andere, desto größer, faszinierender und nachahmenswerter erscheint ihm jene fremde Begierde, die sich ihm nicht sogleich unterwirft. Keiner kann sich selbst für einen Gott halten; er kann höchstens begehren, daß andere ihn wie ein Idol betrachten. Stawrogin, der düstere Held im Roman »Die Dämonen«, ist »selbstverständlich an sich kein Gott, ja nicht einmal für sich. Die einmütigen Ehrbezeugungen der Besessenen sind die Taten von Sklaven und als solche bar jeden Wertes. Stawrogin ist ein Gott für die Andern« (Critique, S. 76).

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Die menschliche Begierde kommt am Problem nicht vorbei, das der andere ihr stellt. Die Mimesis führt zur Rivalität. Der Rivale wird zum feindlichen Bruder, zum Doppelgänger, und beide drohen der Gewalt zu verfallen. Girard beschreibt den ganzen Mechanismus in kurzen Worten: »Es gibt einen Prozeß, der sich aus sich selbst nährt, der sich ständig steigert und vereinfacht. Jedesmal, wenn der Schüler glaubt, das Sein vor sich zu fin

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den, bemüht er sich, es zu erreichen, indem er das erstrebt, was der andere ihm bezeichnet, und jedesmal begegnet er der Gewalt des gegenteiligen Strebens. Durch einen sowohl logischen wie tollen Kurzschluß muß er sich schnell davon überzeugen, daß die Gewalt selbst das sicherste Zeichen des Seins ist, das ihm immer entschwindet. Die Gewalt und das Streben sind von nun an miteinander verbunden« (Violence, S. 207).

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Im letzten Roman Dostojewskis, in »Die Brüder Karamasow«, geht es um die Ermordung eines verkommenen Vaters durch einen seiner Söhne. Man könnte meinen, hier würden die Lieblingsthemen von Freud, der Ödipuskomplex und der Vatermord, behandelt. Dostojewski sieht die Grundproblematik aber in einer ganz anderen Perspektive. Der Vater-Sohn-Konflikt verwandelt sich in eine Auseinandersetzung zwischen feindlichen Brüdern, in die selbst ein Diener einbezogen wird. Der verkommene Vater ist letztlich niemand anders als einer, der mit seinen leidenschaftlichen Söhnen um Gruschenka rivalisiert und dabei getötet wird. Der Vatermord ist kein besonderes Thema; der Roman mündet in die allgemeine Problematik der Gewalt zwischen Rivalen, Doppelgängern und feindlichen Brüdern. Der einzige, der dem ansteckenden Sog der Mimesis und der Rivalität nicht verfällt, ist Aljoscha, der aus dem reinsten Geist des Christentums lebt. Aljoscha ist aber nicht der »überlegene Held« des Romantizismus. Dostojewski setzt sich selber im Vorwort zu seinem letzten Roman mit dem Einwand auseinander, sein neuer Held leiste nichts Besonderes. Die wahre Leistung Aljoschas liegt tatsächlich nur darin, daß er nie der Rivalität erliegt. Aber auch dies ist nicht seine eigene Leistung. Er könnte jeden Augenblick fallen, wenn nicht eine geheimnisvolle Gnade ihn halten würde.

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Dostojewski hat in seinen Romanen nicht abnorme Gestalten geschildert. Das Krankhafte seiner Helden liegt höchstens darin, daß bei ihnen die menschliche Begierde und Leidenschaft mit ihrem Teufelskreis der Mimesis intensiver zum Ausdruck kommt als bei den durchschnittlichen Menschen. Die Problematik der Rivalität und der feindlichen Brüder findet sich überall. In den Tragödien »König Ödipus« und »Ödipus auf Kolonos« ist Kreon, der große Gegenspieler des unglücklichen Helden, zwar dessen leiblicher Onkel. Die spezifische Beziehung Neffe-Onkel spielt aber keine besondere Rolle. Sobald der »grundlose Verdacht« aufsteigt, erscheint Kreon nur als ein Gegenspieler, der mit Ödipus um die Herrschaft rivalisiert, als ein feindlicher Bruder. Auch die beiden Söhne des Ödipus, Polyneikes und Eteokles, leben nicht lange in Eintracht mit Kreon. Bald streiten alle drei um den gleichen Thron. Euripides schildert in seiner Tragödie »Die Phönizierinnen« auf meisterhafte Weise, wie die feindlichen Brüder Polyneikes und Eteokles schließlich im tödlichen Zweikampf einander Hieb um Hieb und Stich um Stich nachahmen und einander gleichzeitig ermorden.

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Neigen die Menschen dazu, feindliche Brüder zu werden, ist ein friedliches Zusammenleben, wie wir bereits eingangs erwähnt haben, alles andere als selbstverständlich. Der Streit und die Gewalt lauern überall. Die Frage erhebt sich deshalb um so dringlicher, wie Ruhe und Friede trotzdem möglich sind. Für die »primitiven« Gesellschaften kann eine erste an der Oberfläche bleibende Antwort rasch gegeben werden. Der sakrale Schrecken hält die gefährlichen Begierden nieder. Die Tabus bewirken, daß gewisse Grenzen fast nie überschritten werden. Girard schaut nicht mit einem überheblichen Lächeln auf jene Menschen herab, die sich von Verboten einen sakralen Schrecken einjagen ließen. Er sieht in den Tabus die großen und unentbehrlichen Schutzmauern, wodurch »primitive« Gesellschaften vor der Selbstzerstörung bewahrt wurden. Er betont, daß überall dort, wo überlieferte Verbote fallen und sakrale Ordnungen in Erschütterung geraten, keineswegs automatisch die Zeit der herrschaftsfreien Gesellschaft anbricht. Vielmehr beginnt die unterdrückte Gewalt sich wie eine ansteckende Krankheit auszubreiten.

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Eine der besten Darstellungen von der Krise überlieferter Ordnungen findet sich in den griechischen Tragödien. Auch die Tragödien von Shakespeare kreisen um die gleiche Problematik. Girard spricht in diesem Zusammenhang von Opferkrisen (crise sacrificielle). Er meint damit die Erschütterung jener Ordnung, die durch den Opferritus ständig erneuert und garantiert wird. Droht der fundamentale Unterschied zwischen profan und sakral sich zu verwischen, geht von den Verboten kein sakraler Schrecken mehr aus, werden die Opferriten nicht mehr im Zustand kontrollierter, aber doch allgemeiner Erregung gefeiert, beginnt auch die Ordnung unter den Menschen sich aufzulösen. Die unterdrückten Rivalitäten gewinnen die Oberhand, und die Gewalt breitet sich immer mehr wie eine Pest aus.

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Die Opferkrise als allgemeine Krise der sakralen Ordnung kann sich auf verschiedene Weise manifestieren, so etwa durch das Auftreten von Monstren, durch den Schrecken vor Zwillingen oder durch das Phänomen der Besessenheit. Wo Menschen der nachahmenden Rivalität verfallen, wirft jeder dem anderen die gleichen leidenschaftlichen Vorwürfe an den Kopf. Der Rivale wird zu einem Ausbund der Schlechtigkeit. Er erscheint als wahres Monstrum. Girard zeigt einen deutlichen Zusammenhang auf zwischen dem in allen »primitiven« Gesellschaften weit verbreiteten Thema des Monstrums und der Krise der sakralen Ordnung, die zu monströsen Rivalitäten führt. Da die maßlosen Anklagen immer gegenseitig sind, stehen sich letztlich nicht ein besonnener Mensch und ein Monstrum gegenüber. Für einen beobachtenden Dritten gehören immer zwei monströse Gestalten zusammen, die sich in allem gleichen. In den Mythen tauchen tat-

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sächlich oft absonderliche Doppelgestalten auf, und der Übergang zwischen dem Thema der feindlichen Brüder und dem der Monstren ist fließend.

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Auch der Gebrauch monströser Masken weist auf die gleiche Grundproblematik hin. Durch sie wird eine Gesellschaft symbolisiert, in der einer für den andern zum Monstrum geworden ist. Nicht zufällig wurden deshalb Masken besonders oft bei jenen Riten getragen, die zur Vorbereitung der Opfer dienten. In vielen »primitiven« Gesellschaften ging auch von Zwillingen ein sakraler Schrecken aus. Die Ethnologen konnten bisher diese Absonderlichkeit nie befriedigend erklären. Sobald man aber auf die mimetische Struktur der Begierde achtet, wird deutlich, daß Zwillinge automatisch an die Problematik der feindlichen Brüder oder der monströsen Doppelgestalten erinnern. Aus diesem Grund wurden sie für gefährlich gehalten. Viele Stämme haben die drohende Gefahr dadurch beschworen, daß sie die biologische Tatsache konsequent übersehen oder gar offen geleugnet haben.

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Ein weiteres Zeichen der sakralen Krise ist die Ausbreitung der Besessenheit. Wenn sich die mimetische Begierde bis zum Paroxysmus steigert und wenn der Rivale, der zugleich ein Idol ist, zu einem Monstrum an Schlechtigkeit wird, gewinnt er eine dämonische Gestalt, wie Dostojewski in manchen seiner Romane besonders feinsinnig anzudeuten und darzustellen vermag. Auch viele Helden in den griechischen Tragödien werden auf dem Höhepunkt ihrer zornigen Erregung von Wahnbildern umgaukelt. Wahngebilde sind aber alles andere als harmlose Hirngespinste. Sie vermögen nur zu leicht Menschen ganz gefangenzunehmen. Da der böse Rivale unterschwellig immer zugleich das faszinierende Idol ist, gewinnt seine wahnhaft-dämonische Gestalt suggestive Kraft über das eigene Innere. Sind zudem bestimmte körperliche Dispositionen gegeben, kann der dämonisch-faszinierende Rivale eine derartige Macht ausüben, daß er die eigenen Kräfte lähmt und das eigene Tun beherrscht. Der Betroffene ist nicht mehr Herr im eigenen Hause, er fühlt sich fremden, bösen Mächten ausgeliefert. Treffen derartige Erfahrungen oder auch nur Ansätze dazu mit einer allgemeinen Krise der sakralen Ordnung zusammen, verstärken sich beide Tendenzen gegenseitig. Die Phänomene der Besessenheit multiplizieren sich, bis der Eindruck entstehen kann, der böse Geist gehe leibhaftig um.

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Eine Gesellschaft, die in die Opferkrise gerät, verliert ihre Stabilität. Die unterschwelligen Rivalitäten brechen auf, und die Gewalt breitet sich aus. Wie kann eine derart bedrohte Gesellschaft dennoch gerettet werden? - Nach Girard ist das Heilmittel nicht von der Vernunft und vom guten Willen der Beteiligten zu erhoffen. Die Idee Rousseaus vom Gesellschaftsvertrag hält er für einen reinen Mythos. Zwar schätzt er die Vernunft keineswegs als grundsätzlich schwach und hilflos ein. Das Problem liegt aber an

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einem anderen Ort, nämlich darin, daß die Leidenschaft die Vernunft leicht täuschen und sogar zu ihrer Vorreiterin machen kann. Die Gewalt tritt fast nie als reine Brutalität auf. Sie hat praktisch immer ihre »guten Gründe«. Da die Rivalität aus der gut und lobenswert erscheinenden Nachahmung eines Modells entsteht, ist der erste Widerstand des Vorbilds für den Schüler immer schmerzlich und überraschend. Er durchschaut die beginnende Rivalität nicht, fühlt sich verletzt und versteht das Verhalten des bewunderten Vorbildes nicht. Das Modell seinerseits findet das Streben des Schülers maßlos und undankbar. Nimmt die Erregung zu, macht sie die beiden Protagonisten erst recht blind für ihr eigenes Tun. Jeder findet, der andere habe den Kopf verloren. Beide fühlen sich nicht nur verletzt, sondern zu Gegenmaßnahmen verpflichtet. Da menschliches Verhalten immer komplex und vieldeutig ist, findet der durch die Leidenschaft getrübte Blick im vergangenen Verhalten des zum Gegner gewordenen Vorbildes oder Schülers mit instinktiver Sicherheit Taten, die ihm beweisen, daß der andere schon immer böse Absichten hatte. Der Eindruck, Unrecht zu erleiden, gräbt sich ins eigene Innere ein, und die Überzeugung wächst, zu Gegentaten berechtigt, ja genötigt zu sein.

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In den griechischen Tragödien fühlen sich die Helden sogar durch ein heiliges Gesetz zu ihren strafenden Gewalttaten verpflichtet. Keiner merkt, wie er selbst für den bösen Verdacht oder die böse Tat des andern mindestens indirekt Anstoß gegeben hat. Auch in den Königsdramen von Shakespeare beginnen die aufrührerischen Fürsten ihre Auflehnung gegen den regierenden König immer mit der »edlen Absicht«, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. Sie begehen dabei aber ihrerseits Taten, die nach einem kommenden Rächer rufen. Die Gewalttat hat so immer ihre »guten Gründe«. Nur äußerst selten tritt sie mit jener Offenheit auf wie etwa beim Mohren Aaron in der Tragödie Titus Andronikus von Shakespeare. Der Mohr sagt von sich selbst:

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Ich bin kein Kind, daß ich mit feigem Flehn

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Bereute die Verbrechen, die ich tat.

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Zehntausend, schlimmer noch als ich vollbracht,

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Möcht' ich begehn, hätt' ich die Macht dazu;

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Der Römer Lucius urteilt darauf über die grimmige Tigerin Tamora, die Herrin und Geliebte des bösen Mohren Aaron:

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Ihr Lebenslauf war viehisch, ohne Mitleid,

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Und deshalb finde auch kein Mitleid sie.

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Lucius hat tatsächlich wie kaum einer gute Gründe für sein hartes Urteil. Er merkt aber nicht, daß er mit seiner Folgerung, Tamora dürfe kein Mit-

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leid finden, weil sie selber ohne Mitleid war, einmal mehr der Mimesis verfällt und so dazu beiträgt, die Kette der Gewalttaten ins Endlose fortzusetzen.

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Die wahre Grund- und Vernunftlosigkeit jeder Gewalttat wird nur von einem Standpunkt aus erkennbar, der sich außerhalb der mimetischen Rivalität und außerhalb der Leidenschaften einer bedrohten Gesellschaft befindet. Opferkrisen können deshalb nicht durch die Vernunft und den guten Willen der unmittelbar Beteiligten gemeistert werden. Weil die Mimesis es versteht, die geistigen Kräfte gefangenzunehmen, verstärkt die gebundene Vernunft nur noch die allgemeine Erregung.

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3. Der Sündenbock

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Obwohl von der Vernunft und dem guten Willen allein keine Rettung zu erwarten ist, sind bedrohte Gesellschaften längst nicht immer verloren. Hier stoßen wir auf die entscheidenste Einsicht Girards. Dank einer genauen Analyse der griechischen Tragödien kann er zeigen, daß gerade jene Mimesis, die der Grund für die Krise ist, auch ein Heilmittel liefert. Weil der hassenswerte Rivale zugleich das untergründig faszinierende Idol ist, sind seine Gewalttaten zwar verabscheuungswürdig, erscheinen aber dennoch als erstrebens- und nachahmenswert. Die Gewalt erscheint als das sicherste Zeichen der Fülle. Vor allem von einer augenblicklich siegreichen Tat geht ein Glanz aus, der fast unwiderstehlich zur Nachahmung lockt. In einer verworrenen und zerstrittenen Gesellschaft, in der alle Glieder unter den internen Streitigkeiten leiden, kann deshalb dem zufällig siegreichen Streich eines Protagonisten gegen einen andern eine derartige Faszination zukommen, daß andere die gleiche Tat instinktiv nachahmen und ebenfalls auf den augenblicklich Schwächeren einschlagen. Der erste siegreiche Streich wird bekräftigt; er gewinnt zusätzlich Glanz; die Verlockung zur Nachahmung wächst und zieht immer mehr Glieder der bedrohten Gesellschaft in ihren Bann. Wechselseitige Gewalttaten und verworrene Streitigkeiten können so in kürzester Zeit, ja fast augenblicklich, in die einhellige Gewalt aller gegen einen umschlagen. Girard nennt dies den Mechanismus des Sündenbocks oder die kollektive Übertragung der diffusen Gewalttätigkeit auf ein zufälliges Opfer.

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Durch das plötzliche Umschlagen der gegenseitigen Feindseligkeiten in die einhellige Tat aller gegen einen werden die verworrenen Aggressionen auf ein Mitglied der Gruppe polarisiert; die Gemeinschaft schließt sich gegen das Opfer neu zusammen, stößt den »Übeltäter« aus und tötet ihn. Die internen Erregungen werden dadurch nach außen abgeleitet. Der Vorgang wirkt auf alle Beteiligten mit einer einmaligen Faszination. Solange die wechselseitigen Rivalitäten die Gemeinschaft bedrohten, sah jeder im andern einen Feind, ja ein Monstrum an Schlechtigkeit, und alle litten unter der allgemeinen Verwirrung. Nach dem plötzlichen Umschlagen der Leidenschaften in einen kollektiven Sturm aller gegen einen erfahren die Beteiligten einen auf wunderbare Weise wiedergeschenkten Frieden. Die Wahrnehmung wandelt sich. Die wahnhaften Vorstellungen bleiben zwar am Ausgestoßenen haften. Auf ihn wird weiterhin alle monströse Schlechtigkeit projiziert. Gerade durch diese Steigerung erscheint er aber in einem neuen Licht. Der böse Feind war schon immer das unterschwellig faszinierende Idol. Dadurch, daß sich alle negativen Projektionen auf eine Gestalt konzentrieren, wächst auch ihre faszinierende Kraft. Die positive Seite kann zudem um so leichter in den Vordergrund treten, als durch die Tötung des Ausgestoßenen der Friede unerwartet in die bedrohte Gemeinschaft zurückgekehrt ist. Die kollektiven Gewalttäter sind sich ihrer Mimesis und der Übertragung ihrer eigenen Aggressionen auf den vermeintlichen Übeltäter nicht bewußt; sie stellen nur fest, daß durch die Ausstoßung des einen die ersehnte Ruhe wiedergewonnen wurde. Instinktiv schreiben sie deshalb den neuen Frieden der Tötung des Opfers zu. Dieses wird zum Heilbringer: die unterschwellig schon immer wirksame Faszinationskraft des Idols kann sich von nun an ungehindert entfalten. Das zufällige Opfer bleibt zwar mit der monströsen Schlechtigkeit behaftet, zugleich geht von ihm aber der Glanz eines übermenschlichen Heilbringers aus. Mit diesem Doppelcharakter wird genau die »primitive« Vorstellung vom Sakralen umschrieben. Die Erfahrung bei der kollektiven Tötung eines zufälligen Opfers ist identisch mit der Erfahrung des Sakralen. Die letztere dürfte folglich im Sündenbockmechanismus ihren Ursprung haben.

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Noch das griechische Wort »krateros« und das lateinische »sacer« bezeichnen etwas, das zugleich verflucht und heilbringend, abscheulich und anziehend, häßlich und glänzend ist. Die Ethnologen konnten diese seltsame Eigenart des Sakralen nie erklären. Rudolf Otto hat in seinem epochemachenden Werk »Das Heilige« (1917) dieses zu umschreiben versucht durch die beiden Momente des Schauervoll-Übermächtigen (tremendum) und des Anziehend-Bestrickenden (faszinosum). Er glaubte, damit eine nicht weiter analysierbare Urerfahrung, eine religiöse »Kategorie a priori«, bestimmt zu haben.

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Girard geht weiter. Ihm ist es zum ersten Mal gelungen, eine Deutung für die scheinbar unbegreifliche Verbindung und Vermengung von Verfluchtem und Heilbringendem vorzulegen. Auf das zufällige Opfer wird alle Aggressivität der kurz vorher noch zerstrittenen Gemeinschaft entladen. Es dient als Polarisationspunkt für allen Wahn, der durch die wechselseitigen Rivalitäten geweckt wurde. Es flößt deswegen den größten Schrecken ein. Zugleich aber ist es das untergründig faszinierende Idol, durch dessen Ausstoßung der Gemeinschaft, die sich eben noch selbstmörderisch zu zerstören drohte, plötzlich Ruhe und Friede geschenkt wurde. Da der Zorn blind macht und die Rivalitäten Wahnvorstellungen wecken, sind sich die an der Krise beteiligten Menschen ihres eigenen Tuns nicht voll bewußt. Sie konstatieren nur, daß das ausgestoßene Opfer Schrecken erregt und zugleich Heil bringt. Sie erfahren es als sakral. Daß durch ihre eigene kollektive Übertragung das Opfer sakralisiert wurde, bleibt ihnen verborgen. Mit dieser Deutung stimmt voll die Feststellung überein, daß bei manchen »primitiven« Völkern die Vorstellungen von Gott und vom Kadaver nicht unterschieden werden. (20)

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Nicht nur der Doppelcharakter des Sakralen, auch die konkreten Unterscheidungen der »primitiven« Gesellschaften zwischen profanen und sakralen Handlungen und Gegenständen blieben den modernen Forschern bisher unverständlich. Mit unseren ethischen Vorstellungen ließ sich nicht viel ausrichten. Als sakral wurde teilweise betrachtet, was wir für unmoralisch halten. Die Ethnologen konnten deshalb nicht richtig ergründen, nach welchen Kriterien »primitive« Religionen Gegenstände, Handlungen und Personen für tabu erklärt haben. Girard gibt für dieses Rätsel eine einfache Antwort. Sakral ist nach ihm, was mit der ursprünglichen Gewalt in Zusammenhang steht, was geeignet ist, an sie zu erinnern, und was eine neue Krise auszulösen droht. Da Rivalitäten und Gewalttätigkeiten sich wie die Pest ausbreiten, muß alles streng gemieden werden, was ansteckend wirken könnte. Wie gebrannte Kinder spontan und ohne besondere Überlegungen vor dem Feuer zurückschrecken, so liegt in »primitiven« Gesellschaften ein sakraler Schrecken auf allem, was die ursprüngliche Gewalt neu aufleben lassen könnte. Die instinktiven Reaktionen aufgrund des erlebten Schreckens und der erfahrenen Rettung bestimmen, was harmlos (profan) ist und was zum faszinierend-gefährlichen Bereich des Sakralen gehört.

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Hat eine Gemeinschaft durch die einmütige Übertragung der diffusen Gewalttätigkeiten auf ein zufälliges Opfer den Frieden gefunden, muß sie unwillkürlich danach trachten, den rettenden Vorgang auf die eine oder andere Weise zu wiederholen. Neu auftauchende Aggressionen können dadurch einmal mehr nach außen abgeleitet werden. Der Mechanismus des Sündenbocks hat sich als so heilsam erwiesen, daß auf ihn auch in ruhigeren Zeiten nicht verzichtet werden kann. Eine Gemeinschaft ist dauernd auf seine wohltuende Wirkung angewiesen, damit sie nicht in zerstörerische Rivalitäten zurücksinkt. Nach Girard geschieht diese Wiederholung durch die rituellen Opfer. Sie sind nichts anderes als ein Nachvollzug jenes ursprünglichen Vorganges, bei dem ein zufälliges Opfer ausgestoßen und die sakralen Gestalten geschaffen wurden. Die Opfernden sind sich dieser Mimesis zwar in keiner Weise bewußt. Sie ahmen instinktiv ein Ereignis nach, das bei den direkt Beteiligten tiefe Erinnerungsspuren hinterlassen hat und das in die kollektiven Vorstellungen der betreffenden Gemeinschaft eingegangen ist.

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Die Opferhandlungen sind genau dem Sündenbockmechanismus nachgebildet. Sie beginnen mit Riten, durch die sich die Opfernden gegenseitig erregen. Dazu gehören wilde Tänze und kriegerische Spiele mit Masken und Schreien. Auch die Übertretung des Inzestverbots wird in diesem Zusammenhang verständlich. Obwohl im alltäglichen Leben mit rigoroser Strenge auf die Einhaltung dieses Verbots geachtet wird, verlangen gewisse Opferriten ausdrücklich seine Übertretung. Auf sehr realistische Weise wird so die Verkehrung aller zwischenmenschlichen Beziehungen symbolisch dargestellt und nachvollzogen. Desgleichen wird mit dem Spiel der feindlichen Parteien bei den vorbereitenden Opferriten der Zustand einer Gesellschaft veranschaulicht, in der alle gefährlichen Rivalitäten aufbrechen. Die Handlungen spielen sich dabei gemäß starren überlieferten Normen ab. Die Riten dienen zwar dazu, die unterdrückte Aggressivität zu wecken, sie wollen diese aber zugleich in geordnete Bahnen lenken, damit aus den simulierten Rivalitäten und Kämpfen nicht ein tatsächliches Blutvergießen folgt. Alles muß deshalb den sakralen Normen entsprechend vollzogen werden.

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Ist die aggressive Leidenschaft innerhalb des vorgesehenen Rahmens geweckt, kann sie erneut auf ein Opfer übertragen und nach außen abgeleitet werden. Ob dies durch die Tötung eines Menschen geschieht, der nicht zu den eigentlichen Mitgliedern des Stammes zählt, oder durch die Schlachtung eines Tieres, das mittels verschiedener Riten den Menschen angenähert wurde, ist von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist nur, daß sich alle auf die eine oder andere Weise am Geschehen beteiligen, damit alle ihre offenen und versteckten Aggressionen voneinander ablösen, auf das Opfer entladen und damit die ursprüngliche Ordnung erneuern. Der

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jüdische Ritus, bei dem alle Mitglieder der Gemeinde ihre Hände auf einen Bock legten, ihre Sünden auf ihn übertrugen und ihn danach in die Wüste hinaustrieben, veranschaulicht besonders deutlich den Vorgang der kollektiven Entladung. Der jüdische Ritus mit dem Sündenbock hat zwar keine besondere Bedeutung. Bei ihm kommt nur etwas deutlicher zum Ausdruck, was sich nach Girard bei allen anderen Opfern auch ereignet. Die Vorstellung, daß irgendeine Gottheit das Opfer annimmt und die opfernde Gemeinschaft segnet, ist der mythologische Ausdruck für die Tatsache, daß die Aggressivität einmal mehr nach außen abgeleitet und der Friede innerhalb der Gemeinschaft gesichert wird. Die moderne Meinung, Opfer seien sinnlose Zeremonien gewesen, weil es die vielen Gottheiten gar nicht gibt und nie gegeben hat, geht gedankenlos am vitalsten Problem menschlicher Gemeinschaften vorbei. Die »primitiven« Völker wurden durch ihre Opfer tatsächlich »gesegnet«. Deswegen wurden die Opfer mit heiligec Schrecken vollzogen. Weil in ihnen der Sündenbockmechanismus nachvollzogen wurde, hatten sie trotz der großen Unterschiede in den religiösen Vorstellungswelten überall die gleiche Grundstruktur. Die instinktive Nachahmung der kollektiven Übertragung der Gewalt auf ein zufälliges Opfer führte überall zu analogen Opferriten.

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Mit der Frage des Friedens hängen weitere Bereiche zusammen. Nach Girard gründet nicht nur die soziale, sondern sogar die ganze kulturelle Ordnung auf dem Mechanismus des Sündenbocks. Er folgert aus seinen eigenen Analysen: »Wir haben zunächst die kathartische Funktion des Opfers herausgearbeitet. Danach haben wir die Opferkrise bestimmt als Verlust sowohl dieser kathartischen Funktion wie auch aller kulturellen Differenzen. Wenn nun die einmütige Gewalt gegen ein stellvertretendes Opfer dieser Krise ein Ende setzt, steht sie evidenterweise am Ursprung eines neuen Opfersystems. Wenn das stellvertretende Opfer allein den Prozeß der Destrukturierung aufhalten kann, befindet es sich am Ursprung einer neuen Struktur« (Violence, S. 135).

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Im Zorn gleichen sich alle Menschen, unabhängig davon, welcher Kultur oder Religion sie angehören. Individuelle Verschiedenheiten, ja selbst der Unterschied zwischen Mann und Frau, treten in den Hintergrund. Steigern sich die aggressiven Rivalitäten zur eigentlichen Wut, kann sogar der Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwinden. Sophokles zeigt in seinem Werk »Aias«, wie der Held in seinem rasenden Zorn gegen die griechischen Feldherren trügerischen Wahngebilden verfällt. Er meint, die griechischen Führer zu töten, die ihn beleidigt haben, tatsächlich fällt er aber nur in eine Herde harmloser Tiere ein und schlachtet diese stellvertretend. Im Zorn hat sich für ihn der Unterschied zwischen Feldherren und Tieren verwischt. Desgleichen stellt Euripides in seiner Tragödie »Die

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Bakchen« dar, wie die von Dionysos besessene Agaue in ihrer Verblendung glaubt, einen jungen Löwen vor sich zu haben. In Wahrheit stürzt sie sich aber mit ihren ebenfalls rasenden Gefährtinnen auf ihren eigenen Sohn und zerreißt ihn mit bloßen Händen in Stücke. Auch für sie geht in der Raserei der Unterschied zwischen ihrem Sohn und einem Tier verloren. Zorn und Gewalttätigkeit tendieren dahin, alle Differenzen innerhalb einer Kultur und zwischen verschiedenen Kulturen einzuebnen. Die grundlegende Krise einer Gesellschaft, die Opferkrise, hat deshalb immer eine destrukturierende Wirkung. Sie bedroht nicht nur die soziale Ordnung, sondern auch die Fundamente der Kultur. Dabei kann es zu einem wahren Teufelskreis kommen. Die Erschütterung der sakralen Ordnung und das Abbröckeln der sakralen Tabus bewirken, daß untergründige Aggressionen entbunden werden und nach allen Seiten ansteckend sich auszubreiten beginnen. Die losbrechende Gewalt verstärkt ihrerseits die Krise der bestehenden religiös-kulturellen Vorstellungen. Die Gewalt wird dadurch noch mehr entfesselt.

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Gemäß den Analysen Girards rettet der Sündenbockmechanismus die bedrohte Gesellschaft, und er vermag den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen. Mit dem Umschlagen der wechselseitigen Rivalitäten in die einmütige Gewalttat aller gegen einen hört deshalb nicht nur die destrukturierende Wirkung augenblicklich auf, es wird auch ein neuer fundamentaler Unterschied errichtet. Durch die Übertragung der inneren Gewalttätigkeiten nach außen wird eine scharfe Grenze zwischen dem befriedeten gesellschaftlichen Raum und dem gefährlich-faszinierenden Bereich des Sakralen gezogen. Im profanen Raum leben die gewöhnlichen Menschen, nach außen fallen die durch den Sündenbockmechanismus geschaffenen Mächte und Götter und zum Teil auch jene ausgesonderten Menschen, die eine besondere Beziehung zum Sakralen haben. Mit der Errichtung dieses fundamentalen Unterschiedes entstehen zugleich all jene Tabuvorschriften, die verhindern sollen, daß die sakral-unreinen Kräfte wieder in die Gesellschaft eindringen. Unter das Tabu fällt von nun an, was die ursprüngliche Gefahr erneut heraufbeschwören könnte.

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Da die einmütige Gewalt aller gegen einen nur zustande kommt, weil sich einer augenblicklich siegreichen Handlung wegen ihrer mimetischen Wirkung alle anderen anschließen, setzt sich die Vorstellungswelt des zufälligen Siegers als die Wahrheit der betreffenden Gemeinschaft durch. Mögen die Einbildungen desjenigen, der im Augenblick die Oberhand gewonnen hat, ebenso verzerrt sein wie die seines unglücklichen Gegners, unter dem Einfluß der Mimesis werden sie von allen geteilt und gelten deshalb in Zukunft als sichere Wahrheit. In jener Welt zum Beispiel, die den Ödipusmythus geschaffen hat, galt der unglückliche König als der Schuldige,

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obwohl dieses Opfer in Wahrheit kaum schuldiger gewesen sein dürfte als alle anderen.

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Girard greift von einer neuen Seite her die bereits bekannten wissenssoziologischen Analysen über »die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« (21) auf. Er geht aber über die bisherigen Ergebnisse eindeutig hinaus, weil er nicht nur vage Beziehungen zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Erfassen der Wahrheit postuliert, sondern einen konkreten gesellschaftlichen Prozeß aufzeigt, durch den die grundlegenden religiös-kulturellen Vorstellungen entstehen. Er führt die Grundstrukturen der sozialen Ordnung, der Religion und der Kultur auf den einen fundamentalen Vorgang, auf den Sündenbockmechanismus zurück. Mögen die Religionen und Kulturen noch so unterschiedlich sein, Girard will zeigen, daß letztlich alle Mythen auf halb oder ganz verdeckte Weise nur erzählen, was am Ursprung geschah. Tatsächlich kennen praktisch alle Völker Erzählungen, in denen geschildert wird, wie ein Kultheld getötet wurde, wie er zu neuem Leben erstand und der Gemeinschaft Segen brachte. Manche Forscher haben gemeint, solche Berichte als mythische Beschreibungen der Natur mit ihrem herbstlichen Sterben und ihrem frühlingshaften Neuerwachen verstehen zu müssen. Girard wendet dagegen ein, daß vom Sterben und Auferstehen auch bei Völkern die Rede ist, die in Gegenden wohnen, wo die Natur das ganze Jahr hindurch fruchtbar ist und wo es keine unmittelbare und intensive Erfahrung vom herbstlichen Sterben gibt. Außerdem reden die Mythen nicht vom friedlichen Sterben. Die Kulthelden werden normalerweise gewaltsam umgebracht oder wenigstens mit dem Tod bedroht. Schließlich wird der Segen nicht in erster Linie der alles umfassenden Natur, sondern in besonderer Weise dem getöteten Kulthelden zugeschrieben. Mit diesem dürfte folglich niemand anders gemeint sein als jenes Opfer, auf das sich ursprünglich die kollektive Gewalt entladen hat. Der Kultheld ist insofern wieder erstanden, als durch seinen Tod der äußerst bedrohten Gemeinschaft ein neues Leben geschenkt wurde. Dieses Grundgeschehen erzählen sich die Menschen immer wieder in ihren vielen mythischen Geschichten.

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Girard begnügt sich nicht mit ein paar Einsichten in die Eigenart menschlicher Begierde und in die sakrale Vorstellungswelt; er erhebt ausdrücklich den Anspruch, jenen Grundvorgang entschlüsselt zu haben, durch den eine befriedete Gesellschaft erst möglich wird und durch den die grundlegenden religiösen und kulturellen Vorstellungen geschaffen werden. Was er in

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bezug auf »primitive« Gesellschaften aufgezeigt hat, gilt nach ihm - mit Abwandlungen, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden - auch für die moderne Welt.

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4. Einwände

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Damit dieser hohe Anspruch nicht von vornherein als naive Anmaßung abgelehnt wird, sind einige Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aufgrund der bisherigen knappen Darstellung leicht einstellen können. Dadurch dürfte gleichzeitig noch deutlicher in Erscheinung treten, welche Tragweite der Theorie von der Mimesis und vom Sündenbockmechanismus zukommt.

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Die Welt der Mythen und Religionen ist unübersehbar reich. Lange Zeit trieb der wissenschaftliche Eros die Forscher dazu, eine einheitliche Erklärung für diese Vielfalt zu suchen. Doch alle bisher vorgebrachten Theorien (22) haben sich als unhaltbar erwiesen. In neuerer und neuester Zeit ist deshalb die Stimmung unter Ethnologen umgeschlagen. Jede Theorie, die eine einheitliche Erklärung liefern will, wird von vornherein verdächtigt. Girard ist jedoch der Überzeugung, daß die bisherigen Mißerfolge kein berechtigter Grund für eine allgemeine Resignation sind. Seine Theorie unterscheidet sich denn auch von allen früheren Versuchen, insofern er nicht nur einen einheitlichen Ursprungsvorgang aufzeigt, sondern darin zugleich genau den Ort angibt, von dem her auch die unübersehbare Vielfalt zu verstehen ist. Der Sündenbockmechanismus funktioniert zwar überall auf gleiche Weise, das Opfer aber, das zur Entladung der Gewalt herhalten muß, wird immer zufällig gewählt. Jedes andere Mitglied des Stammes hätte ebensogut dazu dienen können. Der einheitliche Grundvorgang enthält folglich in sich selbst an einem genau bestimmten Ort das Prinzip des Zufalls. Dadurch kann Girard sowohl die einheitliche Grundstruktur aller Opferriten als auch die bunte und unübersehbare Vielfalt der mythischen Erzählungen und sakralen Vorstellungen erklären.

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Haben andere Forscher die »primitiven« Religionen auf die unterdrückte Sexualität, auf die Angst vor unbekannten Mächten oder auf den Wunsch nach magischer Herrschaft über die Natur zurückgeführt, so deutet Girard die Gesellschaften, die Religionen und die Kulturen von einem Mechanismus der Gewalt her. Er verfällt dabei aber keineswegs einem Gewaltmonismus. Zwar sieht er in der einmütigen Entladung der Aggression auf ein zufälliges Opfer den einzigen strukturierenden, gesellschaftlich-sakralen Grundvorgang. Er reduziert jedoch keineswegs alles menschliche Tun auf eine versteckte Form der Gewalt. Ernährung, Arbeit, Sexualität, Schlaf, Spiel, Erkenntnis usw. sind menschliche Tätigkeiten und Erfahrungen mit einer relativen Eigenständigkeit.(23) Jeder Mensch kann aber seine Beziehungen zu anderen, zu sich selber und zur Natur nur in einem einigermaßen friedlichen Raum angemessen leben. Keiner existiert als isoliertes Individuum. Wegen der Dreiecksstruktur der Begierde ist jeder nicht nur auf ein Du, sondern auf eine Gemeinschaft angelegt. Alle menschlichen Tätigkeiten erhalten deshalb ihre Grundstruktur von jenem Geschehen her, das den Frieden in der Gesellschaft erst möglich macht. Girard sieht im Sündenbockmechanismus den einzigen Vorgang, der die Gesellschaft und die religiösen Vorstellungen strukturiert. Dennoch hält er ausdrücklich fest, daß das Sakrale auch alle anderen faszinierenden oder bedrohenden Kräfte in sich schließt.

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Die Menschen projizieren ihre Neigung zur Gewalt immer wieder in andere hinein. Das nach außen übertragene Bild der eigenen Leidenschaft kann sich deshalb leicht mit der Vorstellung jener Mächte verbinden, die dem Menschen tatsächlich äußerlich sind, nämlich die Naturgewalten. Wenn in vielen Mythen von Wasserfluten, vom tobenden Meer, von Stürmen und vom Feuer die Rede ist, verbinden sich in diesen Bildern Vorstellungen von der bedrohend-faszinierenden Natur mit den erregenden und verwirrenden Erfahrungen aus dem Stammesleben. Als strukturierendes Element wirkt dabei aber immer die gesellschaftliche Erfahrung. Nur sie vermag die Grundstruktur der Opferriten und die wesentlichen Elemente der Mythen verständlich zu machen. Sie beeinflußt zudem in starkem Maße die Wahrnehmung der Natur. Diese wird von Menschen, die in einer friedlichen Ordnung leben, anders erfahren als von verängstigten Wesen, die unterein

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ander im Streit liegen. Die Theorie Girards schließt folglich die Naturerfahrung keineswegs aus dem Bereich des Sakralen aus; sie betont aber, daß die gesellschaftliche Erfahrung das strukturierende Element bildet, ja daß die Bilder von den Naturgewalten oft sogar dazu dienen, die menschliche Gewalttätigkeit zu verbergen. Die tobende Natur lenkt die Aufmerksamkeit von der menschlichen Raserei ab. Deswegen läßt sich der Sündenbockmechanismus nur schwer durchschauen.

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Besonders leicht verbinden sich dieProjektionen der Gewalt mit sexuellen Vorstellungen. Dennoch sind beideKräfte klar zu unterscheiden. Girard geht mit Freud einig, wenn dieser schreibt: »Das sexuelle Bedürfnis einigt die Männer nicht, sondern entzweit sie.« (24) Im Unterschied zu Freud zieht Girard aus dieser Einsicht auch klare Konsequenzen. Wenn das sexuelle Bedürfnis die Menschen eines Stammesentzweit, die religiösen Riten aber ganz eindeutig eine verbindende gesellschaftliche Funktion haben, können die entscheidenden religiösen Vorstellungen unmöglich, wie Freud meint, von der unterdrückten sexuellen Libido her erklärt werden. Gewiß geht von der Sexualität eine große faszinierende Wirkung aus. In ihrer gelungenen Form ist sie aber immer an eine partnerschaftliche Beziehung gebunden. Auf die Dauer gibt es kein befriedigendes sexuelles Erlebnis kollektiver Art. Sobald die Sexualität in eine allgemeine Promiskuität abgleitet, eint sie die Menschen nicht, sondern weckt früher oder später größte Spannungen, wie Freud selber ausdrücklich feststellt. Auf kollektiver Ebene ist hingegen eine faszinierende Erfahrung sehr gut möglich, wenn alle böse Aggression plötzlich auf einen einzigen Übeltäter projiziert wird. Die blinde Wut beruhigt sich dadurch augenblicklich, die tödliche Angst verschwindet, und auf scheinbar wunderbare Weise kehrt der Friede in die äußerst bedrohte Gemeinschaft zurück. Girard verkennt keineswegs die wichtige Funktion der Sexualität. Er sieht genau, daß sehr viele Mythen von sexuellen Vorstellungen ganz durchdrungen sind. Dennoch zeigen seine Analysen, daß die Sexualität weder die soziale Ordnung noch die religiöse oder kulturelle Welt zu strukturieren vermag.

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Das sexuelle Bedürfnis allein vermag nicht einmal den partnerschaftlichen Beziehungen einen dauernden Bestand zu geben. Da die menschliche Begierde von Natur aus auf kein bestimmtes Gut ausgerichtet ist, kann ihr unter dem Einfluß der Mimesis immer wieder ein anderes Objekt als begehrenswert erscheinen. Sexuelle Beziehungen bedürfen deshalb bereits vorhandener gesellschaftlicher Normen, damit sie Bestand haben. Lehnt Girard die auf die Libido fixierte Theorie Freuds ab, verfällt er selber kei

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neswegs einer Fixierung auf die Gewalt. Er unterscheidet zwischen den vielen wenigstens relativ eigenständigen Bedürfnissen und Kräften im Menschen und dem einen strukturierenden Faktor. Er vermag dadurch gültige Einsichten des Begründers der Psychoanalyse aufzugreifen. Freud hat richtig gesehen, wenn er feststellt, daß sich hinter den oberflächlichen menschlichen Motiven normalerweise noch andere mehr oder weniger unbemerkte Impulse und Strebungen verbergen. Er konnte auch in vielen Einzelfällen unzweideutig zeigen, daß sich hinter sehr unterschiedlichen Bildern, Handlungen und Zwängen ein sexuelles Begehren versteckt. Daraus hat er aber zu Unrecht geschlossen, die sexuelle Libido sei die einzig entscheidende Kraft, die im Verborgenen der Psyche wirke. Gerade mit diesem Schluß ist er der eigentlichen List des menschlichen Strebens erlegen. Die Sexualität ist nämlich nicht die letzte verborgene, sondern die das Letzte verbergende Kraft. Sie gleicht jenen Vögeln, die sich verletzt stellen, um dadurch die Feinde vom Nest ihrer Jungen wegzulocken. Träte die Sexualität immer ganz offen in Erscheinung,würde man leicht hinter ihr etwas anderes, Geheimnisvolleres vermuten. Da sie sich aber selber teilweise verbirgt, regt sie die Neugierde an und verlockt zu weiterem Suchen. Hat der forschende und begehrende Mensch sie unter ihren Verkleidungen aufgedeckt und ihre Faszination erfahren, glaubt er das Gesuchte gefunden zu haben, und seine Neugierde ist vorläufig befriedigt. Er forscht nicht weiter und erliegt gerade dadurch der List der menschlichen Begierde. Diese hat nämlich ihr innerstes Wesen noch längst nicht preisgegeben und ist dennoch vor weiteren Fragen geschützt.

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Die Erfahrung der Naturkräfte und der Sexualität tritt nicht in Konkurrenz mit dem, was Girard über die Begierde und die Gewalt sagt. Er verficht aber darüber hinaus, daß der Sündenbockmechanismus sogar das kulturelle Wissen strukturiert. Weitet er mit diesem Anspruch nicht seine Triebtheorie unberechtigterweise aus? Wir haben bereits gesehen, daß im Zorn die Menschen blind werden und selbst die größten sachlichen Unterschiede (zum Beispiel zwischen Mensch und Tier) aus dem Auge verlieren können. Die Wahrnehmung funktioniert deshalb nur dann einigermaßen richtig, wenn die Menschen in einem befriedeten Raum leben. Insofern folgt Girard mit Recht der inneren Logik seiner Theorie, wenn er diese auf die ganze Kultur ausweitet. Der Sündenbockmechanismus schafft die fundamentale Differenz zwischen profan und sakral, zwischen menschlich und nichtmenschlich. Dieser Unterschied ist grundlegend für alle weiteren Differenzierungen. Zudem werden die menschlichen Sinne erst durch die Überwindung der allgemeinen Erregung wieder fähig, Verschiedenheiten bei Menschen, Tieren, Pflanzen und unbelebten Stoffen angemessen wahrzunehmen.

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Die grundlegende Funktion des Sündenbockmechanismus beschränkt sich allerdings nicht darauf, den für die Kultur nötigen friedlichen Raum zu schaffen. Die fundamentale Unterscheidung zwischen profan und sakral fließt innerlich in alle weiteren Differenzierungen ein. Die für alles kulturelle Wissen unentbehrliche sinnenhafte Wahrnehmung entfaltet sich im Koordinatennetz von Raum und Zeit. Für die Menschen »primitiver« Gesellschaften waren Raum und Zeit aber keineswegs, wie I. Kant meinte, »reine Formen der sinnlichen Anschauung«, Formen, die nur das reine Nebeneinander und das reine Nacheinander enthalten. Für das mythische Denken waren Raum und Zeit qualitativ strukturiert, und ihr Zentrum war höchstwahrscheinlich der Ort, wo der ursprüngliche Sündenbock von allen gemeinsam getötet wurde: die Schädelstätte. Maurice Leenhardt schreibt in seiner ausgezeichneten Studie über die mythische Welt der Melanesier: »Je weniger die Vorstellungen vom Leichnam und von Gott unterschieden werden, desto weniger wird auch der Raum unterschieden, wo sich die Lebenden und die Toten aufhalten ... Es zeigt sich so, daß der Raum keine eigenen Dimensionen hat. Er ist wesentlich qualitativer Art.«(25) Zur qualitativen Eigenart des Raumes sagt Leenhardt an anderer Stelle: Die Schädelstätte ist der wahre Stützpunkt für den räumlichen und sozialen Bereich der Gruppe.« (26) Der gleiche Autor zeigt im weiteren durch eine peinlich genaue Analyse einer melanesischen Sprache, wie die sakralen Vorstellungen die Wahrnehmung des eigenen Ich, des Körpers, der eigenen Taten, der Gruppe und der Natur in einer Weise bestimmen, wie man es von der abendländischen Denktradition her nie vermuten würde. Die hintergründigen sakralen oder kosmischen Vorstellungen beeinflussen selbst die banalste Alltagserfahrung.

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Girard weiß, daß er einen sehr hohen Anspruch erhebt. Er versteht den Sündenbockmechanismus nicht nur als Grundvorgang »primitiver« Religionen und Kulturen, sondern überhaupt aller bisherigen Gesellschaften. Zum Verständnis der vielfältigen kulturellen Verschiebungen, die über dem einen verborgenen Grundmechanismus eingetreten sind und noch eintreten, ist die Einsicht entscheidend, daß die menschliche Begierde ständig ihr Objekt wechselt. Sie ist auf keines festgelegt und läßt sich durch die Mimesis bald auf dieses bald auf jenes hinlenken. Da zudem die voll erregte Begierde im Zorn besonders leicht ihr erstes Objekt verliert und auf ein zufälliges anderes überspringt, kann sich allein aufgrund äußerer Zufälle eine ganze Reihe von Verschiebungen einstellen. An die Stelle des ersten Rivalen tritt der

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kollektive Sündenbock. Doch auch dieser kann wieder leicht ausgetauscht werden. So wird im rituellen Geschehen der spontan gewählte Sündenbock durch die Opferung bestimmter Menschen oder Tiere ersetzt. Schließlich können selbst die Opfer durch andere Institutionen abgelöst werden, die im wesentlichen ähnlich funktionieren, bei denen aber der Sündenbockmechanismus immer mehr verdeckt wird. Die relative Eigengesetzlichkeit gesellschaftlicherTeilbereiche tritt dadurch stärker in den Vordergrund, ohne daß es aber zu einer vollen Loslösung vom Grundvorgang der kollektiven Übertragung der Gewalt auf ein zufälliges Opfer käme. Girard weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Justiz hin, die in modernen Gesellschaften (teilweise) jene Funktion übernommen hat, die in »primitiven« Kulturen durch die rituellen Opfer erfüllt wurde: »Wenn unser System uns rationaler erscheint, liegt dies daran, daß es dem Prinzip der Rache tatsächlich noch strenger entspricht. Die Betonung der Strafe für den Schuldigen hat keinen anderen Sinn. Anstatt durch die eigentlich religiösen Verfahrensweisen die Rache zu verhindern, zu mäßigen, zu umgehen oder auf ein sekundäres Ziel abzuleiten, rationalisiert die Justiz die Rache. Es gelingt ihr, die Kettenreaktion zu unterbrechen und die Rache nach eigenem Entscheid zu begrenzen. Die Justiz geht mit ihr ohne Gefahr um und macht aus ihr ein äußerst wirksames Mittel der Heilung und in zweiter Linie auch der Vorbeugung« (Violence, S. 40). Die Justiz unterscheidet sich demnach in wichtigen Punkten von den »eigentlich religiösen Verfahrensweisen, die Rache zu verhindern«, dennoch vermag sie sich nicht vom Sündenbockmechanismus ganz zu lösen. In ihr wird die Reziprozität von Gewalt und genau berechneter Gegengewalt gewahrt. Die bedrohte Gesellschaft schließt sich zudem immer wieder gegen die Übeltäter zusammen, wie dies früher besonders deutlich wurde bei öffentlichen Hinrichtungen, die zugleich eine Art blutrünstiges Volksfest waren.

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Die Wirksamkeit des Sündenbockmechanismus ist auch in jedem despotischen und tyrannischen Regime klar zu verfolgen. Die Untertanen fühlen sich einerseits eins in ihrer Ablehnung und in ihrem Haß gegen den (die) despotischen Herrscher. Sie projizieren alle ihre gewalttätigen Gefühle auf die böse Autorität. Gleichzeitig sind sie aber von deren Glanz fasziniert. Wie in den Romanen Dostojewskis der Begehrende oft für den Erfolg des Rivalen arbeitet, so stützen in Tyranneien die Untergebenen zugleich ihre verhaßten Herrscher. Ohne diese offene oder unterschwellige Verehrung und Unterstützung könnte keine Gewaltherrschaft auch nur die kürzeste Zeit überdauern.

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Im Laufe der Geschichte sind die Verschiebungen von Institution zu Institution immer komplizierter, und der Gesamtaufbau der Gesellschaften ist immer differenzierter geworden. Nach der Überzeugung Girards gab es bis

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jetzt aber keine gesellschaftliche Ordnung, die dem Grundvorgang der einmütigen Übertragung der Gewalt auf ein zufälliges Opfer ganz entronnen wäre. Waren kleine Stammesgesellschaften ihrer Grundstruktur nach nur auf einen Sündenbock polarisiert und gab es im wesentlichen nur eine Institution, das Opfer, das den ursprünglichen Vorgang ständig erneuert hat, sind die modernen Gesellschaften so vielschichtig geworden, daß durch den gleichen Mechanismus immer neue Menschengruppen gegen einen gemeinsamen Feind zusammengeschlossen werden (z. B. Arbeiter aller Länder vereinigt euch gegen die Kapitalisten). Die fundamentale Bedeutung des Sündenbockmechanismus wird dadurch immer mehr verdeckt. Girard rechnet allerdings damit, daß der Grundvorgang der kollektiven Gewalt gerade dann plötzlich mit neuer Wucht hervorbrechen kann, wenn eine angeblich aufgeklärte und durchrationalisierte Gesellschaft meint, »primitives« Denken und Handeln endgültig überwunden zu haben. Tatsächlich wird heute praktisch von allen hohen Autoritäten mit Ernst vertreten und von der Mehrheit der Menschen auch geglaubt, daß nur die Drohung mit der »absoluten« Gewalt den Frieden und die Ordnung auf Erden sichern kann. Girard sagte dazu in einem Diskussionsbeitrag: »Heute kreist die endgültige Gewalt - die Wahrheit der menschlichen Geschichte - in mehr oder weniger satellitisierter Form über unseren Köpfen dahin und könnte, wenn wir es so wünschen, der ganzen Menschengeschichte in einem Augenblick den Garaus machen. Die Spezialisten sagen uns, ohne mit der Wimper zu zucken, daß nur diese Gewalt uns beschützt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir verstehen werden, warum Menschen ihre eigenen Kinder in den Feuerofen des Götzen Moloch werfen und dabei glauben konnten, sich auf diese Weise vor einer schlimmeren Gewalt zu schützen.« (27) Nach Girard funktioniert das moderne Denken letztlich immer noch wie das »primitive«: nur sind inzwischen die Folgen weit gefährlicher geworden.

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Hat sich der Vorwurf, Girard vertrete einen Monismus der Gewalt, unter verschiedenster Rücksicht als unhaltbar erwiesen, liegt ein anderes Bedenken auf der Hand. Seinem methodischen Vorgehen kann Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen werden. Der Verdacht richtet sich zum einen gegen den Literaturkritiker. Ist es nicht vermessen, von dichterischen Werken her eine ganze Theorie über die menschliche Begierde, die Gesellschaft und die Religion zu entwerfen? Der Verdacht gilt aber auch der Methode, die Girard zur Interpretation der Texte anwendet. Er deutet französische Romane im Lichte von Cervantes, Dostojewski, Shakespeare und Hölderlin. Er springt von modernen Texten auf die griechischen Tragödien über. Er wagt

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Vergleiche zwischen Dramen und Opferriten. Den dabei gefundenen Schlüssel benützt er zur Deutung alter Mythen. Nach dem Urteil vieler moderner Wissenschaftler ist ein derartiges Vorgehen, das angeblich alles durcheinanderwirft, als unwissenschaftlich einzustufen. - Doch was bedeutet hier wissenschaftlich? Nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Humanwissenschaften herrscht heute die Tendenz vor, die Forschungsgebiete immer mehr aufzuteilen und jedes Objekt gesondert und gleichsam lupenrein zu betrachten. Als Folge ergibt sich, daß die Ergebnisse sich auf einen immer kleineren Teil der Gesamtwirklichkeit beziehen und für ein umfassendes Verständnis des Menschen immer nichtssagender werden. Wegen der extremen Spezialisierung verliert man zugleich die Voraussetzungen der einzelnen Disziplinen im wachsenden Maße aus dem Auge und verfällt gerade dadurch im wahren Sinn der Unwissenschaftlichkeit. Girard durchbricht deshalb mit Recht die vorherrschende Tendenz im heutigen Wissenschaftsbetrieb. Er ist sich seiner Methode voll bewußt, wenn er versucht, eine umfassende Schau zu erreichen. Er muß sich notwendigerweise auf die vielfältigsten menschlichen Selbstinterpretationen stützen und unterschiedlichste Aussagen miteinander in Beziehung bringen. Seine Methode, Texte zu interpretieren, steht in strenger Übereinstimmung mit dem Inhalt seiner Theorie und erweist darin ihre Wissenschaftlichkeit. Seine Aussagen lassen sich deshalb von keinem isolierten Teilgebiet her und mittels keiner (unreflektierten) spezialisierten Methode entscheidend kritisieren.

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Girard fordert mit Recht ein Verständnis von Wissenschaft, das für die gesamte Wirklichkeit offen ist. Er stellt seine Theorie zunächst als Hypothese vor und will ihren Wahrheitsgehalt daran messen, ob sie sich als geeignet erweist, Phänomene zu erklären, die bisher nicht zu deuten waren und als seltsame und abnorme Erscheinungen beiseite geschoben wurden. Er lehnt es ab, die Wissenschaftlichkeit seiner Methode dem Urteil irgendeiner Modeströmung zu unterwerfen; er will sie nur daran erproben, ob sie zu Ergebnissen führt, die einen kohärenten Zusammenhang in die überaus vielfältigen ethnologischen und literarischen Daten bringen. Tatsächlich bietet Girard überraschende Einsichten in ungewöhnliche menschliche Verhaltensweisen, in seltsame gesellschaftliche Institutionen und in unverständliche literarische Aussagen. Über die bereits erwähnten Punkte hinaus ließe sich leicht auf eine große Zahl literarischer Texte, kultureller Gebräuche und gesellschaftlicher Vorgänge hinweisen, die dank der Theorie vom Sündenbock in einem neuen Licht erscheinen. Fraglich bleibt nur, ob man sagen kann, seine allgemeine Theorie sei durch Fakten, die zunächst immer Einzelfakten sind, bewiesen. Dieses Problem ist keineswegs neu. Es stellt sich längst nicht nur bei der Methode Girards, sondern bei jedem wissenschaftlichen Vorgehen. Normalerweise gilt deshalb eine Theorie so lange

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als wissenschaftlich begründet, wie sie nicht durch eine andere ersetzt wird, die alle vorliegenden Fakten noch besser und einfacher zu deuten vermag. Der Theorie Girards kann nun tatsächlich nicht abgesprochen werden, daß sie einerseits auf viele disparate Fakten ein neues Licht wirft und zugleich einfach ist. Eine noch einfachere und umfassendere Konzeption ist nirgends in Sicht. Die literarisch-ethnologische Methode und die Analysen des französischen Literaturkritikers über die mimetische Struktur der Begierde und über die kollektive Übertragung der Gewalttätigkeit auf ein zufälliges Opfer sind deshalb wissenschaftlich ernst zu nehmen.

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In einem tieferen Sinne lassen sich die Analysen Girards zudem in die neueste wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung sehr wohl einordnen. Wie vor allem Helmut Peukert in seinem Werk »Wissenschaftstheorie-Handlungstheorie-Fundamentale Theologie« (28) einleuchtend aufzeigt, haben die oft verwirrenden Diskussionen der letzten Jahrzehnte über wissenschaftliche Theoriebildung trotz des gegenteiligen Anscheins ein Ergebnis gezeitigt. Die inneren Widersprüche des logischen Positivismus führten zunächst dazu, die Umgangssprache als letzten unersetzbaren Bezugsrahmen anzuerkennen. Die Alltagssprache ist aber ihrerseits keine absolute Größe, sondern das Produkt eines langen kommunikativen Prozesses. Jede Wissenschaftstheorie gründet deshalb in einem kommunikativen Handeln, wobei das universale freie Gespräch das formale Ideal der Kommunikation ist. »Jedes Argument, ja jedes menschliche Wort und genaugenommen sogar jede Handlung, die als solche verständlich sein soll, erhebt den Anspruch, über die aktuelle Situation hinaus von jedem verstanden werden zu können, und weitet damit die Gemeinschaft der unmittelbar Interagierenden aus auf die ›ideale Kommunikationsgemeinschaft‹ aller, die an Kommunikation teilnehmen können oder jemals hätten teilnehmen können.« (29) Zur Wissenschaftlichkeit gehört folglich, daß kein möglicher Gesprächspartner (mit Gewalt) ausgeschlossen wird. Diese universale Weite führt jedoch, wie Peukert selber zeigt, in eine Aporie. Die Forderung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft als Voraussetzung echter Wissenschaftlichkeit ist einerseits zwar unbedingt notwendig, anderseits wurde sie aber nie verwirklicht, weil immer wieder durch Macht und Gewalt über die Wahrheit entschieden wurde. Genau in diese Problematik fügt sich das Werk Girards ein. Er entwickelt eine Theorie universalen kommunikativen Handelns, indem er zugleich herausarbeitet, wie die wahre Kommunikation von An-

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fang an verhindert wird. Er zeigt die allgemeine Neigung zur Gewalt auf und analysiert die Überwindung dieser Tendenz durch die kollektive Übertragung der Aggression auf ein zufälliges Opfer. Eine Gesellschaft, die durch den Sündenbockmechanismus strukturiert wird, ist jedoch genau das Gegenteil der geforderten idealen Kommunikationsgemeinschaft. Die Theorie Girards legt folglich jene verborgenen Kräfte und Mechanismen bloß, die dem Ziel wahrer Wissenschaftlichkeit radikal widerstreiten. Insofern dürfte seine Theorie sogar an der Spitze der heutigen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung stehen. (30)

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Peukert macht im weiteren deutlich, daß das Ideal einer freien und universalen Kommunikationsgemeinschaft auch eine universale Solidarität erfordert. Damit taucht eine neue grundlegende Problematik auf. Wie kann jenen Gerechtigkeit widerfahren, die im Laufe der Geschichte keine freie Anerkennung fanden, sondern der Gewalt zum Opfer gefallen sind? Genau diese Frage wird, wie wir im folgenden noch sehen werden, durch die Analysen Girards ins Zentrum gerückt. Er arbeitet konkret heraus, was Peukert nur als abstrakte Forderung an eine Theorie kommunikativen Handelns formuliert.

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Neben der Frage nach der Methode wirft »La violence et le sacré« auch ein logisches Problem auf. Bei seinem Suchen nach der Grundlage menschlicher Gesellschaften und Kultur stößt Girard nicht bloß auf ein allgemeines abstraktes Prinzip oder auf eine archetypische Struktur, sondern auf ein konkretes Ereignis. »Primitive« Gesellschaften beruhen nach ihm auf der tatsächlichen Tötung eines bestimmten Menschen. Daß gerade dieser und nicht ein anderer umgebracht wurde, war zwar zufällig und gab der betreffenden Gesellschaft innerhalb bestimmter Grenzen ein zufälliges Gepräge. Die kollektive Verschwörung aller gegen einen war aber ein notwendiges Geschehen. Gemäß vorherrschendem wissenschaftlichem Verständnis sind jedoch alle historischen Ereignisse zufällig. Sie lassen sich deshalb nicht rückwärts erschließen, sondern von ihnen kann man nur durch überlieferte Zeugnisse etwas wissen. Im Gegensatz dazu postuliert Girard für jede »primitive« Gesellschaft ein konkretes »Gründungsereignis«, von dem er durch keine direkten historischen Quellen etwas weiß. Sein Vorgehen setzt voraus, daß der ursprüngliche Vorgang eine Struktur hatte, die auch das spätere Leben des Stammes so bestimmte, daß von später auf früher ge-

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schlossen werden kann. Trotzdem will Girard den Südenbockmechanismus ausdrücklich nicht als archetypischen Vorgang verstanden wissen. Für jede Gesellschaft war die Tötung des ersten Sündenbocks nämlich etwas Einmaliges, das in keinem (rituellen) Nachvollzug die ursprüngliche Bedeutung wieder erreichte. Opferriten begründeten nirgends eine neue Gesellschaft; sie setzten vielmehr eine bestehende sakrale Ordnung voraus und halfen nur, neu auftauchende Probleme zu meistern und dadurch den Weiterbestand der Gesellschaft zu sichern. Brachen Rivalitäten und Leidenschaften hingegen nicht mehr innerhalb eines bestehenden sakralen Rahmens auf, sondern entbrannten sie mit brutaler Hemmungslosigkeit, wurden die frühere Gesellschaft und ihre kulturelle Ordnung zerstört. Die Menschen gingen entweder zugrunde, oder durch die kollektive Übertragung der entfesselten Gewalt auf ein neues zufälliges Opfer wurde eine neue Ordnung errichtet. Das ursprüngliche Geschehen war folglich nicht bloß ein Einzelereignis neben vielen anderen. Es begründete eine sakrale Ordnung und bestimmte, wie der allgemeingültige Vorgang, der sich einmal mit voller Intensität abgespielt hatte, künftig rituell nachvollzogen wurde. Die reale Tötung des Sündenbocks war etwas Einmaliges, sie schuf aber zugleich für die betroffene Gesellschaft eine allgemeingültige Ordnung.

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Läßt sich der Gründungsvorgang einer Gesellschaft nicht als Einzelfall neben vielen anderen unter eine allgemeine Gesetzmäßigkeit subsumieren, wird dadurch ein logisches Problem aufgeworfen, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Die Theorie Girards fordert zudem noch unter einer anderen Rücksicht eine neue Bestimmung dieses logischen Verhältnisses. Zum Sündenbockmechanismus gehört die reale Gegenüberstellung aller gegen einen. Die Allgemeinheit schließt sich gegen einen einzelnen zusammen. Dem entspricht die Problematik, daß in der herkömmlichen Logik der Allgemeinbegriff das konkrete Einzelne als Einzelnes ausschließt. Wird der Sündenbockmechanismus aber bloßgelegt, zeigt sich konkret, daß die allgemeine Ordnung nur auf der Grundlage des konkreten ausgestoßenen Einzelnen möglich war. Zum richtigen Verständnis des Allgemeinen gehört folglich von nun an, daß das Einzelne auf neue Weise integriert wird, und zwar sowohl im praktischen Verhalten wie in der logischen Analyse.

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Lange vor Girard hat sich schon Hegel bemüht, die - wie er sagte - abstrakte Gegenüberstellung zwischen dem leeren Allgemeinen und dem geistlosen Einzelnen zu überwinden. Er versuchte dazu, die Wirklichkeit nicht mehr in Gegensätzen zu denken, die einander äußerlich bleiben, sondern sie als innere Selbstentzweiung zu verstehen. Es zeigen sich deshalb auch überraschende Analogien zwischen dem ständig wiederkehrenden

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Thema der dialektischen Selbstentzweiung bei Hegel und den Analysen Girards über die Selbstprojektion, den Doppelgänger und die mimetische Rivalität. In der Phänomenologie Hegels finden sich zudem Texte, die noch unmittelbarer an Girard erinnern.

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Nach den Darlegungen des großen deutschen Philosophen zielt die Begierde letztlich auf eine andere menschliche Begierde. Der bekannte französische Hegel-Interpret Alexandre Kojève schreibt: »Die Tat, die ein tierisches Verlangen befriedigen soll und sich auf eine gegebene existierende Sache richtet, kommt nie dazu, ein menschliches sich selbst bewußtes Ich zu schaffen. Die Begierde ist nur dann menschlich - oder genauer gesagt ›vermenschlichend‹, ›menschenschaffend‹ -, wenn sie auf eine andere Begierde und auf eine andere Begierde gerichet ist.«(31) Hegel reflektiert bei dieser Analyse allerdings nicht auf die wichtige Rolle der Mimesis. Girard zeigt demgegenüber, daß die Begierde sich zunächst nicht direkt auf die fremde Begierde richtet, sondern diese nur nachahmt und jenes Gut erstrebt, das ihr auf diese Weise bezeichnet wird. Erst im aufbrechenden Konflikt, der entsteht, weil zwei Streben auf das gleiche Objekt gerichtet sind, verliert die Begierde das ursprüngliche Gut aus dem Auge und richtet sich direkt auf die andere Begierde. Sie verehrt und bekämpft diese nun in einem. Girard kann so bestens erklären, wie aus der Begierde fast unbemerkt die Rivalität und der Kampf entsteht.

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Auch nach Hegel gehört zur Begierde der Kampf auf Leben und Tod. Der Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein geschieht, indem ein Bewußtsein vom andern als solches anerkannt (begehrt) wird. Dazu müssen beide in einem Kampf auf Leben und Tod um die gegenseitige Anerkennung ringen. Girard vermag aber zu zeigen, daß gewalttätige Auseinandersetzungen viel spontaner entstehen. Kämpfe auf Leben und Tod stellen sich ein, längst bevor die Problematik des Selbstbewußtseins reflex auftritt. Desgleichen macht Girard deutlich, daß bei Hegel ungeklärt bleibt, weshalb die gewalttätige Auseinandersetzung nicht mit dem Tod des Schwächeren endet. Aufgrund seiner systematischen Überlegungen ist ein vorzeitiger Abbruch des Kampfes zwar notwendig, damit der Unterlegene den Sieger als Herrn anerkennen kann. Doch dieser grundsätzliche Gedanke hat im tatsächlichen Kampf keine Bedeutung. Der Abbruch wäre nur verständlich, wenn der Schwächere plötzlich den Tod fürchten und deshalb nachgeben würde und wenn darauf auch der Stärkere vom Kampf abließe. Doch diese beiden Annahmen entsprechen längst nicht immer dem tatsächlichen

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menschlichen Verhalten. Nur zu oft gibt keiner der Protagonisten nach. Und selbst wenn in gewissen Fällen der Schwächere aus Todesfurcht plötzlich den Kampf scheut, ist damit längst nicht gesagt, daß auch der Stärkere einhält. Bei Tieren trifft dies zwar genau zu. Sie haben angeborene Hemmungsmechanismen, durch die Kämpfe zwischen artgleichen Individuen automatisch gebremst werden, sobald das schwächere Tier einen Demutsgestus macht. Die Menschen sind jedoch leidenschaftlich. Ihre Kämpfe kennen aus sich heraus normalerweise keine Grenzen. Hegel hat diese Dimension menschlicher Aggression nicht gesehen. Er verstand die Gewalt eher als tierisches Verhalten. Dennoch sah er ihre große Bedeutung. Deshalb kommt er auch in der Phänomenologie noch öfter auf sie zu sprechen.

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Auf der Ebene des absoluten Subjekts, der letzten und allgemeinsten Reflexionsstufe, finden sich Formulierungen, die ganz wie jene Girards klingen. Er schreibt bei der Analyse des Eigendünkels: »Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über, in die Wut des Bewußtseins, gegen seine Zerstörung sich zu erhalten, und dies dadurch, daß es die Verkehrtheit, welche es selbst ist, aus sich herauswirft und sie als ein Anderes anzusehen und auszusprechen sich anstrengt.« (32) Im Toben des verrückten Eigendünkels wird die eigene Verkehrtheit aus sich herausgeworfen und in einem anderen gesehen. Dabei geschieht dies unter dem Vorzeichen guter Gründe. Das tobende Bewußtsein sieht seinen verrückten Eigendünkel nicht und meint, sich für das Wohl der Menschheit zu ereifern. Die Aussagen Hegels über den Eigendünkel decken sich praktisch mit den Analysen Girards über die Projektion der eigenen Gewalttätigkeit, ja die Parallelen gehen noch weiter. Nach Hegel steht der einzelne mit seinem Eigendünkel in einem Allgemeinen (einer Gemeinschaft), das sich auf keiner höheren Stufe befindet als er selbst: »Das Allgemeine, das vorhanden ist, ist daher nur ein allgemeiner Widerstand und Bekämpfung aller gegeneinander, worin jeder seine eigene Einzelheit geltend macht, aber zugleich nicht dazu kommt, weil sie denselben Widerstand erfährt und durch die andern gegenseitig aufgelöst wird.« (33) Diese Beschreibung des allgemeinen Eigendünkels trifft sich fast wörtlich mit dem, was Girard über die Opferkrise sagt. Jeder sieht im andern einen Rivalen. Jeder kämpft gegen jeden.

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Von besonderem Interesse ist hier die Frage, wie der Kampf aller gegen alle überwunden wird. Nach Hegel geschieht dies dadurch, daß das Be

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wußtsein sich zur Tugend erhebt. Diese Antwort mag idealistisch und moralisierend klingen. Sie ist aber keineswegs so flach, wie sie scheint. Für Hegel ist die Tugend letztlich mit dem Weltlauf identisch. Was sich tatsächlich durchsetzt, ist das Gute. Die Tugend hat deshalb im Kampf mit dem Laster »ihren Glauben an die ursprüngliche Einheit ihres Zwecks und des Wesens des Weltlaufes in den Hinterhalt gelegt, welche dem Feinde während des Kampfes in den Rücken fallen und an sich ihn vollbringen soll, so daß hiedurch in der Tat für den Ritter der Tugend sein eigenes Tun und Kämpfen eigentlich eine Spiegelfechterei ist, die er nicht für Ernst nehmen kann, ... eine Spiegelfechterei, die er auch nicht zum Ernste werden lassen darf«(34). Die Tugend bekämpft demnach mittels einer List das Laster, ja es kommt nicht einmal zu einem echten Kampf, sondern nur zu einer Spiegelfechterei. Auch nach Girard wird der Kampf aller gegen alle durch eine List der Mimesis überwunden, durch die Entladung auf einen Sündenbock. Der vorausgehende Kampf ist ebenfalls fast im wörtlichen Sinne eine Spiegelfechterei. Jeder ahmt die Schläge des anderen nach. Wenn Hegel aber meint, dieser Kampf dürfe nicht ernst genommen werden, ist Girard anderer Meinung. Er zeigt, daß die allseitige Auseinandersetzung die Beteiligten zutiefst erregt und in eine niederschmetternde Angst versetzt. Sie kann deshalb nur durch den (stellvertretenden) Tod eines Kämpfers beendet werden.

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Unter dem Stichwort »Sittlichkeit« greift Hegel die Frage nach dem friedlichen Zusammenleben der Menschen nochmals auf. In seinen Analysen über »Die sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal«(35) arbeitet er heraus, daß die sittliche Tat immer ihre dunkle Gegenseite hat. Dabei bezieht er sich wie Girard ausdrücklich auf die griechischen Tragödien, um am Beispiel der feindlichen Brüder zu zeigen, daß nicht auf der einen Seite nur das Gute und auf der anderen nur das Böse steht. Jeder bekämpft den andern bis zum Tod, in der Meinung, sein Recht zu verteidigen. Diesmal rechnet Hegel auch mit dem realen Tod eines Protagonisten oder gar beider. Die dialektische Bewegung geht trotzdem weiter, weil »das Allgemeine (das Volk) die reine Spitze seiner Pyramide leicht abstößt« (36), wenn zwei Brüder sich um die Herrschaft streiten. Wie aber wird das Volk zusammengehalten und davor bewahrt, selber tödlichen Rivalitäten zu verfallen? Hegel sagt: Der »offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere

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und sich versichernde Gewißheit des Volks hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wassern der Vergessenheit.« (37) Hier verfällt Hegel der Mythologie, allerdings einer eindrücklichen Mythologie. Girard aber hebt den untergründigen »alle in eins bindenden Eid« aus den »Wassern der Vergessenheit« und aus der »bewußtlosen und stummen Substanz aller« und enschlüsselt ihn. Der »Alle ins Eins bindende Eid« ist nichts anderes als die Zusammenrottung aller gegen einen. Zwar erahnt auch Hegel die wahren Zusammenhänge, wenn er im gleichen Kontext sagt: »Der Tote, dessen Recht gekränkt ist, weiß darum für seine Rache Werkzeuge zu finden, welche von gleicher Wirklichkeit und Gewalt sind mit der Macht, die ihn verletzt. Diese Mächte sind andere Gemeinwesen, deren Altäre die Hunde oder Vögel mit der Leiche besudelten.«(38) Wieder bedient sich Hegel einer mythologischen Redeweise. Seine Aussage aber, daß der Tote entsprechende Werkzeuge der Rache findet, läßt den Gedanken der Mimesis mindestens anklingen. Durchschaut hat er die mimetische Struktur der Begierde aber nicht.

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Zwischen Hegel und Girard kann man fast Schritt auf Schritt überraschende Parallelen finden. Trotzdem unterscheiden sich beide Denker grundlegend. Girard kritisiert auch ausdrücklich an Hegel, daß sein Denken noch unter der Herrschaft der Mimesis bleibt, daß es nie wahrhaft zum anderen vorstößt, sondern dieses in immer neuen Abwandlungen nur zum »Doppelgänger« des eigenen Bewußtseins macht. In einer nie endenden Mimesis paßt sich das denkende »Ich« bei Hegel der gesamten anderen Wirklichkeit an. Dabei findet es aber letztlich immer nur seine eigenen nachahmenden Anpassungen und bleibt deshalb in sich selbst gefangen.

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Wegen ihrer Verhaftung an die Mimesis bietet die dialektische Philosophie keine Lösung für das bei Girard neu aufgeworfene Problem des Verhältnisses zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen. Hegel hat aber eindrücklich gezeigt, daß diese Frage durch die aristotelische Logik keineswegs endgültig gelöst war. Er selbst konnte die Problematik nicht letztlich meistern, und auch seither ist man einer Lösung kaum entscheidend näher gekommen. Girard kann deswegen kein Vorwurf gemacht werden, wenn bei ihm die gleiche Frage mehr indirekt angegangen als bewußt behandelt wird. Es dürfte jedoch eine lohnende Aufgabe für kommende Untersuchungen sein, die hegelsche Philosophie im Lichte von »La violence et le sacré« neu zu lesen und zu interpretieren.

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Auf einen letzten Einwand gegen Girard wollen wir noch kurz eingehen. Er besteht im Vorwurf, die Religion werde auf ein rein gesellschaftliches Phänomen reduziert. Dieser Eindruck kann tatsächlich entstehen, wenn man nicht genau auf die Reflexionsstufe achtet, die das Werk »La violence et le sacré« bestimmt. In ihm geht es darum, zu zeigen, wie die Vorstellungen vom Sakralen und von der Transzendenz entstehen. Diese Vorstellungen sind menschliche Vorstellungen und können als solche untersucht werden. Ob es eine tatsächliche Transzendenz gibt oder nicht, kann auf dieser Reflexionsstufe nicht beantwortet werden. Girard klammert sie deswegen in seinem bisherigen Hauptwerk methodisch aus.

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Das Vorgehen Girards hängt zutiefst mit seiner Grundthese zusammen. Er führt die sakralen Vorstellungen nicht auf schlußfolgerndes Denken zurück. Von intellektuellen Vorstellungen würde nie ein instinktiver sakraler Schrecken ausgehen. Der Doppelaspekt von heilbringend und verflucht wäre ebensowenig zu erklären. Girard sieht in den sakralen Vorstellungen auch nicht das Produkt irgendeines biologischen Triebes. Er wendet sich sogar ausdrücklich gegen die Theorien vom Aggressionstrieb. Mittels solcher gedanklicher Konstruktionen werde nur die Problematik der Gewalt aus der Verantwortung des Menschen in den biologischen Bereich abgeschoben. Der biologische Trieb wurde zum Sündenbock für all die Greueltaten gemacht, die Menschen einander zufügen.

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Wenn weder das schlußfolgernde Denken noch ein Trieb die sakralen Gebilde produziert, wie entstehen sie dann? Entscheidend ist für Girard die Einsicht, daß religiöse Vorstellungen im strengen Sinne gesellschaftlicher Art sind. Sie können nicht aus der Summe von Einzelvorstellungen erklärt werden, sondern müssen auf einen kollektiven Vorgang und auf eine viele Menschen gemeinsam treffende Erfahrung zurückgeführt werden. Dies ist zusammen mit der Dreiecksstruktur der Begierde der eigentliche Grund, weshalb Girard in »La violence et le sacré« die religiösen Vorstellungen ausschließlich aus einer intersubjektiven und gesellschaftlichen Perspektive betrachtet. Dieser Ansatz hat sehr weitgehende Konsequenzen.

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In genauer Entsprechung zur intersubjektiven und gesellschaftlichen Betrachtungsweise lehnt Girard es ausdrücklich ab, die Aufdeckung des Sündenbockmechanismus seinem eigenen Subjekt zuzuschreiben. Er weiß sich vielmehr in einer Tradition, und zwar in der christlichen. Diese Überlieferung versteht er nicht als Frucht rein menschlicher Anstrengung. Er führt die Bloßlegung des Sündenbockmechanismus letztlich auf die Offenbarung zurück. Dadurch kehren sich alle seine Aussagen in »La violence et le sacré« gleichsam um und erscheinen in einem neuen Licht. In einem Dis-

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kussionsbeitrag sagte er: »Dieser Mechanismus (39) ist nun tatsächlich nirgends sichtbarer als in den Evangelien. Dies gilt in solchem Maße, daß die zu vollkommene Evidenz in ihr Gegenteil umschlägt. Wenn nämlich das Christentum nur eine der vielen Religionen wäre, dann müßte der Grundmechanismus wie bei den andern verschleiert sein. Man könnte dann immer einwenden: du hast nicht richtig gesehen; du manipulierst die Texte. Hier ist dies aber unmöglich. Alles steht schwarz auf weiß und gleich in vier verschiedenen Texten auf einmal. Damit der Grundmechanismus der Gewalt wirksam ist, muß er im verborgenen bleiben. Hier aber ist er völlig bloßgelegt.« (40) Wie kam es dazu? Durch die Offenbarung der Liebe wurde die Wahrheit über die Gewalt aufgedeckt: »Die Götter der Gewalt wurden durch die Verkündigung des Gottes der Liebe entwertet. Die Maschine ist in Unordnung geraten. Der Mechanismus der Gewalt funktioniert nicht mehr. Die Mörder Christi haben umsonst gehandelt, oder besser: ihre Tat war insofern fruchtbar, als sie Christus geholfen haben, die objektive Wahrheit der Gewalt in den Evangelien niederzuschreiben.«(41)

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Die Gewalt ist so geschickt, ihr eigenes Treiben zu verdecken, daß kein Mensch sie aus eigenem Genie bloßlegen kann. Girard hält seinen im christlichen Sinn verstandenen intersubjektiven und gesellschaftlichen Ansatzpunkt so konsequent durch, daß er zur Aussage genötigt wird, wir können »nicht mehr glauben, daß wir es sind, die erstmals die Evangelien im Lichte der modernen ethnologischen Gegebenheiten lesen. Man muß diese Ordnung umkehren. Es ist immer die große jüdisch-christliche Bewegung, die liest. Was immer von der Ethnologie her sich zeigen kann, erscheint im Lichte einer laufenden Offenbarung, einer ungeheuren geschichtlichen Arbeit, die uns erlaubt, Texte ›einzuholen‹, die an sich längst ausdrücklich vorliegen, die aber für uns Menschen, ›die Augen haben, um nicht zu sehen, und Ohren, um nicht zu hören‹, noch dunkel blieben.« (42)

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Was Girard über die mimetische Struktur der Begierde und über den Mechanismus der Gewalt schreibt, klingt auch in christlichen Ohren neu. Dennoch behauptet er, daß alles bereits schwarz auf weiß in den Evangelien

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steht. Den Grund, weshalb die Menschen diese Wahrheit bis jetzt noch nicht klar gesehen haben, findet er im Wort Jesu an seine unverständigen Jünger: »Habt ihr Augen und seht nicht und Ohren und hört nicht?« (Mk 8,18). Stimmt der Anspruch Girards, dann muß seine Theorie zu einem neuen und wahreren Verständnis der biblischen Schriften führen. Er selbst hat bis jetzt seine Interpretation der alt- und neutestamentlichen Texte nur andeutungsweise entfaltet. Vorläufig gibt es von ihm zu diesem Thema eine Stellungnahme im Rahmen einer längeren Diskussion über sein Werk »La violence et le sacré« (43). Ferner ist er in einem Vortrag, den er, wie erwähnt, in Genf zum Thema »Les malédictions contre les pharisiens et la révélation évangélique« gehalten hat, (44) auf die Evangelien eingegangen. Sein Anspruch bedarf - über diese Ausführungen hinaus - einer eingehenden Prüfung. Ein Beitrag dazu soll im folgenden geleistet werden. Dabei geht es vor allem um die uns besonders beschäftigende Frage, ob seine Theorie tatsächlich erlaubt, besser die innere Artikulation der großen alt- und neutestamentlichen Themen zu verstehen, um damit zugleich einen neuen Ansatzpunkt für eine tiefere Auseinandersetzung mit den Humanwissenschaften zu gewinnen.

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2. Kapitel. Altes Testament: Vom Gott der Rache zum Gott des Friedens

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Die vorliegenden Untersuchungen folgen nicht jener Methode, wie sie die historisch-kritische Bibelwissenschaft erarbeitet hat. Sie stehen zwar nicht im Gegensatz zu dieser bereits traditionell gewordenen Exegese, sie stützen sich sogar in manchen Punkten direkt oder indirekt auf deren Ergebnisse. Hier geht es aber nicht darum, einmal mehr das Werden des alttestamentlichen Textes, die verschiedenen Strömungen innerhalb der einen Tradition und die zahlreichen äußeren Einflüsse auf den biblischen Text zusammenfassend darzustellen. Das Anliegen ist ganzheitlicher Art. Es soll gefragt werden, ob die unterschiedlichen Texte und Strömungen eine gemeinsame Grundstruktur haben und ob sich diese mittels der Theorie Girards offenlegen läßt.

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Dieses Vorgehen stößt auf beachtliche Schwierigkeiten. Sie ergeben sich einerseits aus der Sache selber und anderseits aus dem gegenwärtigen Stand der alttestamentlichen Wissenschaft. Girard versteht das Alte Testament als einen langen und mühsamen Auszug aus der Welt der Gewalt und der sakralen Projektionen, als einen Auszug mit vielen Rückfällen, der innerhalb der alttestamentlichen Schriften nicht zu seinem Ziel kommt. Aus der Sicht Girards sind deswegen in diesem Rahmen von vornherein keine Aussagen von letzter Klarheit zu erwarten. Die Mechanismen der Gewalt und der Projektionen bleiben teilweise verdeckt. Die alten sakralen Vorstellungen herrschen weiter, und sie werden durch die fortschreitende Offenbarung nie ganz in ihrem wahren Wesen bloßgelegt. Auf der Ebene des Alten Testaments kann deshalb nur gefragt werden, ob die vielen Einzeltexte trotz widersprüchlicher Formulierungen eine gewisse Grundtendenz verraten und ob sich diese mittels der Theorie Girards erhellen läßt.

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Neben dieser zentralen Schwierigkeit entstehen eine Reihe von Problemen aus dem Umstand, daß die Theorie über die Gewalt und das Sakrale noch nicht voll ausgearbeitet ist. Girard hat seine Analysen auf der Ebene »primitiver« Gesellschaften, aber noch nicht in bezug auf Stadtkulturen erarbeitet. Gerade solche (kananäische, assyrische, babylonische, ägyptische, persische) Kulturen haben aber in besonderer Weise auf Israel und auf die altte-

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stamentlichen Schriften eingewirkt. Dieser komplizierte Vermittlungsprozeß läßt sich deshalb beim gegenwärtigen Stand der Theorie Girards noch nicht in befriedigender Weise fassen und deuten.

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Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus der inneren Problematik der modernen historisch-kritischen Exegese. Ihre Resultate sind zunächst in wesentlichen Punkten stark umstritten und werden wegen der beschränkten Anzahl von Texten wohl immer umstritten bleiben. Die historische Methode führt ferner dazu, vor allem zu untersuchen, über welche Vorstufen der vorliegende Text entstanden ist. Dabei werden fast automatisch die (vermuteten) ursprünglichen Formulierungen den Aussagen des endgültigen Textes vorgezogen. Eine Exegese, die der Methode Girards folgt, hält sich hingegen ganz an die vorliegenden Aussagen, und sie interpretiert eine Schrift in erster Linie weder von außerbiblischen Quellen noch von (vermuteten) Vorstufen her, sondern deutet einen Einzeltext im Lichte des ganzen Textes, d. h. aller übrigen Bücher des alttestamentlichen Kanons. Dabei wird keineswegs auf dogmatische Art eine Inspirationslehre vorausgesetzt. Wohl aber geht es darum, genau zur Kenntnis zu nehmen, daß Israel selber aus einer Vielzahl von Schriften eine größere Reihe ausgewählt und in einen Kanon gesammelt hat. Mit dieser Auswahl bezeugte es, daß es in diesen Schriften seinen Glauben wiederfand. Will man folglich den Glauben Israels so zu verstehen suchen, wie es ihn selber verstanden hat, muß man sich auch an seine Auswahl der Schriften halten.

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Hat ein Einzeltext große Ähnlichkeiten mit ägyptischen oder assyrischen Schriften, mag dies ein Hinweis sein, welchen Einflüssen Israel ausgesetzt war. Für die Frage nach dem Ursprung bestimmter alttestamentlicher Vorstellungen ist deshalb die vergleichende Wissenschaft wichtig. Doch das ist nur eine Vorfrage. Die eigentliche Textinterpretation hat nicht im Lichte möglicher fremder Vorlagen zu erfolgen. Durch die Übernahme außerisraelitischer Vorstellungen in den Jahweglauben wurden diese in einen ganz neuen Deutungsraum gestellt. Durch die Aufnahme eines einzelnen Buches in den Kanon der biblischen Bücher wurde dieser Interpretationsrahmen zudem nochmals verändert. Nicht irgendeine Inspirationslehre, sondern die von Israel selber vorgenommene Umdeutung fremder Vorstellungen und die Auswahl aus den eigenen Schriften legen die kanonischen Bücher als ursprünglichen Deutungsraum fest. Die historisch-kritische Exegese hält sich sehr oft nicht an dieses Interpretationsprinzip. Ihre Ergebnisse weisen deshalb nicht immer in jene Richtung, die hier vorgeschlagen werden soll.

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Es liegen allerdings auch Entwürfe alttestamentlicher Theologien vor, die versuchen, die biblischen Schriften aus sich selber zu deuten und gewisse Hauptlinien herauszuarbeiten. Zu erwähnen wäre hier in erster Linie die

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»Theologie des Alten Testaments« von Gerhard von Rad (45) (vgl. auch Alt, Noth.). Der Versuch mit der Theorie Girards kann aber aus mehreren Gründen nicht direkt an diese Arbeit anknüpfen. Die Synthese von Rads setzt ein bestimmtes Bild der Geschichte Israels voraus, das die neuere Forschung in manchen Punkten kritisiert. Ob es vor der Königszeit eine feste Amphiktyonie der israelitischen Stämme und ein Bundeserneuerungsfest in Sichem gegeben hat, ist zum Beispiel einer der Punkte, der sehr fraglich geworden ist. Ferner leidet der Entwurf von Rads darunter, daß er die weisheitliche Tradition nicht richtig zu integrieren vermag. Von Rad hat dies selber gespürt und die Weisheit gesondert behandelt. Am schwerwiegendsten ist aus der Sicht Girards aber, daß Themen wie Eifersucht, Zorn, Gewalt, Rache, Zusammenrottung, Projektion usw. zwar in den alttestamentlichen Schriften ständig wiederkehren, in der Theologie von Rads aber kaum oder nur am Rand behandelt werden. Es sind dies Themen, die für ein modernes Empfinden vielleicht unangenehm sind. Die alttestamentliche Wissenschaft ist ihnen - von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen - wohl deshalb gern aus dem Weg gegangen.

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Walter Dietrich hat versucht, sich in einer kurzen Untersuchung wenigstens der Problematik der Rache zu stellen. Auch er mußte aber eingangs bemerken: »Einen zu schlechten Klang hat das Wort Rache, als daß man gelassen zur Kenntnis nehmen könnte, wie unbekümmert das Alte Testament mit ihm umgeht. Die alttestamentliche Fachwissenschaft ist denn auch dem heiklen Problem bisher recht sorgsam aus dem Weg gegangen; und wo sie es einmal streift, da erklärt sie entweder sogleich, in diesem Punkt sei das Alte Testament überholt, oder sie versichert, Rache meine hier etwas anderes, weniger Niedriges, als man heute darunter verstehe.« (46) Die eigenen Ausführungen Dietrichs führen allerdings auch nicht viel weiter, da er das Thema der Rache zu isoliert aufgreift. Er bekommt die umfassende Problematik der Gewalt nicht in den Griff.

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Aufgrund der skizzierten Schwierigkeiten wäre es vermessen, auf kurzem Raum - und zudem noch von einem Nichtspezialisten - einen Entwurf vorlegen zu wollen, der den Anspruch erhöbe, alle wesentlichen Probleme zu lösen. Hier kann es nur darum gehen, anzudeuten, welche Möglichkeiten die Theorie Girards für eine Interpretation des Alten Testaments bietet. Das Ziel des Kapitels wäre erreicht, wenn es gelingen würde zu zeigen, daß es sich tatsächlich lohnt, alle Texte im Lichte der vorgeschlagenen Theorie systematisch durchzuarbeiten.

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Damit bei der Verfolgung der verschiedenen Einzelthemen der Überblick besser bewahrt bleibt, sollen hier die Hauptaussagen von »La violence et le sacré« nochmals thesenartig zusammengefaßt werden. Obwohl die Analysen Girards neuartig und zum Teil sehr differenziert sind, lassen sich seine entscheidenden Grundgedanken doch in wenigen Punkten zusammenfassen:

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1. Die fundamentale menschliche Begierde ist von sich aus auf kein spezifisches Objekt hingeordnet. Sie erstrebt jenes Gut, das ihr durch eine andere Begierde als erstrebenswert bezeichnet wird. Sie ahmt ein Vorbild nach.

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2. Durch die Mimesis eines fremden (vorbildlichen) Strebens entsteht unweigerlich ein Konflikt, weil die zweite Begierde das gleiche Objekt wie die erste erstrebt. Aus dem Vorbild wird zugleich ein Rivale. Dabei wird das umstrittene Objekt aus dem Auge verloren. Je mehr die Begierde sich steigert, desto ausschließlicher richtet sie sich auf die fremde Begierde selber, verehrt und bekämpft diese in einem. Die Rivalität tendiert schließlich zur Gewalt, die nun selbst als erstrebenswert erscheint. Sie wird zum nachahmenswerten Zeichen eines erfolgreichen Lebens.

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3. Da alle Menschen zur Gewalttätigkeit tendieren, ist ein friedliches Zusammenleben keineswegs selbstverständlich. Vernunft und guter Wille (contrat social) genügen nicht. Aufbrechende Rivalitäten können die bestehende Ordnung leicht gefährden, die Normen auflösen und die kulturellen Vorstellungen verwischen. Neue Räume relativen Friedens entstehen jedoch dort, wo die wechselseitigen Aggressionen plötzlich in die einmütige Gewalt aller gegen einen umschlagen (Sündenbockmechanismus).

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4. Durch die kollektive Entladung der Leidenschaft auf den Sündenbock wird dieser zugleich sakralisiert. Er erscheint sowohl als verflucht wie als heilbringend. Von ihm geht ein sakraler Schrecken aus. Um ihn herum entstehen Tabuvorschriften und eine neue soziale Ordnung.

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5. In den Opfern wird die ursprüngliche kollektive Übertragung der Gewalt auf den zufälligen Sündenbock in einem streng kontrollierten rituellen Rahmen nachvollzogen. Die internen Aggressionen werden dadurch einmal mehr nach außen abgeleitet, und die Gemeinschaft wird vor Selbstzerstörung bewahrt.

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1. Gewalttaten unter Menschen

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In den alttestamentlichen Schriften ist von verschiedenen Formen der Gewalt die Rede. Es wird berichtet, daß einzelne Menschen andere getötet haben und daß Israel die Bewohner des Landes ausgerottet und umliegende Städte und Königreiche vernichtet hat. Es wird erzählt, wie Völker über andere Völker hergefallen sind. Sieht man von der Frage ab, wie zuverlässig solche Erzählungen im modernen historischen Sinne sind, so steht zum mindesten fest, daß auf der Ebene des Textes die Gewalt eine eminente Rolle spielt. In den alttestamentlichen Büchern finden sich über sechshundert Stellen, die ausdrücklich davon sprechen, daß Völker, Könige oder einzelne über andere hergefallen sind, sie vernichtet und getötet haben. Dabei scheuen sich die Autoren nicht, öfter von hemmungslosen Gewalttaten zu sprechen. So heißt es von Josua, als er das ganze Land mit all seinen Königen unterwarf: »Nichts blieb übrig; was lebte, weihte er dem Un-tergang« (Jos 10,40). Ähnliches wird vom Heerführer Davids gesagt: »Sechs Monate hielt sich Joab mit ganz Israel in Edom auf, bis er alles, was männlich war, umgebracht hatte« (1 Kön 11,16). Keine andere menschliche Tätigkeit oder Erfahrung wird so oft erwähnt, weder die Welt der Arbeit und Wirtschaft, noch die der Familie und Sexualität oder der Naturerfahrung und des Wissens. Für die biblischen Autoren scheint die eindrucksvollste und bedrängendste Erfahrung gewesen zu sein, daß Menschen einander bekriegen und töten.

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Der eigentliche Stellenwert der Gewalt beginnt sich jedoch erst zu zeigen, wenn man von einer quantitativen zu einer qualitativen Betrachtung übergeht. Es gilt, darauf zu achten, welche grundsätzliche Bedeutung diesem Phänomen von den einzelnen Schriften und Überlieferungen zugemessen wird.

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Die sogenannte Priesterschrift kennt drei große Sündenerzählungen: die Sintflut (Gen 6 - 9), die Aussendung der Kundschafter aus der Oase Kadesch-Barnea (Num 13 f.), das Wasserwunder in der Wüste (Num 20)(47). Die beiden letzteren Erzählungen handeln von der Sünde des auserwählten Volkes, nämlich von der Verleumdung der Gottesgabe und vom Unglauben. Der Text über die Sintflut beschreibt aber die Sünde der ganzen Menschheit und ist so von besonderer Bedeutung. Die entscheidende Aussage lautet: »Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat« (Gen 6,11; vgl. 6,13). Die Sünde wird mit einem einzigen Wort

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gekennzeichnet: Gewalttat (amas). Dieses Wort findet sich oft in der prophetischen Anklagerede. Es meint die rücksichtslose Vergewaltigung des Mitmenschen, die bis zum Mord gehen kann. Es steht deshalb auch bei Ezechiel (7,11) und Jonas (3,8) als umfassender Ausdruck für Sünde überhaupt.(48) Von diesem gleichen Vergehen spricht die Erzählung über die Sintflut. Die Priesterschrift faßt folglich alle menschlichen Untaten mit dem einen Begriff »Gewalt« zusammen. Sie zeigt dadurch, daß alle anderen Vergehen in diesem Licht zu sehen sind. Jede Sünde gegen den Mitmenschen tendiert zur Gewalt. Gott straft denn auch die Erde, indem er die Menschen ihrem eigenen Tun überläßt. (49)

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Ähnlich wie die Priesterschrift sehen die prophetischen Texte das Phänomen der Gewalt. Im Buch Hosea wird zunächst die Ehe des Propheten als ein Sinnbild des Bündnisses zwischen Gott und seinem Volk dargestellt. Danach folgen lange Gerichtsreden und kurze Heilsansagen. Dieser große zweite Teil des Buches (Hos 4,1 - 19,9) beginnt mit den lapidaren Worten:

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Hört das Wort des Herrn, ihr Söhne Israels!

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Denn der Herr erhebt Klage gegen die Bewohner des Landes:

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Es gibt keine Treue und keine Liebe

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und keine Gotteserkenntnis im Land.

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Nein, Fluch und Betrug,

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Mord, Diebstahl und Ehebruch machen sich breit,

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Bluttat reiht sich an Bluttat (Hos 4,1 f.).

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Man mag diesen Text für eine orientalische Übertreibung halten. Bevor man aber seine Aussagen auf diese billige Weise abschwächt, ist darauf zu achten, was er seinem Wortlaut nach genau sagt.

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Zunächst fällt auf, daß er von einem universalen Zustand spricht. Gott klagt das Volk nicht wegen einiger Fehltritte an. Er hält ihm vor, daß es überhaupt keine Treue, keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land gibt. Danach folgt eine Liste von Übeltaten. Der Mord erscheint in ihr zunächst als ein Vergehen neben anderen. Dann aber wird diese Liste der Untaten zusammengefaßt durch das abschließende Wort: »Bluttat reiht sich an Bluttat« (50). Wie die Priesterschrift die Sünde der Menschheit unter den Begriff Gewalttat stellt, so sieht auch Hosea die Essenz der Verfehlungen Israels

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gegenüber dem Nächsten in der Bluttat. Efraim muß deshalb auch vorgeworfen werden: »Es häuft Lüge auf Lüge, Gewalt auf Gewalt« (Hos 12,2).

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Die Schuld liegt zwar in erster Linie bei den Priestern (vgl. Hos 4,4-14; 6,7-10). Aber das Volk ließ sich vom gleichen bösen Geist anstecken. Deshalb gilt vom ganzen Land, daß sich Bluttat an Bluttat reiht. Die Diagnose des Propheten Micha ist nicht minder eindeutig. Im Buch, das unter seinem Namen überliefert wird, finden sich zwei Drohreden (Mich 1,2 - 3,12; 6,1 - 7,7). Die zweite endet mit einer zusammenfassenden Klage des Propheten über das Volk. Darin heißt es:

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Verschwunden sind die Treuen im Land,

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kein Redlicher ist mehr unter den Menschen.

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Alle lauern auf Blut,

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einer macht Jagd auf den andern (Mich 7,2).

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Wieder wird zunächst ein universaler Zustand beschrieben. Die Treue ist aus dem Land verschwunden, und es gibt keinen Redlichen mehr. In Mich 7,3 wird die Bestechlichkeit der Beamten und die Habgier der Großen ausdrücklich genannt. Diesen Einzelklagen geht aber die allgemeine Feststellung voraus: »Alle lauern auf Blut«. Es gibt nicht einige Mörder und daneben Menschen, die sich auf andere Weise verfehlen würden. Micha versteht alle bösen Taten als ein »Lauern auf Blut«. Dieser Zustand ist nach ihm so allgemein, daß er selbst die intimsten Familienbande unterhöhlt. Gleich anschließend heißt es nämlich:

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Traut eurem Nachbarn nicht,

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verlaßt euch nicht auf den Freund!

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Hüte Deinen Mund vor der Frau in deinen Armen!

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Denn der Sohn verachtet den Vater,

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die Tochter stellt sich gegen die Mutter,

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die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter:

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jeder hat Feinde im eigenen Haus (Mich 7,5 f.).

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Nach Micha gibt es überhaupt keine menschlichen Beziehungen, die gleichsam naturhaft gesund wären. Weil alle auf Blut lauern, hat jeder Feinde im eigenen Haus. Die Beziehungen zur eigenen Frau, zu den eigenen Kindern oder zu den Eltern sind vom selben Übel angefressen. Niemandem darf man trauen, weil jeder auf den anderen Jagd macht.

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Die gleiche Grundaussage findet sich mit brutaler Deutlichkeit bei Ezechiel. Dieser Prophet betont, daß Israel seinem Gott von Anfang an untreu wurde. Vor allem durch das Bild von der treulosen Frau (16,1 - 63) und durch das Gleichnis von den beiden schamlosen Schwestern (23,1-49) stellt er eindringlich dar, daß Jerusalem, Juda und Israel ständig schwer gegen den Bundesgott gefehlt haben. Der allgemeine Zustand des Volkes wird dabei auf folgende Weise beschrieben:

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Das Wort des Herrn erging an mich: Du, Mensch willst du das Urteil sprechen über die Stadt voll Blutschuld, willst du ihr alle ihre Greueltaten vorhalten, dann sag zu ihr: So spricht Gott, der Herr: O Stadt, die in ihrer Mitte Blut vergießt, so daß die Zeit des Gerichts über sie kommt, und die sich Götzen macht und unrein wird! Durch das Blut, das du vergossen hast, bist du schuldig geworden, und durch die Götzen, die du gemacht hast, bist du unrein geworden Jeder der Fürsten Israels strebt mit aller Macht danach, in dir Blut zu vergießen In dir gibt es Verleumder, die Blut vergießen wollen Bei dir läßt man sich bestechen und vergießt dadurch Blut Deine Beamten sind wie Wölfe, die auf Beute aus sind; sie vergießen Blut und lassen die Menschen umkommen, um Gewinne zu machen (Ez 22,1-27).

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In dieser harten Anklage werden eine Reihe von sozialen Untaten aufgezählt. Wiederum werden diese Verfehlungen aber auf einen Nenner gebracht: Blut vergießen. Jerusalem kann deshalb gleichsam als Stadt definiert werden, in der man Blut vergießt. Entsprechend heißt es bei der Ankündigung des Gerichts:

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Der Tag ist da. Jetzt kommt das Unheil. Es hat schon begonnen. Der Rechtsbruch gedeiht, die Anmaßung wächst. Die Gewalttat erhebt sich und wird zum Zepter der Gottlosen (Ez 7,10 f.).

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Auf den Tag des Gerichts hin nehmen die bösen Taten unter Menschen zu. Der Rechtsbruch und die Anmaßung wachsen an. Das eigentliche Zepter der Gottlosen oder gleichsam die Essenz der Gottlosigkeit ist aber die Gewalttat.

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Ähnliche Aussagen finden sich bei den meisten anderen Propheten. So heißt es etwa bei Tritojesaja:

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Nein, was zwischen euch und eurem Gott steht,

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sind eure Vergehen;

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eure Sünden verdecken sein Gesicht,

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so daß er euch nicht mehr hört.

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Denn eure Hände sind mit Blut befleckt,

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eure Finger mit Unrecht.

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Eure Lippen lügen,

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eure Zunge ist voller Bosheit

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Ihre Taten sind Taten des Unheils,

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ihre Hände vollbringen nichts als Gewalt.

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Sie laufen dem Bösen nach,

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schnell sind sie dabei,

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das Blut unschuldiger Menschen zu vergießen

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(Jes 59,2-7).

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In diesem Text werden einmal mehr einige Untaten aufgezählt. Der Autor begnügt sich aber nicht mit einer Aneinanderreihung verschiedener Vergehen. Zusammenfassend hält er vielmehr fest: »Ihre Hände vollbringen nichts als Gewalt.« Alles, was die Menschen an Übeltaten begehen, ist

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Gewalt. Sie tun nichts anderes. Deswegen sind sie schnell dabei, Blut zu vergießen.

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Ein ähnliches Urteil über die Gewalt findet sich in der deuteronomischen Theologie. Die zwei Bücher der Könige stellen dar, wie die Herrscher von Juda und Israel immer wieder vom wahren Weg abgewichen sind. Gott ließ deshalb Strafen kommen. Schließlich weihte er das Volk ganz dem Untergang. Nach der Darstellung dieses Geschichtswerkes hat König Manasse das Maß der Schuld vollgemacht. Obwohl nach ihm noch der Jahwe treu ergebene König Joschija kam, konnte er das Geschick Judas nicht mehr wenden. Nach der Aufzählung aller guten Taten dieses Königs heißt es nämlich.

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Doch der Herr ließ von der gewaltigen Glut seines Zornes nicht ab. Er war über Juda erzürnt wegen all der Kränkungen, die Manasse ihm zugefügt hatte (2 Kön 23,26).

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Von Manasse aber sagt das zweite Buch der Könige:

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Er vergoß unschuldiges Blut in Strömen, so daß er Jerusalem von einem Ende zum anderen damit anfüllte (2 Kön 21,17).

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Bei einer so drastischen Aussage mag man wieder an eine rhetorische Übertreibung denken. Will man aber nicht einer willkürlichen Exegese verfallen, muß man zur Kenntnis nehmen, daß die deuteronomische Theologie mit einem so harten und umfassenden Urteil den Grund für die Zerstörung Jerusalems angeben will. Der Grund für den Untergang mußte dabei ebenso schwerwiegend sein, wie das, was bei der Eroberung der Stadt tatsächlich geschah. Darin ist sich die deuteronomische Theologie mit den Propheten einig.

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Das Urteil betreffs einer fast allgegenwärtigen Gewalt findet sich in bestimmtem Maße sogar in der Weisheitsliteratur, obwohl hier der Ton im allgemeinen viel ruhiger ist:

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Von dem, der auf hohem Thron sitzt,

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bis zu dem, der in Staub und Asche sitzt,

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von dem, der Krone und Stirnreif trägt,

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bis zu dem, der ein Kleid aus Fellen trägt:

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Zorn, Eifersucht, Sorge und Schrecken,

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Todesangst, Zank und Streit (Sir 40,3 ff.).

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In diesem Text wird einmal mehr ein Urteil gefällt, das alle Menschen treffen will; und die Worte, mit denen ihr übles Tun beschrieben wird, weisen praktisch alle in die Linie der Gewalt: Zorn, Eifersucht, Schrecken, Todesangst, Zank und Streit.

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Die umfassenden Vorwürfe gelten nicht nur für Israel. Wie in der Priesterschrift, so werden in den prophetischen Texten neben dem Volk Jahwes auch die umliegenden Völker angeklagt, eine Bande von Gewalttätern zu

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sein. Bereits im Buch Amos finden sich Gerichtsreden gegen Damaskus, Gaza, Aschkelon, Ekron, Tyrus, Edom, Ammon und Moab. Jesaja weitet die Anklage aus. Seine Drohreden richten sich neben Damaskus und Edom vor allem gegen die Großmächte Ägypten und Assur. Im Werk des Propheten Jeremia finden sich schließlich sechs zusammenhängende Kapitel, die nichts anderes als »Drohreden über die Völker« enthalten. Ägypten, dem Philisterland, Moab, Ammon, Edom, Damaskus, Elam und dem mächtigen Babel wird das kommende Gericht angekündigt.

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Als Verbrechen der Völker werden immer wieder aufgezählt: Hartherzigkeit, Hochmut und Gewalttätigkeit. Den Bewohnern von Damaskus wird vorgeworfen, daß sie »Gilead mit eisernem Dreschschlitten zermalmten« (Am 1,3), den Leuten von Gaza, daß sie »ganze Dörfer entvölkerten« (Am 1,6). Edom hat »seinen Bruder mit dem Schwert verfolgt« (Am 1,11). Die Ammoniter haben »in Gilead die schwangeren Frauen aufgeschlitzt« (Am 1,13). Moab hat »die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt« (Am 2,1), und Ägypten hat fremde »Städte und ihre Bewohner vernichtet« (Jer 46,8). Assur und Babel haben sich gewalttätig an Israel vergangen:

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Ein versprengtes Schaf war Israel,

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von Löwen gehetzt.

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Zuerst hat der König von Assur es gefressen,

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zuletzt hat ihm Nebukadnezzar, der König von Babel,

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die Knochen abgenagt (Jer 50,17).

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Wollte man diese plastischen und harten Texte als rhetorische Übertreibungen abqualifizieren, müßte man auch die vielen Gerichtsandrohungen auf das Konto orientalischer Phantastik setzen. Dadurch würden die zentralsten alttestamentlichen Aussagen umgedeutet. Man würde nicht mehr den Glauben Israels interpretieren, sondern ihn als das imaginäre Produkt irgendwelcher verborgener Triebe kritisieren. Diese Frage ist tatsächlich zu stellen. Sie bezieht sich aber nicht bloß auf besonders rhetorische Formulierungen, sondern auf den Glauben als ganzen. Bevor diese Problematik aufgeworfen wird, ist aber zu fragen, wie Israel selber seinen Glauben verstanden hat.

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Als erstes Ergebnis können wir festhalten, daß sich in den vielen Aussagen betreffs der Gewalt, die leicht als Übertreibungen erscheinen, eine konsequente doppelte Universalisierung findet. Einerseits werden alle zwischenmenschlichen Vergehen unter diesen Begriff gefaßt. Anderseits wird vom gewalttätigen Streben kein Mensch ausgenommen. Von allen heißt es, daß sie auf Blut lauern, von allen Menschen in Israel und von allen Völkern. Diese Urteile stehen zudem in einem unlösbaren Zusammenhang mit den Gerichtsaussagen.

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2. Der gewalttätige Jahwe

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Sehr viele Texte belegen, daß Israel die Macht und Herrlichkeit seines Gottes auf besondere Weise in Blut- und Gewalttaten wahrgenommen hat. »Der Gedanke der Heiligkeit Jahwes hat tiefe Wurzeln in der Kriegsfrömmigkeit. Seit alters her ließ Jahwe gerade als Kriegsgott seine Heiligkeit besonders in Erscheinung treten.« (51)

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In späterer Zeit und vor allem bei den Propheten ist das gewaltsame Wirken Jahwes ganz mit dem Gerichtsgedanken verbunden. Als Richter erweist er sich nicht als der ruhige und überlegene Herr. Viele Texte schildern, wie Jahwe gekränkt und zornig reagiert. Nicht selten hat es sogar den Anschein, als ob er sich direkt in einen Blutrausch hineinsteigere. Der Prophet Ezechiel mußte zum Beispiel verkünden:

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So spricht der Gott, der Herr: Sag:

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Ein Schwert, ein Schwert, geschärft und poliert;

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Zum Schlachten, zum Schlachten ist es geschärft;

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um wie ein Blitz zu leuchten, ist es poliert

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Du, Mensch, sprich als Prophet und schlag die Hände zusammen!

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Verdoppelt wird das Schwert, ja verdreifacht.

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Ein Schwert zum Morden ist es, zum Morden,

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das gewaltige Schwert, das sie durchbohrt.

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Das Herz soll verzagen, die Gefallenen sich häufen.

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An all ihren Toren habe ich dem Schwert zu schlachten

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befohlen (Ez 21,13-20).

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In diesem blutigen Lied tritt das Schwert wie eine personifizierte Macht auf, die sich im Auftrag Jahwes in ein Fest des Schlachtens stürzt. Gott scheint eine heimliche Freude am Morden zu haben und im Blutrausch selber so blind zu werden, daß er Gerechte und Schuldige in gleicher Weise ausrotten will. Vor dem Schwertlied heißt es:

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So spricht Gott, der Herr: Ich greife dich an. Ich ziehe mein Schwert aus der Scheide und rotte bei dir die Gerechten ebenso wie die Schuldigen aus. Weil ich bei dir die Gerechten und die Schuldigen ausrotten will, deshalb wird mein Schwert aus seiner Scheide fahren (Ez 21,8 f.).

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Gott scheint sich im Töten selber zu vergessen. Er verliert im Blutrausch den Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen aus dem Auge, so wenigstens klingen die Aussagen bei Ezechiel. Ähnlich grausame Texte über das Wirken Jahwes finden sich im Buch Jeremia:

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So spricht der Herr der Heere:

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Seht, Unheil schreitet von Volk zu Volk,

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gewaltiger Sturm bricht los

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von den Grenzen der Erde.

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Die vom Herrn Erschlagenen liegen an jenem Tag

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von einem Ende der Erde bis zum anderen (Jer 25,32 f.).

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Hier geht es nicht um einige Ausnahmeereignisse. Das Gericht wird als ein universales Geschehen geschildert. Die vom Herrn Erschlagenen liegen von einem Ende der Erde bis zum andern. Der Universalität menschlicher Gewalt entspricht die Universalität der rächenden und richtenden göttlichen Gewalt (vgl. Jer 49,10 ff.).

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Auf fast gleiche Weise verkündet Jesaja den Tag des Herrn als einen Tag »voll Grausamkeit, Wut und glühendem Zorn« (Jes 13,9). Dabei trifft das grausame Gericht nicht nur Israel. Das Kommen Jahwes über Assur schildert das Buch Jesaja wie das Heranstürmen eines feuerschnaubenden Ungeheuers:

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Seht her, der Herr kommt aus der Ferne.

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Sein Zorn ist entflammt,

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gewaltig drohend zieht er heran.

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Sein Mund ist voll grollendem Zorn,

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seine Zunge ist wie ein um sich fressendes Feuer

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(Jes 30,27).

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In noch allgemeinerer Form ergeht ein Drohwort an alle Gottlosen:

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Jetzt stehe ich auf, spricht der Herr,

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jetzt richte ich mich auf, jetzt erhebe ich mich.

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Ihr seid schwanger mit Heu und bringt Häcksel zur Welt.

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Mein Atem ist wie ein Feuer, das euch verzehrt.

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Die Völker werden zu Kalk verbrannt.

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Sie lodern wie abgehauene Dornen im Feuer (Jes 33,10 ff.).

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Wir haben nicht isolierte Texte herausgegriffen. In fast beliebiger Zahl ließen sich weitere Aussagen über den gewalttätigen Zorn Jahwes anfügen. Wo immer vom Gericht die Rede ist, erscheint er als erregter und leidenschaftlicher Herr. Das Thema von der blutigen Rache Gottes findet sich im Alten Testament noch häufiger als die Problematik der menschlichen Gewalt. An ungefähr tausend Stellen ist davon die Rede, daß der Zorn Jahwes entbrennt, daß er mit Tod und Untergang bestraft, wie ein fressendes Feuer

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Gericht hält, Rache nimmt und Vernichtung androht. (52) Er manifestiert seine Macht und Herrlichkeit im Krieg, und als zorniger Rächer hält er Gericht. Kein anderes Thema taucht so oft auf wie die Rede vom blutigen Wirken Gottes. Eine Theologie der alttestamentlichen Offenbarung, die sich nicht ausdrücklich dieser massiven und düsteren Tatsache stellt, geht von vornherein an einer der zentralsten Fragen vorbei und findet damit kaum die genuine Perspektive zu einem inneren Verständnis des Offenbarungsgeschehens.

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Die äußerst zahlreichen Texte über die göttliche Gewalt lassen sich, von den unterschiedlichen Formulierungen her gesehen, in vier Gruppen näher einteilen. Ob dahinter auch sachliche Unterschiede stehen, werden wir später sehen.

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In einer kleinen Anzahl von Erzählungen erscheint der Zorn Gottes als eine ganz irrationale Reaktion. So soll sich anläßlich der Überführung der Bundeslade durch David nach Jerusalem folgendes Ereignis zugetragen haben:

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Als sie zum Dreschplatz Nachons kamen, brachen die Zugtiere aus, und Usa griff nach der Lade Gottes, um sie festzuhalten. Der Herr aber wurde zornig auf Usa und schlug ihn wegen dieser Vermessenheit, so daß er auf der Stelle neben der Lade Gottes starb (2 Sam 6,6 f.).

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Usa war anscheinend ein eifriger Diener. Er wollte die stürzende Lade halten. Dafür schmetterte ihn gemäß der Erzählung der Zorn Gottes nieder.

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Noch unbegreiflicher erscheint das göttliche Verhalten bei einer Begebenheit im Leben des Mose. Nachdem Jahwe sich ihm aus dem brennenden Dornbusch geoffenbart und ihm den Auftrag gegeben hatte, das Volk Israel aus der Gefangenschaft herauszuführen, trat er ihm auf der Rückreise nach Ägypten in völlig anderer Absicht entgegen. In der Erzählung heißt es:

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Unterwegs am Rastplatz trat der Herr dem Mose entgegen und wollte ihn töten. Zippora ergriff einen Feuerstein und schnitt ihrem Sohn die Vorhaut ab. Damit berührte sie die Beine des Mose und sagte: Ein Blutbräutigam bist du mir. Da ließ der Herr von ihm ab. »Blutbräutigam« sagte sie damals wegen der Beschneidung (Ex 4,24 ff.).

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Gott scheint nicht nur grundlos Mose töten und damit die Verwirklichung seines eigenen Planes und Auftrages verunmöglichen zu wollen. Der archaische Text deutet auch auf eine ursprüngliche Funktion der Beschneidung hin, von der spätere Texte nichts mehr wissen. Zippora bediente sich

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der blutenden Vorhaut ihres Sohnes, um die irrationale Macht des Sakralen auf ein harmloses Objekt abzulenken. Die tötende Gewalt wurde bezwungen, indem ihr ein kleines Ersatzstück hingeworfen wurde.

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Die Texte, die von einem ganz irrationalen Handeln Gottes sprechen, sind im Alten Testament sehr selten. Meistens wird für das Losbrechen des göttlichen Zornes ein klarer Grund angegeben: die bösen Taten der Menschen. Die diesbezüglichen Aussagen bilden die zweite Gruppe von Texten. Nach ihnen erfolgt das gewalttätige Tun Jahwes als Reaktion auf menschliches Vergehen und als Vergeltung des Ungehorsams. Einer der eindrucksvollsten Texte über die Vergeltung findet sich in Lev 26. In diesem Kapitel werden zunächst über elf Verse hin die Wohltaten aufgezählt, die Gott seinem Volk erweisen wird, wenn es sich an die Gebote hält (Lev 26,3-13). Nach diesen Verheißungen folgen fünfundzwanzig Verse mit Strafandrohungen im Falle des Ungehorsams. Gott kündigt an, er werde zunächst Krankheiten und wirtschaftliches Unglück schicken. Genügen diese Strafen zur Umkehr nicht, folgen härtere:

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Wenn ihr euch dadurch noch nicht warnen laßt und mir weiterhin feindlich begegnet, begegne auch ich euch feindlich und schlage auch ich euch siebenfach für eure Sünden. Ich lasse über euch das Schwert kommen, das Rache für den Bund nehmen wird (Lev 26,23 ff.).

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Der Bund Gottes mit seinem Volk ist keine beliebige Angelegenheit. Es geht um Leben und Tod. Von der Beobachtung der Bundesgebote hängt alles ab. Auf ganz ähnliche Weise spricht Mose im Deuteronomium zum Volk:

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Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen (Dtn 30,19).

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Hält sich das Volk nicht an die Gebote, wird Gott es mit »glühendem Zorn ausreißen« (Dtn 29,27) und vernichten. Der Gedanke der Vergeltung(53) und der Rache durchzieht praktisch alle alttestamentlichen Bücher. Dabei ist genau zu beachten, daß Gott nie als kühler Richter erscheint, der rein sachlich darüber wachen würde, daß die Menschen genau die Gesetzesordnung beobachten. Jahwe erweist sich als ein Gott, der durch die Taten der Menschen direkt berührt wird und entsprechend darauf reagiert. Verhalten sich

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die Menschen gut, erweist er sich als Freund und Wohltäter; enttäuschen sie ihn, zahlt er ihnen »mit gleicher Münze« heim.(54)

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Gemäß diesen Aussagen ist die göttliche Gewalttat immer eine unmittelbare Folge böser menschlicher Taten. Der Zorn entbrennt nicht, weil Jahwe Lust am Töten hätte oder weil er ein völlig irrationales Wesen wäre. Die auslösende Ursache ist der Mensch. Dabei erscheint Jahwe allerdings oft als eine Macht, die sich sehr leicht erregen läßt und einem fast maßlosen Zürnen und Wüten verfallen kann. Für die Schwäche der Menschen und für begrenzte erzieherische Strafen bleibt angesichts der Erregbarkeit Jahwes nicht mehr viel Platz. Wie die menschlichen Übeltaten unter dem Begriff »Gewalt« zusammengefaßt werden, so sind die Stichworte für die vergeltende Strafe Gottes: fressendes Feuer, Schwert, tötende Rache. Die Strafe wird nicht gemäß einem festen Strafgesetz zugemessen. Der durch die menschlichen Untaten erregte Jahwe fährt vielmehr in seinem Zorn auf die Frevler los. Er erweist sich fast immer entweder als lebenspendender Wohltäter oder als tötender Gewalttäter. Mittlere Verhaltensweisen kommen zwar im Alten Testament auch vor, (55) sind aber vor allem in den großen Gerichtsreden äußerst selten und haben kaum eine eigenständige Bedeutung.

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Neben den erwähnten beiden Textgruppen, die einerseits vom irrationalen Zorn und anderseits von der göttlichen Rache als Reaktion auf menschliche Untaten sprechen, gibt es eine dritte große Textreihe. In ihnen erscheint der Mensch nicht mehr bloß als Auslöser, sondern auch als Vollstrecker der göttlichen Gewalt. Jahwe bestraft nicht selber die Übeltäter, er bedient sich dazu anderer Menschen. Er überliefert die Gesetzesbrecher grausamen Menschen:

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Ich (Jahwe) gieße meinen Groll über dich aus, das Feuer meines Zorns will ich gegen dich entfachen. Ich liefere dich grausamen Menschen aus, die ihr mörderisches Handwerk verstehen (Ez 21,36).

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Gott läßt seinem Zorn freien Lauf, indem er das untreue Volk dem Handwerk der Mörder ausliefert und es wie Schlachtvieh preisgibt:

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Du läßt uns vor unsern Bedrängern fliehen,

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und Menschen, die uns hassen, plündern uns aus.

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Du gibst uns preis wie Schlachtvieh (Ps 44,11 f.).

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Die indirekten Strafhandlungen Gottes sind nicht weniger hart als die direkten. Jahwe liefert sein Volk Mördern aus. Er behandelt es wie Schlachtvieh. Er stachelt sogar Völker zu Kriegen und Bürgerkriegen auf:

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Ich (Jahwe) hetze Ägypter gegen Ägypter,

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und sie kämpfen gegeneinander:

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Bruder gegen Bruder, Nachbar gegen Nachbar,

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Stadt gegen Stadt, Gau gegen Gau (Jes 19,2).

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Gott hetzt Menschen gegeneinander (vgl. Sach 8,10). Er stachelt sie auf. Er bedient sich eines Volkes, um mit ihm andere zu zerschmettern. Durch Jeremia erging ein Wort des Herrn an Babel, den Hammer Jahwes:

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Du warst mir Hammer, eine Waffe des Kriegs.

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Mit dir zerschlug ich Völker,

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mit dir stürzte ich Königreiche,

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mit dir zerschlug ich Roß und Lenker,

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mit dir zerschlug ich Wagen und Fahrer,

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mit dir zerschlug ich Mann und Frau

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mit dir zerschlug ich Knabe und Mädchen

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(Jer 51,20 ff.).

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Babel ist das mörderische Werkzeug Gottes. Es wird aber seinerseits bestraft für die Hartherzigkeit, die es bei den von Gott gewollten Strafaktionen an den Tag legte. Gleich anschließend heißt es nämlich:

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Aber ich übe vor euren Augen Vergeltung

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an Babel und an allen Bewohnern Kaldäas

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für alles Böse, das sie an Zion verübten

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(Jer 51,24).

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Gott liefert sein Volk Mördern aus; er gibt es wie Schlachtvieh preis. Er hetzt Bruder gegen Bruder, und er bedient sich eines Volkes als Hammer, um damit andere zu zerschlagen. Neben den ungefähr tausend Stellen, in denen von direkten Gewalttaten Gottes die Rede ist, gibt es eine große Zahl von Texten, in denen der göttliche Zorn als verbindendes Mittelstück in einer dreigliedrigen Kette erscheint. Menschen erregen durch böse Taten den rächenden Zorn, andere Menschen führen die strafende Gewalttat aus. Gott aber stellt den Zusammenhang zwischen dem Übeltäter und Strafvollstrecker her. Er wird durch die Untaten gereizt, und er stachelt den Rächer auf.

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Zu dieser Textreihe können auch jene Stellen gezählt werden, in denen Gott seinem Volk befiehlt, Gesetzesbrecher zu töten und fremde Völker zu vernichten. Im Pentateuch wird Israel immer wieder befohlen, Menschen zu töten, die bestimmte Gesetze übertreten haben. Der gleiche Befehl ergeht

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auch in bezug auf feindliche Völker. Unerbittlich heißt es zum Beispiel im Deuteronomium:

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Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darf nichts, was Atem hat, am Leben bleiben. Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat (Dtn 20,16 f.).

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Die Befehle Gottes zur Vernichtung wirken hie und da fast wie sadistische Anweisungen. So verkündet Samuel dem König Saul als Wort Gottes:

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Ich will Amalek für das bestrafen, was es Israel getan hat: es hat sich Israel bei seinem Auszug aus Ägypten in den Weg gestellt. Zieh in den Krieg, schlage Amalek und weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang. Verschon niemand, töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel (1 Sam 15,2 f.).

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Solche Befehle Gottes lassen nicht mehr den geringsten Raum für Mitleid. Gemäß der Darstellung des ersten Buches Samuel sollen die Amalekiter mit ihren Frauen, Kindern und Säuglingen für eine Tat bestraft werden, die ihre Vorfahren Jahrhunderte früher begangen haben. Hier grenzt der gewalttätige Befehl Jahwes an grausame Willkür (vgl. Jer 49,10 ff.; Ez 21,8 f.). Der angegebene Grund wirkt nur noch wie ein Vorwand. Dennoch ist festzuhalten, daß ein Grund genannt und damit wenigstens theoretisch betont wird, daß der Befehl zum Töten als eine Reaktion Jahwes auf menschliche Untaten zu verstehen ist. Die Stellen, die von einem ausdrücklichen Tötungsbefehl Gottes sprechen, sind recht zahlreich. Neben den ungefähr tausend Versen, in denen Jahwe selber als der direkte Vollstrecker von strafenden Gewalttaten erscheint, und neben vielen Texten, gemäß denen der Herr die Übeltäter dem Schwert der Bestrafer ausliefert, gibt es über hundert weitere Stellen, in denen Jahwe ausdrücklich befiehlt, Menschen zu töten. Nach diesen Aussagen tötet er zwar nicht selber; insofern tritt er etwas in den Hintergrund. Dennoch ist er es, der befiehlt, menschliches Leben zu vernichten, der sein Volk wie Schlachtvieh preisgibt und der Menschen gegeneinander aufhetzt.

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In einer vierten Serie von Texten ändert sich das Bild. Gott tritt hier ganz zurück. Der Gedanke der unerbittlichen Strafe bleibt zwar ungebrochen erhalten. Jahwe greift aber nicht mehr selber strafend ein, noch bedient er sich anderer Menschen, um die Übeltäter zu zerschmettern. Die Vergeltung trifft diese vielmehr dadurch, daß die bösen Taten auf ihr Haupt zurückfallen. Bei den großen Propheten ist von dieser Form der Bestrafung mehrfach die Rede. So findet sich im Werk des Deuterojesaja das Wort Gottes:

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Ihr alle aber, die ihr Feuer legt

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und Brandpfeile entzündet,

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sollt in die Glut eures eigenen Feuers stürzen

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und den Brandpfeilen verfallen, die ihr entflammt habt

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(Jes 50,11).

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Auf ähnliche Weise erging an die Juden, die nach der ersten Zerstörung Jerusalems nach Ägypten gezogen waren und dort Götzendienst trieben, durch Jeremia das Wort Gottes:

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Ihr erzürnt mich durch das Tun eurer Hände, weil ihr anderen Göttern opfert in Ägypten, wohin ihr ausgewandert seid, um euch dort niederzulassen. So rottet ihr euch selbst aus und werdet zum Fluch- und Schimpfwort bei allen Völkern der Erde (Jer 44,8).

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Die Übeltäter stürzen in ihr eigenes Feuer, die Götzendiener rotten sich selber aus. Dieser Gedanke der Selbstbestrafung wird vor allem in der Weisheitsliteratur ausdrücklich thematisiert:

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Wenn der Frevler sein Schwert wieder schärft,

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seinen Bogen spannt und zielt,

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dann rüstet er tödliche Waffen gegen sich selbst,

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bereitet sich glühende Pfeile.

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Er hat Böses im Sinn;

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er geht schwanger mit Unheil, und Tücken gebiert er.

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Er gräbt ein Loch, er schaufelt es aus,

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doch er stürzt in die Grube, die er selber gemacht hat.

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Seine Untat kommt auf sein eigenes Haupt,

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seine Gewalttat fällt auf seinen Scheitel zurück

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(Ps 7,13-17).

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In immer neuen Wendungen wird in Psalm 7 die Selbstbestrafung beschrieben. Der Frevler richtet die Waffe gegen sich selber, er fällt in die Grube, die er selber gegraben, die Gewalttat fällt auf seinen Scheitel zurück. Im Buch der Sprichwörter wird daraus fast ein Prinzip:

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Doch wer sich gegen mich (die Weisheit) verfehlt,

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schadet sich selbst;

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alle die mich hassen, lieben den Tod (Spr 8,36).

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Ferner:

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Wer eine Grube gräbt, fällt in sie hinein,

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wer einen Stein hochwälzt, auf den rollt er zurück

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(Spr 26,27).

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Diese Aussagen legen nahe, daß, gemäß einer inneren Logik, die böse Tat auf jenen zurückfällt, der sie begeht. Er bestraft sich selber. Verglichen mit den vielen Texten, die Gott selber (auf direkte oder indirekte Weise) strafende Gewalttaten zuschreiben, sind die Aussagen über die Selbstbestrafung bedeutend weniger zahlreich. Dennoch finden sie sich in fast allen alttesta-

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mentlichen Büchern. Der Gedanke der Selbstbestrafung taucht an über siebzig Stellen mehr oder weniger deutlich auf (56) und gehört somit als integrierender Bestandteil zur alttestamentlichen Botschaft.

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Als Ergebnis der bisherigen Untersuchung können wir festhalten, daß es vier Textreihen gibt, die auf unterschiedliche Art von der göttlichen und strafenden Gewalttat sprechen:

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1. Gott erscheint als ein irrationales Wesen, das ohne verständlichen Grund tötet oder töten will.

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2. Er reagiert auf die vorausgehenden bösen Taten der Menschen, und er führt die Rache selber aus.

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3. Er bestraft Übeltäter, indem er sie in seinem Zorn anderen (grausamen) Menschen ausliefert.

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4. Die Frevler bestrafen sich selber, indem ihre Taten auf ihr Haupt zurückfallen.

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Die Texte der ersten Gruppe sind sehr selten. Sie dürften Überbleibsel alter archaischer Vorstellungen sein und somit höchstens bezeugen, daß das alttestamentliche Gottesverständnis durch viele Wurzeln mit überlieferten sakralen Vorstellungen verbunden blieb. Jene Aussagen, gemäß denen Jahwe keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen macht, kommen allerdings sehr nahe an die irrationalen Erzählungen heran.

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Der Unterschied zwischen der zweiten und dritten Gruppe ist eher verbaler als realer Art. Manche Texte belegen ausdrücklich, daß beide Aussagen untrennbar miteinander verbunden sind und letztlich das gleiche meinen. So lautet ein Wort Gottes über die Ammoniter im Buch Ezechiel:

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Ich gieße meinen Groll über dich aus, das Feuer meines Zorns will ich gegen dich entfachen. Ich liefere dich grausamen Menschen aus, die ihr mörderisches Handwerk verstehen (Ez 21,36).

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Gott gießt seinen Zorn aus, indem er die Übeltäter anderen Menschen ausliefert. Auch dort, wo von einem direkten Handeln Jahwes gesprochen wird, bedient er sich anderer Menschen. Ähnlich strukturiert ist eine Aussage, die Jeremia als Wort Gottes gegen Jojachin verkündet:

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Ich gebe dich in die Hand derer, die dir nach dem Leben trachten, in die Hand derer, vor denen dir graut, in die Hand Nebukadnezzars, des Königs von Babel, und in die Hand der Kaldäer. Ich schleudere dich samt deiner Mutter, die dich gebar, in ein anderes Land, in dem ihr nicht geboren seid, und dort werdet ihr sterben (Jer 22,25 f).

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Jahwe schleudert den König von Israel weg, indem er ihn der Hand der Kaldäer ausliefert. Er handelt direkt und bedient sich zugleich des Königs von Babel. Ein kurzer Blick auf die erzählenden Teile der alttestamentlichen Schriften macht deutlich, daß fast immer eine vermittelte Strafe gemeint ist, wenn von der direkten Rache Gottes gesprochen wird. Jene Erzählungen, in denen Gott gleichsam unmittelbar vom Himmel her eingreift, sind selten. Zu denken wäre etwa an die Erschlagung der erstgeborenen Ägypter:

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Es war Mitternacht, als der Herr alle Erstgeborenen in Ägypten erschlug, vom Erstgeborenen des Pharao, der auf dem Thron saß, bis zum Erstgeborenen des Gefangenen im Kerker, und jede Erstgeburt beim Vieh (Ex 12,29).

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Ein menschliches Werkzeug, womit Jahwe die Ägypter getötet hätte, wird nirgends erwähnt. Ein solches wird sogar direkt ausgeschlossen in der Erzählung über den Aufruhr Korachs, Datans und Abirams in der Wüste. Mose stellte sich einem Gottesgericht, und dieses trat ein. Er sagte zum Volk:

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Wenn diese Leute sterben, wie jeder Mensch stirbt, und wenn sie nur so wie jeder andere Mensch Rechenschaft ablegen müssen, dann hat der Herr mich nicht gesandt. Wenn aber der Herr etwas ganz Ungewöhnliches tut, wenn die Erde ihren Rachen aufreißt und sie verschlingt zusammen mit allem, was ihnen gehört, wenn sie also lebend in die Unterwelt hinabstürzen, dann werdet ihr erkennen, daß diese Leute den Herrn mißachtet haben. - Kaum hatte er das gesagt, da spaltete sich der Boden unter ihnen, die Erde öffnete ihren Rachen und verschlang sie samt ihrem Haus (Num 16,29-32).

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Erzählungen, in denen Gott so unmittelbar eingreift, sind selten. Bei Aussagen über die direkte Rache Gottes ist deshalb keineswegs immer an derartige Ereignisse zu denken. Vor allem die prophetischen Bücher reden einerseits sehr oft davon, daß Jahwe in seinem Zorn Menschen vernichtet. Anderseits erzählen sie aber praktisch nur, wie Völker übereinander herfallen. Es dürften folglich menschliche Gewalttaten gemeint sein, wenn vom göttlichen Zorn und von der göttlichen Rache die Rede ist. Die beiden Textreihen über die direkte und die indirekte (strafende) Gewalt Gottes beziehen sich im wesentlichen auf den gleichen Sachverhalt. Immer geht es - von der Erfahrung aus gesehen - um menschliche Gewalt, die als Handeln Gottes interpretiert wird. Ob die Texte von einem direkten oder indirekten Wirken Jahwes sprechen, macht sachlich keinen Unterschied aus.

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Im Gegensatz zu den erwähnten Texten spricht die vierte Reihe nur davon, daß die bösen Taten auf das Haupt der Täter zurückfallen. Stehen wir hier vor grundsätzlich neuen Aussagen?

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Diese Frage greift die Problematik auf, die Klaus Koch in seinem bekann-ten Artikel »Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?« (57) gestellt hat. Koch stützt sich vor allem auf jene Aussagen, die wir als vierte Textreihe zusammengefaßt haben. Er glaubt feststellen zu können, daß im Alten Testament nie von einer Strafe oder einem Lohn gesprochen wird, die der bösen oder guten Tat rein äußerlich - wie ein Geldlohn für eine Arbeit - zugemessen würden. Es sehe vielmehr einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Tat und dem Ergehen, nämlich einen Sünde-Unheil- oder einen Guttat-Heil-Zusammenhang. Koch spricht von einer »schicksalwirkenden Tatsphäre«. Er meint damit, daß gemäß alttestamentlichem Verständnis jede Tat aus sich heraus ihr Schicksal, das Heil oder das Unheil, wirkt. Er greift den Begriff Fahlgrens von der »synthetischen Lebensauffassung« auf (58) und deutet ihn in dem Sinne, daß die guten oder schlechten Folgen als innerer Bestandteil zur guten oder schlechten Tat selber gehören. In dieser Sicht gebe es nicht einerseits die Tat und danach die Folgen. Heil oder Unheil seien ein Teil der Tat selber. Von diesen Analysen her bestreitet Koch, daß es im Alten Testament ein Vergeltungsdogma gibt. Zwar sieht auch er, daß sehr oft von einem Eingreifen Gottes die Rede ist. Er versteht diese Aussagen aber in dem Sinne, daß Jahwe den Sünde-Unheil- oder den Guttat-Heil-Zusammenhang in Kraft setzt. Das hebräische Verb slm Pi, das normalerweise als »vergelten« übersetzt wird, will er als »vollständig machen« oder als »in Kraft setzen« eines »Tun-Ergehen-Zusammenhanges« verstanden wissen. Gott bewirke, daß die guten oder schlechten Taten vollständig würden, d. h., daß sie dem Betreffenden zum Heil oder zum Unheil gereichten.

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Die Darlegungen von Koch haben sich in der alttestamentlichen Wissenschaft teils durchgesetzt, teils wurden sie erheblich kritisiert und korrigiert. Nach hebräischem Verständnis dürfte es tatsächlich einen sehr engen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen geben. In sehr zahlreichen Texten wird das Handeln Gottes aber weit direkter beschrieben, als Koch annimmt. So hat zum Beispiel Josef Scharbert nachgewiesen, daß das Verb slm Pi nicht in erster Linie als »vollständig machen« zu übersetzen ist. Es bezeichnet vielmehr, daß jemand, der durch eine gute oder schlechte Tat betroffen

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wird, diese entgeltet.(59) Bei einer guten Tat besteht die Entgeltung im Zurückgeben einer anderen Wohltat, bei einem Vergehen in dessen »Heimzahlung«. Wenn es in verschiedenen Schriften öfter heißt, die Tat falle auf das Haupt des Täters zurück, ist folglich nicht, wie Koch annimmt, gemeint, das alttestamentliche Denken habe die Tat wie ein »Ding« (60) verstanden, das sich vom Täter zeitweise entferne und wieder auf ihn zurückgeworfen werden könne. Sie fällt vielmehr dadurch zurück, daß sie einen anderen Menschen trifft und dieser sie dem Urheber entgilt. Die »schicksalwirkende Tatsphäre« meint nicht in erster Linie eine mythisch-magisch verstandene Wirklichkeit, sondern ist Ausdruck eines bestimmten gemeinschaftlichen Verhaltens, gemäß dem gute oder böse Taten vom Betroffenen (oder seiner Sippe) dem Täter entgolten werden.

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Im engsten Zusammenhang damit stehen die vielen alttestamentlichen Bittgebete an Gott um Rache und um Hilfe gegen Feinde. Wo der einzelne oder seine Sippe zu schwach ist, die böse Tat zu entgelten, dort kann nur noch Gott helfen. Er muß die böse Tat auf den Täter zurückwenden. Aber auch in jenen Fällen, wo der Betroffene selber zur Gegenaktion schreitet, tut er es nicht selbstmächtig. Er versichert sich zuvor des göttlichen Beistandes. Die Aussagen, daß Jahwe strafend eingreift und daß die Tat auf das Haupt des Täters zurückfällt, stehen folglich nicht - wie es zunächst scheinen mag - in Gegensatz zueinander. Sie ergänzen sich vielmehr. Dies bestätigt am eindruckvollsten Psalm 7. Wie wir bereits gesehen haben, wird in diesem Text ausführlich dargelegt, wie der Frevler die tödliche Waffe gegen sich selber rüstet, wie er in die Grube stürzt, die er selber geschaufelt hat, und wie die Gewalttat auf seinen Scheitel zurückfällt. Gerade dieser Psalm ist im wesentlichen aber nichts anderes als ein Gebet zu Jahwe um Hilfe in der Verfolgung. Der Beter klagt, daß keiner da ist, der ihn rettet, und er fleht zu Gott, er möge ihn jenen entreißen, die ihn grundlos bedrängen. Unmittelbar vor den Versen 13-17, in denen die Selbstbestrafung des Frevlers geschildert wird, steht als Bekenntnis:

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Gott ist ein gerechter Richter,

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ein Gott, der täglich strafen kann (Ps 7,12).

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Die Selbstbestrafung und die Strafe durch Gott sind demnach nicht zwei verschiedene Wirklichkeiten. Der Psalmist setzt beide Aussagen direkt nebeneinander. Auf genau den gleichen Zusammenhang weist jener Vers aus Deuterojesaja hin, den wir teilweise bereits weiter oben zitiert haben. Als ganzer lautet er:

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Ihr alle aber, die ihr Feuer legt

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und Brandpfeile entzündet,

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sollt in die Glut eures eigenen Feuers stürzen

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und den Brandpfeilen verfallen, die ihr entflammt habt.

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So wird meine Hand euch treffen;

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am Ort der Qualen werdet ihr liegen (Jes 50,11).

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Die Hand Gottes trifft die Übeltäter gerade dadurch, daß die Frevler in jenes Feuer stürzen, das sie selber entzündet haben. Praktisch an allen Stellen, wo im Alten Testament auf die eine oder andere Weise von der Selbstbestrafung gesprochen wird, läßt sich zeigen, daß damit zugleich die Vollstreckung des göttlichen Zornes gemeint ist.

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Dieses Ergebnis läßt sich vielleicht auch umkehren. Es würde dann lauten: wo immer vom göttlichen Zorn und von der göttlichen Rache die Rede ist, sind konkret Taten unter Menschen gemeint, durch die sich die Gewalttäter gegenseitig selber bestrafen. Gewiß gibt es Beispiele, die sich nicht auf diesen Nenner bringen lassen, wie etwa die Zerstörung von Sodom und Gomorra, bei der Gott direkt Schwefel und Feuer vom Himmel regnen ließ (Gen 19,24), oder die Bestrafung Korachs, Datans und Abirams, die durch die Erde verschlungen wurden (Num 16,31 ff.). Doch dies dürften mythisch-archaische Erzählungen sein, die sich in der Überlieferung erhalten haben. Die prophetischen Bücher sprechen diesbezüglich deutlich eine andere Sprache. In ihnen finden sich einerseits viele Worte, durch die Jahwe sein rächendes Eingreifen androht und ankündigt. Anderseits erzählen sie nur, wie Menschen einander Gewalt antun und sich gegenseitig umbringen.

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Die Worte vom direkten oder indirekten rächenden Tun Gottes und die Aussagen über die Selbstbestrafung der Gewalttäter zielen folglich auf den gleichen Sachverhalt. Gewalt wird immer von Menschen verübt. Die vielen Texte über die göttliche Rache sind jenen Aussagen beizuordnen, in denen nur von der menschlichen Gewalt gesprochen wird. Damit wird noch deutlicher, als wir bereits im vorausgehenden Abschnitt aufzeigen konnten, daß die Gewalt das zentralste Thema des Alten Testaments ist.

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Die moderne alttestamentliche Wissenschaft wußte, wie wir bereits gesehen haben, mit diesem Phänomen nie etwas Richtiges anzufangen. Wohl aber mißt die Theorie Girards der Gewalt eine ähnliche Schlüsselrolle wie die biblischen Texte zu. Wir folgen demnach nicht einem beliebigen Einfall, wenn wir meinen, die alttestamentlichen Schriften müßten im Lichte von »La violence et le sacré« näher analysiert werden. Die Problematik der Gewalt legt diese Annäherung selber gebieterisch nahe.

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Nach Girard sind sakrale Vorstellungen nichts anderes als die Projektion aggressiver Phantasien auf einen Sündenbock. Dieser inkarniert alles Böse in sich, und er ist zugleich der Heilbringer, weil durch die Übertragung auf ihn die Aggression aus dem Inneren der Gemeinschaft nach außen abge-

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leitet werden kann. Der Mechanismus der Projektion und der Übertragung bleibt dabei allen Beteiligten unbewußt. Beginnt sich aber der wahre Gott zu offenbaren, muß folglich zugleich der unbewußte Prozeß, durch den falsche Gottesvorstellungen produziert werden, schrittweise aufgedeckt werden. Die zentrale Rolle der Gewalt hat immer offener in Erscheinung zu treten, d. h., Gott muß sich zunächst vor aller Augen als gewalttätig erweisen. Im weiteren muß deutlich werden, daß die eigentliche Initiative zum Töten letztlich nicht von Gott, sondern von den Menschen ausgeht, ja daß überall dort, wo von sakraler Gewalt die Rede ist, immer Menschen aufeinander losgehen. Genau diese Elemente konnten wir in den alttestamentlichen Texten finden. Jahwe erscheint in ihnen als ein fressendes Feuer und als ein zorniger und rächender Gott. Zugleich wird aber auch deutlich, daß die Menschen diesen Zorn erregen und daß sie die Gewalttaten ausführen.

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Offen bleibt die Frage, wie sich Jahwe genau zum menschlichen Tun verhält. Das Alte Testament ist diesbezüglich nicht eindeutig. Im Grunde stehen zwei große Linien ungeklärt nebeneinander. Nach der einen wird Gott durch die menschliche Bosheit erregt, und in seinem Zorn hetzt er Menschen auf:

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Ich (Jahwe) hetze Ägypter gegen Ägypter,

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und sie kämpfen gegeneinander

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(Jes 19,2; vgl. 13,17).

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Es gibt viele ähnliche Texte, die bezüglich des Kampfes der Menschen untereinander Gott eine sehr aktive Rolle zuschreiben. Gemäß der anderen Textreihe aber besteht das strafende und rächende Tun Gottes nur darin, daß er sein Antlitz verhüllt. Sobald er die Menschen sich selber überläßt, beginnen diese sich gegenseitig zu zerstören:

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Wir sind alle wie unreine Menschen geworden,

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unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid.

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Wie Laub sind wir alle verwelkt,

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unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind.

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Niemand ruft deinen Namen an,

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keiner rafft sich auf, dir zu folgen.

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Denn du hast dein Gesicht vor uns verborgen

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und hast uns der eigenen Schuld überlassen (Jes 64,5 f.).

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Weil Gott sein Gesicht vor Israel verbirgt und das Volk seiner eigenen Schuld überläßt, deswegen geht es zugrunde. Es verwelkt wie Laub, und es wird wie vom Wind fortgetragen. In ähnlicher Weise beschreibt Psalm 81 die Strafe Gottes gegenüber seinem Volk, das trotz vieler Fürsorge nicht auf ihn hören wollte:

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Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört:

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Israel hat mich nicht gewollt.

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Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen,

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und sie handelten nach ihren eigenen Plänen

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(Ps 81,12 f.).

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Überläßt Gott die Menschen ihrem verstockten Herzen, und handeln sie nach ihren eigenen Plänen, dann entsteht nichts Gutes. In Psalm 143 fleht deshalb der Beter:

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Herr, erhöre mich bald,

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denn mein Geist wird müde;

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verbirg dein Antlitz nicht vor mir,

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damit ich nicht werde wie Menschen,

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die längst begraben sind

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(Ps 143,7) (61).

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Nur wo das Angesicht Gottes leuchtet, kann der Mensch wirklich leben. Ohne diese helfende und machtvolle Gegenwart verfällt er dem bösen Trieb seines eigenen Herzens, und er bestraft sich damit selber. Bleiben die beiden Aussagereihen, daß Gott Menschen gegen einander aufhetzt und daß er sie den Plänen ihres eigenen bösen Herzens überläßt, letztlich ungeklärt nebeneinander stehen, so sind in diesem Zusammenhang doch die Erzählungen von der ersten Sünde und ihren Folgen besonders bedeutungsvoll. Zum Verständnis der eigentlichen Aussage dieser Texte ist zu beachten, daß die Erzählungen vom Sündenfall und von Kain und Abel, wie C. Westermann nachweist, »deutlich in einer Entsprechung zueinander konzipiert sind« (62). »Wenn der Erzähler die beiden Fragen Gottes an die Schuldigen: ›Adam, wo bist du?‹ und ›Wo ist dein Bruder Abel?‹ bewußt aneinander anklingend formuliert hat, gibt er schon damit zu erkennen, daß das Sich-Verfehlen des Menschen gegen Gott und das gegen den Bruder nur miteinander diese Grenze des Menschen bezeichnen, die wir Sünde nennen.« (63)

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Für den Fall, daß sie sündigen, droht Gott dem Menschenpaar den Tod an. Nach der Übertretung des Gebotes macht er die Drohung aber nicht unmittelbar wahr. Daß Adam schließlich hochbetagt starb, kann aus biblischer Sicht nicht als Strafe gewertet werden. Ludwig L. Wächter fragt sich mit Recht, wie man im Zusammenhang mit Gen 3 von feindlichen Todesgewalten sprechen konnte, durch die der Mensch vor der Zeit aufgerieben würde. Dagegen stellt er fest : »Die biblische Tradition straft diese Auf-

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fassung Lüge. Sie weiß nichts von einem vorzeitigen Ende Adams, sondern billigt ihm im Gegenteil eine stattliche Anzahl von Lebensjahren zu. Strafe Gottes ist solcher Tod im hohen Alter nirgends im Alten Testament; warum sollte es bei Adam anders sein? Strafe Gottes ist die Vertreibung aus Gottes Nähe mit ihren Folgen. (64)

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Wegen der Sünde werden Adam und Eva aus dem Paradies, aus der Nähe Gottes vertrieben. Gott verhüllt sein Antlitz vor ihnen. Die erste Folge davon ist, daß die Arbeit für den Mann und die Schwangerschaft für die Frau mühsam werden. Die schlimmste Auswirkung aber zeigt die anschließende Erzählung von Kain und Abel. Da die Menschen aus der Nähe Gottes herausgefallen sind, muß jeder damit rechnen, von einem anderen, ja sogar vom eigenen Bruder erschlagen zu werden. Gemäß der biblischen Erzählung ist Abel der erste Mensch, der gestorben ist. Sein Tod erscheint deshalb als die Urform menschlichen Sterbens. Er aber ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Weil Adam und Eva gesündigt haben, gingen sie der Gegenwart Gottes verlustig, und deshalb wurde Abel umgebracht. Gott hat die Übertretung des Gebotes nicht selber mit dem Tod der Ungehorsamen bestraft. Wohl aber hat er ihnen seine Nähe entzogen (Vertreibung aus dem Paradies) und sie sich in einem großen Maße selber überlassen. Die Folge davon war, daß schon der erste Sohn Adams, Kain, den zweitgeborenen Abel erschlug. Dem Mörder erging es dabei kaum besser als dem Ermordeten. Er klagte zu Gott:

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Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen (Gen 4,14).

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Der Mörder wird von seiner Heimat, vom Ackerland, verjagt. Die Schuld treibt ihn ruhelos über die Erde, und er muß ständig damit rechnen, selber erschlagen zu werden.

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Gott hat Adam und Eva wegen der Sünde aus seiner Nähe vertrieben. Zuvor aber haben sich beide vor ihm versteckt (Gen 3,8). Desgleichen wurde Kain von seinem Ackerland vertrieben. Er mußte aber auch sich selber vor Gottes Antlitz verbergen. Die Erzählungen vom Sündenfall und von Kain und Abel legen folglich nahe, daß der letzte Grund für das Sich-Verhüllen Gottes darin liegt, daß die sündigen und gewalttätigen Menschen sich sel

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ber spontan vor Gott verstecken müssen. Obwohl Gott die schuldigen Menschen nicht unmittelbar getötet hat, wurde seine Drohung schließlich doch wahr. Die Menschen haben sie selber wahr gemacht, indem einer den anderen erschlug und der Mörder damit rechnen mußte, seinerseits umgebracht zu werden. Die Neigung zum gegenseitigen Töten wurde fürs erste nur durch das Prinzip der Rache etwas eingegrenzt und niedergehalten:

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Der Herr aber sprach zu ihm (Kain): Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn fände (Gen 4,15).

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Die Rache ist aber ein sehr zweischneidiges Mittel, um die tötende Gewalt einzudämmen. Schon vom fünften Nachkommen Kains, von Lamech, heißt es:

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Lamech sprach zu seinen Frauen:

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Ada und Zilla, hört auf meine Stimme,

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ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede!

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Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde

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und einen Knaben für eine Strieme.

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Wird Kain siebenfach gerächt,

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dann Lamech siebenundsiebzigfach (Gen 4,23 f.).

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Die Rache als Heilmittel gegen die Gewalt tendiert zur völligen Maßlosigkeit. Sie wird selber zu einer Ursache sinnlosen Blutvergießens. Deshalb heißt es zur Zeit Noachs:

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Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat (Gen 6,11).

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Die biblische Urgeschichte liefert keine Theorie. Sie beschreibt aber das Verhältnis Gottes zur Gewalt auf recht eindeutige Weise. Den sündigen Menschen wird von Gott der Tod angedroht. Gott wird deshalb aber keineswegs selber gewalttätig. Er vertreibt nur die Schuldigen aus seiner Nähe. In einer Welt aber, über der nicht mehr sein Antlitz leuchtet, werden die Arbeit und die Schwangerschaft mühsam und einer tendiert dazu, den anderen umzubringen. Die Strafe besteht darin, daß Gott die Menschen der Neigung ihrer Herzen überläßt. Diese bestrafen sich gegenseitig selber, und sie verstecken sich vor dem Antlitz Gottes. Er ist verborgen, weil die gewalttätigen Menschen sich vor ihm verkriechen.

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Nicht alle alttestamentlichen Texte lassen sich, wie wir bereits ausdrücklich erwähnten, auf die gleiche Grundaussage zurückführen. Es gibt viele Stellen, gemäß denen Gott auf sehr aktive Weise Menschen dazu führt, andere zu bestrafen. Er hetzt sie direkt auf, sich gegenseitig umzubringen. Es gibt auch eine Tendenz, vor allem im Buch Ijob und im Buch Kohelet, die davor resigniert, den Zusammenhang zwischen Freveltat und Strafe erkennen zu können. Dennoch dürfte unbestreitbar sein, daß die Theorie Girards ein

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neues Licht auf das zentralste alttestamentliche Thema wirft und daß sie direkt dazu herausfordert, durch die Analyse sehr vieler Einzeltexte die Frage nach der menschlichen und göttlichen Gewalt noch näher zu verfolgen.

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3. Rivalität und Eifersucht

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In »La violence et le sacré« wird zu zeigen versucht, daß die Gewalt aus der Mimesis entsteht. Danach hat das fundamentale menschliche Begehren von Natur aus kein eigenes Objekt. Es erstrebt jenes Gut, das sein Vorbild durch sein eigenes Begehren bezeichnet. Zwei Streben zielen deshalb auf das gleiche Gut. Daraus entsteht Eifersucht. Da der Rivale aber Vorbild bleibt, werden auch seine eifersüchtigen Gefühle nachgeahmt. Unter der Wirkung der Mimesis steigert sich die Rivalität, bis sie in der Gewalttat endet.

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Auf die Bedeutung der Rivalität wird in den alttestamentlichen Schriften oft hingewiesen. Wir können dieses Thema hier nicht systematisch verfolgen, wohl aber möchten wir einige Texte kurz erwähnen, die zum mindesten zeigen, daß wir es nicht mit einem Randphänomen zu tun haben.

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Kain und Abel bringen Gott je ein Opfer dar. Die Wirkung ist jedoch nicht die gleiche. Auf das Opfer Abels schaut Gott gnädig herab, auf das Tun Kains nicht. Weshalb Gott unterschiedlich reagiert, wird in der Erzählung nicht gesagt. Wohl aber wird sehr eindringlich festgehalten, welches die Reaktion Kains auf seine Zurücksetzung war:

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Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich (Gen 4,5).

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Kain wird eifersüchtig und böse auf seinen Bruder; er lockt ihn aufs Feld hinaus und erschlägt ihn dort. Die Gewalt entstand aus der erlebten Zurücksetzung und aus der Eifersucht.

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Von Rivalität ist auch die Rede zwischen den Hirten Abrahams und denen Lots (Gen 13,5-13), zwischen Sara und ihrer schwangeren Magd (Gen 16,1-16) und unter den verschiedenen Frauen Jakobs (Gen 29,1 - 30,24). Besonders ausführlich wird das rivalisierende Verhältnis zwischen Esau und Jakob beschrieben. Der Konflikt entsteht, weil der zweitgeborene Jakob das gleiche erstrebt, was sein Bruder schon besitzt, nämlich das Erstgeburtsrecht (Gen 25,29-34), oder was dieser begehrt, nämlich den väterli

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chen Segen (Gen 27,1-40). Dank der Hilfe Rebekkas überflügelt der zweite den Erstgeborenen. Dafür wird er mit dem Tode bedroht und muß fliehen (Gen 27,41-46).

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Eine ähnliche Rivalität wiederholt sich unter den Söhnen Jakobs. Weil der Vater Josef am meisten liebte und ihm einen Ärmelrock machen ließ, wurden seine Brüder böse auf ihn:

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Als seine Brüder sahen, daß ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, haßten sie ihn und konnten mit ihm kein gutes Wort mehr reden (Gen 37,4; vgl. 37,11).

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Josef heizte seinerseits die Eifersucht weiter an. Er erzählte, wie sich im Traum die Garben seiner Brüder vor der seinen geneigt, ja wie sich sogar die Sonne, der Mond und elf Sterne tief vor ihm verbeugt haben. Die Rivalität führte zum Plan, den verhaßten Bruder umzubringen. Es kam nur deshalb nicht zum Mord, weil im entscheidenden Augenblick ein Bruder aus der Allianz der möglichen Mörder ausscherte.

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In der Geschichte des Mose werden ebenfalls Rivalitäten erzählt. Mirjam und Aaron wollten ihrem Bruder gleich sein, und sie begehrten gegen ihn auf. Der Anlaß war eine fremde Frau:

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Sie sagten: Hat etwa der Herr nur mit Mose gesprochen? Hat er nicht auch mit uns gesprochen? (Num 12,2).

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Diese aufkeimende Rivalität führte zu keinem größeren Übel, weil sie durch ein direktes Eingreifen Gottes niedergehalten wurde. Der Herr erklärte, daß er sich Propheten durch Visionen und Träume zu erkennen gebe, mit Mose aber von Mund zu Mund und von Gesicht zu Gesicht spreche (Num 12,6 ff.). Als Strafe muß Mirjam sieben Tage den Aussatz auf sich tragen.

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Auch der Aufruhr Korachs, Datans und Abirams und ihrer Rotte gegen Mose und Aaron war durch Eifersucht bedingt (vgl. Ps 106,16). Sie sagten zu den beiden Führern:

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Ihr nehmt euch zu viel heraus! Alle sind heilig, die ganze Gemeinde, und der Herr ist mitten unter ihnen. Warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des Herrn? (Num 16,3).

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In der Erzählung läßt Mose sich nicht direkt auf den Streit ein. Er will die Sache vor den Herrn tragen. Doch seine Gegner verhärten sich und werfen ihm vor, er wolle sich als Herrscher aufspielen (Num 16,13). Da wird Mose zornig. Aber wiederum verschafft er sich nicht selber Recht, sondern er läßt es zu einem Gottesgericht kommen, bei dem die Aufrührer von der Erde verschlungen werden.

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Eine ganz besondere Rolle spielt die Rivalität in der Auseinandersetzung zwischen Saul und David. Zunächst wird berichtet, wie David von seinem König als Heerführer eingesetzt wurde. Doch bald hatte er mehr Erfolg als sein Herr. Als er von einem Sieg über die Philister heimkehrte, zogen ihm

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die Frauen entgegen. Sie tanzten und sangen:

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Saul hat Tausend erschlagen

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und David Zehntausend

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(1 Sam 18,7).

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Die Reaktion konnte nicht ausbleiben:

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Saul wurde darüber sehr zornig. Das Lied gefiel ihm nicht, denn er sagte: David geben sie Zehntausend, mir aber nur Tausend. Jetzt fehlt ihm nur noch die Königswürde. Von da an war Saul gegen David voll Argwohn (1 Sam 18,8 f.).

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Die Eifersucht und der Argwohn steigerten sich derart, daß Saul David mehrfach umzubringen versuchte. Es kam zu einer langen Auseinandersetzung zwischen beiden, die über den Tod Sauls hinaus bis zum Untergang seiner Nachkommen andauerte.

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Ähnliche Konflikte entstanden unter den Söhnen Davids, weil mehrere den Thron ihres Vaters erstrebten. Rivalitäten beherrschten auch die Geschichte der beiden Bruderreiche Juda und Israel. In einem messianischen Text aus dem Buch Jesaja heißt es :

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Dann hört der Neid von Efraim auf,

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die Feinde Judas werden vernichtet.

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Efraim ist nicht mehr neidisch auf Juda,

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und Juda ist nicht mehr Efraims Feind

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(Jes 11,13).

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Die Erfahrung vom Neid und der Eifersucht zwischen Juda und Israel (Efraim) war anscheinend so stark, daß der Autor des zitierten Textes die Überwindung dieses Konlikts nur von der messianischen Zeit erhoffen konnte. Neidvolle Rivalitäten gab es zudem nicht bloß zwischen den beiden kleinen Bruderreichen. Israel als ganzes war dauerndes Streitobjekt zwischen Ägypten einerseits und den Großmächten im syrisch-mesopotamischen Raum anderseits.

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Diese rivalisierenden Verhältnisse führten auch immer wieder zur offenen Gewalt. Von Efraim und Juda wird bei Jesaja gesagt:

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Man fraß rechts und blieb hungrig,

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man fraß links und wurde nicht satt.

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Jeder fraß seinen Nachbarn.

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Manasse fraß Efraim und Efraim Manasse,

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und beide zusammen fraßen Juda

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(Jes 9,19 f.).

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Aus dem Neid zwischen den Brudervölkern entstand gleichsam eine allgemeine Fresserei. Desgleichen führte die Eifersucht zwischen den Großmächten zu dauernden Gewalttaten an Israel. Die Rivalitäten und die daraus folgende Gewalt haben das Leben Israels auf allen Ebenen beherrscht.

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Besonders deutlich hat der Jahweglaube die abgründige Bedeutung der Eifersucht in der Erzählung über den Sündenfall herausgearbeitet. Die Schlange konnte Eva verführen, weil es ihr gelang, der Frau glauben zu machen, Gott selber sei eifersüchtig auf die Menschen. Sie flüsterte ihr den Gedanken in die Ohren, die Übertretung des Gebotes führe keineswegs zum Tod. Gott habe nur deshalb verboten, von den Früchten des Baumes zu essen, weil er nicht wolle, daß die Menschen wie er würden:

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Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse (Gen 3,4 f.).

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Der Gedanke, Gott sei ein Rivale der Menschen und halte ihnen etwas vor, vermochte Eva zu verführen. Neidisch war aber nicht Gott, sondern jener, von dem dieser Gedanke kam; so wenigstens sieht es das Buch der Weisheit:

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Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt,

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und ihn erfahren alle, die ihm angehören (Weish 2,24).

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Die alttestamentlichen Schriften sehen folglich in Übereinstimmung mit der Theorie Girards die Wurzel der Sünde und der Gewalttat im Neid und in der Eifersucht.

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Wie verhält es sich aber mit der Feststellung, daß der Neid zum Bösen führt, die Tatsache, daß sich in den alttestamentlichen Schriften Gott selber als eifersüchtig bezeichnet? Er gab sich ja direkt diesen Namen. Durch Mose erging das Wort an Israel:

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Du darfst dich nicht vor einem anderen Gott niederwerfen. Denn Jahwe trägt den Namen »der Eifersüchtige«: ein eifersüchtiger Gott ist er (Ex 34,14).

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Die Frage der Eifersucht Gottes bedürfte einer eingehenden Untersuchung, da es sich um ein komplexes Phänomen handelt. Hier kann nur kurz erwähnt werden, daß in gewissen Texten die Eifersucht Jahwes fast identisch ist mit seiner Heiligkeit. In einem Wort Josuas an das Volk werden beide Eigenschaften unterschiedslos nebeneinander genannt:

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Es wird euch nicht gelingen, dem Herrn zu dienen, denn er ist ein heiliger Gott, ein eifersüchtiger Gott (Jos 24,19).

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Die Eifersucht Gottes steht ferner im engsten Zusammenhang mit seiner Gewalttätigkeit:

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Ihr sollt euch kein Gottesbildnis machen, das irgend etwas darstellt, was der Herr, dein Gott, dir verboten hat. Denn der Herr, dein Gott, ist ein fressendes Feuer. Er ist ein eifersüchtiger Gott (Dtn 4,23 f.; vgl. 6,15; 32,16).

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Gott ist heilig, er ist eifersüchtig, und er ist ein fressendes Feuer. Diese Zusammenhänge sind aus der Sicht Girards nicht überraschend. Bei den Texten über die Gewalttätigkeit Jahwes konnten wir feststellen, daß damit normalerweise menschliche Taten gemeint sind, die in der einen oder anderen Weise auf Gott zurückgeführt werden. Ähnliches dürfte von der Eifersucht gelten. Die Anhänger Jahwes haben ihre eigene Eifersucht auf ihren Gott projiziert. Nicht zufällig erscheint er als einer, der sich zur Eifersucht provozieren läßt und der selber die gleichen Gefühle in seinem Volk weckt:

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Sie haben meine Eifersucht durch einen Nichtgott geweckt,

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mich zum Zorn gereizt durch ihre Götter aus Luft -

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so wecke ich ihre Eifersucht durch ein Nichtvolk,

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durch ein dummes Volk reize ich sie zum Zorn (Dtn 32,21).

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Jahwe ist ein Rivale anderer Götter, und er reizt selber das Volk zur Eifersucht. Hier dürfte deutlich werden, daß wir es mit einem die Menschen betreffenden Phänomen zu tun haben. Im Licht der Theorie Girards zeigt allerdings gerade die Tatsache, daß die Eifersucht im Gottesbild offen in Erscheinung tritt, daß sie mehr als eine bloße Projektion ist. Würde die letztere unumschränkt herrschen, müßte die Eifersucht unter den sakralen Vorstellungen verborgen bleiben. Dies ist jedoch in den alttestamentlichen Schriften nicht der Fall. In manchen Texten insistiert Jahwe direkt auf seine Eifersucht. Durch diese Offenlegung kündigt sich etwas Neues an. Im Zeichen der Eifersucht beginnt Jahwe seine einzigartige Beziehung zu seinem Volk zu offenbaren. Wie schwer es allerdings war, daß sich dieses Neue gegen die Macht sakraler Projektionen durchsetzen konnte, zeigt die Tatsache, daß erst bei Deuterojesaja ein klarer Monotheismus in Theorie und Praxis erreicht wurde.(65) Erst hier wurde voll einsichtig, daß Jahwe kein Rivale anderer Götter ist, weil es diese gar nicht gibt.

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4. Die Mimesis

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Die Gewalttat folgt der Eifersucht und der Rivalität. Diese aber entstehen nicht spontan. Gemäß den Analysen Girards entspringen sie ihrerseits aus der Mimesis, aus der Nachahmung fremder Vorbilder. Haben die biblischen Texte auch zu diesem Punkt der Theorie Girards etwas zu sagen?

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In den alttestamentlichen Schriften und speziell in der deuteronomischen Theologie ist von der Nachahmung vor allem im Zusammenhang mit dem Götzendienst die Rede. Immer wieder wird das Volk davor gewarnt, fremden Göttern nachzulaufen, oder es wird angeklagt, daß es dies getan hat. »Die zwar nicht häufigste, wohl aber die typischste Formulierung des Ersten Gebotes in der geprägten deuteronomischen Sprache lautet: Ihr sollt nicht anderen Göttern nachlaufen (Dtn 6,14(66). In Entsprechung dazu ergeht die Drohung:

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Wenn du aber den Herrn, deinen Gott, vergißt und anderen Göttern nachfolgst, ihnen dienst und dich vor ihnen niederwirfst - heute rufe ich Zeugen gegen euch an: dann werdet ihr völlig ausgetilgt werden (Dtn 8,19; vgl. 11,28).

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Die Nachahmung der Kulte fremder Völker wird als kapitales Vergehen angesehen, und dem Volk wird für diesen Fall die Vernichtung angedroht. In Übereinstimmung damit wird im deuteronomischen Geschichtswerk bei der Anklage gegen das Volk oder gegen einzelne Könige immer wieder hervorgehoben, daß sie die Greuel der Völker nachgeahmt haben und fremden Göttern nachgelaufen sind. So heißt es ziemlich am Anfang des Buches der Richter in einem generellen Urteil über Israel:

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Sie (die Israeliten) verließen den Herrn, den Gott ihrer Väter, der sie aus Ägypten herausgeführt hatte, und liefen fremden Göttern nach. Sie verehrten die Götter der Völker ringsum und beleidigten den Herrn (Ri 2,12: vgl. 2,19).

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Ähnlich lautet die Anklage im Buch der Könige über Juda zur Zeit

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Rehabeams:

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Juda aber tat, was dem Herrn mißfiel. Die Sünden, die sie begingen, reizten ihn mehr als alles, was ihre Väter getan hatten. Denn auch sie errichteten Opferhöhen, Steinmale und heilige Pfähle auf allen hohen Hügeln und unter jedem üppigen Baum. Sogar Hierodulen gab es im Land. Die Israeliten ahmten alle Greuel der Völker nach, die der Herr vor ihnen vertrieben hatte (1 Kön 14,22 f.).

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In der Nachahmung fremder Völker wird der eigentliche Grund für den Götzendienst gesehen. Die gleiche Anklage findet sich in dem von der deuteronomischen Theologie beeinflußten Buch des Propheten Jeremia. Gott wirft seinem Volk vor:

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Die Priester fragten nicht: Wo ist der Herr? Die Hüter des Gesetzes kannten mich nicht, die Hirten des Volkes wurden mir untreu. Die Propheten traten im Dienst des Baal auf und liefen unnützen Götzen nach (Jer 2,8; vgl. 2,23.25; 7,6-9; 8,2; 9,13 ; 11,10; 13,10; 16,11; 25,6).

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Hat dieses Nachahmen fremder Kulte etwas mit jener Mimesis zu tun, die Girard beschreibt? Zunächst dürfte feststehen, daß Israel nicht einfach aus theoretisch-theologischen Überlegungen fremden Göttern nachgelaufen ist. In vielen Texten wird vielmehr durch sehr bildhafte Worte auf eine maßlose Begierde hingewiesen. (67) So spricht Gott in der Verkündigung des Jeremia zum Volk:

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Wie kannst du sagen: Ich bin nicht unrein geworden, den Baalen bin ich nicht nachgelaufen? Schau auf dein Treiben im Tal, erkenne, was du verübt hast! Eine schnelle Kamelstute bist du, die kreuz und quer ihre Wege rennt, eine wilde Eselin, die an die Wüste gewöhnt ist. In ihrer Brunst schnappt sie nach Luft; wer vermag ihre Gier zu hemmen (Jer 2,23 f.; vgl. 16,11 f.).

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Israel ist aus Gier den fremden Göttern nachgelaufen. Genau dies hat neben Jeremia auch Ezechiel dem Volk vorgeworfen. Er sah im Götzendienst eine wahre Hurerei. In den Gleichnissen von der treulosen Frau (Ez 16,1-63) und von den zwei schamlosen Schwestern (Ez 23,1 bis 49) schilderte er mit erotischen und sexuellen Bildern, wie Israel beständig jedem beliebigen Fremden nachgelaufen ist (vgl. Ez 20,32). Oholiba und Ohola, Jerusalem und Samaria, sehnten sich in gleicher Weise »nach ihren Liebhabern, deren Glieder wie die Glieder der Esel und deren Kraft wie die Kraft der Hengste waren« (Ez 23,20). Oholiba ging selbst so weit, daß sie sich durch bloße Zeichnungen zur Gier verleiten ließ:

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Doch Oholiba ging noch weiter in ihrer Schamlosigkeit: Sie sah mit Mennig gemalte Wandzeichnungen kaldäischer Männer, die um die Hüften einen Lendenschurz und auf dem Kopf einen herabhängenden Turban trugen. Alle sahen aus wie Ritter, wie Babylonier. Als ihre Augen sie sahen, erwachte in ihr die Gier, und sie schickte Boten zu ihnen nach Kaldäa (Ez 23,14 ff.).

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Welche Begierde ist hier genau gemeint? Die sexuelle? Tatsächlich dürften Kulte mit sexuellen Praktiken auf Israel eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt haben. Doch dies scheint nicht der zentrale Punkt gewesen zu sein. Bei vielen Kulten, die Israel nachahmte, spielte die Sexualität keine besondere Rolle. Gerade Ezechiel, der mit sehr erotischen Bildern beschreibt, wie sich die beiden schamlosen Schwestern ihre jugendlichen Brüste streicheln ließen, sagt eindeutig:

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Ohola wurde mir untreu. Sie hatte Verlangen nach ihren Liebhabern, den kriegerischen Assyrern, den in Purpur gekleideten Statthaltern und Herren; alle waren stattliche junge Männer, Reiter hoch zu Roß (Ez 23,5 f.).

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Die militärische Stärke und der politische Glanz der Assyrer waren der eigentliche Grund, weshalb sich Israel verführen ließ, ihre Kulte nachzuahmen. Damals sah man einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem militärischen, politischen und wirtschaftlichen Erfolg eines Volkes und seinen Götterkulten.(68) Begehrte man den gleichen Erfolg, mußte man die entsprechenden Kulte nachahmen. Wir haben es hier folglich genau mit dem Modell Girards zu tun. Die fremden Völker waren für Israel immer wieder Vorbilder. Seine eigene Begierde wurde durch die (scheinbar) erfolgreiche Begierde dieser Völker geweckt. Nicht theoretische Überlegungen haben Israel dazu bewegt, fremde Götter zu verehren; es ist vielmehr der Faszination erfolgreicher Vorbilder erlegen. Es begann das zu begehren, was es bei den mächtigeren umliegenden Völkern sah.

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Im ersten Buch Samuel wird erzählt, daß Israel aus dem genau gleichen Grund für sich das Königtum wollte. Die Ältesten des Volkes sagten zu Samuel, dem ergrauten Richter und Propheten:

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Du bist alt, und deine Söhne leben nicht nach deinem Vorbild. Darum setze jetzt einen König bei uns ein, der über uns herrschen soll, wie es bei allen Völkern Brauch ist. Aber es gefiel Samuel nicht, daß sie sagten: Gib uns einen König, der über uns herrschen soll. Samuel betete deshalb zum Herrn, und der Herr sprach zu Samuel: Hör auf alles, was das Volk dir sagt. Nicht dich haben sie verworfen, sondern mich: Ich soll nicht mehr ihr König sein. So haben sie immer gehandelt, seit ich sie aus Ägypten herausführte, bis zum heutigen Tag; sie haben mich verlassen und fremden Göttern gedient. Und so machen sie es nun auch mit dir. Doch gib jetzt ihrem Verlangen nach, warne sie aber und mach ihnen bekannt, welche Rechte der König hat, der über sie herrschen wird (1 Sam 8,5-9).

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Dieser Text bringt das Verlangen, wie alle Völker einen König zu haben, in direkten Zusammenhang mit dem Nachlaufen fremder Götter. Weshalb Israel wie alle Völker einen König haben wollte, wird im folgenden gedeutet. Das Volk lehnt nämlich die Warnung Samuels vor den harten Maßnahmen der künftigen Könige mit den Worten ab:

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Nein, ein König soll über uns herrschen! Wir wollen wie alle anderen Völker sein! Ein König soll über uns herrschen, er soll vor uns her ins Feld ziehen und unsere Kriege führen (1 Sam 8,19 f.).

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Diese Antwort macht deutlich, weshalb Israel einen König begehrte. Es wollte wie alle anderen Völker sein, weil es deren militärische Stärke bewunderte. Die erfolgreichen Vorbilder weckten - genau wie Girard analysiert - sein eigenes Verlangen.

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Die Mimesis spielt auch in der Erzählung über die Sünde im Paradies eine wichtige Rolle. Der Text läßt klar erkennen, daß die Früchte des verbotenen Baumes nicht von sich aus in Eva die Begierde geweckt haben. Erst nachdem die Schlange ausdrücklich auf sie hingewiesen und sie als begehrenswert bezeichnet hatte, um wie Gott zu sein, wurden sie tatsächlich erstrebenswert. Von da an sah sie die Frau mit ganz anderen Augen:

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Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, daß der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden (Gen 3,6).

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Die Erzählung handelt nicht von einem augenblicklichen Verlangen, sondern von einem Grundbegehren, von der Augenweide und von der Verlockung, klug zu sein. Diese Begierde wurde nicht durch die Früchte allein, sondern erst durch den Hinweis der Schlange geweckt. Die Mimesis spielte folglich im Entstehen der Begierde eine entscheidende Rolle. Sie weckte und lenkte das tiefere Verlangen.

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Führt die Mimesis in den alttestamentlichen Schriften - wie es nach Girard sein müßte - auch zur Gewalt? Oder haben die Aussagen über das Nachahmen fremder Völker und die Texte über die menschliche und göttliche Gewalt nichts miteinander zu tun? Diese Frage bedürfte einer sehr eingehenden Untersuchung. Hier können nur einige Punkte kurz angedeutet werden. Sicher gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Götzendienst und der göttlichen Gewalt, denn Jahwe droht dem Volk gerade wegen der Nachahmung fremder Kulte immer wieder die Vernichtung an. Im Buch Jeremia findet sich ein Wort, durch das Gott dem Propheten klar macht, daß das Volk durch den Götzendienst nicht Jahwe weh tut, sondern sich selber schadet:

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Siehst du nicht, was sie in den Städten Judas und auf den Straßen Jerusalems treiben? Die Kinder sammeln Holz, die Väter zünden das Feuer an, und die Frauen kneten den Teig, um Opferkuchen für die Himmelskönigin zu backen. Anderen Göttern spendet man Trankopfer, um mir weh zu tun. Aber tun sie wirklich mir weh - Wort des Herrn -, und nicht vielmehr sich selbst, zu ihrer eigenen Schande? Darum spricht Gott der Herr: Seht, mein Zorn und Grimm ergießt sich über diesen Ort, über Menschen und Vieh, über die Bäume des Feldes und die Früchte des Ackers; er brennt und wird nicht erlöschen (Jer 7,17-20).

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Durch die Nachahmung fremder Götter schadet das Volk sich selber. Der Zorn Gottes kommt über es (vgl. Nah 3,1-4). Ist dieser Zorn aber eine rein äußerliche Strafe, oder ergibt er sich aus der Logik der Mimesis? Bereits

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weiter oben haben wir gesehen, daß Aussagen über ein direktes strafendes Handeln Gottes normalerweise einschließen, daß die rächende Tat durch andere Menschen ausgeführt wird, ja daß der Zorn Gottes darin besteht (bestehen kann), daß die Übeltäter in jenes Feuer stürzen, das sie selber entzündet haben. Somit liegt die Annahme nahe, daß die dem Götzendienst angedrohte rächende Gewalt von andern Völkern her kommt und daß sie sich aus der inneren Logik der Nachahmung selber ergibt. Ezechiel betont tatsächlich, daß die Strafe für Juda gerade von jenen kam, denen es in seiner Gier zuerst nachgelaufen ist. Von den Fremden, die Jerusalem begehrte, sagt der prophetische Text:

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Sie (Oholiba) hatte Verlangen nach den Assyrern, nach den Statthaltern und Herren, den prächtig gekleideten Kriegern, den Reitern hoch zu Roß. Alle waren stattliche junge Männer (Ez 23,12).

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Gerade diese Liebhaber werden für Israel aber zum Untergang:

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Darum, Oholiba - so spricht Gott, der Herr -, hetze ich deine Liebhaber, von denen du dich abgewandt hast, gegen dich auf, von allen Seiten führe ich sie gegen dich heran: Die Söhne Babels und alle Kaldäer, Männer aus Pekod, Schoa und Koa, dazu alle Assyrer, stattliche junge Männer, lauter Statthalter und Herren, Ritter und Helden, alle hoch zu Roß (Ez 23,22 f.).

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Jene stattlichen Männer, jene Reiter hoch zu Roß, die die Begierde geweckt haben, vollziehen den leidenschaftlichen Zorn Gottes.

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Wie die Mimesis zur rächenden Gewalt führt, wird an einigen Stellen noch näher beschrieben. Fremden Göttern nachlaufen bedeutete in vielen Fällen Bündnisse mit anderen Mächten schließen. Gerade dadurch wurde Israel aber immer wieder in unheilvolle militärische Verwicklungen hineingezogen. So verkündete Hosea als Wort Gottes:

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Efraim ist wie eine ahnungslose, leicht zu lockende Taube.

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Sie rufen Ägypten zu Hilfe und laufen nach Assur.

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Während sie laufen, werfe ich mein Netz über sie,

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ich hole sie herunter wie die Vögel des Himmels,

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sobald ihr Schwarm sich hören läßt, fange ich sie.

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Weh ihnen, weil sie mir weggelaufen sind!

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(Hos 7,11 ff.).

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Gerade wenn Israel Hilfe bei fremden Großmächten suchen wollte, verfiel es dem Unheil. Auf die militärischen Bündnisse werden wir später noch näher eingehen. In unserem Zusammenhang vermögen sie jedoch die Beziehung zwischen Mimesis und Gewalt verständlicher zu machen.

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In eine ähnliche Richtung deutet Klaus Koch in seinem Artikel »Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?«(69). Er zeigt auf, daß nach alttestamentlichem Verständnis sich jede gemeinschaftstreue wie frevlerische Tat »gleichsam ansteckend auf die Umgebung des Täters« und »damit letztlich auf den Bund zwischen Jahwe und Israel«(70) auswirkt. Die Tatsphäre umgibt nicht ein isoliertes Individuum, sondern einen Menschen, der innerhalb einer Gemeinschaft steht. »Auf diese Gemeinschaft wirkt sie ansteckend.« (71) Worin kann aber diese Ansteckung bestehen? Gewiß nicht in einem Virus, sondern wohl nur darin, daß die Tat »nachgeahmt« wird. Wer begehrlich ist, muß damit rechnen, daß andere es auch werden. Wer der Rivalität verfällt, weckt in anderen die gleiche Leidenschaft. Wer zur Gewalt greift, dessen Tun wird nachgeahmt, bis die Tat früher oder später auf sein eigenes Haupt zurückfällt.

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Auch wenn die von uns zusammengetragenen Hinweise sehr summarisch bleiben, dürfte doch deutlich geworden sein, daß die Mimesis in den alttestamentlichen Schriften eine bedeutende Rolle spielt. In ihnen wird zudem ein Zusammenhang zwischen der Nachahmung und dem Ausbruch der strafenden Gewalt sichtbar. »La violence et le sacré« wirft folglich auch unter dieser Rücksicht ein neues Licht auf viele Texte und stellt sehr interessante Fragen für weitere Detailanalysen.

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5. Die Projektion sakraler Vorstellungen

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Die sakralen Vorstellungen entstehen durch den Sündenbockmechanismus. Bei der kollektiven Übertragung der eigenen Aggressionen auf ein zufälliges Opfer wird dieses sakralisiert. Alle gewalttätigen Vorstellungen heften sich an den Ausgestoßenen. Dieser erscheint aber auch als geheimnisvoller Friedensstifter für die zutiefst bedrohte Gemeinschaft. Er ist der Verfluchte und der Segenbringende zugleich. So erklärt Girard den Ursprung der sakralen Vorstellungen, und nach ihm wird diese ursprüngliche kollektive Übertragung in den Opfern rituell nachvollzogen. Stimmt diese Theorie, müßte die fortschreitende Offenbarung des wahren Gottes auch die Opfer immer mehr als Werk menschlicher Projektionen entlarven. Im Alten Te-

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stament gibt es tatsächlich eine massive Kritik der Opfer. Zunächst werden die Kulte fremder Völker verurteilt. In den frühen Schichten der alttestamentlichen Schriften bedeutet dies zwar noch keineswegs, daß die fremden Götter für nicht existent gehalten und die entsprechenden Opfer als reiner Götzendienst verurteilt würden. Man rechnete vielmehr mit dem Vorhandensein anderer Götter. Jahwe hat gerade deshalb seinem Volk so streng verboten, diesen zu opfern. Er wollte Israel ausschließlich für sich haben. Er zeigte sich als eifersüchtiger Gott. (72) Das Thema der Eifersucht bekam deshalb eine solche Virulenz, weil Jahwe ursprünglich tatsächlich Konkurrenten hatte.

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Langsam vollzog sich in Israel jedoch ein Wandel. Mindestens von der Exilszeit an werden die fremden Götter für nicht existent gehalten. In einer großen Klagerede über das treulose Volk bezeichnet Jeremia sie als »Windhauch«.

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Was fanden eure Väter Unrechtes an mir, daß sie von mir wichen, dem Windhauch nachfolgten, selber zu Windhauch wurden und nicht mehr fragten: Wo ist Jahwe, der uns aus dem Land Ägypten geführt hat? (Jer 2,5 f.).

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Einige Verse später werden die fremden Götter sogar als Nicht-Götter eingestuft:

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Hat je ein Volk seine Götter gewechselt? Dabei sind es gar keine Götter. Mein Volk aber hat seinen Ruhm gegen unnütze Götzen vertauscht (Jer 2,11).

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Diese Aussagen könnte man vielleicht noch in dem Sinne verstehen, daß damit nur die völlige Machtlosigkeit der fremden Götter gegenüber Jahwe gemeint ist. Völlig eindeutig sind jedoch die Aussagen bei Deuterojesaja. Hier wird formell erklärt, daß es die fremden Götter nicht gibt. In einem hymnischen Selbstpreis sagt Jahwe:

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Ich bin der Erste und der Letzte,

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außer mir gibt es keinen Gott

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Ihr seid meine Zeugen: Gibt es einen Gott außer mir?

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Es gibt keinen Fels außer mir, ich kenne keinen

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(Jes 44,6 ff.; vgl. 41,21-29).

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In Übereinstimmung mit diesem ausdrücklichen Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes wird der Götzendienst als reines Menschenwerk entlarvt. Auf ironische Weise schildert das prophetische Buch, wie die Götzendiener Bilder anfertigen, vor denen sie dann selber niederfallen:

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Den einen Teil des Holzes wirft man ins Feuer

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und röstet Fleisch an der Glut

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Aus dem Rest des Holzes aber macht man sich einen

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Gott, einen Götzen;

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man wirft sich vor ihm auf die Knie

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und betet zu ihm und sagt:

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Hilf mir, du bist doch mein Gott!

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(Jes 44,16 f.).

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Hier werden die fremden Götter als reine Projektionen und der Götzendienst als reines Menschenwerk entlarvt. Eine ähnlich massive Kritik der fremden Kulte findet sich in der deuteronomischen Theologie. Soll die Theorie Girards stimmen, muß aber auch von den Opfern in Israel ähnliches gelten. Wenn der Opferkult seiner Grundstruktur nach eine rituelle Wiederholung des Sündenbockmechanismus ist, kann er aus sich heraus keinen Weg zum wahren Gott eröffnen. Tatsächlich gab es in Israel eine starke Kritik am eigenen Opferbetrieb. Sie begann bereits bei den ersten Schriftpropheten. Amos verkündete als Gotteswort:

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Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie,

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ich kann eure Feiern nicht riechen.

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Wenn ihr mir Brandopfer darbringt -

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Ich habe kein Gefallen an euren Gaben,

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und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen

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Habt ihr mir etwa Schlachtopfer und Gaben dargebracht

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während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel?

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(Am 5,21-25; vgl. Hos 10,1-15; Mich 6,6 f.).

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»Amos kritisiert also nicht nur den tatsächlichen Opferkult, sondern es findet sich bei ihm sogar die Vorstellung, daß das Volk einmal ohne Opfer recht vor Jahwe lebte.« (73) Ein ähnliches Urteil findet sich bei Jeremia. Voll Ironie spricht Gott:

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Häuft nur Brandopfer auf Schlachtopfer und eßt Opferfleisch! Denn ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten herausführte, nichts gesagt und nichts befohlen, was Brandopfer und Schlachtopfer betrifft (Jer 7,21 f).

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»Die Opfervorschriften stammen nicht aus dem Willen Jahwes, sondern sind menschliche Erfindung. Damit gibt Jeremia eine Deutung der Urzeit als Idealzeit, wie sie auch Hosea und Amos kennen. Am tatsächlichen historischen Ablauf ist Jeremia genausowenig wie jene interessiert. Auch sagt er nicht, in der Wüste seien keine Opfer dargebracht worden, sondern nur, daß sie von Jahwe nicht geboten wurden.« (74)

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Die grundsätzliche Bedeutung der prophetischen Kultkritik ist in der alttestamentlichen Wissenschaft zwar umstritten. Folgendes Urteil dürfte aber doch zutreffen: »Rechte Gotteserkenntnis ergibt sich also nie aus dem Kult, sondern aus der geschichtlichen Erfahrung, denn Jahwe ist kein Kultgott, sondern ›Gott von Ägypten her‹, das heißt aus einer geschichtlichen und geschichtswirksamen Situation.« (75)

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Die Botschaft der deuteronomischen Theologie bewegt sich grundsätzlich auf einer ähnlichen Linie wie die prophetische Kultkritik. Die Verehrung fremder Götter wird nicht nur entschieden abgelehnt; im Geschichtswerk wird auch gezeigt, daß Israel immer wieder von Jahwe abgefallen ist. Die deuteronomische Theologie betrachtet diesen Abfall aber nicht als etwas Definitives. Das Volk wird vielmehr noch einmal zur Umkehr aufgerufen. »Zu beachten ist (dabei) der akultische Charakter der Umkehr. Dem leidenschaftlichen Interesse an der Abwehr der Fremdkulte entspricht keinerlei positives Interesse am Vollzug bestimmter Jahwerituale DtrG hat im wesentlichen einen Gebets- und Wortgottesdienst vor Augen, bei dem es grundlegend auf die Hinwendung auf die Stimme Jahwes selbst ankommt.« (76) Israel hat zwar den Kult nie selber abgeschafft, sondern auch nach der Exilszeit wieder genau auf seine Einhaltung geachtet. Wie wenig aber der Jahweglaube von den Opfern abhängig war, belegt die Tatsache, daß er die kultlosen Zeiten nach der ersten und zweiten Zerstörung Jerusalems unbeschadet überdauern konnte.

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Die innere Bedeutung der Kultkritik tritt noch deutlicher zutage, wenn wir darauf achten, was vom Volk als wahre Umkehr gefordert wurde: Recht und Gerechtigkeit. Entscheidend ist dabei die Einsicht, daß die Propheten nie lehrten, man solle die Opfer besser darbringen, damit daraus Recht und Gerechtigkeit fließen. Sie forderten vielmehr anstatt der Opfer Gerechtigkeit. Im Buch Amos lautet ein Wort Gottes:

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Eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen.

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Weg mit dem Lärm deiner Lieder!

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Dein Harfenspiel will ich nicht hören.

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Laßt lieber das Recht strömen wie Wasser

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und die Gerechtigkeit wie einen immer fließenden Bach!

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(Am 5,22 ff.).

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Eine ähnliche Gegenüberstellung zwischen dem Kult einerseits und dem Üben der Gerechtigkeit anderseits findet sich bei Jesaja (1,10-17), bei Mi

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cha (6,6 ff.) und bei Tritojesaja (58,4-7). Jeremia verkündete als Forderung Gottes anstelle der Opfer:

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Häuft nur Brandopfer auf Schlachtopfer und eßt Opferfleisch! Denn ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten herausführte, nichts gesagt und nichts befohlen, was Brandopfer und Schlachtopfer betrifft. Vielmehr gab ich ihnen folgendes Gebot: Hört auf meine Stimme, dann will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein! (Jer 7,21 ff.).

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Gott fordert nicht, neben den Opfern auch die Gebote zu halten. Er erklärt vielmehr, er habe bezüglich der Opfer nichts befohlen, wohl aber habe er das Gebot erlassen, auf seine Stimme zu hören. Das Hören wird den Opfern gegenübergestellt. Ganz ähnlich lautet das Urteil in Psalm 40:

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An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen,

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Brand- und Sündopfer forderst du nicht.

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Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt;

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darum sage ich: Ja, ich komme (Ps 40,7 f.).

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In ähnlichem Sinne erging schon durch Hosea das Wort Gottes:

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Denn nicht Schlachtopfer will ich, sondern Liebe,

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nicht Brandopfer, sondern Gotteserkenntnis (Hos 6,6).

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Diese häufige Gegenüberstellung zwischen dem Opferkult einerseits und dem Üben der Gerechtigkeit, dem Hören auf die Stimme Jahwes, der Liebe und der Gotteserkenntnis anderseits kann nicht zufällig sein. Sie zeigt vielmehr, daß die Opfer von den Propheten nicht als Weg verstanden wurden, um die wahre Gottesverehrung zu fördern. Wäre es nur darum gegangen, neben dem Kult auch noch Gerechtigkeit zu üben und Gotteserkenntnis zu pflegen, hätte die Kritik anders lauten müssen. Die Propheten sahen jedoch, daß durch die Opfer gerade ein falsches Gottesverständnis im Volk geweckt wurde. Besonders eindrucksvoll schilderte Jeremia diese Verkehrung. Während das Volk schrie: »Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist dies« (Jer 7,4) und meinte sagen zu dürfen: »Wir sind geborgen«, verkündete der Prophet im Namen Gottes, daß gerade jener Tempel, auf den sie ihr ganzes Vertrauen setzten, zerstört und verlassen werden wird. Die Sicherheit war trügerisch. Während das Volk glaubte, in einem Haus Gottes zu weilen, befand es sich in einer »Räuberhöhle« (Jer 7,11).

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Das rituelle Tun führt nicht aus sich heraus die Opfernden zum wahren Gott. Aufgrund der prophetischen Kultkritik muß man zum mindesten sagen, daß die Opfer sehr oft gerade eine falsche Sicherheit erzeugt und damit irrige Vorstellungen von Gott geweckt haben. Jene vielen alttestamentlichen Stellen, die positiv vom Kult sprechen, dürften dazu kaum in einem grundsätzlichen Gegensatz stehen, wie folgende Feststellung Gerhard von Rads nahelegt: »Während das AT so voll ist von Hinweis auf göttliches

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Geschehen, wo immer es unter Menschen wirksam wird, voll ist von intensiver Anrede, von ›Offenbarung‹, ist hinsichtlich dessen, was Gott beim Opfer geschehen läßt, eine Zone des Schweigens und des Geheimnisses.« (77) Rührt dieses Schweigen nicht daher, daß durch den Opfervorgang als solchen Gott gegenüber eben nichts geschieht?

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Die Offenbarung des wahren Gottes kommt im Alten Testament nicht zur Vollendung. Deshalb ist es, von der Theorie Girards her gesehen, nicht überraschend, daß die innerisraelitische Opferkritik über eine gewisse Zweideutigkeit nicht hinauskam. Es lassen sich nicht alle Aussagen auf einen Nenner bringen. Die kurz umrissenen Themen dürften aber doch ein klares Gefälle haben. Zudem haben wir noch nicht die ganze Opferproblematik angesprochen. Die sakralen Projektionen haben nach Girard ihren Ursprung in einer kollektiven Übertragung der internen Aggressionen auf einen Sündenbock. Die Kritik der Opfer muß deshalb weiterführen zur Aufdeckung der mit dem Ritus verbundenen unterschwelligen Gewalt. Die alttestamentlichen Schriften kennen tatsächlich einen vielfältigen Zusammenhang zwischen Gewalt und Opfer. Zur Hervorhebung aller einzelnen Aspekte wäre wieder eine eigene Untersuchung nötig. Doch einmal mehr müssen wir uns mit ein paar kurzen Hinweisen begnügen.

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Daß die Idee der kollektiven Übertragung im Alten Testament bekannt war, zeigt jener Ritus, der dem von Girard beschriebenen Sündenbockmechanismus den Namen gegeben hat:

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Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen, und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen (Lev 16,21 f.).

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Nach Girard hat dieser Ritus zwar keine vom übrigen kultischen Tun grundsätzlich verschiedene Bedeutung. Hier trete nur die untergründige Funktion aller Riten etwas deutlicher in Erscheinung. Dem Wesen nach gehe es aber bei jedem sakral-kultischen Opfergeschehen darum, Aggression nach außen zu übertragen.

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Im erwähnten Sündenbockritus handelt Aaron stellvertretend für das ganze Volk. Er legt alle Sünden der Israeliten auf das Tier. Es gibt eine weitere ähnliche Erzählung, die die Beteiligung aller bei der Übertragung des Übels noch deutlicher macht. Sie findet sich ebenfalls im Buch Levitikus:

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Der Sohn einer Israelitin und eines Ägypters ging unter die Israeliten. Im Lager geriet er in Streit mit einem Mann, der Israelit war. Der Sohn der Israelitin schmähte den Gottesnamen und fluchte. Da brachten sie ihn zu Mose. Der Name der Mutter war

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Schelomit; sie war die Tochter Dibris aus dem Stamm Dan. Man nahm ihn in Gewahrsam, um auf einen Spruch des Herrn hin zu entscheiden. Der Herr sprach zu Mose: Laß den, der den Fluch gesprochen hat, aus dem Lager hinausführen! Alle, die es gehört haben, sollen ihm ihre Hände auf den Kopf legen, dann soll ihn die ganze Gemeinde steinigen (Lev 24,10-14).

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Der Halbfremde ist gefährlich. Er ist nicht den gleichen sakralen Vorstellungen verpflichtet wie die Israeliten und flucht deshalb Jahwe. Dadurch geraten auch jene in die Gefahrenzone, die den Fluch gehört haben. Sie könnten dazu verführt werden, das gleiche nachzuahmen. Das Gift, das heimlich in ihren Ohren und Herzen wirkt, muß wieder aus ihnen entfernt und in eine unschädliche Richtung abgeleitet werden. Alle, die den Fluch gehört haben, werden deshalb durch den Spruch Gottes verpflichtet, ihre Hände auf den Kopf des Schuldigen zu legen und ihn danach zu steinigen.

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Wir haben es hier mit einer kasuistischen Beispielerzählung zu tun. Sie sagt aus, wie die Israeliten in ähnlichen Fällen zu handeln haben. Wie in der Vorschrift betreffs des Sündenbocks geht es hier darum, das Übel oder die ansteckende Wirkung des Übels auf jemanden (oder etwas) zu übertragen und dadurch aus der Gemeinschaft auszuschließen. Das gleiche dürfte angedeutet werden, wenn in zahlreichen anderen Opfertexten gefordert wird, der Priester oder der Opfernde habe seine Hand auf den Kopf des Tieres zu legen (»stemmen«), um eine Entsühnung zu bewirken (78).

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Doch welches sind die Sünden und Fehler, die Aaron auf den Bock zu laden hat? Welches sind die eigentlichen Fehler, die aus dem Volk Jahwes entfernt werden müssen? Diese Übel treten dort in Erscheinung, wo die Opfer nicht mehr richtig funktionieren, wo sie Gott nicht mehr angenehm sind. Ein Wort Gottes bei Jesaja lautet:

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Die Widder, die ihr als Opfer verbrennt,

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und das Fett eurer Rinder habe ich satt;

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das Blut der Stiere und Lämmer und Böcke ist mir zuwider

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Wenn ihr eure Hände ausbreitet,

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verhülle ich meine Augen vor euch.

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Wenn ihr auch noch so viel betet,

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ich höre es nicht.

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Eure Hände sind voller Blut (Jes 1,11-15).

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Jahwe lehnt die Opfer ab wegen der »Blutschuld, wobei an Kapitalverbrechen zu denken ist und nicht etwa nur an die äußerlich blutigen Hände infolge der kultischen Opfer« (79). Für die Propheten erscheint die Gewalttat als ein solches Übel, daß es nicht mehr äußerlich auf einen Bock übertra

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gen und aus der Gemeinschaft entfernt werden kann. Die Opfer erreichen deshalb ihr Ziel nicht mehr. Gott hat sie »satt«, sie sind ihm »zuwider«. Dafür tritt die verborgene Wahrheit zutage: die Hände der Opfernden sind voll Blut. Indirekt wird damit angedeutet, daß die Opfer so lange eine sinnvolle Funktion hatten, als das Wesen der Gewalt noch nicht durchschaut wurde. Sobald dieser Schritt aber getan ist, kann es nur noch heißen:

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Nicht Schlachtopfer will ich, sondern Liebe,

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nicht Brandopfer, sondern Gotteserkenntnis (Hos 6,6).

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Die Opfer gehören zur Welt der Gewalt. Ihr steht das Reich der Liebe und der Gotteserkenntnis gegenüber.

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Auf den Zusammenhang zwischen Opfer und Gewalt deutet auch die Erzählung vom »Urmord« indirekt hin. Das unmittelbare Motiv für die Tötung Abels war die Eifersucht Kains. Diese entsprang jedoch aus der Tatsache, daß aus einem ungeklärten Grund das Opfer Abels Gott angenehm war, während er das Opfer Kains nicht anschaute. Der Text zeigt, daß derjenige zum Mörder wurde, dessen Opfer seine Funktion nicht erfüllte. Nicht weil Kain böse war, wurde sein Opfer abgelehnt; sondern weil sein Opfer nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wurde er zum Rivalen und Mörder.

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Alttestamentliche Texte sehen - genau in Entsprechung zur Theorie Girards - die Opfer in einem doppelten Licht. Einerseits weisen gewisse Aussagen darauf hin, daß die Gewalt dort aufbricht, wo die Opfer nicht mehr richtig funktionieren. Anderseits werden gerade wegen einer tieferen Einsicht in das Wesen der Gewalt die Opfer als unfähig erkannt, dieses Böse aus der Gemeinschaft wegzuschaffen. Kain hat Blut vergossen, weil sein Opfer nicht angenehm war. Jesaja verkündet, daß das Blut der Stiere und Böcke Gott zuwider ist, weil die Hände der Opfernden voller Blut sind.

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Ein weiteres Licht auf das Verhältnis zwischen Opfer und Gewalt werfen jene fremden Kulte, die von den Propheten als die größten Greueltaten verurteilt und verabscheut wurden: die Menschenopfer. Bis zur Zeit des Königs Joschija (641-609 v. Chr.) gab es im Hinnomtal nahe bei Jerusalem eine Opferstätte, an der zu Ehren des Gottes Moloch Israeliten ihre eigenen Söhne (und Töchter) verbrannten (2 Kön 23,10). Selbst von Königen in Jerusalem heißt es, daß sie im Hinnomtal »ihre Söhne durch das Feuer führten« (2 Chr 28,3; 33,6). Ob diese Sitte verbreitet war oder ob nur in Ausnahmefällen eigene Kinder geopfert wurden, ist in der Wissenschaft umstritten.(80) Auf alle Fälle ist an über zwanzig Stellen des Alten Testa-

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ments von derartigen Menschenopfern die Rede, und das Urteil der Propheten über diese kultische Praxis hätte nicht eindeutiger und schärfer ausfallen können. Ezechiel verkündet als Wort Gottes an sein Volk:

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Du hast deine Söhne und Töchter, die du mir geboren hast, genommen und ihnen (den Götzen) als Opfermahl vorgesetzt. War dir die Hurerei noch nicht genug? Mußtest du auch noch meine Söhne schlachten? (Ez 16,20 f.).

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Die Verbrennung der eigenen Kinder war schlimmer als die übliche Hurerei des Volkes. In der Sicht des Ezechiel ließ sich Israel von den fremden Völkern so stark anstecken, daß es selbst diese Greuel nachahmte (vgl. Dtn 12,31; 18,9 f.). Das Urteil des Jeremia über die Kinderopfer war besonders hart. Er drohte im Namen Gottes dem Volk ein solches Unheil an, »daß jedem, der davon hört, die Ohren gellen« werden:

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So spricht der Herr der Heere, der Gott Israels: Seht, ich bringe solches Unheil über diesen Ort, daß jedem, der davon hört, die Ohren gellen. Denn sie haben mich verlassen, diesen Ort mir entfremdet und an ihm anderen Göttern geopfert, die ihnen, ihren Vätern und den Königen von Juda früher unbekannt waren. Mit dem Blut Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt. Sie haben die Opferstätte des Baal gebaut, um ihre Söhne als Brandopfer für den Baal im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen oder angeordnet habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist. Seht, darum kommen Tage - Wort des Herrn -, da wird man diesen Ort nicht mehr Tofet oder Tal Ben-Hinnom nennen, sondern » Mordtal« (Jer 19,3-6; vgl. 7,30 ff.).

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Die Verfluchung der Opferstätte durch Jeremia hat langfristig eine Wirkung gehabt. Das Hinnomtal (arm. g hinnm) wurde später (im Griechischen géhenna) zum Ort der Verdammten, zur Hölle. Das Opfertal erwies sich in Wahrheit als ein Mordtal. Als solches konnte es zum Symbol für den völligen Abfall von Gott werden.

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In den Opfern für Moloch haben sich Götzendienst und Gewalttat ganz getroffen. Sie bildeten nur noch ein einziges Geschehen. Haben die Propheten dem Volk oft in einem Atemzug die Hurerei mit fremden Göttern und das Blutvergießen vorgeworfen, geschah dies nicht zufällig. Wie Jeremia ausdrücklich sagte, wurde bei Opfern tatsächlich »das Blut Unschuldiger« vergossen. Dies geschah keineswegs aus Freude am Töten. Im Gegenteil, die götzendienerischen Israeliten glaubten durch die Hingabe dessen, was ihnen am liebsten war, die Gottheit besonders gnädig stimmen zu können. Sie meinten, ihre eigenen Kinder opfern zu müssen, damit das Volk den göttlichen Schutz und Segen empfange. Die sakralen Riten verbargen ihrem Gewissen, daß sie das »Blut Unschuldiger« vergossen. In ihrem Bewußtsein meinten sie, einer Gottheit einen ganz besonderen Dienst zu erweisen, tatsächlich geschah aber etwas ganz anderes. Die eigentlichen Impulse, die

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zu den Kinderopfern führten, müssen deswegen anderswo gesucht werden. Die Wahrheit ist nicht in den Vorstellungen zu finden, die die Opfer begleiteten. Die sakralen Vorstellungen verbargen vielmehr den Opfernden gerade das, was sie in Wahrheit taten. Sie bewegten sich in einem kollektiven Wahn. In Wahrheit vergossen sie Blut, und dabei meinten sie, Gott einen Dienst zu erweisen. Die Vermutung liegt nahe, daß sie unschuldiges Blut vergossen in der instinktiven Annahme, dadurch noch größere Bluttaten abwenden zu können. Nach dem Urteil der Propheten aber haben sie sich gerade dadurch den Zorn zugezogen. Die Opfer schützten sie nicht mehr, sondern vermehrten nur noch ihre Schuld.

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6. Die Rotte der Gewalttäter

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Der zentralste Punkt der Theorie Girards liegt im Aufzeigen des Sündenbockmechanismus, in der These von der kollektiven Entladung der eigenen Aggressionen auf ein zufälliges Opfer. Dank dieser Übertragung soll einerseits der Friede in der bedrohten Gemeinschaft wiederhergestellt und anderseits der Sündenbock sakralisiert werden. In unseren bisherigen Untersuchungen konnten wir - trotz ihres summarischen Charakters - feststellen, daß die alttestamentlichen Schriften und besonders die prophetischen Bücher überall die Wirksamkeit der Gewalt aufdecken und zugleich die ständige Neigung der Menschen entlarven, durch Götzendienst oder durch falsche Sicherheit Jahwe gegenüber eigene sakrale Vorstellungen zu produzieren. Soll die Theorie Girards aber einen umfassenden Interpretationsrahmen bieten, muß sich in den alttestamentlichen Schriften auch die Problematik der kollektiven Übertragung finden. Wir konnten bereits feststellen, daß in einigen Riten eine derartige Übertragung mindestens angedeutet wird und daß es einen besonderen Zusammenhang zwischen den Opfern und der Gewalt gibt. Noch ist aber zu wenig deutlich geworden, ob der kollektiven Übertragung auf ein zufälliges Opfer tatsächlich jene grundlegende und begründende Funktion zukommt, die Girard ihr beimißt.

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In »La violence et le sacré« wird zu zeigen versucht, daß die »primitive« Sakralerfahrung identisch war mit der instinktiven Erfahrung jenes Kollektivs, das sich gegen einen Sündenbock zusammentat. Dabei blieb den Beteiligten die eigentliche Wahrheit ihres Tuns verborgen. Wie aber könnte diese aufgedeckt werden? Nicht durch einen aus dem Kollektiv der Gewalttäter. Für diese ist es gerade wesentlich, daß sie ihrem Tun gegenüber blind

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sind. Die Wahrheit kann nur von jenem einen kommen, der von den vielen umringt und verfolgt wird. Sobald er sein Geschick nicht mehr hinnimmt und gegen die Mehrheit rebelliert, muß alles in einem neuen Licht erscheinen.

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Genau dieser Wechsel der Perspektive läßt sich in den alttestamentlichen Schriften feststellen. In ihnen wird nirgends im Sinne Girards gesagt, daß dem Zusammenschluß der vielen gegen ein Opfer eine fundamentale Bedeutung zukommt. Wohl aber gibt es Texte, die aus der umgekehrten Perspektive beschreiben, wie der eine Gerechte von vielen Feinden umdrängt wird. Ist der genuine Ort für die »primitive« Sakralerfahrung das Geschehen in jenem Kollektiv, das sich einmütig zusammenschließt, so sprechen alttestamentliche Texte vom gleichen Vorgang unter genau gegenteiligem Vorzeichen. Als genuiner Ort der alttestamentlichen Offenbarung erweist sich die Erfahrung jenes einzelnen, gegen den sich die vielen zusammentun. Die von den vielen instinktiv als positiv erlebte Ausstoßung eines Opfers entpuppt sich im Lichte der Offenbarung immer deutlicher als ein Zusammenrotten von Übel- und Gewalttätern.

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Besonders klare Texte von der kollektiven Verfolgung eines einzelnen finden sich in den Psalmen. Die genaue Interpretation dieser Lieder ist in der alttestamentlichen Wissenschaft allerdings ziemlich umstritten. Nachdem lange Zeit für jeden Psalm (vergeblich) ein historischer Ort gesucht worden war, trat seit Hermann Gunkel die gattungsgeschichtliche Deutung in den Vordergrund. Gunkel glaubte dadurch auch den eigentlichen Grund vieler Klagen besser erfassen zu können. Schon in seinem 1904 erschienenen kleinen Werk »Ausgewählte Psalmen« erklärte er: »Die regelmäßige Situation der Klagepsalmen ist die Krankheit.«(81) Mindestens für 16 Lieder glaubte er dies eindeutig nachweisen zu können. Er sah aber auch, daß sich nicht alle Klagelieder so erklären lassen. Für etwa 20 Psalmen nahm er Heiden oder heidnische Oberherren als Feinde an.

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Sigmund Mowinckel, ein Schüler Gunkels, ließ sich vor allem von babylonischen Texten beeindrucken und interpretierte die Lieder Israels ganz in diesem fremden Licht. In seiner 1921 erschienenen Psalmenstudie verstand er praktisch alle individuellen Klagelieder als Krankheitspsalmen.

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In den vielen Feinden des Beters sah er das Produkt krankhafter Halluzinationen. Dabei entging ihm ganz, daß die babylonischen Klagetexte immer wieder Zauberer und Dämonen als Feinde nennen, während diese Ausdrücke in den Liedern Israels völlig fehlen.

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Hans Schmidt, ein anderer Schüler Gunkels, nahm ebenfalls für etwa 15 Psalmen die Krankheit als eigentliche Not an. Er zog daraus aber weitere

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Folgerungen. Da die Krankheit als Strafe Gottes betrachtet wurde, habe man auf eine heimliche Schuld beim Kranken geschlossen und ihn vor einem Gottesgericht angeklagt. Schmidt meint deshalb, die Anklage vor einem Gottesgericht im Tempel sei der wahre Ursprungsort der individuellen Klagelieder. Wo immer von Enge und Bedrängnis die Rede ist, sieht er eine Anspielung auf ein Gefängnis.

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Wieder eine andere Deutung legte Lienhard Delekat vor. Danach waren die klagenden Beter vor allem Asylsuchende. Harris Birkeland hingegen meinte, die Feinde seien stets Ausländer gewesen und das Ich der Psalmen weise auf einen König oder sonstigen Führer hin. Die Kultgeschichtliche Schule schließlich glaubte in den Psalmen ein im Alten Orient verbreitetes Kultschema wiederfinden zu können, in dessen Zentrum ein göttlicher König stehe. Danach wären die Feinde mythische Chaosmächte.

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Allen diesen Deutungen ist eigen, daß sie sich entweder ganz von außerbiblischen Texten bestimmen lassen oder die eine oder andere Beobachtung an den Psalmen ungebührlich verallgemeinern. Zauberer und Dämonen werden nirgends in den irsraelitischen Klageliedern genannt. Die Chaosmächte spielen nur eine verschwindend geringe Rolle. Die entsprechenden Deutungen sind deshalb verfehlt. Auch die Annahme, daß mit der Not des Beters vor allem die Krankheit gemeint sei, ist unhaltbar. Eine Untersuchung von Klaus Seybold anhand der verschiedenen Sprachelemente und Vorstellungsformen hat ergeben, daß nur in drei Psalmen (38; 41; 88) ein Bezug zur Krankheit sicher festzustellen ist. (82) Daneben gibt es einige Lieder, in denen Anspielungen auf eine Krankheit wahrscheinlich oder möglich sind. Aber selbst in diesen Texten spielen die Feinde die entscheidende Rolle, und nichts rechtfertigt die Annahme von Mowinckel, dabei handle es sich nur um Halluzinationen der Kranken.

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Die Psalmen gehören zur religiösen Überlieferung Israels, und wir haben bereits gesehen, welch zentrale Rolle der Gewalt in diesem Kontext beigemessen wurde. Wo man aber die Gewalt so intensiv wahrnahm, dort mußte man notwendigerweise auch viele Feinde sehen. Es ist deshalb keineswegs überraschend, daß in etwa hundert der hundertfünfzig Psalmen die Feinde ausdrücklich genannt werden. Damit stimmt eine Beobachtung von Claus Westermann bezüglich der Struktur der Klage im Alten Testament überein. Er hebt zunächst hervor, daß die Klage in den Psalmen dreigliedrig ist: Gott - der Klagende - die Feinde. (83) Dann stellt er fest: »In den

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uns überlieferten Klagepsalmen ist das beherrschende Subjekt ›die Feinde‹. Es ist auch das am reichsten entwickelte Glied der Klage.«(84) In einer Glaubenstradition, die sich zutiefst mit dem Problem der Gewalt konfrontiert hat, konnte es nicht anders sein, als daß auch die Feinde zu einem beherrschenden Thema wurden. Othmar Keel hat in den individuellen Klage- und Lobliedern 94 verschiedene Feindbezeichnungen ausfindig gemacht. (85) Zwar werden die Widersacher nie im Detail geschildert. Deswegen konnte auch das Problem entstehen, wer nun genau mit ihnen gemeint sei. Keel sucht die Frage zu lösen, indem er sehr stark das Element der Projektion betont: »Der Orientale ist in einem weit höheren Maße von seiner Umwelt abhängig, als das bei uns der Fall ist. Das enge Verbundensein mit dieser macht ihn allem Fremden, Ungewohnten gegenüber, auch dem in seiner eigenen Umgebung, mißtrauisch. Er sieht darin leicht etwas Feindliches. das seine eigene Welt in Frage stellt.«(86) Keel weist sogar auf die Theorie C. G. Jungs vom »Schatten« hin: »Die Projektion des ›Schattens‹ wird (also) von zwei Faktoren gefördert. Einerseits ist man stets geneigt, die Existenz seines ›Schattens‹ zu ignorieren oder jedenfalls ihn zu bagatellisieren und die ›Schuld‹ beim ›Feind‹ zu sehen Anderseits ist der ›Feind‹, den ich ja nur schlecht kenne und mit dem ich kaum in einem Gesprächskontakt stehe, nicht imstande, sich gegen diese Projektion zur Wehr zu setzen.« (87) Wo Gewalt herrscht, dürften tatsächlich - wie auch Girard eindrucksvoll zeigt - sehr viele Projektionen im Spiel sein. Die entscheidende Frage besteht aber nicht darin, welchen Vorstellungen jenes Individuum verfallen sein mag, das ein Klagelied zum erstenmal geschaffen hat. Die Psalmen wurden in Israel immer wieder gebetet, dann wurden sie in die Sammlung der liturgischen Lieder und schließlich in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen. Ausschlaggebend ist folglich, was der Glaube Israels in diesen Texten gesehen hat. Meint Keel, der Orientale sei in einem weit höheren Maße von seiner Umwelt abhängig gewesen, als das bei uns der Fall ist, und er sei deswegen leichter Projektionen verfallen, trifft dies nicht die eigentliche Problematik der Feinde in den Psalmen. Entscheidend ist vielmehr, was der Jahweglaube durch all die Jahrhunderte hindurch gesehen hat. Und er hat zweifelsohne die Feinde im objektiven Sinne verstanden. Mögen noch so große subjektive Projektionen im Spiel gewesen sein, diesen entsprach das als objektiv gemeinte Urteil der Jahwe-Propheten, daß alle Menschen Gewalttäter sind.

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Das umfassende negative Urteil der Propheten wurde ausdrücklich in die Psalmen übernommen (oder ist hier aus dem gleichen Jahweglauben heraus unabhängig entstanden). So heißt es in einem Lied:

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Der Herr blickt vom Himmel herab auf die Menschen,

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ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht.

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Alle sind abtrünnig und verdorben,

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keiner tut Gutes, auch nicht ein einziger (Ps 14,2 f.).

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In diesem Text wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Herr selber vom Himmel her sieht, daß alle Menschen verdorben sind. Man mag darüber streiten, ob das Urteil des Jahweglaubens zutreffend ist. Unbestreitbar aber dürfte sein, daß es hier nicht um individuelle Gefühlsausbrüche und subjektive Schilderungen geht, sondern daß die Aussagen als objektive Urteile gemeint sind. Will man die Texte ihrer eigenen Intention gemäß verstehen, muß man sie folglich in diesem Licht sehen. Die Gewalttaten werden bei den Propheten selten im Detail geschildert. Öfter werden sogar verschiedene Vergehen gegen die Mitmenschen unter den einen Begriff »Gewalt« gefaßt (vgl. auch Sir 34,21-22). Es ist deshalb nicht immer an ein physisches Blutvergießen und Morden zu denken. Die Texte decken vielmehr einen Geist der Gewalt auch dort auf, wo sich unmittelbar andere Formen des Unrechts finden. Entsprechend diesen allgemeinen Aussagen über die Gewalt hat auch das Feindbild in den Psalmen einen allgemein-typischen Charakter. Wer der Feind genau war und was er getan hat, läßt sich selten im einzelnen feststellen. Dies festzuhalten war für den Jahweglauben auch nie wichtig. Er hat vielmehr ein grundlegendes Urteil über das Verhalten Israels und jedes einzelnen gefällt.

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Die Gerichtsreden der Propheten bezogen auch die fremden Völker ein. Mit den Feinden in den Psalmen dürften deshalb auch diese gemeint sein. Die individuellen Klagelieder sind zwar aller Wahrscheinlichkeit nach aus individuellen Situationen entstanden. Wie aber vor allem Joachim Becker nachgewiesen hat, sind diese Texte in der Exils- und Nachexilszeit neu interpretiert worden: »Die individuellen kultischen Formen können durch Neuinterpretation mit neuem Sinn angefüllt worden sein. Statt des einzelnen Klagenden bzw. Dankenden, der sich in der Not seiner Feinde erwehrt, spricht nunmehr Israel von der Exilsnot, von der Heilswende und von der Auseinandersetzung mit der Völkerwelt. Dem Verfasser des kollektiv zu deutenden Psalmes kann die fertige Form eines Klage- oder Dankliedes vorgelegen haben, deren sich sein Deutungswille bemächtigt und dessen neues Verständnis er hier und da durch Zusätze signalisiert. Es kann aber auch sein, daß der ganze Psalm unter weitgehender Wahrung der reinen Form nachdichtend geschaffen worden ist und von vornherein kollektiv zu

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verstehen war.«(88) »Klage- und Danklieder sind aus dem gelebten Leben des Volkes Israel in das Alte Testament herübergerettet worden, weil sie einer Neuinterpretation vor allem im Sinne der exilisch-nachexilischen Heilserwartung fähig waren Nicht weniger bezeichnend ist, daß wir kein Volksklagelied für Situationen wie Dürre, Hungersnot oder Epidemie antreffen. Erhalten haben sich nur jene Volksklagelieder (oder deren Form), die gegen Bedrohung durch äußere Feinde gerichtet waren und daher auf die Auseinandersetzung mit der Völkerwelt im Sinne der exilischen Heilsverkündigung uminterpretiert werden konnten.« (89)

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Diese Ergebnisse von Becker zeigen nochmals, daß nicht irgendwelche Notsituationen wie Dürre, Hungersnöte, Epidemien, Naturkatastrophen oder Ähnliches den entscheidenden Hintergrund für die vielen Klagelieder boten. Das beherrschende Thema bildeten vielmehr die Feinde, und zwar sowohl die Feinde im eigenen Volk wie auch die feindlichen Völker. Mit dem Ich in den Psalmen kann ein Individuum oder auch ganz Israel gemeint sein. Die ursprüngliche Klage eines einzelnen wurde später auf das ganze Volk hin gedeutet. »Man wird dem Sachverhalt nur gerecht, wenn man bewußte Übertragung des ›Ich‹ auf das Volk durch den Deutewillen des Redaktors oder Verfassers veranschlagt.« (90)

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Werden die Feinde in den Psalmen meistens nicht näher beschrieben, liegt der Grund nicht in ihrer nur imaginären Existenz. Die Phantasie könnte viele Einzelheiten erdichten. Entscheidend ist vielmehr, daß durch sie eine urtypische Situation gezeichnet und eine universale Erfahrung ausgesprochen wird. Die alttestamentlichen Schriften meinen mit den Wörtern »Gewalt«, »Blutvergießen« usw. sowohl physische Bluttaten wie auch eine ganze Reihe von Ungerechtigkeiten, die vom gleichen Geist inspiriert werden und schließlich auch zum gleichen Resultat führen. Ähnliches gilt bezüglich der Feinde. Die Eigenarten der Widersacherbezeichnungen machen offenkundig, »daß die Feindesschilderungen nicht so sehr den Einzelmenschen als individuelle Persönlichkeit, sondern die verderbliche Dynamis anvisieren« (91). Die böse Macht wird allerdings nie als magisch oder dämonisch verstanden. Es geht um eine verderbliche Dynamis, die die konkreten Menschen beherrscht, sich in ihnen zwar auf verschiedenste Weise ausdrückt, aber schließlich doch zum gleichen Ziel tendiert: zur gewaltsamen Vernichtung menschlichen Lebens.

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Nach diesen Vorüberlegungen können wir uns direkt den Psalmtexten zuwenden. Es dürfte deutlich geworden sein, daß wir diese Lieder als objektiv gemeinte Aussagen des Jahweglaubens zu verstehen haben. Wir haben es nicht mit Projekten von Kranken zu tun, noch mit subjektiven Schilderungen von Menschen in irgendwelchen besonderen Notlagen. Israel war der Ansicht, in seinen Liedern die Ursituation des gläubigen Beters zum Ausdruck zu bringen. Wir halten uns deshalb im folgenden an den Text selber und verzichten auf jede weitere Vermutung betreffs dessen, worauf sie sonst noch anspielen könnten. Als erste Tatsache fällt auf, daß in sehr vielen Psalmen von Feinden die Rede ist, in etwa hundert von hundertfünfzig. Oft wird auch betont, daß nicht bloß ein Feind da ist, sondern daß ihrer viele sind:

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Mein Herz pocht heftig, mich hat die Kraft verlassen,

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geschwunden ist mir das Licht der Augen.

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Freunde und Gefährten bleiben mir fern in meinem Unglück,

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und meine Nächsten meiden mich.

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Die mir nach dem Leben trachten, legen mir Schlingen;

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die mein Unheil suchen, planen Verderben,

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den ganzen Tag haben sie Arglist im Sinn

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Die mich ohne Grund befehden, sind stark;

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viele hassen mich wegen nichts (Ps 38,11-20).

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Der Psalm 38 gehört zu jenen ganz wenigen liturgischen Liedern Israels, in denen die Krankheit als Not eindeutig genannt wird. Dennoch bereitet selbst in diesem Text die unmittelbare physische Not nicht den einzigen Schmerz. Sehr erschwerend kommt hinzu, daß die Freunde und Gefährten den Unglücklichen meiden. Entscheidend ist schließlich, daß es Feinde gibt, die den Kranken tödlich bedrohen. Hier zeigt sich der zentrale Punkt der Not. Nicht die Krankheit, nicht die Verlassenheit, nicht das Vorhandensein irgendwelcher Feinde macht den letzten Grund der Bedrohung aus, sondern:

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Die mir nach dem Leben trachten, legen mir Schlingen;

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die mein Unheil suchen, planen Verderben (Ps 38,13).

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Von diesen gewalttätigen Feinden heißt es einerseits, daß sie den Beter »ohne Grund befehden«, und anderseits, daß es ihrer viele sind: »viele hassen mich wegen nichts« (Ps 38,20). Nach der Aussage dieses Liedes ist die böse Gewalt letztlich grundlos. Dennoch verfallen ihr viele. Der Beter steht nicht einem, sondern einer Schar von Feinden gegenüber.

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Israel hat die Natur entdämonisiert und entgöttert. »Es gab für Israel keinen numinosen Weltgrund als den Ort ungeheurer Mächtigkeiten, den die griechische Mythologie in den Titanen verkörpert sah Die Gebete Israels sind randvoll von Klagen, aber sie klagen nicht über die Welt und ihre

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Struktur, ebensowenig über Krankheitsdämonen, denen der Mensch ausgeliefert ist, sondern sie klagen über die Menschen und auch über Gott.« (92) Zwar erscheinen die Feinde in den Psalmen hie und da als »dem Chaos verwandte Mächte«(93). Aber die Tendenz geht eindeutig dahin, aus den Fluten des Chaos und der Unterwelt Bilder für menschliche Feinde zu machen. So beginnt zum Beispiel Psalm 18 mit einer Reihe von Vertrauensäußerungen zu Jahwe. Dann folgt die Schilderung der eigenen Not:

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Mich umfingen die Fesseln des Todes,

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mich erschreckten die Fluten des Verderbens.

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Die Bande der Unterwelt umstrickten mich,

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über mich fielen die Schlingen des Todes (Ps 18,5 f.).

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Im weiteren wird geschildert, wie Gott im Gewitter helfend eingreift und sein »Drohen« die Grundfeste der Erde entblößt. Darauf heißt es:

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Er griff aus der Höhe herab und faßte mich,

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zog mich heraus aus gewaltigen Wassern.

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Er entriß mich meinen mächtigen Feinden,

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die stärker waren als ich und mich haßten (Ps 18,17 f.).

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Die Rettung aus »gewaltigen Wassern« ist gleich dem Entreißen aus der Hand mächtiger Feinde und aus der Macht derer, die hassen (vgl. Ps 66,12; 124; 144). Die Mächte der Natur und des Chaos werden genannt. Sie haben aber keine eigenständige Bedeutung, sondern sie werden vor allem in menschlichen Feinden als gegenwärtig und wirksam erfahren. Psalm 69 belegt dies nochmals eindeutig:

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Ich bin in tiefem Schlamm gesunken

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und habe keinen Halt mehr;

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ich geriet in tiefes Wasser,

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die Strömung reißt mich fort.

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Ich bin müde vom Rufen,

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meine Kehle ist heiser,

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mir versagen die Augen,

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während ich warte auf meinen Gott.

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Zahlreicher als die Haare auf meinem Kopf

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sind die, die mich grundlos hassen.

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Zahlreich sind meine Verderber, meine verlogenen Feinde

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(Ps 69,3 ff.).

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Schlamm und tiefes Wasser werden erwähnt, auch körperliche Gebrechen. Die Augen versagen, und die Kehle ist heiser. Doch der eigentliche Grund

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der Not sind die Feinde. Der Beter fühlt sich deshalb wie »in tiefem Schlamm«, weil die Verderber zahlreicher sind als die Haare auf dem Haupt.

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Die gewaltigen Wasser oder die Fluten werden auch bei den Propheten öfter als Bild für das Heranrücken feindlicher Heere gebraucht:

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So spricht der Herr:

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Seht, Wasser wogen vom Norden heran

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und werden zum flutenden Wildbach.

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Sie überfluten das Land und was darin ist,

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die Städte und ihre Bewohner.

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Da schreien die Menschen,

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laut klagen alle Bewohner des Landes

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vor dem donnernden Hufschlag der Hengste,

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vor dem Dröhnen der Streitwagen,

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vor dem Rasseln der Räder (Jer 47,2 f.).

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Die Völker brausen heran »wie das Brausen des Meeres«, und der »Lärm der Nationen« ertönt »wie das Rauschen gewaltiger Fluten« (vgl. Jes 17,12 f.). Wenn die Mächte des Chaos für Israel keine eigenständige Bedrohung mehr darstellten, wurden von ihm dafür die Gefahren von seiten menschlicher Feinde um so schärfer empfunden.

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Der oben zitierte Psalm 69 sagt von den Todfeinden, daß sie (1) sehr zahlreich und (2) verlogen sind und daß sie (3) grundlos hassen. Diese drei Elemente finden sich immer wieder in der Beschreibung der Feinde (94), und sie stimmen genau mit der Theorie Girards überein. Gemäß seinen Analysen ist die Tendenz zur Gewalt überall wirksam. Die Feinde sind deshalb notwendigerweise sehr zahlreich. Die Gewalt hat ferner keinen eigentlichen Grund. Sie entsteht fast unbemerkt, wenn das Streben nach Erfüllung und Leben spontan der Mimesis und dadurch dem Teufelskreis der Rivalitäten verfällt. Zur Gewalt gehört schließlich die Lüge und Verlogenheit. Weil die aggressiven Projektionen von den Beteiligten nicht durchschaut werden, führt die Aufdeckung der Gewalt immer zu einer Entscheidung. Entweder muß der Überführte auf sein eigenes böses Tun verzichten, oder er muß es durch die Lüge für sich selber zu rechtfertigen versuchen. Es wäre das Thema einer eigenen Untersuchung, dem Zusammenhang zwischen Gewalt und Lüge im Alten Testament näher nachzugehen. Hier müssen wir uns mit dieser Andeutung begnügen.

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Für die Verifizierung der Theorie Girards ist ein weiteres Element von entscheidender Bedeutung. Sprechen die Psalmen nur von vielen verloge

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nen Feinden, die grundlos hassen, oder auch von der Zusammenrottung der vielen Gewalttäter gegen das eine Opfer? In »La violence et la sacré« versucht Girard zu zeigen, daß die vielen sich zusammenschließen und ein Opfer gewaltsam ausstoßen, um dadurch den bedrohten Frieden in den eigenen Reihen zu sichern. Wird die Perspektive geändert und der Vorgang aus der Sicht des einen beschrieben, der die kollektive Gewalt erleidet, müßte deutlich werden, daß er nicht vielen einzelnen Feinden gegenübersteht, sondern daß diese sich gegen ihn zusammentun. Desgleichen müßte das, was die vielen für gut halten, aus der Sicht des einen Ausgestoßenen als böse Gewalt empfunden werden. Genau diese zwei Elemente werden in zahlreichen Texten ausdrücklich erwähnt. Psalm 2 beginnt mit den Worten:

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Warum toben die Völker,

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Warum machen die Nationen vergebliche Pläne?

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Die Könige der Erde stehen auf,

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die Großen haben sich verbündet

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gegen den Herrn und seinen Gesalbten

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(Ps 2,1 f.).

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Der eine dürfte hier zunächst der Gesalbte des Herrn, der König von Jerusalem sein. Gegen ihn stehen die Völker und Nationen. Sie sind böse Feinde und haben sich verbündet. Mit dem einen Gesalbten kann aber auch ganz Israel gemeint sein; der Vorgang bleibt strukturell der gleiche.

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Besonders aussagekräftig ist der für das Neue Testament so wichtige Psalm 22. In ihm klagt der eine Gerechte zunächst, daß er sich von Gott verlassen weiß, daß er eher einem Wurm als einem Menschen gleicht und von den Leuten verspottet wird. Danach folgt die plastische Schilderung:

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Viele Stiere umgeben mich,

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Büffel von Baschan umringen mich.

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Sie sperren gegen mich ihren Rachen auf,

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reißende, brüllende Löwen.

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Ich bin hingeschüttet wie Wasser

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Viele Hunde umlagern mich,

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eine Rotte von Bösen umkreist mich.

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Sie durchbohren mir Hände und Füße.

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Man kann all meine Knochen zählen;

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sie gaffen und weiden sich an mir

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(Ps 22,13-18).

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Das Durchbohren der Hände und das Gaffen der Feinde zeigt eindeutig, daß wir es bei den Stieren, Büffeln, Löwen und Hunden nicht mit Tieren, sondern mit bildhaften Ausdrücken für eine Rotte von bösen Menschen zu tun haben. Ob die verschiedenen Tiere verschiedene feindliche Völker meinen, mag hier offenbleiben. Diese Frage ist nicht von zentraler Bedeutung. Ausschlaggebend ist die mehrfache Betonung, daß die Feinde den Einen

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umgeben, umringen, umlagern und umkreisen. Es könnte kaum eindringlicher betont werden, daß der Beter nicht je einzelnen Feinden gegenübersteht, sondern daß er es mit einer »Rotte von Bösen« zu tun hat. Seine große Not rührt gerade daher, daß er keinen Ausweg mehr weiß. Von allen Seiten wird er umringt. Die Rotte kreist ihn ein. Menschliche Hilfe ist aussichtslos. Nur Gott kann ihn dem Abgrund entreißen. Auf das Thema der Hilfe Gottes werden wir im nächsten Paragraphen eingehen. Für den Augenblick können wir aber festhalten, daß gerade das Element der Zusammenrottung der Feinde in Psalm 22 besonders betont wird.

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Noch in manchen anderen Klageliedern findet sich genau das gleiche Element. In Psalm 31 sagt der Beter:

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Ich höre das Zischeln der Menge - Grauen ringsum.

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Sie tun sich gegen mich zusammen;

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sie sinnen darauf, mir das Leben zu nehmen (Ps 31,14).

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Die Feinde zischeln, aber sie spotten nicht nur, sie sinnen darauf, dem Bedrängten das Leben zu nehmen. Dazu tun sie sich gegen ihn zusammen. Auf ähnliche Weise klagt in Psalm 41 ein Kranker:

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Im Haß gegen mich sind sich alle einig;

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sie tuscheln über mich und sinnen auf Unheil (Ps 41,8).

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Einmal mehr wird deutlich, daß nicht die Krankheit das entscheidende Problem stellt. Der Bedrohte erfährt vielmehr, daß die Feinde im Haß gegen ihn einig sind und gemeinsam auf Unheil sinnen. Deswegen bleibt ihm keine Hoffnung auf menschliche Rettung. Einzelnen Feinden könnte er vielleicht widerstehen, aber nicht der verbündeten Macht der Hasser.

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Sehr plastisch wird auch in Psalm 118 die vereinigte Front der Feinde beschrieben. Es handelt sich dabei um ein Danklied, in dem der Beter beschreibt, was er im Namen Gottes zustande gebracht hat:

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Alle Völker umringen mich,

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ich wehre sie ab im Namen des Herrn.

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Sie umringen, ja, sie umringen mich;

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ich wehre sie ab im Namen des Herrn.

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Sie umschwirren mich wie Bienen,

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wie ein Strohfeuer verlöschen sie;

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ich wehre sie ab im Namen des Herrn.

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Sie stießen mich hart, sie wollten mich stürzen;

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der Herr aber hat mir geholfen (Ps 118,10-13).

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Die Feinde waren gefährlich. Sie stießen den Beter hart. Nicht nur einige Gegner, sondern alle Völker haben Israel umringt und umschwirrt. Man mag im Wort » alle« eine rhetorische Übertreibung sehen. Bevor man aber auf diese Weise den Text abschwächt, ist genau zu prüfen, ob es sich hier

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nicht um eine strukturelle Aussage handelt, die eine Grundtendenz aufzeigen will.

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In manchen Psalmen klagt der Beter, daß sich selbst seine Freunde und Nachbarn von ihm abwenden:

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Denn nicht mein Feind beschimpft mich,

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das würde ich ertragen;

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nicht ein Mann, der mich haßt, tritt frech gegen mich auf,

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vor ihm könnte ich mich verbergen.

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Nein, du bist es, ein Mensch aus meiner Umgebung,

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mein Freund, mein Vertrauter (Ps 55,13 f.).

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Die große Not des Beters rührt vor allem daher, daß sich selbst sein Freund gegen ihn wendet. In anderen Texten ist auf ähnliche Weise von den Nachbarn die Rede. (95) Dadurch wird hervorgehoben, daß der Bedrängte mit gar keiner menschlichen Hilfe mehr rechnen kann. Alle stehen grundsätzlich gegen ihn. Ob sie ihn aktiv bekämpfen oder nicht, ist zweitrangig. Durch ihr erklärtes oder stillschweigendes Verhalten stehen sie in der Reihe derer, die den Beter tödlich bedrohen.

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Obwohl die Frage der Universalisierung noch weiterer Untersuchungen bedarf, dürfte aufgrund dieses Hinweises doch die Annahme naheliegen, daß die Aussage »Alle Völker umringen mich« nicht als rhetorische Übertreibung zu verstehen ist. Israel hat keinen guten Freund und keinen hilfreichen Nachbarn. Es steht allein, und alle anderen Völker sind mindestens stillschweigend mit dem Geist seiner Gegner solidarisch.

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Die Aussage von der Zusammenrottung der Feinde kehrt - neben den erwähnten Texten - in einer ganzen Reihe anderer Lieder wieder.(96) Besonders deutlich werden jene, die den Beter »umzingeln«, in Psalm 140 beschrieben. Dreimal werden sie »gewalttätige Leute« (V. 2. 5. 12) genannt, die darauf sinnen, den Bedrängten »zu Boden zu stoßen« (V. 5). Dazu kommt, daß diese bösen Menschen »Gift hinter den Lippen« (V. 4) haben und »Verleumder« (V. 12) sind. Die den Beter umzingelnde Rotte ist folglich eine Rotte von Gewalttätern und Lügnern. Dadurch werden auf eindrucksvolle Weise die Aussagen anderer Lieder bestätigt.

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Von Verfolgten, die von vielen Feinden umgeben sind, ist außer in den Psalmen auch in anderen alttestamentlichen Schriften die Rede. Besonders die Propheten werden immer wieder als einsame Gestalten gezeichnet, die von allen Seiten bedrängt wurden (vgl. Elija, Jeremia). Es konnte sich deshalb die Vorstellung vom »gewaltsamen Geschick der Propheten« bilden. Odil Hannes Steck hat gezeigt, wie dieses Thema in der deuteronomisti-

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schen Tradition entstanden ist. Die Spannung zwischen der geschichtlichen Erfahrung, daß nur einzelne Propheten tödlich verfolgt wurden, und der universalen Aussage vom gewaltsamen Geschick aller Propheten deutet er wohl mit Recht auf folgende Weise: »So ist die Vorstellung vom gewaltsamen Geschick der Propheten an ihrem Ursprung eine theologische Aussage im Gewande einer geschichtlichen, die ihren sachlichen Anhalt nicht an einem sie deckenden Bestand entsprechender Überlieferungen von einzelnen Propheten, sondern in dem Widerfahrnis des katastrophalen Gottesgerichts hat, wie jene Vorstellung ja auch gar nicht um der Propheten, sondern allein um Israels und der umfassenden Formulierung seiner Halsstarrigkeit willen gebildet ist.«(97) Die allgemeine Aussage vom gewaltsamen Geschick der Propheten geht eindeutig über die Einzelüberlieferungen hinaus. Sie ist dennoch nicht als Produkt orientalischer Rhetorik abzuqualifizieren, sondern sie deutet das Geschick der Propheten im Lichte jenes katastrophalen Gottesgerichtes, das das ganze Volk getroffen hat. Linien, die im Leben der einzelnen Propheten mehr oder weniger deutlich hervortraten, wurden durch die theologische Aussage auf ihre grundsätzliche Bedeutung hin ausgezogen.

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In der Vorstellung vom gewaltsamen Geschick der Propheten erscheinen die halsstarrigen Israeliten als die eigentlichen Feinde. Dabei wird betont, daß Israel »im ganzen« (98) ständig gefehlt hat. Die Propheten wurden nicht durch ein paar zufällige Übeltäter im auserwählten Volk verfolgt. Die deuteronomistische Tradition zeigt vielmehr, daß sich die Boten Gottes an einem kollektiven Geist der Halsstarrigkeit stießen. Steck hat in seiner Studie das Element der kollektiven Ablehnung der Propheten nicht speziell herausgearbeitet. Insofern ist seine Studie in einem wichtigen Punkt unvollständig. Sie weist dennoch grundsätzlich in die gleiche Richtung wie die weiter oben herangezogenen Psalmentexte.

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Das Thema vom Zusammenrotten der Feinde findet sich schließlich nicht bloß im Geschick der Propheten, sondern auch in ihrer Botschaft. Das Buch Micha beschreibt im vierten Kapitel die große Völkerwallfahrt zum Zion am Ende der Tage. In jener kommenden Heilszeit werden die Schwerter zu Pflugscharen und die Lanzen zu Winzermessern umgeschmiedet werden, und kein Volk wird mehr das Schwert gegen ein anderes ziehen (Mich 4,3). Vor diesem heilvollen Ende aber gibt es eine Gegenwart, ein Jetzt, und von diesem heißt es:

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Jetzt versammeln sich viele Völker gegen dich

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und sagen: Zion wird entweiht,

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und unser Auge soll sich daran weiden.

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Aber sie kennen nicht die Gedanken des Herrn

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und verstehen nicht seine Absicht:

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daß er sie sammeln wollte wie Garben auf einer Tenne

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(Mich 4,11 f.).

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Die Gegenwart ist dadurch bestimmt, daß sich viele Völker gegen Zion zusammentun. Der prophetische Text sieht in diesem Geschehen mehr als ein zufälliges Ereignis. Er hebt hervor, daß die Völker bei ihrem Zusammenrotten nicht wissen, was sie tun, und die Gedanken Gottes nicht kennen. Wenn sie sich selber verbünden, versammelt sie in Wahrheit Gott zum Gericht.

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Der genau gleiche Gedanke findet sich im Buch Sacharja. Im zweiten Teil des Werkes wird in den Kapiteln 9 bis 11 zunächst das Geschick der Völker und das Los Judas und seiner Hirten beschrieben. Dann folgt im 12. Kapitel ein eschatologisch-apokalyptischer Spruch des Herrn, der die Rolle Jerusalems in der Völkerwelt umreißt. Die ersten Sätze dieses Spruches lauten:

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Seht, ich mache Jerusalem zur Schale voll berauschendem Getränk für alle Völker ringsum (und auch gegen Juda wird dies gelten bei der Belagerung Jerusalems). An jenem Tag mache ich Jerusalem für alle Völker zum Stein, den man hochstemmen will: Jeder, der ihn hebt, wird schwer zerschunden sein. Alle Völker der Erde werden sich gegen Jerusalem verbünden (Sach 12,2 f.).

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Der Kontext zeigt eindeutig, daß wir es mit einer grundsätzlichen theologischen Aussage zu tun haben. Bei Deuterosacharja ist immer wieder vom Handeln Gottes gegenüber allen Völkern die Rede. Jerusalem ist die Schale des göttlichen Zornes, der Stein, an dem sich alle stoßen. Dies geschieht dadurch, daß sich alle Völker der Erde gegen die Stadt verbünden. Das universale Gericht vollzieht sich, indem sich zunächst alle gegen die auserwählte Stadt zusammenrotten.

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In mehreren alttestamentlichen Büchern findet sich folglich die Vorstellung von der Zusammenrottung der vielen Übel- und Gewalttäter gegen den einen auserwählten Gott. Es handelt sich dabei um eine strukturelle Aussage. Der grundsätzlich gleiche Vorgang wird konkret auf verschiedenen Ebenen beschrieben. Die Könige der Nationen verbünden sich gegen den einen Gesalbten Gottes. Die vielen Frevler rotten sich gegen den einen Gerechten zusammen. Alle falschen Priester und das ganze Volk wenden sich gegen den einen wahren Propheten. Alle Völker bedrohen gemeinsam das eine Jerusalem. Mit der Idee vom Zusammenrotten aller Völker ist zudem auch die Vorstellung vom universalen Gericht verbunden.

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Die kurze Untersuchung zeigt, daß sich der zentralste Punkt der Theorie Girards eindeutig in den alttestamentlichen Schriften wiederfindet. Der Vorgang wird nur aus der umgekehrten Perspektive beschrieben. Gemäß den Analysen von »La violence et la sacré« handelt es sich bei der kollektiven Übertragung allerdings nicht bloß um ein äußeres Zusammenrotten. Bei der Ausstoßung des einen Opfers sind entsprechende psychische Projektionen im Spiel. Wissen die alttestamentlichen Schriften auch zu diesem Punkt etwas zu sagen?

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Manche Wissenschaftler weisen vor allem im Zusammenhang mit der alttestamentlichen Vorstellung der Feinde auf den Vorgang der Projektion hin. Wie wir bereits kurz erwähnt haben, meinte Mowinckel, die Feinde in den Psalmen seien das Produkt krankhafter Halluzinationen. Auch Keel hebt im gleichen Zusammenhang immer wieder den Vorgang der Projektion hervor. Gemäß der Theorie Girards verfällt aber - im Gegensatz zur Meinung der erwähnten und anderer Autoren - nicht der Verfolgte wahnhaften Vorstellungen. Seine Feinde sind real. Die verbündeten Übeltäter projizieren vielmehr ihre heimlichen Aggressionen auf den Sündenbock. Was sagen die alttestamentlichen Schriften zu dieser Frage?

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Auf die Projektion als Projektion hat der Glaube Israels kaum ausdrücklich reflektiert. Die damit gemeinte Sache wird aber mehrfach erwähnt. So heben manche Texte hervor, daß sich die vielen in ihrem Urteil über den einen täuschen. In den Psalmen wird mehrfach betont, daß der Sinn der Frevler und Gewalttäter verkehrt ist und daß sie den wahren Weg nicht kennen. Sie fällen falsche Urteile über den Gerechten und über Gott.(99) Sie lügen mit ihrer Zunge(100) und verfangen sich in den Ränken, die sie selber ersonnen haben. (101) Sie haben keine Einsicht(102) und handeln aus Hochmut. (103) Auf vielfältige Weise wird hervorgehoben, daß die Feinde sich täuschen, falsch sehen und falsch urteilen. Der Beter aber zeigt sich immer überzeugt, daß sein Urteil letzlich dem Urteil Gottes entspricht.

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Wenn der Jahweglaube von vielen verlogenen Feinden sprach, die grundlos hassen, meinte er keineswegs zu phantasieren oder zu übertreiben. Er war vielmehr überzeugt, ein der Realität entsprechendes Urteil zu fällen. Die Verblendung sah er auf seiten seiner Gegner. Gewiß bleibt die Frage, ob er sich in diesem Urteil nicht getäuscht hat. Vor allem die zum Teil massiven

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Bitten um Rache können einen solchen Gedanken nahelegen. (104) Aus der Sicht Girards ist diese Feststellung auch keineswegs überraschend. Da im Alten Testament der Auszug aus der Welt der Gewalt noch nicht voll gelingt, drängt sich die Annahme direkt auf, daß auch die »Gerechten« immer wieder in gewissen aggressiven Projektionen verfangen blieben. Wichtig ist deshalb nur die Frage, ob ein Weg zur Überwindung der verbliebenen gewalttätigen Tendenzen angedeutet wird.

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Hier stoßen wir wieder auf den Gedanken des Gerichtes. Aufschlußreich ist, daß gerade jene Texte, die einen Zusammenhang zwischen der Verbündung der Feinde und dem Gericht Gottes herstellen, auch von der Verblendung sprechen. Im bereits weiter oben zitierten Text aus dem Buch Micha heißt es zunächst, daß viele Völker sich gegen Jerusalem versammeln und sich am Sturz der Stadt freuen wollen. Dann folgt jedoch die Aussage:

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Aber sie kennen nicht die Gedanken des Herrn

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und verstehen nicht seine Absicht:

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daß er sie sammeln wollte wie Garben auf einer Tenne

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(Mich 4,12).

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Das richtende Handeln Gottes deckt den Mechanismus der Gewalt auf und führt die Menschen zu einem ganz anderen Ziel. Wenn die Völker sich versammeln, tun sie unter doppelter Rücksicht etwas ganz anderes, als sie selber meinen. Sie planen durch die Zerstörung Jerusalems ein ruhmvolles Werk. Sie merken aber nicht, daß sie einerseits nur ihrer eigenen Aggression verfallen, und sehen anderseits noch weniger, daß sie sich durch ihre Verbündung zum Gericht sammeln.

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Besonders deutlich wird die unterschiedliche Sicht der Feinde und des Gläubigen in Psalm 118 artikuliert. In diesem Lied wird zunächst ausführlich geschildert, wie die Völker den Beter umringen und umschwirren. Dann heißt es:

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Ich danke dir, daß du mich erhört hast;

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du bist für mich zum Retter geworden.

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Der Stein, den die Bauleute verwarfen,

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er ist zum Eckstein geworden (Ps 118,21 f.).

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Dem bedrohten Beter wurde von Gott geholfen. Die Bauleute, das heißt die Feinde, meinten, sie hätten einen Stein vor sich, den sie verwerfen können. Sie haben sich in dieser Ansicht aber vollkommen getäuscht. Gerade der verworfene Stein wurde zum Eckstein. Die Bauleute waren folglich bei ihrer Zusammenrottung gegen den Beter völlig verblendet. Nach dem aus-

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drücklichen Zeugnis dieses Psalmes ist nicht er den Projektionen verfallen, sondern seine vielen Feinde waren mit Blindheit geschlagen. Die Wahrheit kam aber nicht vom Verfolgten selber. Gott hat ihm geholfen und dadurch erst entschieden, daß aus dem verworfenen Stein ein Eckstein wurde. Sein richtendes Tun hat die Bauleute ins Unrecht und den Beter ins Recht versetzt.

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Von der Selbsttäuschung der Feinde im Zusammenhang mit dem Gericht Gottes spricht auch der bereits erwähnte Text des Deuterosacharja:

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An jenem Tag mache ich Jerusalem für alle Völker zum Stein, den man hochstemmen will: Jeder, der ihn hebt, wird schwer zerschunden sein. Alle Völker der Erde werden sich gegen Jerusalem verbünden. An jenem Tag - Wort des Herrn - bringe ich alle Pferde in Verwirrung und ihre Reiter zur Raserei. Über dem Haus Juda aber halte ich meine Augen offen, während ich alle Pferde der Völker mit Blindheit schlage (Sach 12,3 f.).

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Wenn sich alle Völker gegen Jerusalem verbünden, werden die Pferde mit Blindheit geschlagen, und die Reiter verfallen der Raserei. Die Feinde handeln in völliger Verblendung und im Wahn. Sie meinen deshalb auch, Jerusalem wie einen Stein hochstemmen zu können. Doch sie verwunden sich selber dabei. Gott richtet sie, indem sie sich bei ihrer Zusammenrottung selber wundreiben und richten.

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Weitere Texte wären noch im einzelnen zu analysieren. Die erwähnten Aussagen dürften aber bereits deutlich zeigen, daß zahlreiche alttestamentliche Schriften ausdrücklich von der Verblendung und der Raserei der zusammengerotteten Feinde sprechen. In genauer Übereinstimmung mit der Theorie Girards wird von ihnen gesagt, daß sie der Täuschung und dem Wahn verfallen. Dem einen aber, der sich von vielen Gewalttätern eingekreist fühlt, wird zugesprochen, daß er grundsätzlich die Wahrheit sieht.

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Daß die Verblendung etwas mit dem zu tun hat, was man heute Projektion nennt, wird in den alttestamentlichen Schriften meistens nicht ausdrücklich gesagt. Ein Text weist aber sehr stark in diese Richtung. Im Buch Exodus wird erzählt, wie vor dem Auszug des Volkes aus Ägypten eine Finsternis über das Land fiel (Ex 10,21 ff.). Gemäß dieser Darstellung könnte man meinen, es habe sich um ein äußeres physikalisches Ereignis, um ein von Gott gewirktes Naturwunder zur Bestrafung der Ägypter gehandelt. Im Buch der Weisheit wird die Finsternis aber ganz anders interpretiert. Dort heißt es:

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Denn die Frevler meinten, das heilige Volk knechten zu können: und jetzt lagen sie da, Gefangene der Finsternis; da packte sie furchtbares Entsetzen: Sie wurden durch Trugbilder aufgeschreckt und auseinandergejagt. Auch der geheimste Winkel, in den sie sich flüchteten, konnte sie nicht vor Furcht bewahren; schreckenerregendes Getöse umbrauste sie, und düstere Gespenster mit finsteren Mienen tauchten auf In

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Wahrheit hatte jene Nacht keine Gewalt; aus den Tiefen der machtlosen Totenwelt war sie heraufgestiegen. Sie aber, die wie sonst schlafen wollten, wurden bald durch Schreckgespenster aufgescheucht, bald durch Mutlosigkeit gelähmt Die ganze Welt stand in strahlendem Licht, und alle gingen unbehindert ihrer Arbeit nach. Nur über jene breitete sich drückende Nacht aus, Bild der Finsternis, die sie dereinst aufnehmen sollte; doch mehr als unter der Finsternis litten sie unter ihrer eigenen Angst (Weish 17,2-20).

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Dieser Text betont, daß die Finsternis kein physikalischer Zustand war, der alle Menschen in gleicher Weise betroffen hätte. Die Nacht war nur ein Trugbild derer, die in ihr gefangen waren. Sie war selber machtlos und hatte nur Macht über jene, die sich von düsteren Gespenstern erschrecken ließen. Am meisten litten die Betroffenen deshalb unter ihrer eigenen Angst. Der Text deutet folglich an, daß die Finsternis aus dieser Angst entsprang.

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Diese Schilderung kommt sehr nahe an das heran, was man heute Projektion nennt. Wenn die alttestamentlichen Schriften vom Wahn und von der Verblendung der Feinde reden, dürften die betreffenden Texte deshalb wohl mit Recht in einen Zusammenhang mit der Theorie Girards gebracht werden. Die Feinde, die sich zusammenrotten, haben keine Einsicht, sie verfallen der Blindheit und der Raserei, projizieren ihre eigene gewalttätige Bosheit und ihre Angst auf den Ausgestoßenen. Der Stein, den sie in ihrem Wahn verwerfen, wird aber zum Eckstein. Doch dies alles geschieht dank der erwählenden, helfenden und richtenden Tat Gottes. Die Sicht Gottes und die Erfahrung des einsamen Verfolgten decken sich zwar keineswegs immer, wie etwa das Buch Ijob besonders deutlich zeigt. Die Frage stellt sich deshalb, wie der Beter die Hilfe Gottes erfahren und wie Jahwe sich ihm geoffenbart hat.

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7. Die Offenbarung des wahren Gottes und die Überwindung der Gewalt

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Die vielen Übeltäter kreisen den einen Ausgestoßenen ein. Ihm bleibt kein Ausweg mehr. Keine menschliche Hilfe ist in Sicht. Alle haben sich gegen ihn verschworen. Er ist vom Tod bedroht. Nur Gott kann ihm helfen.

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In den Psalmen klagt das betende Ich über seine Not angesichts der vielen Feinde. Es bezeugt zugleich, daß es Gott als jene Macht erfahren hat, die ihm in seiner ausweglosen Situation Rettung und Hilfe gebracht hat. Immer

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wieder ruft und schreit der Beter zu Gott, und dieser erweist seine Wirklichkeit darin, daß er dem Bedrängten Rettung bringt. (105) In über zwei Dutzend Psalmen ist ausdrücklich davon die Rede, daß Gott den Beter jenem Abgrund entreißen möge (oder entrissen hat), in den ihn die vielen verlogenen Feinde gestürzt haben. In Psalm 144 ruft der in Not Geratene:

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Herr, neig deinen Himmel, und steig herab

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Streck deine Hände aus der Höhe herab, und befreie mich;

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reiß mich heraus aus gewaltigen Wassern,

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aus der Hand der Fremden!

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Alles, was ihr Mund sagt, ist Lüge,

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Meineide schwört ihre Rechte (Ps 144,5-8).

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Als genuiner Ort für die Offenbarung des wahren Gottes erweist sich jene ausweglose Not, in der dem Beter kein Mensch mehr Hilfe bringen kann, weil alle lügen und sich gegen ihn verschworen haben. Die gleiche Situation wird sehr eindrücklich in Psalm 22 geschildert. Der Bedrängte fühlt sich zunächst sogar von Gott verlassen. Er weiß zwar, daß dieser Gott seinen Vätern Rettung gebracht hat. Er selbst aber erfährt sich eher als ein Wurm denn als ein Mensch. Die Leute spotten über ihn. Viele Feinde umgeben und umringen ihn, und die Rotte der Bösen umkreist ihn. In dieser Not ruft der Bedrängte zu Gott:

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Entreiße mein Leben dem Schwert,

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mein einziges Gut aus der Gewalt der Hunde!

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Rette mich vor dem Rachen des Löwen,

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vor den Hörnern der Büffel rette mich Armen!

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(Ps 22,21 f.).

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Gleich danach beginnt der Beter aber Gott als treuen Helfer und sogar als König und Herrscher über alle Völker zu preisen. Hartmut Gese dürfte mit Recht von diesem Psalm sagen: »Die Not des Beters ist im Klagelied bis zur äußersten Grenze getrieben, bis zum Urleiden gesteigert, und so wird nun auch die Errettung aus dieser Not zur Urheilstat, die den Einbruch der eschatologischen Erlösung markiert In der Errettung des Frommen aus dem Tod offenbart sich die eschatologische Königsherrschaft Gottes.« (106)

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Die Ursituation des Leidens und der Not wird nicht nur in den Psalmen beschrieben. Ausgehend vom »kleinen geschichtlichen Credo« (Dtn 26,5-11), in dem die Geschichte Israels von Abraham über die Befreiung aus Ägypten bis zur Landnahme erzählt wird, zeigt Norbert Lohfink, daß

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die deuteronomische Theologie die Geschichte vor allem mittels des »Modells Not-Hilfe« (107) gedeutet hat. Dieses Modell beschreibt, wie das Volk immer wieder von Feinden verfolgt wurde. In der Not schrie es zu Jahwe. Dieser erwies seine Macht, indem er die Bedrängten dem drohenden Abgrund entriß. (108)

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a) Das Wirken Gottes durch das Wort

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Das Wirken Jahwes in Israel wird durch den Hinweis auf die Ursituation der Offenbarung noch nicht umfassend gedeutet. Es genügt nicht zu sagen, Gott erweise sich als jener, der den Bedrängten aus der Todesnot entreißt, in die ihn die verbündeten Feinde stürzen. Ebenso entscheidend ist, wie dieser die Hilfe Gottes erfährt.

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»In Mesopotamien und Ägypten versucht der Mensch mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden (Listen) seine Feinde möglichst präzis zu erfassen und sie dann durch Analogiezauber zu vernichten. Die Götter haben bei diesem Vorgehen meistens kaum mehr als Hilfsfunktionen zu erfüllen. In Israel bringt der Beter seine Not vor Jahwe.«(109) Dieser »aber ist ein Gott, der sich nicht so sehr durch seine evidente Macht, sondern durch seine Verheißungen, Forderungen und Drohungen, kurzum durch sein auf die Zukunft bezogenes Wort manifestiert. Dieses Wort aber drängt sich nicht auf. Seine Wahrheit erschließt sich erst im Laufe der Zeit. So besitzt der Israelit die Möglichkeit, es anzunehmen, zu glauben, zu propagieren, oder aber es mißtrauisch abzulehnen, zu mißachten, zu verwerfen und zu vergessen.

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Schamasch, Baal, Assur brauchte man nicht zu glauben. Man konnte sie höchstens mehr oder weniger intensiv verehren. Die Naturreligionen waren in sehr hohem Maß Kultreligionen. In den akkadischen Schöpfungsmythen

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wird wieder und wieder betont, daß die Götter die Menschen schufen, damit diese sie bedienen. Nach der mesopotamischen Version der Sintflutgeschichte scharen sich die Götter nach der Flut wie Fliegen um den einzigen Menschen, der ihnen noch opfern kann.« (110) Gerade die letztere Vorstellung ist im Lichte der Theorie Girards besonders aufschlußreich. Daß die Götter sich wie Fliegen um den einen Menschen scharen, der ihnen noch opfern kann, läßt sich als indirekter Hinweis verstehen, daß die Götter selbst ihre Existenz jenem Vorgang verdanken, der den Opfern zugrunde liegt.

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Ganz anders ist das Verhältnis Israels zu seinem Gott. »Was der Israelit Jahwe schuldet, sind nicht Opfer, sondern, wie die verschiedensten Traditionen zeigen, Vertrauen, Glauben, Gehorsam. Vertrauen und Gehorsam spielen schon in der Religion der Vätergötter eine besondere Rolle.« (111) »Das geforderte Vertrauensverhältnis wurde dann im Bund institutionalisiert.« (112) Mag auch der Begriff Bund (b erit) erst durch die deuternonomische Theologie in die alttestamentlichen Schriften hineingekommen sein, (113) das damit letztlich gemeinte Verhältnis von Verheißung und Glaube dürfte älter sein und schon von früh an den Glauben Israels bestimmt haben. Die verschiedensten alttestamentlichen Schriften bezeugen auf alle Fälle ein sehr persönliches Verhältnis zwischen Jahwe und seinem Volk und einzelnen Gläubigen.

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Zum Wirken durch das Wort gehört, daß Jahwe nach der Glaubensüberzeugung Israels Gesetze erlassen hat. Er hat sein Volk aus fremder Herrschaft befreit, um selber Herr über Israel zu sein. Befreiung bedeutete Herrschaftswechsel. (114) Das Volk gehörte von nun an ganz ihm; es durfte nicht mehr fremden Göttern nachlaufen, sondern hatte sich ausschließlich an die Worte seines neuen Herrn zu halten. Die Nachahmung sollte gebrochen werden, aber nicht damit Israel nun sein eigener Herr und Meister würde, sondern um Jahwe zu dienen und seinen Worten treu zu bleiben. Die alttestamentlichen Schriften bekämpfen die Mimesis fremder Götter nicht im Namen der Autonomie Israels, sondern im Namen Jahwes, des Bundesgottes. Gegen die Mimesis stellen sie die Treue. In ihrer Sicht ist der Mensch immer ein Wesen, das jemandem nachfolgt. Er kann die fremden Götterkulte nachahmen und verfällt dann einem gewaltsamen Gericht. Oder er kann dem Wort Jahwes treu bleiben, und in diesem Fall wird es ihm -

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gemäß der Aussage der deuteronomischen Theologie - »das ganze Leben lang gut gehen« (Dtn 6,24).

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Der Fremdherrschaft wird nicht die Herrschaftslosigkeit, sondern das Königtum Jahwes gegenübergestellt. Israel hat zwischen der Mimesis fremder Götter und der Treue zum eigenen Bundesherrn zu wählen. Die Treue ist dabei alles andere als knechtische Unterwerfung. Gemäß der deuteronomischen Theologie ist diese Treue letztlich identisch mit der Liebe. Gott will ganz über das Volk herrschen, weil er es liebt:

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Du bist ein Volk, das Jahwe, deinem Gott, heilig ist. Dich hat Jahwe, dein Gott, ausgewählt, damit du unter allen Völkern, die auf der Erde leben, das Volk wirst, das ihm persönlich gehört. Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wärt, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern. Weil der Herr euch liebt und weil er den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat, deshalb hat der Herr euch mit starker Hand herausgeführt und euch aus dem Sklavenhaus freigekauft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten (Dtn 7,6 ff.).

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Jahwe hat Israel aus der Hand eines fremden Königs befreit, weil er es liebt. Diese sehr persönliche Beziehung von seiten des Bundesgottes hat Israel mit einer ähnlichen persönlichen Hingabe zu erwidern:

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Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du Jahwe, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft (Dtn 6,4 f.).

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Der Mimesis, die zur Gewalt führt, steht die Verheißung Gottes und die geforderte Treue des Volkes gegenüber, die beide letztlich in einer gegenseitigen Liebe gründen. Damit stellt sich eine neue Frage. Wenn Gott durch das verheißende und Glauben fordernde Wort wirkt und wenn dieses Wort letztlich aus der Liebe entspringt, wie verhält sich dann das Wort der Liebe und der Glaube zur tötenden Gewalt?

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Die alttestamentlichen Aussagen lassen sich diesbezüglich nicht auf einen Nenner bringen. Es wäre wiederum eine ausführliche Untersuchung nötig, um alle einschlägigen Texte zu analysieren. Einige Andeutungen lassen sich aber auch im Rahmen unserer Darstellung machen. »In der Frühzeit des Stämmebundes fordert vor allem der Heilige Krieg den Glauben aller Beteiligten.« (115) Im Debora-Lied klagt die Sängerin, daß einige Stämme zu Hause blieben, als der Herr mit seinem Volk in die Kriege zog (Ri 5,14 ff.). Praktisch alle Kriege, von denen das Buch der Richter handelt, sind zugleich Glaubensproben. Etwas von dieser Vorstellung ist auch noch in der prophetischen Verkündigung wirksam. Hier tritt aber zugleich ein neues Element stärker in Erscheinung. Praktisch in allen prophetischen Büchern finden sich Anklagen gegen das Volk, weil es auf Pferde und Streitwagen

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vertraute und Militärbündnisse mit den umliegenden Großmächten einging. Schon bei Hosea lautet ein Wort Gottes:

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Efraims Weide ist der Wind,

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immer läuft es dem Ostwind nach.

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Es häuft Lüge auf Lüge, Gewalt auf Gewalt.

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Es schließt mit Assur ein Bündnis

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und liefert Öl nach Ägypten

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(Hos 12,2; vgl. 5,13; 7,11 f.; 8,9: 9,3; 10,4; 11,5; 14,4).

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Lüge, Gewalt und Militärbündnisse mit den Großmächten, dies sind gemäß dem Propheten Hosea die wichtigsten Vergehen Israels gegen Jahwe. Fremden Göttern nachlaufen und Militärbündnisse eingehen war ja vielfach ein und dasselbe. Dem gegenüber bedeutete wahrhaft an Jahwe glauben Gerechtigkeit üben und nicht nach Ägypten und Assur laufen.

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Gemäß dem Propheten Micha war die Einführung der Streitwagen sogar der Anfang der Sünde Jerusalems:

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Spannt die Pferde vor die Wagen, ihr Einwohner von Lachisch!

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Ja, das war der Anfang der Sünde der Tochter Zion;

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denn in dir (Lachisch) trat die Gottlosigkeit Israels zutage

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(Mich 1,13; vgl. 5,9).

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Der prophetische Text sieht im Vertrauen auf die Streitwagen nicht ein Übel neben anderen, sondern eine eigentliche Manifestation der Gottlosigkeit Israels. In Lachisch, wo zum ersten Mal die Streitwagen eingeführt wurden, begann die große Sünde des Volkes.

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Auf ähnliche Weise greift Jesaja die Militärbündnisse und das Vertrauen auf Kriegswagen an:

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Weh denen, die nach Ägypten ziehen, um Hilfe zu finden,

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und sich auf Pferde verlassen,

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die auf die Menge ihrer Wagen vertrauen

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und auf ihre zahlreichen Reiter.

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Doch auf den heiligen Gott Israels blicken sie nicht

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und fragen nicht nach dem Herrn

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(Jes 31,1: vgl. 20,5 f.; 30,1-5.16).

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Das Vertrauen auf Ägypten und auf die Kriegswagen steht im krassen Gegensatz zum Vertrauen auf Jahwe. Wer auf den Pharao baut, kann nicht zugleich auf Jahwe hoffen. Er kommt deshalb zuschanden:

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Doch der Schutz des Pharao bringt euch nur Schande,

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die Flucht in den Schatten Ägyptens bringt euch nur Schmach

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(Jes 30,3).

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Bringt der Pharao nur Enttäuschung, so hilft Jahwe seinem Volk in Wahrheit. Er hilft ihm aber auf andere Weise:

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Mit dem Haus Juda jedoch will ich Erbarmen haben und ihnen Hilfe bringen; ich helfe ihnen als der Herr, ihr Gott, aber nicht mit Bogen, Schwert und Krieg, nicht mit Rossen und Reitern (Hos 1,7; vgl. Mich 5,9).

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Das Erbarmen und der Beistand Jahwes stehen im Gegensatz zu einer kriegerischen Tat. Er hilft nicht mit Schwert und Krieg. Derartige Aussagen sind bereits weit von den Vorstellungen des Heiligen Krieges entfernt. Jeremia geht in der gleichen Richtung sogar noch einen Schritt weiter. Er fordert das eigene Volk zum Gewaltverzicht auf und stellt es im Namen Gottes vor eine Entscheidung auf Leben und Tod:

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So spricht der Herr: Seht, den Weg des Lebens und den Weg des Todes stelle ich euch zur Wahl. Wer in dieser Stadt bleibt, der stirbt durch Schwert, Hunger und Pest. Wer aber hinausgeht und sich den Kaldäern, die euch belagern, ergibt, der wird überleben und sein Leben als Beute erhalten (Jer 21,8 f.; vgl. 27,1-14; 32,5; 38,2,17 f.).

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Bei der Entscheidung zwischen dem Weg des Lebens und dem Weg des Todes steht eine volle Glaubensentscheidung auf dem Spiel. Den Weg des Todes und des Abfalls von Jahwe wählen heißt konkret, in der belagerten Stadt bleiben und sie militärisch zu verteidigen suchen. Demgegenüber besteht der Weg des Lebens und der Treue gegen Jahwe darin, sich dem feindlichen Heer freiwillig zu unterwerfen. Die Entscheidung für den wahren Glauben ist identisch mit dem Verzicht auf militärische Verteidigung.

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Ganz in dieser Linie liegt es, wenn das endgültige Handeln Jahwes als das Tun eines Friedensfürsten geschildert wird. Das Schwert und der Krieg werden dann verschwinden, wie ein messianischer Text aus dem Buch Jesaja ankündigt:

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Er (der Herr) spricht Recht im Streit der Völker,

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er weist viele Nationen in die Schranken.

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Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern

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und Winzermesser aus ihren Lanzen.

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Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk,

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und übt sich nicht mehr für den Krieg (Jes 2,4).

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Der Streit zwischen den Völkern wird von Gott selbst geschlichtet. Es braucht keine Kriege mehr. Ein Friedensreich bricht an, wie es auch das Buch Baruch für das neue Jerusalem weissagt:

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Gott gibt dir für immer den Namen: Friede der Gerechtigkeit und Herrlichkeit der Gottesfurcht (Bar 5,4).

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Gottes Handeln zielt auf ein Reich der Gerechtigkeit, des Friedens und der Gotteserkenntnis. All dies wirkt Jahwe aber »nicht mit Bogen, Schwert und Krieg, nicht mit Rossen und Reitern« (Hos 1,7), sondern mit seinem Wort. Dieses Wort ist machtvoll. Selbst Felsen können ihm nicht widerstehen. Beim Propheten Jeremia deutet ein Wort des Herrn sich selbst:

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Der Prophet, der einen Traum hat, erzählt nur einen Traum; wer aber mein Wort hat, der redet wahrhaft mein Wort. Was hat das Stroh mit dem Korn zu tun? - Wort des Herrn. Ist nicht mein Wort wie Feuer - Wort des Herrn - und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert? (Jer 23,28 f.).

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Der Gewalt gegenüber mag das Wort zunächst als hilflos erscheinen. In Wahrheit ist es aber weit machtvoller. Ein Wort des Herrn sagt von sich selber, daß es wie Feuer wirken und wie ein Hammer Felsen zertrümmern kann (vgl. auch Weish 18,22).

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Eine Gegenüberstellung zwischen der Welt der Opfer, die in der Gewalt wurzeln, und dem Wort findet sich auch in Psalm 40:

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An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen,

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Brand- und Sündopfer forderst du nicht.

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Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt;

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darum sage ich: Ja, ich komme (Ps 40,7 f.).

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Mit Opfern kann man Gott letztlich nicht dienen. Er braucht sie nicht, und sie bewirken nichts. Wohl aber braucht der Mensch ein Ohr, damit er auf die Stimme Gottes hören, sein Wort aufnehmen und seine Weisungen aus dem Herzen heraus befolgen kann. Das Wort macht jene innere persönliche Beziehung möglich, die wir Glaube, Vertrauen und Liebe nennen.

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Es muß allerdings nochmals betont werden, daß die alttestamentlichen Aussagen über das Wort nicht auf eine Linie zu bringen sind. In manchen Texten ist die Macht des göttlichen Wortes fast identisch mit dem gewalttätigen Zorn. Selbst das sehr spät entstandene Buch der Weisheit sagt bei seiner Deutung des Auszuges aus Ägypten und des Todes der Erstgeborenen:

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Als tiefes Schweigen alles umfing und die Nacht in der Mitte ihres Laufes war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron als harter Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land. Es trug das scharfe Schwert deines unerbittlichen Befehls, trat hin und erfüllte alles mit Tod; es berührte den Himmel und stand auf der Erde (Weish 18,14 ff.).

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Die Macht des Wortes wird in diesem Text eindrucksvoll geschildert. Es umgreift Himmel und Erde. Im Gegensatz zum Buch Hosea, wo es heißt, daß Jahwe »nicht mit Bogen, Schwert und Krieg« (Hos 1,7) hilft, wirkt hier das Wort aber als »harter Krieger«, und es erfüllt alles mit Tod. Eine unmittelbare Harmonisierung der unterschiedlichen Aussagen ist nicht möglich. Dennoch bleibt bestehen, daß es eine Schwerlinie gibt, die das Handeln Jahwes als ein Wirken der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe mittels des unkriegerischen Wortes beschreibt.

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b) Die neue Sammlung

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Der Sündenbockmechanismus und die Opfer, in denen die ursprünglich gewaltsame Entladung rituell nachvollzogen wird, haben nach Girard die unabdingbare Aufgabe, unter den zur Gewalt neigenden Menschen Räume relativen Friedens zu schaffen. Die alttestamentlichen Schriften sind das Zeugnis eines Glaubens, der zur völligen Umkehrung dieser Perspektive führt. Nicht mehr die vielen Menschen, die sich gegen ein Opfer zusammenschließen, sorgen für den Frieden. Ihr Tun wird vielmehr als Gewalttat entlarvt, und Gott ist mit seinem helfenden und gnädigen Wort beim einen, der sich in einer ausweglosen Situation befindet. Wie aber entsteht eine neue Gemeinschaft? Wie ist ein Reich des Friedens möglich, wenn anscheinend nur einzelne dem Abgrund entrissen werden?

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Psalm 22 schildert zunächst auf eindrucksvolle Weise die Not des Beters. Er fühlt sich von Gott verlassen, und er muß erfahren, daß eine große Rotte von Bösen ihn umkreist und ihn töten will. Dann aber preist er unverhofft Gott »inmitten der Gemeinde« (V. 23), und er verkündet:

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Alle Enden der Erde sollen daran denken

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und werden umkehren zum Herrn:

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Vor ihm werfen sich alle Stämme der Völker nieder.

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Denn der Herr regiert als König;

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er herrscht über die Völker (Ps 22,28 f.).

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Jene Hilfe, die dem Beter in seiner größten Not zuteil wird, hat eine gemeinschaftliche, ja eine weltweite Dimension. Sie führt den Bedrängten dazu, den Namen Gottes seinen »Brüdern zu verkünden« (V. 23) und Jahwe als den König über alle Völker zu bekennen. (116)

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Wenn Gott die bedrückten Menschen von Feinden befreit, sammelt er sie zugleich neu. Dies gilt zunächst von den zerstreuten Israeliten, wie Psalm 107 eindrücklich zeigt:

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Danket dem Herrn, denn er ist gütig,

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denn seine Huld währt ewig.

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So sollen alle sprechen, die vom Herrn erlöst sind,

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die er von den Feinden befreit hat.

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Denn er hat sie aus den Ländern gesammelt,

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vom Aufgang und Niedergang, vom Norden und Süden

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(Ps 107,1-3).

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Gott hat die Versprengten seines Volkes aus den Händen der Feinde be

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freit. Dabei hat er sie zugleich aus den Ländern gesammelt. Gemäß diesem Text sind die Befreiung und die neue Sammlung sachlich ein und dasselbe Geschehen.

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Die Botschaft von der neuen Sammlung wurde erstmals von den Propheten der Exilszeit verkündet. Von ihnen her ist dieses Thema auch in einige Psalmen eingedrungen. Es war dies die Antwort des Jahweglaubens auf die Zerstörung Jerusalems und auf die Verschleppung der Überlebenden. Die lange vergangene Geschichte hatte gezeigt, daß das Volk immer wieder fremden Göttern nachgelaufen und der Lüge und der Gewalt verfallen war. Aus der eigenen Initiative des übriggebliebenen Restes konnte kein neuer Anfang mehr erwartet werden. Die Menschen hatten sich so sehr als Gewalttäter enthüllt, daß eine neue und friedvolle Gemeinschaft ausgeschlossen schien. Dennoch haben die Propheten ihre Gerichtsreden mit einer Trostbotschaft verbunden und die neue Sammlung des Volkes verkündet, allerdings nicht als Werk der Menschen, sondern als reines Werk Gottes. Jahwe sagt:

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Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide; sie sollen fruchtbar sein und sich mehren (Jer 23,3).

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Die neue Sammlung ist nicht nur reines Werk Gottes; gemäß den Aussagen des Buches Jeremia ist sie auch identisch mit dem Bund, den Jahwe mit seinem Volk schließen wird, nachdem der erste Bund im Gericht über Jerusalem untergegangen war:

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Seht, Tage kommen - Wort des Herrn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen (Jer 31,31 f.).

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Daß die neue Sammlung sachlich identisch ist mit dem neuen Bund, d. h., daß das Zusammenführen des Volkes sich trifft mit einem neuen Verhalten Gottes gegenüber seinem Volk, machen auch Aussagen des Propheten Ezechiel deutlich. Nach ihm offenbart sich Jahwe gerade dadurch als heilig und als Gott, daß er das Volk sammelt:

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So spricht Gott, der Herr: Wenn ich das Volk Israel aus all den Ländern zusammenführe, in die es zerstreut ist, dann beweise ich an ihm vor den Augen der Völker, daß ich heilig bin. Sie werden in ihrem Land wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe. Dort werden sie sicher sein; sie werden Häuser bauen und Weinberge pflanzen. Sie wohnen in Sicherheit, sobald ich an all ihren Feinden ringsum das Urteil vollstrecke. Dann werden sie erkennen, daß ich, der Herr, ihr Gott bin (Ez 28,25 f.; vgl. 11,17; 20,34.41; 34,13; 36,24; 37,21).

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Dieser äußerst dichte Text belegt zunächst, daß sich Gott gerade dadurch

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vor aller Welt, vor den Augen der Völker als heilig erweisen wird, indem er sein Volk zusammenführt. Danach ist die neue Sammlung im strengsten Sinne eine Tat der Selbstoffenbarung Gottes. Indem Gott jene Menschen, die vom Trieb ihres eigenen Herzens her ständig zur Lüge und zur Gewalt neigen, zu einer ganz friedlichen Gemeinschaft zusammenbringt, erweist er sich als Gott. Der Vorgang der Offenbarung ist demnach sachlich identisch mit der Überwindung der Gewalt unter Menschen. Das eigentliche Wunder, das Gott vollbringt, ist die Bekehrung jener Herzen, die zur Lüge und Gewalt neigen. Dieser Zusammenhang wird im zitierten Text noch weiter erläutert durch den Hinweis, daß Jahwe an allen Feinden ringsum das Urteil vollstreckt. Gegen das eine Israel haben sich viele Nationen zusammengerottet. Die Hilfe gegenüber dem Volk ist deshalb untrennbar verbunden mit dem Urteil über »alle Feinde ringsum«. Auf diesen Zusammenhang haben wir bereits weiter oben hingewiesen. Wenn die Völker sich zusammenrotten, dann sammelt sie Gott zum Gericht (vgl. Mich 4,11 f.).

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Wie Gott das Urteil an den zusammengerotteten Feinden vollstreckt, darüber sind sich die alttestamentlichen Aussagen allerdings nicht einig. Manche Texte sprechen von einer Vernichtung der Gegner Israels und der Feinde Gottes. So lautet das Urteil bei Deuterosacharja:

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An jenem Tag werde ich danach trachten, alle Völker zu vernichten, die gegen Jerusalem anrücken (Sach 12,9).

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Eine ähnliche Aussage findet sich im Buch Micha. Gleich anschließend an die weiter oben zitierte Aussage, daß die Feinde, die sich zum Angriff verbünden, von Gott zum Gericht gesammelt werden, heißt es:

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Steh auf, um zu dreschen, Tochter Zion!

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denn ich gebe dir Hörner aus Eisen,

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und mache dir eherne Hufe,

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damit du viele Völker zermalmst

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und ihren Besitz dem Herrn weihst,

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ihren Reichtum dem Herrn der ganzen Erde

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(Mich 4,13; vgl. Joel 4,1-21).

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In diesem Text wird Israel selber die Rolle zugesprochen, alle Feinde zu zermalmen und sie dem Herrn zu weihen. Der Friede soll durch die Vernichtung aller Gegner und Gottlosen zustande kommen.

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Eine andere Sicht findet sich am Anfang des gleichen Kapitels im Buch Micha. Hier ist zunächst von der Völkerwallfahrt zum Zion die Rede. Viele Nationen machen sich auf zum Berg des Herrn. Und dann wird der innere Grund des Friedensreiches aufgezeigt:

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Denn von Zion kommt die Belehrung,

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aus Jerusalem kommt das Wort des Herrn.

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Er spricht Recht im Streit vieler Völker,

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er weist mächtige Nationen in die Schranken,

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bis in die Ferne.

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Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern

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und Winzermesser aus ihren Lanzen

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(Mich 4,2 f.; vgl. Jes 2,1-5).

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Der Friede wird möglich, weil von Zion aus die Belehrung und von Jerusalem das Wort Gottes kommt. Das Wort der Belehrung schafft die neue Gemeinschaft. Dazu gehört, daß Gott selber im Streit der Völker Recht spricht und mächtige Nationen in die Schranken weist. Kein Volk braucht sein Recht mehr durch Krieg zu verteidigen. Deshalb können die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Auf ähnliche Weise wird schon im Buch Jesaja das Gericht über Ägypten dargestellt. Nach der Aussage, daß der Herr Ägypter gegen Ägypter hetzt, folgt das Trostwort:

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Der Herr wird die Ägypter zwar schlagen, er wird sie aber auch heilen: Wenn sie sich zum Herrn bekehren, läßt er sich durch ihre Bitten erweichen und heilt sie (Jes 19,22).

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Der Friede und das Heil für Ägypten werden von der Bekehrung erwartet. Daß der Umkehr eine Belehrung durch das Wort vorauszugehen hat, wird zwar nicht direkt gesagt, dürfte aber sicher mitgemeint sein. Die Bekehrung wird gleich danach sogar als sicher vorausgesagt. Es werde zu einem Segensbund kommen, in den auch Assur einbezogen wird. Durch Israel werden die Völker der Erde gesegnet werden:

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An jenem Tag wird Israel als drittes Land dem Bund von Ägypten und Assur beitreten, zum Segen für die ganze Erde. Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbteil (Jes 19,24 f.).

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Für Israel zur Zeit des Jesaja waren Assur und Ägypten die Repräsentanten der großen feindlichen Mächte. Werden diese beiden Reiche durch das Gericht hindurch in einen Segensbund einbezogen, kann dies nur bedeuten, daß über die ganze Erde sich der Frieden und die Gerechtigkeit ausbreiten werden. Jahwe erweist seine Macht und Herrlichkeit, indem er durch die Bekehrung der Feinde ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit gründet. Die alttestamentlichen Schriften sprechen einmütig - spätestens von der Zeit der großen Propheten an - von einem Handeln Gottes, das alle Völker betrifft. Wie dies geschieht, bleibt aber unentschieden. Eine Textreihe kündigt die kommende Vernichtung der Feinde an; eine andere verheißt die Bekehrung der Völker und ein universales Friedensreich. Beide stimmen jedoch darin überein, daß das menschliche Zusammenleben nie als eine rein menschliche Angelegenheit verstanden wird. Das Alte Testament kennt keine sogenannte rein natürliche Lebensordnung. Wo Menschen von

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Gott abfallen, verfallen sie der Gewalt und töten früher oder später einander. Nur wenn sie auf die Stimme Jahwes hören, können sie im Frieden miteinander leben. Wenn Jahwe sich als der Herr zu erkennen gibt, vermittelt er den Menschen nicht ein zusätzliches Wissen. Er deckt ihre unterschwellige Gewalt auf und zeigt ihnen, daß sie nur in seinem Namen wahrhaft und friedlich leben können. Durch seine Selbstoffenbarung begründet er eine neue Gemeinschaft unter den Menschen.

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c) Der Geist Gottes und die Liebe unter Menschen

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Die neue Sammlung ist ganz das Werk Jahwes. Wird dadurch das menschliche Tun überflüssig? Diese Frage läßt sich leicht beantworten. Jahwe handelt nie über die Köpfe der Menschen hinweg. Er will die Bekehrung der Herzen. Das verheißene Friedensreich schließt ein, daß sich die Menschen von der Gewalt abkehren und die Eintracht suchen. Wie aber ist dies möglich?

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Bereits in den frühen Schichten des Alten Testamentes finden sich einige Beispiele, wie drohende Rivalitäten und Gewalttaten überwunden werden konnten. Es wird erzählt, wie es zwischen den Hirten Abrahams und denen Lots wegen Ländereien zum Streit kam. Abraham selber schlichtete den Zwist, indem er auf seinen eigenen Anspruch verzichtete. Er ließ Lot wählen, welches Land er haben wollte, und begnügte sich selber mit dem anderen Teil (Gen 13,5-13).

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Besonders aufschlußreich ist die Geschichte von David und Jonatan. Im ersten Buch Samuel wird gleichsam auf klassische Weise geschildert, wie zwischen König Saul, dem Vater Jonatans, und David Rivalitäten ausbrachen und wie der König versuchte, seinen eigenen Heerführer, in dem er nur noch einen Rivalen sah, umzubringen. Alles war darauf angelegt, daß sich dieser Streit auch auf Jonatan und David ausdehnte. Es wird sogar erzählt, daß Saul alles tat, um seinen Sohn Jonatan in die Rivalität hineinzuziehen. Er sagt zu ihm:

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Solange der Sohn Isais (David) auf Erden lebt, bist du und dein Königtum nicht sicher. Schick also jemand hin und laß ihn festnehmen; denn er muß sterben (1 Sam 20,31).

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Trotz der spannungsvollen Situation und trotz der Aufstachelung durch den eigenen Vater kam es zwischen Jonatan und David zu keiner Feindschaft. Im Gegenteil, sie wurden zutiefst Freunde. Die Erzählung gibt dafür einen eindeutigen Grund an. Jonatan liebte David »wie sein eigenes Leben« (1 Sam 18,1.3; 20,17). Diese Liebe war mehr als ein bloßes Gefühl. Sie betraf das ganze Leben Jonatans. Er stellte nämlich seine eigenen Ansprüche aufs

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Königtum zurück. Als David von Saul überallhin verfolgt wurde, ging Jonatan zu seinem Freund, tröstete ihn und bezeugte ihm seinen Verzicht:

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Er stärkte Davids Vertrauen auf Gott und sagte zu ihm: Hab keine Angst, mein Vater Saul wird dich nicht finden. Du wirst über Israel herrschen, und ich werde der zweite Mann nach dir sein (1 Sam 23,16 f.).

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Trotz dieser selbstlosen Liebe zu David wahrte Jonatan auch seinem Vater die Treue. Außer in der Beziehung zu seinem Freund blieb er der Welt des Königs, der Welt des Streites und der Gewalt, verhaftet. So kam er auch in einem Krieg ums Leben. Wegen der selbstlosen Liebe zu David aber konnte sein Geschlecht überdauern. Als später die Gibeoniter sieben Söhne Sauls als Rache für erlittenes Unrecht forderten, gewährte David ihnen diese Forderung und verschonte nur Merib-Baal, den Sohn Jonatans, wegen des Eides, den sie »beim Herrn einander geschworen hatten« (2 Sam 21,7; vgl. 9,1-13). Wie sehr David seinerseits seinen Freund geliebt hat, bezeugt das Klagelied auf »Saul und seinen Sohn Jonatan« (2 Sam 1,17). Der Gesang endet mit den Worten:

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Groß ist meine Trauer um dich,

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mein Bruder Jonatan,

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ich habe dich so geliebt.

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Deine Liebe war für mich mehr

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als die Liebe der Frauen.

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Ach, die Helden sind gefallen,

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die Waffen des Kampfes zerbrochen

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(2 Sam 1,26 f.).

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David hat auch die Frauen geliebt. Doch dies war eine begehrende Liebe, die sehr leicht zu Gewalttaten führen konnte, wie die Geschichte mit Batseba, der Frau des Hetiters Urija, zeigt (2 Sam 11,1-27). Jonatan aber liebte er auf ganz andere Weise, mit einer Liebe, die gerade die Welt der Feindschaft überwand. In diese Liebe bezog er in gewisser Weise auch seinen Todfeind ein. David anerkannte, daß Saul und Jonatan trotz ihrer gegensätzlichen Haltung ihm gegenüber untereinander »in Liebe verbunden, unzertrennlich im Tod und im Leben« (2 Sam 1,23) waren. Er schonte auch in der größten eigenen Not das Leben seines Rivalen (1 Sam 24,1-23; 26,1-25), und selbst als sein Gegner tot war, tat er alles, um den Eindruck abzuwehren, er könnte an seinen Nachkommen und Gefolgsleuten Rache nehmen (2 Sam 3,22-39; 4,1-12).

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Die Hochherzigkeit dem ihm feindlich gesinnten König gegenüber war zugleich die weitsichtigste politische Tat Davids. Er gehörte zum Stamm Juda und Saul zu Benjamin. Wie der Aufstand des Benjaminiter Scheba (2 Sam 20,1-22) und die Reichsteilung unter Rehabeam, seinem Enkel, zeigen, war die politische Einheit der verschiedenen Stämme alles andere als

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selbstverständlich. David brachte sie nur deshalb für kurze Zeit zustande, weil er seinen Gegner schonte (vgl. 2 Sam 2,10; 3,37; 5,1). Außer in seiner Beziehung zu Jonatan und seinem Todfeind Saul blieb er allerdings ganz der Welt des Krieges und der Gewalt verhaftet. Er mußte deshalb erleben, wie seine eigenen Söhne sich bis aufs Blut verfolgten (2 Sam 13,1-37; 1 Kön 1 - 2,25) und wie einer selbst ihm nach dem Leben trachtete (2 Sam 15 - 19). Sein Reich war auf so viel Gewalt gegründet, daß es bald wieder in rivalisierende Teilreiche zerfiel (vgl. 1 Kön 1 1,14 - 12,19). Beide Teile wurden schließlich von den umliegenden Großmächten verschlungen. Nur einen Augenblick lang vermochte die Liebe die Feindschaft zu besiegen.

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Ein weiteres Beispiel von der Überwindung der Rivalität bietet die berühmte Geschichte vom salomonischen Urteil. Zwei Frauen hatten je ein Kind. Eines wurde erdrückt; um das Überlebende entstand ein Streit. Salomon befahl, dieses in zwei Teile zu zerschneiden und jeder Partei eine Hälfte zu geben. Jene Frau, die nicht die wahre Mutter war, stimmte diesem Befehl zu. Es ging ihr letztlich gar nicht um das Kind, sie war ganz Rivalin der anderen Frau. Sie wollte nicht, daß diese etwas mehr hatte als sie. Umgekehrt reagierte die wahre Mutter. Aus Liebe zu ihrem Kind überwand sie die Rivalität und verzichtete freiwillig zugunsten ihrer Feindin auf ihr Recht. Dadurch rettete sie nicht nur das Leben ihres Kindes, sondern gewann es auch wieder für sich zurück (1 Kön 3,16-28).

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Wie Abraham gegenüber Lot, wie David gegen Jonatan und Saul, und wie die Mutter zur Zeit Salomons gegen ihre Rivalin haben die Menschen in Israel längst nicht immer gehandelt. (117) Trotz des zusammenfassenden Gebotes, nicht das Haus eines anderen noch seine Frau, seine Sklavin, sein Rind, seinen Esel oder irgend etwas zu begehren (Ex 20,17), herrschte in Israel die von der Mimesis geleitete Begehrlichkeit. Lüge und Gewalttat machten sich deshalb breit. Die Schuld fiel auf das Volk zurück, und es wurde dem Untergang geweiht.

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Angesichts einer jahrhundertelangen negativen Erfahrung - mit nur wenigen positiven Ausnahmen - war die prophetische Verheißung von der neuen Sammlung des geschlagenen Volkes und von der Errichtung eines kommenden Friedensreiches alles andere als selbstverständlich. Sie hatte zur unabdingbaren Voraussetzung, daß auch das Herz der Menschen gewandelt

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wurde. Genau diesen Wandel haben Ezechiel und Jeremia verheißen. Ein von Ezechiel verkündetes Wort Gottes lautete:

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Ich schenke euch ein neues Herz und gebe euch einen neuen Geist. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch hinein und bewirke, daß ihr nach meinen Gesetzen lebt und meine Gebote achtet und erfüllt. Dann werdet ihr in dem Land wohnen, das ich euren Vätern gegeben habe. Ihr werdet mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein (Ez 36,26 ff.; vgl. 11,19 f).

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Nur wenn Gott selber das Herz der Menschen wandelt, werden diese endlich fähig sein, die Gebote zu beachten. Dann werden sie auch zu einem Volk, das in Wahrheit Volk Gottes ist und im vollen Frieden leben kann. Jahwe verheißt diesen Wandel, in dem er das Kommen seines Geistes ankündigt. Wie dieser Geist das Herz der Menschen verändert, wird im Buch Jeremia besonders deutlich ausgesprochen.

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Unmittelbar auf die Verheißung des neuen Bundes folgt die Zusicherung:

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Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, und man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen - Wort des Herrn (Jer 31,33 f.).

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Gott verheißt, das Gesetz jedem unmittelbar ins Herz zu schreiben. Im allerletzten braucht deshalb keiner mehr den andern zu belehren. Wie fundamental und zentral gerade diese Aussage ist, machen die Analysen Girards deutlich. Solange Menschen durch andere belehrt werden müssen, brauchen sie Vorbilder. Die Nachahmung (Mimesis) der Lehrer und Meister führt aber unwillkürlich zu Rivalitäten. Die Tendenz zur Gewalt kann nur dort an ihrer Wurzel überwunden werden, wo wenigstens in bezug auf das Allertiefste und Persönlichste kein Mensch mehr einen anderen zu belehren braucht. Einzig auf diese Weise läßt sich der aus der Mimesis ergebende Teufelskreis von innen her aufsprengen. Nur wenn Menschen die Erfüllung ihres intimsten und urpersönlichsten Strebens durch den Geist Gottes finden, werden sie vom Bann der Nachahmung und der aus ihr entspringenden Eifersucht frei, und sie werden zu jener Tat fähig, die Kain nicht zustande brachte, nämlich Herr zu werden über die lauernde Sünde (vgl. Gen 4,7).

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Auf historisch erfahrbarer Ebene ist die verheißene neue Sammlung des versprengten Volkes und die Ausgießung des Geistes nie eingetreten, oder sie blieb zum mindesten eine sehr klägliche Angelegenheit. Zwar machte der Perserkönig Cyrus nach der Eroberung Babels den verbannten Juden die Rückkehr nach Jerusalem wieder möglich (538 v. Chr.). Doch nur eine relativ kleine Gruppe kehrte in die Heimat zurück. Die Stadt wurde notdürftig wieder aufgebaut. Vom verheißenen Frieden war aber kaum etwas

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zu spüren. Noch viel weniger schlossen sich die vielen Völker der kleinen Gemeinde in Jerusalem an. Die Stadt war politisch nicht einmal mehr selbständig, und Judäa gehörte während der kommenden Jahrhunderte praktisch immer als Provinz zu einem fremden (persischen, ptolemäischen, seleukidischen, römischen) Großreich. Historisch gesehen kann man deshalb nicht sagen, das neue Zusammenleben der Bewohner in Jerusalem sei in besonderer Weise das Werk des göttlichen Geistes gewesen. Die Ruhe und Ordnung in der Stadt und in der Provinz wurden durch die jeweilige fremde Großmacht aufrechterhalten und garantiert. Diese Reiche aber standen - gemäß den Analysen von Girard - noch ganz unter der Herrschaft des Sündenbockmechanismus, wenn auch auf weit differenziertere Weise als die archaischen Gesellschaften. Die prophetische Verkündigung von der neuen Sammlung und vom neuen Leben in vollem Frieden blieb zunächst eine reine Verheißung.

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Doch was war diese Verheißung, diese Hilfe Gottes durch das Wort? Entsprang sie einer allerletzten subtilen Selbsttäuschung? Haben die Propheten das Volk auf falsche Weise vertröstet? Sind die »unerfüllten« Verheißungen ein Zeichen, daß es hinter dem Hang zur Gewalttätigkeit eine noch verborgenere Leidenschaft gibt, die auf noch raffiniertere Weise die menschliche Vernunft gefangennehmen kann und der die biblischen Propheten erlegen sind? Oder zeigen sich Möglichkeiten, die erfahrbare Wirklichkeit mit der prophetischen Verheißung auf die eine oder andere Weise in Übereinstimmung zu bringen? Die eigentliche Antwort auf diese Frage bietet erst das Neue Testament. Erst von dort her werden deshalb auch viele Aussagen eindeutig, die vorläufig noch widersprüchlich bleiben. Doch bereits auf der Ebene des Alten Testaments gibt es einen Text, der die Antwort des Neuen Testaments in besonderer Weise vorbereitet: die Schrift des Deuterojesaja mit ihren vier Liedern vom Leidensknecht. Girard hält diese Lieder für die zentralsten Aussagen des Alten Testaments. Wir sind auf sie bis jetzt bewußt nicht eingegangen, um nicht andere Texte vorschnell aus dieser Perspektive zu interpretieren. Doch nun muß die bisherige Deutung mit den Aussagen dieses Textes konfrontiert werden.

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8. Der Leidensknecht

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Auf die vielen historisch-kritischen Probleme, die sich mit Jes 40 - 55 stellen, brauchen wir uns nicht einzulassen. Seit Bernhard Duhm in seinem Jesaja-Kommentar (1892) die Abschnitte 42,1-9; 49,1-6; 50,4-9; 52,13 - 53,12 aus dem Kontext herausgehoben und als Lieder, die das Schicksal eines unbekannten Thoralehrers beschreiben, einer jüngeren Zeit zugeordnet hat, wurde immer wieder - und ohne definitives Ergebnis - darüber diskutiert, ob diese Lieder vom gleichen Autor stammen wie die übrigen Teile der Schrift. Wir können diese ungelöste (und unlösbare) Frage übergehen, weil es bei unserer Untersuchung um die Deutung des heute vorliegenden Textes geht. Das Problem, wie dieser entstanden ist, kann dabei offenbleiben. Entscheidend ist, daß die Lieder in ihrem Kontext, ja daß alle wesentlichen Aussagen der Schrift zusammenhängend gedeutet werden.

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Schier endlos wurde auch darüber diskutiert, ob mit dem Gottesknecht Israel oder ein einzelnes Individuum gemeint sei. Diese Frage können wir ebenfalls beiseite lassen. Daß die lange Auseinandersetzung zu keinem klaren Ergebnis geführt hat, dürfte zwar ein Zeichen sein, daß der Text selber nicht ganz eindeutig ist. Träfe dies zu, würde dies sogar gut zu den bisherigen Ergebnissen unserer Untersuchung passen. Wir konnten feststellen, daß strukturell die gleiche Aussage vorliegt, ob es heißt, viele feindliche Nationen verbünden sich gegen das eine Israel, oder ob gesagt wird, viele gottlose Gewalttäter umkreisen den einen Gerechten. Unsere Deutung bleibt auf alle Fälle für beide Möglichkeiten offen.

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Im Text des Deuterojesaja ist öfter von Konflikten, von Gegnern, ja sogar von »der Wut der Feinde« (51,13) die Rede. Diesbezüglich bringt diese Schrift nichts Neues im Vergleich zu den übrigen prophetischen Texten und zu den Psalmen. Neu aber ist das Verhalten des Bedrängten, des Gottesknechtes. Er sagt von sich selber:

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Jeden Morgen weckt er (Gott) mein Ohr,

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damit ich auf ihn höre wie ein Schüler.

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Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet.

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Ich wehrte mich nicht

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und wich nicht zurück.

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Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen,

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und denen, die mir den Bart ausrissen, mein Kinn.

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Mein Gesicht verbarg ich nicht,

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als sie mich verhöhnten und bespuckten.

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Doch Gott, der Herr, wird mir helfen (50,4-7).

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In diesem wichtigen Text werden einerseits Themen angesprochen, auf die wir bereits eingegangen sind. Anderseits kommt ein entscheidend neues Element hinzu. Der Knecht wird von Gott selber belehrt, wie im Buch Jeremia verheißen wurde. Er ist nicht der Jünger irgendeines menschlichen Meisters, sondern der Schüler Gottes. Die Mimesis hat deshalb keine Herrschaft mehr über ihn. Entsprechend findet sich in der Schrift des Deuterojesaja nirgends eine Bitte um Rache an den Feinden wie bei Jeremia (118) oder in vielen Psalmen(119).

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Gott handelt seinem Schüler gegenüber durch das Wort. Er weckt und öffnet ihm jeden Morgen das Ohr. Wie machtvoll dieses Wort ist, wird zusammenfassend im Epilog zur Schrift des Deuterojesaja gesagt. Gott selber spricht:

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So hoch der Himmel über der Erde ist,

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so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege

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und meine Gedanken über eure Gedanken.

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Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fallen

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und nicht zu ihm zurückkehren,

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sondern die Erde tränken,

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so daß sie keimt und sproßt,

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Samen bringt für die Aussaat und Brot zur Nahrung,

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so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verläßt:

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Es kehrt nicht leer zu mir zurück,

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sondern bewirkt, was ich will,

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und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe

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(55,9 ff.).

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Deuterojesaja redet nicht bloß vom Wirken Gottes durch das Wort, sondern er läßt dieses von sich selber sagen, daß es machtvoll ist und alles bewirkt, was es will. In direktem Zusammenhang mit dieser allmächtigen Wirkung des Wortes steht bei ihm das Wirken des göttlichen Geistes. Gott öffnet dem Knecht einerseits jeden Morgen das Ohr. Anderseits hat er den Geist in ihn gelegt und spricht von ihm:

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Seht, das ist mein Knecht, ich halte ihn an der Hand;

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das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.

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Ich habe meinen Geist in ihn gelegt,

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damit er den Völkern das Recht bringt (42,1).

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Das Wirken durch den Geist und durch das Wort sind zwei Aspekte des einen göttlichen Tuns. Beide tendieren auf das eine Ziel, auf die Befähigung des Knechts zu einer weltweiten Aufgabe. Gott hat seinen Geist in

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ihn gelegt, damit er den Völkern das Recht bringt (42,1). Er öffnet ihm jeden Tag die Ohren, damit er zum Licht wird bis an die Enden der Erde. Ein Gotteswort lautet über ihn (gemäß der Einheitsübersetzung (120)):

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Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist,

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nur um die Stämme Jakobs wieder zusammenzubringen

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und die Geretteten Israels heimzuführen.

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Ich mache dich auch zum Licht aller Völker;

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bis ans Ende der Erde soll man meine rettende Hilfe erfahren (49,6).

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Der Knecht hat eine Aufgabe für alle Völker. Durch ihn will Gott den Menschen bis ans Ende der Erde helfen. Hier ist nicht mehr in erster Linie von der Vernichtung der Feinde die Rede, (121) sondern davon, daß der Knecht zum Licht für alle Völker wird, ihnen das Recht bringt und daß durch ihn alle die Huld Gottes erfahren. Sagt der Knecht im weiter oben zitierten Text von sich selber: »Doch Gott, der Herr, wird mir helfen« (50,7), ist damit folglich nicht eine rein individuelle Hilfe gemeint. Durch die Tat an ihm will Gott allen Völkern bis ans Ende der Erde Rettung bringen.

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Die bisher festgehaltenen Aussagen des Deuterojesaja gehen kaum über das hinaus, was wir auch bei anderen prophetischen Texten und in den Psalmen gefunden haben. Gott hilft dem von vielen Feinden Verfolgten, und diese Tat hat eine universale Dimension. In einen neuen Bereich stößt Deuterojesaja jedoch vor, wenn er sagt, wie die Hilfe für die Völker geschieht.

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Gott öffnet dem Knecht jeden Morgen das Ohr, und die erste Folge davon ist, daß dieser auf die Gewalt seiner Feinde nicht mit Gegengewalt reagiert. Er hält freiwillig seinen Rücken hin (vgl. 50,5 f.). Die Tat Gottes an ihm wird darin sichtbar, wie er sich den feindlichen Gewalttaten gegenüber verhält. Dabei geht es nicht bloß um ein individuelles heroisches Beispiel. Wie die bereits erwähnten Aussagen zeigen, erfüllt er eine Aufgabe, die alle Völker betrifft.

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Bedenkt man, wie weit verbreitet der Rachegedanke im Alten Testament war, wird doppelt deutlich, daß mit dem gewaltlosen Verhalten des Gottesknechtes tatsächlich etwas Neues aufbricht. Die Schrift des Deuterojesaja reflektiert selber auf die Neuheit ihrer Botschaft innerhalb der vom Jahweglauben heilig gehaltenen Tradition. Sie fordert und verkündet im Namen

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Gottes direkt einen revolutionären Bruch:

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Aber denkt nicht mehr an das, was früher war,

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auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten.

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Denn ich erschaffe jetzt etwas Neues.

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Schon wächst es heran, merkt ihr es nicht? (43,18 f.).

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Noch an einer anderen Stelle sagt Gott von sich selber, daß er im Begriff ist etwas Neues zu schaffen, von dem bisher niemand etwas gewußt hat:

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Doch nun sollst du von mir etwas Neues erfahren,

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etwas Verborgenes, von dem du nichts weißt.

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Eben erst kam es zustande, nicht schon vor langer Zeit.

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Zuvor hast du nichts erfahren davon,

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damit du nicht sagst: Das habe ich längst schon gewußt.

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Du hast davon nichts gehört und gewußt,

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dein Ohr war bisher verschlossen (48,6 ff.).

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Das Neue hat mit dem Öffnen des Ohres etwas zu tun. Es geht um eine Verheißung, die Israel bisher unbekannt war. Das Ohr war ihm verschlossen. Es muß erst geöffnet werden.

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Das Neue steht allerdings auch im Zusammenhang mit dem Perserkönig Cyrus. Dieser wird sogar als der Gesalbte des Herrn bezeichnet (45,1). Dennoch ist er keine gleichrangige Gestalt neben dem Knecht. Seine große Bedeutung besteht nur darin, daß er Israel gegenüber eine Aufgabe hat. Dabei weiß er selber nicht einmal darum. Jahwe spricht über ihn:

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Um meines Knechtes Jakob willen,

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um Israel, meines Erwählten, willen

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habe ich dich bei deinem Namen gerufen;

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ich habe dir einen Ehrennamen gegeben,

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ohne daß du mich kanntest (45,4).

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Der Perserkönig Cyrus machte es den nach Babylon verbannten Juden möglich, wieder nach Jerusalem zurückzukehren. Darin bestand aus der Sicht des Deuterojesaja seine große Aufgabe. Er ist keine Konkurrenzfigur neben dem Gottesknecht. Auch wenn durch ihn viele Völker unterworfen werden (45,1), so ist doch nur der Knecht ein Licht für alle Völker. Cyrus wurde um des »Knechtes Jakob willen« gerufen.

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Wie aber erfüllt der Gottesknecht seine weltweite Aufgabe? Sein revolutionäres, gewaltloses Verhalten wird weiter gedeutet in jenem Text, den man traditionellerweise als das eigentliche Lied vom Leidensknecht ausgesondert hat (52,13 - 53,12). Ähnlich wie im Psalmwort vom Stein, den die Bau, daß er durchbohrtleute verwarfen, wird hier der Knecht aus zwei verschiedenen Perspektiven gezeichnet:

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Viele haben sich über ihn entsetzt,

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denn er sah entstellt aus, nicht wie ein Mensch,

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seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.

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Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen,

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Könige müssen vor ihm verstummen (52,14 f.).

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Ein Früher und ein Jetzt wird unterschieden. Früher hat man ihn verhöhnt. Jetzt setzt er viele in Staunen. Aus dem verworfenen Stein wurde ein Eckstein und aus dem verachteten Knecht einer, vor dem selbst Könige verstummen. Waren die vielen, die zunächst lachten und nun staunen, auch Gewalttäter? Im bereits weiter oben zitierten Text sagt der Knecht von sich selbst, daß er den Rücken denen hinhielt, die ihn schlugen (50,5 f.). Im eigentlichen Lied vom Leidensknecht heißt es dann weiter, daß er durchbohrt und mißhandelt (53,5), geplagt und niedergedrückt (53,7), ja daß er aus dem Land der Lebenden verstoßen und getötet wurde (53,8). Er ist Gewalttätern zum Opfer gefallen. Er wurde nicht bloß verlacht, sondern auch umgebracht. Wie aber wurde aus dem von aller Welt Verachteten und Getöteten einer, der viele Völker in Staunen setzt? Die entscheidenden Aussagen finden sich in 53,4-12. Danach kamen Menschen zur Einsicht, daß der Knecht stellvertretend für die vielen (122) gelitten hat. Zu den vielen gehören auch jene, die nun eines Besseren belehrt wurden.

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Wir meinten, er sei vom Unheil getroffen,

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von Gott gebeugt und geschlagen.

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Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen,

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wegen unserer Sünden mißhandelt (53,4 f.).

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Die zwei grundverschiedenen Sichten finden sich im Leben der gleichen Menschen. Zunächst meinten sie, der Knecht werde von einem Unheil getroffen. Erst danach gingen ihnen die Augen und Ohren auf, und sie merkten, daß er wegen ihrer eigenen Verbrechen durchbohrt wurde.

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Fast in allen Schichten der alttestamentlichen Schriften findet sich, wie wir gesehen haben, die Vorstellung, daß die Untat auf das Haupt des Täters zurückfällt. Im eben zitierten Text findet sich demgegenüber eine ganz neue Aussage. Die Verbrechen der vielen fallen nicht auf die Schuldigen zurück, sondern ein Unschuldiger (53,9) wird stellvertretend getroffen. Doch wie ist diese Stellvertretung näher zu verstehen? Im Lichte der Theorie Girards ist vor allem die Frage entscheidend, ob der Knecht nur »wegen« der Verbrechen der vielen oder auch »durch« diese Untaten geschlagen wurde. Haben die Gewalttäter selber ihre Untaten auf den Knecht ge

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worfen, oder ist die Stellvertretung im rein juridischen Sinne gemeint. Der entscheidende Vers lautet (gemäß der Einheitsübersetzung):

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Wir hatten uns alle verirrt wie die Schafe,

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jeder ging für sich seinen Weg.

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Doch der Herr warf all unsere Sünden auf ihn (53,6).

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Gemäß dieser Übersetzung könnte man denken, Gott selber habe die Sünden der vielen auf den Knecht gelegt und sie ihm folglich im juridischen Sinne angerechnet. Eine andere Übersetzung ist aber ebenso möglich, und diese würde etwa lauten:

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Doch der Herr ließ es zu, daß wir all unsere Sünden auf ihn warfen.

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Die synthetische hebräische Sprache macht bekanntlich keinen eigentlichen Unterschied zwischen einem aktiven Verursachen und einem passiven Zulassen. So konnten wir auch bereits feststellen, daß die Aussagen, gemäß denen Jahwe selber gewalttätig handelt, und jene, die von einem Ausliefern an menschliche Gewalttäter sprechen, inhaltlich das gleiche meinen.

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Vom Knecht heißt es im näheren Kontext, daß er von den vielen geschlagen, verhöhnt und bespuckt (50,6), daß er geplagt und niedergedrückt (53,7) und daß er schließlich getötet und bei den Verbrechern begraben wurde (53,8 f.). All diese Aussagen bezeugen, daß die Verbrechen der vielen den Knecht im physischen und moralischen und nicht bloß im juridischen Sinne getroffen haben. Die Gewalttäter übertrugen ihre Untaten real auf ihn.

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Ferner ist zu beachten, was Walther Zimmerli mit Recht hervorhebt: »Hier ist mit ›Schuld tragen‹ nicht auf das Schuld-Tragen Gottes gedeutet, sondern im Sinne von Lev 16,22 und 10,17 auf das stellvertretende Schuld/Strafe-Tragen eines Menschen, des Knechtes Jahwes.«(123) Bei den Sühneriten luden die Schuldigen (oder die Priester im Namen der Schuldigen) ihre Sünden selber auf das Opfertier. So liegt auch von dieser Seite her die Deutung nahe, daß die vielen selber ihre Verbrechen auf den Gottesknecht übertrugen, und zwar dadurch, daß sie ihn verachtet, bespuckt, geschlagen und getötet haben. Er aber hat seinen Rücken und seine Wangen freiwillig hingehalten und dadurch bewirkt, daß die Übeltaten nicht als Strafe auf die Täter zurückfielen. Diese konnten deshalb zu einer besseren Einsicht kommen.

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Die gleiche Deutung drängt sich durch die Nähe von Jes 53 zu Psalm 22 und 118 auf. In diesen beiden Liedern wird auf besonders eindrucksvolle Weise einerseits die Not des Verlassenen und Verfolgten und anderseits die

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göttliche Hilfe gegenüber dem Gerechten geschildert. Beide Lieder beschreiben (wie in Jes 53) als die eigentliche Not des Bedrängten, daß viele gewalttätige Feinde ihn umkreisen und »verwerfen« (Ps 118,22) oder ihm die »Hände und Füße durchbohren« (Ps 22,17). Die Übeltäter rotten sich gegen den Gerechten zusammen. Ihre Untaten fallen auf ihn, weil sie ihn physisch und moralisch verfolgen.

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Der enge Zusammenhang zwischen Jes 53 und den Psalmen 22 und 118 wird allerdings erst vom Neuen Testament her voll einsichtig. Die Texte legen aber auch aus sich heraus eine Beziehung nahe. So ist zwar noch keine allerletzte Klarheit erreicht. Durch den Kontext und durch den Zusammenhang mit den Sühneriten und mit den Psalmen drängt sich aber doch die Deutung auf, daß die Übertragung der Verbrechen auf den Knecht in dem Sinne zu verstehen ist, daß die Übeltäter sich gegen ihn zusammenrotten und gerade durch ihr gewalttätiges Tun ihm gegenüber ihre eigenen Verbrechen auf ihn laden. Diese Deutung wird auch von der alttestamentlichen Vorstellung des Tat-Folge-Zusammenhangs her verständlich. Gott wirkt in diesem Geschehen, indem er den Geschlagenen befähigt, freiwillig sich hinzuhalten (Jes 50,5-6; 53,7) und dadurch die Verbrechen der anderen auf sich zu nehmen.

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Wie die Übeltäter zur Erkenntnis kamen, daß der Knecht ihre Sünden stellvertretend getragen hat, wird nirgends ausdrücklich gesagt. Wohl aber legt der Kontext die Annahme nahe, daß gerade das gewaltlose Verhalten des Geschlagenen ihnen die Augen geöffnet hat. Sie staunen darüber, daß er den Mund nicht auftat, als man ihn wie ein Lamm zum Schlachten abführte (Jes 53,7). Weil er die Vergehen der vielen auf wahrnehmbare Weise getragen hat, deshalb konnte er zum Licht für die Völker werden. Dadurch, daß Gott den Knecht zu einem neuen Verhalten befähigte, offenbarte er zugleich sich selbst auf neue Weise. Wie die Psalmen zeigen, war Jahwe den Bedrängten auf sehr persönliche Weise nahe. Die Schrift des Deuterojesaja zeigt einerseits das gleiche. Gott erscheint in ihr als der große Befreier; (124) immer wieder ruft er seinem bedrängten Volk auf sehr vertraute Weise zu:

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Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir;

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hab keine Angst, denn ich bin dein Gott (41,10) (125).

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Anderseits gibt sich Jahwe in der Schrift des Deuterojesaja auf neue Weise als Person zu erkennen. Er reflektiert gleichsam auf sich selbst und deutet seinen eigenen Namen:

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Darum soll mein Volk an jenem Tag meinen Namen erkennen

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und wissen, daß ich es bin, der sagt: Ich bin da (52,6) (126).

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Gott sagt von sich selber, daß er etwas sagt, und er spricht auf sich selber reflektierend: ich bin es, der sagt, ich bin da. Das Ich und das Sprechen Gottes werden in vollster Ausdrücklichkeit auf ihn selber zurückbezogen. Er ist ganz da und offenbart sich dem Volk auf vertrauteste Weise, indem er sein Ich bewußt als sein Ich ausspricht. Jede Vorstellung von einer unpersönlichen irrationalen Macht ist hier aus dem Gottesbild ausgeräumt.

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Auf der Ebene des Alten Testaments spricht die Schrift des Deuterojesaja am deutlichsten von der Übertragung der vielen Gewalttaten auf den einen Schuldlosen. Desgleichen offenbart sich in ihr Jahwe auf persönlichste Weise, und er befähigt zugleich seinen Knecht zu einem ganz neuen gewaltfreien Verhalten. Schließlich findet sich in dieser Schrift die klarste Kritik des Götzendienstes und das eindeutigste Zeugnis des Monotheismus. Aus der Sicht der Theorie Girards ist dieses Zusammentreffen nicht zufällig. Entstehen die sakralen Vorstellungen aus aggressiven Projektionen, muß sich der wahre Gott dort am deutlichsten offenbaren, wo auch die Welt der Gewalt am entschiedensten von ihm abgehoben wird. Sind die Götter das Produkt von menschlichen Mechanismen, tritt er dort notwendigerweise am klarsten als Person in Erscheinung, wo dieser Mechanismus am weitesten aufgedeckt wird. Sind die Opfer rituelle Wiederholungen einer ursprünglichen kollektiven Gewalttat, gehört zur wahren Offenbarung auch eine durchgehende Kritik des Kultes.

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Die Schrift des Deuterojesaja legt schließlich auch eine Antwort auf jene zentrale Frage nahe, die wir weiter oben offenlassen mußten. Sind die prophetischen Verheißungen vom kommenden Reich der Gerechtigkeit und des Friedens subtile Selbsttäuschungen, da ihre Verwirklichung anscheinend immer ausblieb? - Deuterojesaja macht klar, daß Gott nicht auf mirakulöse Weise die Neigung zur Gewalt aus der Menschenwelt entfernt. Wohl aber befähigt er seinen Knecht (einzelne oder eine ganze Gemeinschaft), fremde Untaten zu tragen, ohne mit gleicher Münze heimzuzahlen. Das wahre Wesen der Gewalt wird dadurch entschiedener aufgedeckt, und selbst die vielen Übeltäter können wenigstens nachträglich zur Einsicht kommen.

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Gewiß, manches bleibt auch bei Deuterojesaja noch ungesagt. Der Text läßt bei der Frage, ob Gott die Verbrechen der vielen auf den Knecht lädt oder ob diese es selber tun, einen Raum offen. Desgleichen ist nicht ganz klar, wie Gott dem Knecht hilft. Dieser wird einerseits getötet, und anderseits heißt es von ihm, daß er lange leben wird (Jes 53,8 ff.). Anscheinend ist an

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das Weiterleben des Volkes gedacht, auch wenn viele einzelne getötet werden. Wie aber hilft Gott diesen Getöteten? - Unentschieden ist ferner, ob die Selbstreflexion Gottes durch die Worte »Ich bin es, der sagt: Ich bin da« nur eine menschliche Ausdrucksweise ist oder ob dadurch eine Polarität in Gott selber angedeutet wird. Desgleichen ist die Spannung zwischen Verheißung und Wirklichkeit auch hier noch keineswegs endgültig gelöst. Manche Texte des Deuterojesaja klingen so, als ob bald ein großer Wandel in der ganzen Welt eintreten werde. Dieser Neuanfang ist aber nicht gekommen. Die Schrift des Deuterojesaja blieb deshalb auch keineswegs der letzte alttestamentliche Text. Andere Entwürfe sind nach ihm entstanden, die das Handeln Gottes wieder in etwas anderer Weise interpretiert haben.

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Wäre Deuterojesaja das Zentrum des Alten Testaments, würde sich trotz der erwähnten Unklarheiten bereits jetzt die Folgerung aufdrängen, die Theorie Girards biete tatsächlich den geeignetsten Schlüssel für eine genuine Interpretation. Die späteren alttestamentlichen Autoren haben diesem Propheten aber keinen besonderen Platz eingeräumt. Seine Schriften wurden sogar unter dem Namen eines früheren Propheten, der im religiösen Bewußtsein anscheinend einen stärkeren Eindruck hinterlassen hatte, überliefert. Zudem blieben vor allem die Aussagen im vierten Lied vom Gottesknecht über das universale und stellvertretende Leiden während Jahrhunderten »wie ein erratischer Block unverstanden liegen« (127). Kein einziger biblischer Autor oder jüdischer Schriftsteller hat sie ausdrücklich aufgegriffen. Die alttestamentlichen Schriften können deshalb aus sich heraus nicht auf einen Nenner gebracht werden. Verschiedene Tendenzen bleiben nebeneinander stehen. Ein eigentliches Zentrum kann höchstens dann gefunden werden, wenn alle Schriften im Licht des Geschickes Jesu nochmals neu gedeutet werden. Eine solche Neuinterpretation ist legitim, da das Alte Testament selber eine Geschichte von ständigen Neuinterpretationen ist.

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3. Kapitel. Neues Testament: Jesus als Sündenbock der Welt

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Die Interpretation des Alten Testaments mußte sowohl wegen des summarischen Charakters der Untersuchung als auch aus grundsätzlichen Gründen offenbleiben. Die im vorangegangenen Kapitel kurz umrissene Sicht weist zwar in eine eindeutige Richtung, es bleibt aber unbewiesen, ob alle Texte so zu verstehen sind. Bei der Analyse der neutestamentlichen Schriften muß deshalb die Entscheidung über die Stichhaltigkeit der vorgetragenen Deutung fallen. Für Girard selber besteht kein Zweifel, daß in den Evangelien der Sündenbockmechanismus eine entscheidende Rolle spielt, ja daß dies die einzigen Schriften der Weltliteratur sind, in denen die verborgene Wahrheit ganz offenkundig wird:

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Dieser Mechanismus ist tatsächlich nirgends sichtbarer als in den Evangelien. Dies gilt in solchem Maße, daß die zu vollkommene Evidenz in ihr Gegenteil umschlägt. Wenn nämlich das Christentum nur eine der vielen Religionen wäre, dann müßte der Grundmechanismus wie bei den anderen verschleiert sein. Man könnte dann immer einwenden: du hast nicht richtig gesehen; du manipulierst die Texte. Hier ist dies aber unmöglich. Alles steht schwarz auf weiß und gleich in vier verschiedenen Texten auf einmal. Damit der Grundmechanismus der Gewalt wirksam ist, muß er im verborgenen bleiben. Hier aber ist er völlig bloßgelegt(128).

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Girard ist der Überzeugung, daß seine Theorie sich auf so evidente Weise in den Evangelien findet, daß jeder Einwand, die Texte würden von einer vorgefaßten Idee her manipuliert, hinfällig wird. Was für ihn schwarz auf weiß dasteht, hat bis jetzt allerdings kein anderer in dieser systematischen Kohärenz gesehen. Damit stellt sich unweigerlich die Frage, ob er nicht doch die Texte falsch oder zum mindesten einseitig interpretiert. Neben seinen eigenen kurzen Ausführungen zum Neuen Testament (129) ist deshalb eine umfassende Prüfung notwendig, die hier allerdings nur den großen Linien nach versucht werden kann.

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1. Die hermeneutische Frage

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Da Girard die neutestamentlichen Texte anders liest als die heute vorherrschende Exegese, stellt sich gleich von Anfang an mit aller Schärfe das hermeneutische Problem. Der Autor von »La violence et le sacré« ist zwar der Ansicht, keine völlige Neuerung einzuführen, sondern nur die Schriftinterpretation der Kirchenväter auf einer Ebene wieder aufzugreifen, die durch die moderne Kritik hindurchgegangen ist. Ob dies zutrifft, muß sich aber erst erweisen. Da zudem bereits die historischkritische Exegese dem hermeneutischen Problem eine große Beachtung schenkt, muß diese Frage angesichts der neuen Deutung noch brennender werden.

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Der richtige Einstieg in die hermeneutische Problematik ergibt sich nicht aus einer zufälligen modernen Fragestellung. Die Tatsache muß wegleitend sein, daß die neutestamentlichen Schriften selber diese Frage ausdrücklich thematisiert haben. Sie taten dies allerdings aus einer anderen Perspektive als die moderne Exegese, die vor allem durch Vergleiche mit außerbiblischen Religionen und durch naturwissenschaftlich bedingte Veränderungen des Weltbildes bewegt wurde. Im Neuen Testament entsprang die hermeneutische Problematik der Tatsache, daß die Mehrzahl der Juden die Verkündigung Jesu und das mit ihr zusammenhängende Verständnis der alttestamentlichen Schriften abgelehnt hat. Der Prophet aus Nazaret und die Urgemeinde waren überzeugt, daß alles Neue bereits »im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen« (Lk 24,44) vorausverkündet worden war. Die Juden bestritten aber diesen Anspruch. Gemäß der Darstellungsweise des Johannesevangeliums konnte Jesus deshalb seinen Widersachern entgegenhalten:

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Euer Kläger ist Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Wenn ihr Mose glauben würdet, müßtet ihr auch mir glauben, denn über mich hat er geschrieben (Joh 5,45 f.).

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Im Anschluß an die Verkündigung Jesu lehrte die Urkirche, daß die alttestamentlichen Schriften das Geschick ihres Herrn vorausverkündet haben. Ihre Gegner aber fanden gerade in den selben Schriften Argumente, daß er nicht der Messias sein konnte. Zwei grundverschiedene Deutungen der gleichen Texte standen sich gegenüber. Aus der Sicht Jesu und der Urgemeinde hatte die ablehnende Haltung der Juden ihren Grund darin, daß diese die Schriften zwar lasen, aber doch nicht richtig lasen, daß sie Augen hatten, aber doch nicht sahen.

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Die synoptischen Evangelien bringen die Gleichnisse, bei denen die Frage der Deutung besonders aktuell wurde, ganz in Zusammenhang mit diesem

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»sehen und doch nicht sehen«. Danach hat Jesus seine bildhafte Redeweise den Jüngern gegenüber mit folgenden Worten begründet:

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Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes anvertraut; jenen aber, die draußen sind, wird alles zum Rätsel; denn sie sollen mit ihren Augen sehen und doch nichts einsehen, mit ihren Ohren hören und doch nichts verstehen, damit sie sich nicht bekehren und ihnen nicht vergeben wird (Mk 4,11 f.: vgl. Mt 13,11 f.; Lk 8,10).

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Die Evangelien werfen hier im vollsten Sinn des Wortes ein hermeneutisches Problem auf. Es geht um die Frage des Verstehens und Einsehens. Der Grund für das Mißverstehen liegt nach ihnen aber nicht in falschen religionsgeschichtlichen Vergleichen oder in einem überholten Weltbild, sondern in der Verhärtung der Zuhörer (vgl. Mt 13,15). Die blinde Affektivität und der verstockte Wille spielen die entscheidende Rolle. Ähnlich urteilt Paulus, wenn er von der Mehrheit des jüdischen Volkes sagt:

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Was Israel erstrebt, hat nicht das ganze Volk, sondern nur der erwählte Rest erlangt; die übrigen wurden verstockt, wie in der Schrift steht: Gott gab ihnen einen Geist der Verblendung, Augen, die nicht sehen, und Ohren, die nicht hören, bis zum heutigen Tag (Röm 11,7 f.).

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Wie bei den Synoptikern, so geht es auch in dieser Aussage des Paulus nicht um einige zweitrangige Fragen. Auf dem Spiel steht das Verständnis der Person Jesu als des Offenbarers und damit die Wahrheit Gottes in seinem geschichtlichen Handeln. Verstockung und Verblendung sind folglich die entscheidenden Faktoren der neutestamentlichen hermeneutischen Problematik. Gerade diese Faktoren haben aber in der modernen Fragestellung bisher keine genügende Aufmerksamkeit gefunden. Meistens wurden sie stillschweigend übergangen. Wäre mit der Verstockung nur ein individuelles moralisches Fehlverhalten gemeint, dürfte man mit Recht in der wissenschaftlichen Forschung davon absehen. Man könnte ruhig zugestehen, daß zwar einzelne Forscher aus subjektiven Gründen immer wieder einer gewissen Verblendung und falschen Interpretationen verfallen. Es bliebe dennoch die sichere Erwartung, daß individuelle Fehler von der ganzen Forschergemeinschaft immer wieder korrigiert und Fehlentwicklungen rechtzeitig aufgefangen würden.

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Anders stellt sich aber die hermeneutische Problematik, wenn man, wie die neutestamentlichen Schriften dies tun, mit einer kollektiven Verblendung rechnen muß. In diesem Fall hat sich die Forschergemeinschaft der Frage zu stellen, ob sie nicht in ihrer Gesamtheit kollektiven Irrtümern erliegt. Die Theorie Girards versteht den Menschen als ein leidenschaftliches Wesen, dessen Vernunft immer wieder von gesellschaftlichen Vorgängen gefangengenommen und hinters Licht geführt wird. Kollektive Verblendungen

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sind deshalb für sie etwas Selbstverständliches. Wie läßt sich aber angesichts dieser düsteren Perspektive ein sicherer Ausgangspunkt für die hermeneutische Frage finden? Fällt nicht jeder Ansatz gleich unter den Verdacht, selber das Produkt einer umfassenden Verstockung zu sein? - Diese schwierige Problematik kann hier nicht in ihrer ganzen Breite aufgerollt werden. Wir können aber bereits jetzt festhalten, daß Girard und die neutestamentlichen Schriften sich insofern treffen, als beide sich der Möglichkeit und Tatsächlichkeit kollektiver Verblendungen klar bewußt sind. Girard glaubt ferner, genau jenen Mechanismus aufgedeckt zu haben, der zur kollektiven Täuschung führt. In den alttestamentlichen Schriften haben wir zudem sehr viele überraschende Parallelen zur Theorie des Sündenbocks gefunden, und die neutestamentlichen Texte betonen schließlich, daß es bei der Verblendung sowohl um ein Problem des Willens wie der Erkenntnis geht.

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Paulus sagt von der Mehrheit Israels, daß es verstockt wurde (Röm 11,7). Zugleich bescheinigt er seinen jüdischen Brüdern ausdrücklich, »daß sie Eifer haben für Gott«, nur aber ist es ein »Eifer ohne Erkenntnis« (Röm 10,2). Ihnen fehlt es nicht am Einsatz. Wohl aber verkehrt irgendein untergründiges Streben ihre Erkenntnis. Sie leben deshalb nicht in jener Wahrheit, die sie sich einreden. - Das Lukasevangelium fällt ein ähnliches Urteil. Nach ihm schließt Jesus die große Wehrede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten mit dem Vorwurf, sie hätten die wahre Erkenntnis verhindert:

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Weh euch Gesetzeslehrer! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis beiseite geschafft. Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert (Lk 11,52; vgl. Mt 23,13).

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Die Pharisäer und Schriftgelehrten werden in den synoptischen Evangelien oft als Heuchler bezeichnet. Der zitierte Text zeigt, daß damit nicht irgendein moralisches Fehlverhalten neben vielen anderen möglichen Untugenden gemeint ist. Es geht nicht um etwas Eitelkeit. Auf dem Spiel steht die ganze Frage der Wahrheit. Die Pharisäer sind Heuchler, weil sie »den Schlüssel zur Erkenntnis« beiseite geschafft haben. Fehlt dieser Schlüssel, wird alles falsch verstanden. Der beste Eifer führt in die Irre, weil er ohne Erkenntnis ist.

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Unter den vielen neutestamentlichen Texten findet sich eine Aussage, die nach dem Urteil Girards in gedrängtester Form genau jenen hermeneutischen Schlüssel bietet, durch den der Weg zur vollen Erkenntnis geöffnet wird. In diesem Text wird die Problematik der kollektiven Verblendung und ihrer Überwindung ausdrücklich thematisiert. Der gemeinte Vers lautet:

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Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.

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Die Bauleute sehen den Stein, alle zusammen aber halten ihn für untauglich, ja für gefährlich und verwerfen ihn deshalb. Doch sie sind verblendet; sie sehen und sehen in Wahrheit nicht. Gerade der von ihnen verworfene Stein wird zum Eckstein. Zwei grundverschiedene Interpretationen der gleichen Wirklichkeit stehen einander gegenüber: die Sicht der Bauleute und die der neutestamentlichen Texte. Beide Deutungen bleiben aber nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen. Sie treffen sich in der Verwerfung des einen Steins. Die kollektive Verblendung der Bauleute ist ein integrierender Teil jenes Vorgangs, durch den der Stein zum Eckstein wird.

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Das Wort vom verworfenen Stein hat eindeutig eine hermeneutische Dimension. Es vermag zwei ganz verschiedene Sichten ineinander zu artikulieren. Bevor es aber, wie Girard vorschlägt, zum »Schlüssel der Erkenntnis« genommen wird, ist zu prüfen, ob die neutestamentlichen Schriften selber ihm eine derart zentrale Bedeutung beimessen.

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In allen drei synoptischen Evangelien findet sich die Aussage über die Bauleute im direkten Anschluß an das Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,10 par.) und dient dazu, die Parabel zusammenfassend zu interpretieren. Das Gleichnis selber wurde von Jesus auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern während der letzten Tage vor seinem Tod gesprochen. In der kritischen Forschung ist allerdings umstritten, ob diese Erzählung auf ihn selber zurückzuführen ist. Wir halten ihren vorösterlichen Ursprung zwar für wahrscheinlich (130), machen unsere Interpretation aber keineswegs von dieser Annahme abhängig.

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Nach der Darstellung der synoptischen Evangelien kommt dem Gleichnis von den bösen Winzern eine besondere Bedeutung zu. Jesus deutet darin seine Auseinandersetzung mit den Gegnern, indem er sein Leben vom gewaltsamen Geschick der alttestamentlichen Boten her begreift (131) und zugleich einen ganz neuen und einmaligen Anspruch erhebt. Durch die Parabel stellt er sich im Unterschied zu den vielen Knechten als den »geliebten Sohn« dar, den aber das gleiche Geschick wie diese erwartet. Er wird gepackt und umgebracht. Drei ganz entscheidende Elemente treffen in diesem Gleichnis zusammen: der Anspruch Jesu, der geliebte Sohn zu sein - seine Auseinandersetzung mit den gewaltsamen Gegnern - die Situierung seiner Sendung innerhalb des Handelns Gottes gegenüber dem halsstarrigen Volk.

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Für unsere Deutung ist dabei besonders zu beachten, daß die Parabel gerade jenen Aspekt im Geschick der alttestamentlichen Propheten als zentralen Punkt heraushebt, den wir unabhängig davon im vorausgehenden Kapitel ebenfalls betont haben.

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Das wichtige Gleichnis von den bösen Winzern wird in allen drei synoptischen Evangelien durch das Wort vom verworfenen Stein abschließend gedeutet. Diente bereits die Parabel dazu, die ganze Auseinandersetzung zwischen Jesus und seinen Gegnern zusammenzufassen, so bringt das abschließende Wort seinerseits die Parabel auf ihre letzte Essenz. In ihm wird gleichsam das Evangelium zusammengefaßt. Dem Wort vom verworfenen Stein kommt folglich eine zentrale hermeneutische Bedeutung zu. Er darf als »Schlüsselwort« gelten.

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Der zentrale Stellenwert des Wortes von den Bauleuten wird durch die Tatsache zusätzlich unterstrichen, daß es sich um ein Zitat aus dem Alten Testament handelt. Wie die Parabel auf die Propheten hinweist, so stellt dieses Wort eine Beziehung zu den liturgischen Liedern Israels her. Es stammt aus Psalm 118, einem Danklied, das wir bereits im vorausgehenden Kapitel besonders gewürdigt haben. In ihm wird die Rolle der Gewalttäter sehr ausführlich beschrieben. Zugleich weist dieser Psalm eine besondere Nähe zum Lied vom Leidensknecht auf. Wenn die synoptischen Evangelien gerade von da her das Gleichnis von den bösen Winzern abschließend deuten, messen sie dem Psalmwort einerseits eine zentrale hermeneutische Bedeutung für das Neue Testament zu und liefern anderseits eine erste Bestätigung für die oben vorgelegte Interpretation der alttestamentlichen Schriften. Worin besteht aber der besondere hermeneutische Wert des Wortes vom verworfenen Stein? Sieht die Parabel in der materiellen Gier der bösen Winzer den Grund für die Tötung des Sohnes, so geht das deutende Psalmwort einen Schritt weiter. Es zeigt, daß gerade durch die Verwerfung des Sohnes die verborgene Wahrheit sichtbar wird. Die kollektive Verblendung dient der Offenbarung.

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Trifft sich die Sicht der synoptischen Evangelien mit der anderer neutestamentlicher Schriften? Das Wort vom verworfenen Stein findet sich auch in der Apostelgeschichte. In ihr wird mehrfach erzählt, wie die Apostel, vor allem Petrus und Paulus, vor dem Volk gepredigt haben, und der Inhalt dieser Predigt läßt sich fast immer auf die Formel bringen: jenen gerechten Knecht, den die Juden verfolgt und getötet haben, hat Gott auferweckt und zum Retter und Richter eingesetzt (Apg 2,23f.36; 3,13ff.; 4,10f.; 5,30; 10,39f.; 13,27-30). Im Rahmen dieser Verkündigung fällt auch das Wort vom verworfenen Stein. Petrus sagt vor dem Hohen Rat nach der Heilung eines Gelähmten:

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Wenn wir heute wegen einer guten Tat an einem kranken Menschen darüber vernommen werden, durch wen er geheilt worden ist, so sollt ihr alle und das ganze Volk Israel wissen: im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat. Durch ihn steht dieser Mann gesund vor euch. Er ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und durch keinen anderen kommt die Rettung (Apg 4,9-12).

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Petrus ändert bei der Zitierung von Psalm 118 ganz leicht die alttestamentliche Aussage, indem er den Stein ausdrücklich mit Jesus und die Bauleute mit den Juden identifiziert. Er legt so die gleiche Interpretation vor wie die synoptischen Evangelien, die mittels des Gleichnisses von den bösen Winzern den Psalmvers ebenfalls auf Jesus umgedeutet haben. Die Rede des Petrus vor dem Hohen Rat bezeugt ferner, daß mit dem Wort vom verworfenen Stein nichts anderes als eine Kurzfassung des urchristlichen Kerygmas gemeint ist. Es bietet nicht irgendeine Teilwahrheit oder eine neben vielen anderen möglichen Aussagen. Es bringt vielmehr in äußerst knapper Form das zentrale Ereignis im Geschick Jesu zur Sprache. Nach der Darstellungsweise der synoptischen Evangelien kündet der Prophet aus Nazaret durch den Psalmvers seinen nahe bevorstehenden Tod und seine Auferweckung an. In der Apostelgeschichte schaut die Urgemeinde auf das Geschick ihres Meisters zurück, und Petrus verkündet mit dem gleichen Wort, daß Jesus, den die Juden verworfen und getötet haben, von Gott auferweckt und zum Eckstein gemacht wurde. Trotz der unterschiedlichen Perspektive ist die Aussage inhaltlich identisch.

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Vom verworfenen Stein ist auch im ersten Petrusbrief die Rede. Der erste Teil dieser Schrift (1,3-25) handelt vom Ziel und vom Weg des Glaubens. In 2,1-10 folgen Ausführungen über den lebendigen Stein, und gleich anschließend finden sich viele Aussagen und Ermahnungen zum christlichen Leben (2,11 - 4,11). Der Text über den lebendigen Stein ist demnach als Zentrum des Briefes zu werten. In ihm wird der Inhalt des christlichen Glaubens beschrieben. Dabei taucht in leicht veränderten Fassungen gleich zweimal das Wort vom verworfenen Stein auf:

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Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist. Laßt euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen! Denn es heißt in der Schrift: Seht, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen Eckstein, den ich in Ehren halte; und wer an ihn glaubt, geht nicht zugrunde. Euch, die ihr glaubt, gilt diese Ehre. Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden, zum Stein, an den man stößt, und zum Felsen, über den man stürzt (1 Petr 2,4-8).

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Diesen dichten Text brauchen wir nicht bis in alle Einzelheiten zu analysieren. Festzuhalten ist, daß in ihm neben dem Wort vom verworfenen

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Stein auch Jes 28,16 mit dem Bild vom auserwählten Stein aufgegriffen wird. Desgleichen findet sich ein deutlicher Hinweis auf Jes 8,14, wo von einem Stein, über den man stolpert, und von einem Felsen, an dem man zu Fall kommt, die Rede ist. Durch diesen Kontext erhält das Wort aus Psalm 118 eine zusätzliche Bedeutung. Die Bauleute verwerfen nicht bloß jenen Stein, der von Gott auserwählt worden ist, sie stoßen sich auch an ihm und stürzen über ihn. Es zeigt sich folglich, daß im Psalmwort der Gedanke des Gerichtes mitenthalten ist.

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Noch unter einer anderen Rücksicht nimmt der erste Petrusbrief eine Erweiterung vor. Mit den Bauleuten sind nicht mehr allein, wie in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, die verstockten Söhne Israels gemeint. Der Brief spricht ganz allgemein von »den Menschen« (2,4) oder von »jenen, die nicht glauben« (2,7). Er umschreibt durch das Wort vom verworfenen Stein die Auseinandersetzung aller (ungläubigen) Menschen mit Jesus. Daraus ergibt sich die Folgerung, daß die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer in den synoptischen Evangelien und das Volk Israel in der Apostelgeschichte stellvertretend für alle nichtglaubenden Menschen stehen. Konnte dort die Frage offenbleiben, ob mit dem Wort vom verworfenen Stein insofern nur eine Teilwahrheit gemeint sei, als dadurch ausschließlich das Verhältnis zwischen Jesus und Israel beschrieben werde, so gibt der erste Petrusbrief eine klare Antwort. Er deutet mit dem gleichen Wort das Verhalten aller (ungläubigen) Menschen.

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Dieses wichtige und für die folgende Interpretation sogar entscheidende Ergebnis ist an anderen neutestamentlichen Schriften näher zu prüfen. In der Rede des Apostels Paulus auf dem Areopag in Athen, in einer Rede also, die nach dem Verständnis der Apostelgeschichte ausschließlich für nicht-jüdische Ohren bestimmt war, findet sich keine Aussage, die auch nur indirekt an das Psalmwort erinnern würde. Der Heidenapostel spricht zwar von der Auferweckung Jesu, mit keinem Wort aber von seiner Verwerfung. Ist dies nicht ein Zeichen, daß in der Apostelgeschichte mit den Bauleuten nur die Juden (oder die führenden Schichten der Juden) gemeint sind?

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Als wichtige Interpretationsregel ist zu beachten, daß aus einem einzelnen Text nur mit Vorsicht allgemeine Folgerungen gezogen werden können. Vor allem aber geht es nicht an, aus dem Fehlen einer Aussage auf ihre Ablehnung zu schließen. Der Vortrag, den die Apostelgeschichte dem Paulus in den Mund legt, enthält nicht alle paulinischen Gedanken. Tatsächlich zeigen die Briefe des Heidenapostels, daß dieser auch nicht-jüdischen Zuhörern gegenüber keineswegs die Verwerfung Jesu verschwiegen hat. Er unterstreicht sogar sehr deutlich, daß das Wort vom Kreuz den Juden wie den Griechen in gleicher Weise unverständlich ist:

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Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als Gekreuzigten: für Juden ein Anstoß, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit (1 Kor 1,18-24).

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Zwischen Juden und Griechen besteht in bezug auf das Kreuz Christi kein grundlegender Unterschied (vgl. Röm 2,1-3,20). Wer letztlich nur sichtbare Zeichen oder menschliche Weisheit sucht, hat keinen Zugang zum Gekreuzigten. Als zusätzliche Frage stellt sich allerdings, ob Juden und Heiden den Mann am Kreuz in gleicher Weise ablehnen. Paulus scheint nämlich einen Unterschied zu machen, indem er sagt, der Gekreuzigte sei für die Juden ein Anstoß, für die Griechen aber eine Torheit. Das Wort Anstoß erinnert an den »Stein des Anstoßes«, von dem Paulus selber im Römerbrief spricht (9,32). Er deutet dadurch an, daß Jesus von den Juden gewaltsam abgelehnt wurde. Spielte die Gewalt aber auch in der Ablehnung des Wortes vom Kreuz durch die Griechen eine wesentliche Rolle? Diese Frage ist für unsere Interpretation von großer Tragweite. An ihr entscheidet sich, ob der Problematik der Gewalt im ganzen Neuen Testament jene zentrale Bedeutung zukommt, die ihr die bisher analysierten Texte beimessen. Im zitierten Wort erwähnt Paulus bei der Ablehnung Christi durch die Heiden die Gewalt nicht ausdrücklich. Als Grund gibt er vielmehr an, daß die Verkündigung des Gekreuzigten für sie eine Torheit ist. Was ist mit dieser Torheit letztlich gemeint? Der Gedanke liegt nahe, daß sie etwas mit jener Verblendung und Verstockung zu tun haben könnte, die der Grund war, weshalb die Juden Jesus getötet haben. Das Wort Torheit allein berechtigt aber noch nicht zur Annahme, Paulus weise damit indirekt auf jene Gewalt hin, die sich selber zu verstecken sucht und zur Verblendung führt.

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Ein Text führt uns weiter, der sich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wort von der Torheit findet. Gleich nach der Darstellung der Botschaft vom Kreuz (1 Kor 1,18-31) stellt sich Paulus selber als Künder der Weisheit Gottes vor (1 Kor 2,1-3,4). In diesem Zusammenhang schreibt er:

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Wir verkündigen das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätte einer sie erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt (1 Kor 2,7 f.).

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In diesem Text stellt Paulus eine Beziehung zwischen allen Machthabern der Welt und Jesus Christus her. Nicht bloß die Juden, sondern alle Archonten haben die verborgene Weisheit Gottes nicht erkannt und sind deshalb verantwortlich für die Kreuzigung des »Herrn der Herrlichkeit«. Was sich Paulus bei dieser Aussage genau vorgestellt haben mag, können wir

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hier offenlassen. Auf alle Fälle nimmt er keine Macht der Erde aus. Weil keine Christus als den Herrn erkannt hat, wurde er gekreuzigt. Alle sind demnach verantwortlich für sein gewaltsames Geschick.

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Auf die eingangs aufgeworfene hermeneutische Frage können wir nun eine erste Antwort geben. Dem Wort vom verworfenen Stein kommt, wie Girard annimmt, in den neutestamentlichen Schriften tatsächlich eine zentrale Bedeutung zu. Es umschreibt in kürzesten Worten die Auseinandersetzung zwischen Jesus und seinen Gegnern, ja das ganze Geschick dessen, der von seinem Volk und von allen (ungläubigen) Menschen verworfen, von Gott aber auserwählt wurde. Dieser hermeneutische Schlüssel ist nicht bloß formaler Art. Er bietet eine inhaltliche Kurzfassung des urchristlichen Kerygmas. Er weist auf die zentrale Rolle der Gewalt in der Ablehnung Jesu hin. Der verworfene Stein ist der geliebte Sohn, der von den bösen Winzern gepackt und umgebracht wurde. Zugleich spricht das Wort vom verworfenen Stein aus, wie Gott gerade den Getöteten auserwählt und zum Eckstein gemacht hat. Aufgrund dieser Feststellung muß sich die kommende Untersuchung von der hermeneutischen Regel leiten lassen, daß der Gewalt in der Auseinandersetzung um Jesus eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Es ist zu fragen, ob sie der Grund für die kollektive Verblendung ist und wie Gott diese böse Macht überwindet.

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2. Der untergründige Wille zum Töten und die Lüge

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Nach Girard neigen alle Menschen zur Gewalt. Es gibt demnach einen heimlichen Grundzustand, der als Krieg aller gegen alle beschrieben werden kann. Das Alte Testament trifft sich mit dieser Theorie, insofern die Propheten dem Volk und den Völkern immer wieder vorwarfen, daß sie Bluttat an Bluttat reihten. Soll diese Übereinstimmung bestätigt werden, muß die Verkündigung Jesu den gleichen verborgenen Grundzustand aufdecken. Es muß sich zeigen, daß durch die volle Offenbarung der Liebe Gottes auch der heimliche, in allen menschlichen Herzen wirkende Wille zum Töten voll bloßgelegt wurde.

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In Israel gab es zur Zeit Jesu tatsächlich viele Feindschaften. Verschiedene Gruppen rivalisierten um die Gunst der Mehrheit des Volkes und befehdeten sich gegenseitig. Dabei kam es zu Mordtaten. Es wäre jedoch übertrieben, wollte man den Zustand Palästinas während der Wirksamkeit Jesu als

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den einer offenen und allseitigen Gewalttätigkeit bezeichnen. Im Lande herrschte eine relative Ordnung. Israel war allerdings nicht mehr Herr seines eigenen Geschicks. Die äußere Ordnung wurde durch die römische Besatzungsmacht einigermaßen aufrechterhalten, durch eine Weltmacht, die gemäß der Theorie Girards noch durch einen fast ungebrochen wirkenden Sündenbockmechanismus stabilisiert wurde. Die in Israel latent vorhandenen Spannungen konnten sich deshalb nicht offen auswirken. Die Aufdeckung des verborgenen Zustandes mußte zunächst durch das Wort erfolgen. Entscheidend ist deshalb, was Jesus und die neutestamentlichen Schriften zum untergründigen bösen Willen des Menschen sagen.

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a) Die Ankündigung der Zerstörung des Tempels

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Das Markusevangelium erzählt, wie ein Jünger beim Verlassen des Tempels Jesus einmal auf die mächtigen Steine und Bauten aufmerksam gemacht hat. Die Antwort des Meisters war aber nicht die eines zustimmenden Staunens. Er nahm den Hinweis zum Anlaß einer düsteren Prophezeiung:

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Siehst du diese großen Bauten? Kein Stein wird auf dem andern bleiben, alles wird niedergerissen (Mk 13,2).

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Daß die Ankündigung der Zerstörung des Tempels auf Jesus selbst zurückgeht, dürfte wahrscheinlich sein. Wir können diese historische Frage aber offenlassen. Wichtiger ist, daß im Kontext des Evangeliums Jesus nicht bloß ein Einreißen der steinernen Bauten meinte. Der Tempel war das sichtbare Zentrum Israels. Blieb bei ihm kein Stein auf dem anderen, mußte das ganze Volk vom gleichen Schicksal getroffen werden. In Israel konnte niemand von einer künftigen Zerstörung des Tempels reden, ohne unmittelbar die Vorstellung von einem vergangenen Ereignis wachzurufen. Bei der ersten Zerstörung des Tempels war nicht nur das steinerne Gebäude eingerissen worden. Die feindlichen Heere hatten die ganze Stadt zerstört, einen Teil des Volkes hingeschlachtet und einen anderen in die Gefangenschaft deportiert. Längst vor diesem bitteren Geschehen hatten die Propheten den inneren Zustand Israels verurteilt und verkündet, daß sich Bluttat an Bluttat reiht. Im Untergang der Stadt und in der Hinschlachtung ihrer Bewohner konnten sie deshalb nur ein Gericht Gottes sehen, durch das die üblen Taten auf das Haupt der Täter zurückfielen. Die erlittenen Gewalttaten offenbarten die Wahrheit des eigenen früheren Tuns.

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Die Ankündigung Jesu, daß kein Stein des Tempels auf dem anderen blei

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ben werde, ist in diesem Licht zu sehen. Sie meint ein ähnlich gewalttätiges, ja vielleicht noch gewalttätigeres Geschehen als bei der ersten Tempelzerstörung. Im Lukasevangelium findet sich denn auch ein Wehwort gegen Jerusalem, das neben der Zerstörung der Stadt ausdrücklich die Vernichtung ihrer Bewohner voraussagt.

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Es wird eine Zeit für dich kommen, in der deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein auf dem andern lassen; denn du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt (Lk 19,43 f).

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Wiederum kann offenbleiben, ob die Rede vom Zerschmettern der Kinder auf Jesus selbst zurückgeht. Gemäß der Aussagestruktur des Evangeliums meint die Zerstörung des Tempels und der Stadt auf alle Fälle ein äußerst gewaltsames Ereignis, ein Gericht über alle ihre Bewohner, weil die Stadt die Zeit der Gnade nicht erkannt hat. Das Gericht deckt aber nur auf, was vorher schon wirksam war. Die früheren heimlichen Taten fallen offen auf das Haupt der Schuldigen zurück.

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Die jüdischen Freiheitskämpfer, die Gruppe der sogenannten Zeloten, haben es wenige Jahrzehnte nach dem Tode Jesu erreicht, daß im ganzen Lande ein offener Aufstand gegen die Römer losbrach. Der begonnene Aufruhr entwickelte sich jedoch keineswegs zu einem glorreichen Freiheitskampf. Er führte vielmehr zu einer äußerst bitteren Selbstzerfleischung und zu blutigen Kämpfen zwischen rivalisierenden jüdischen Gruppen. Selbst als das ganze Land von den Römern zurückerobert und Jerusalem von allen Seiten eingekreist war, gingen im Inneren der belagerten Stadt die Streitigkeiten, ja ein gegenseitiges Abschlachten weiter. Je aussichtsloser die Lage wurde, desto verbitterter und verstockter reagierten die angeblichen Kämpfer für die Sache Gottes (132).

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Die Ereignisse bei der zweiten Zerstörung Jerusalems sind als eine Offenlegung dessen zu verstehen, was unterschwellig schon zur Zeit Jesu wirksam war und was er durch sein Wort von der künftigen Zerstörung im voraus ans Tageslicht gehoben hat. Sie zeigen einen Grundzustand auf, der als wechselseitige und äußerst bittere Gewalttätigkeit bezeichnet werden muß. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob damit nur der Grundzustand des damaligen Israel oder der aller Menschen gemeint ist. Die synoptischen Evangelien beantworten diese Frage durch den Kontext, in den sie die Aussagen über den Untergang Jerusalems stellen.

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Die Ankündigung Jesu betreffs der Zerstörung des Tempels bildet bei allen

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drei Synoptikern den Anfang der großen Rede über die Endzeit. Unmittelbar danach folgt eine lange Beschreibung der Not aller Völker. Das Geschick Jerusalems wird auf diese Weise fast nahtlos mit dem der ganzen Menschheit verflochten. Über die künftigen Ereignisse unter den Völkern aber sagt Jesus zu seinen Jüngern:

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Wenn ihr von Kriegen und von Gerüchten über Kriege hört, laßt euch nicht ecschrecken! Das muß so kommen: es ist aber noch nicht das Ende. Denn ein Volk wird sich gegen das andere erheben, und ein Reich gegen das andere. Und an vielen Orten wird es Erdbeben und Hungersnöte geben (Mk 13,7 f.).

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Bei der Beschreibung der endzeitlichen Not werden zwar auch Erdbeben und Hungersnöte genannt. Der entscheidende Schrecken besteht aber darin, daß Kriege ausbrechen. Die in den Menschen wirksame Neigung zur Gewalt entlädt sich auf der Ebene der Menschheit - ähnlich wie bei der Zerstörung Jerusalems - in allgemeinen Aufständen, bei denen sich Volk gegen Volk und Reich gegen Reich erhebt.

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Gewalttaten brechen nicht bloß im politischen, sondern auch im individuellen und familiären Bereich auf. Auf die Ankündigung der Kriege folgen bei allen drei Synoptikern Prophezeiungen über die kommenden Verfolgungen um des Evangeliums willen. Das Markusevangelium hebt dabei besonders hervor:

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Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder werden sich gegen ihre Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken (Mk 13,12; vgl. Lk 21,16).

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In der Endzeit werden die Konflikte zwischen den Menschen so stark sein, daß selbst die intimsten familiären Bande sie nicht mehr heilen, ja sie nicht einmal mehr zudecken können. Zwar ist von der tödlichen Verfolgung in den Familien nicht allgemein, sondern nur im Zusammenhang mit dem Evangelium die Rede. Dieses dürfte aber gerade deshalb zum Anlaß besonderer Feindschaften werden, weil es die verborgene Wahrheit zwischen Brüdern und zwischen Völkern aufdeckt.

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Um die erwähnten Aussagen in ihrer vollen Tragweite zu verstehen, ist auf den eigentlichen Sinn der apokalyptischen Texte zu achten. Die neutestamentlichen Schriften meinen mit der Endzeit nicht Ereignisse, die erst in einer unbestimmten Zukunft zu erwarten wären. Sie heben vielmehr durchwegs hervor, daß mit dem Kommen Jesu das eigentliche »Ende« bereits begonnen hat. Gott hat sich in ihm als dem eschatologischen Gesandten endgültig geoffenbart und dabei zugleich die dunklen Abgründe des menschlichen Herzens ganz offengelegt. Was von der Endzeit gesagt wird, gilt deshalb bereits von der durch Jesu Kommen eröffneten Gegenwart.

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Schon jetzt wird durch ihn der Grundzustand der Menschheit enthüllt. Wollte man die Aussagen über die Gewalttätigkeit zwischen den Völkern und zwischen Gliedern der gleichen Familie nur auf eine unbestimmte Zukunft beziehen, wäre dies erneut ein Versuch, die Wahrheit zu verdunkeln und den Schlüssel der Erkenntnis beiseite zu schaffen. Die Rede von der Zerstörung des Tempels und von den endzeitlichen Kriegen zeigt auf, was bereits in der Gegenwart von Israel und von der ganzen Menschheit gilt.

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b) Die Wehrede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer

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Der Rede über die Endzeit gehen bei allen drei Synoptikern Worte Jesu gegen die Pharisäer voraus. Das Mattäusevangelium hat die Anklagen zu einer eigentlichen Wehrede entfaltet (Mt 23,1-39), während sich bei Lukas manche Drohworte an einer früheren Stelle finden (Lk 11,39-52) und Markus nur ein kurzes Wort überliefert (Mk 12,37b-40). Da in den synoptischen Evangelien die Schriftgelehrten und Pharisäer die eigentlichen Widersacher Jesu sind, werden in den Worten gegen sie jene verborgenen Kräfte und Mächte bloßgelegt, die für die Ablehnung seiner Botschaft und seiner Person letztlich verantwortlich sind. Jesus wirft nun seinen Gegnern zunächst ihre falsche Gesetzesinterpretation und ihre Blindheit für den wahren Willen Gottes vor. Danach folgt aber als Hauptvorwurf, sie seien die wahren Söhne der Prophetenmörder.

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Jesus setzt mit seiner Kritik beim damaligen Brauch an, den Propheten Gräber zu errichten(133). Er sieht darin eine verlogene Handlung. Durch die Errichtung der Gräber und durch das Schmücken der Denkmäler werden die verstorbenen Propheten und Gerechten zwar geehrt. Gemäß dem Mattäusevangelium distanzieren sich die Schriftgelehrten und Pharisäer in Worten sogar ausdrücklich vom Tun ihrer Täter. Sie sagen:

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Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden (Mt 23,30).

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Die geistigen Führer Israels sind sich folglich sehr bewußt, daß ihre Väter sich täuschen ließen und bei der Verfolgung der Propheten schuldig geworden sind. Trotz dieses lebendigen Beispiels, das sie sich durch die Errichtung der Gräber ausdrücklich vor Augen stellen, lassen sie sich selber aber nicht warnen. Die Distanzierung vom Tun ihrer eigenen Väter wäre wahrhaftig, wenn sie, belehrt durch die schlechten Beispiele ihrer Vorfahren, auf

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den Gesandten Gottes, der in der Gegenwart zu ihnen spricht, hören würden. Gerade dies tun sie aber nicht. Sie bekennen zwar, daß ihre Väter Mörder an den Propheten waren, merken aber nicht, daß sie Jesus gegenüber aus genau dem gleichen Geist heraus handeln. Er hält ihnen deshalb entgegen:

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Damit zeigt ihr selbst, daß ihr die wahren Söhne der Prophetenmörder seid. Macht nur das Maß eurer Väter voll! (Mt 23,31 f.).

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Der zentrale Vorwurf gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer lautet demnach auf Lüge und Gewalttat. Ihre Einsicht in die Bluttaten und in den Selbstbetrug ihrer Väter vermag sie nicht zu warnen und zu echter Selbsterkenntnis zu führen. Die Warnung dient ihnen im Gegenteil nur dazu, die Wahrheit über sich selber noch mehr zu verschleiern. Sie haben die vergangenen ungerechten Gewalttaten vor Augen, distanzieren sich davon, merken aber nicht, daß sie genau das gleiche tun. Eine doppelte Verkehrung und Gewalttätigkeit ist im Spiel. Bereits die Väter hatten ein verkehrtes Herz und haben gemordet. Die lippenhafte Distanzierung von diesen Untaten dient aber nur dazu, eine noch untergründigere Verkehrung und Gewalttat zu verbergen. Die Väter haben nicht aus voller Einsicht gehandelt. Die Pharisäer haben jedoch ganz klar das Beispiel derer vor Augen, die sich über sich selbst getäuscht und sich an den Gesandten Gottes vergriffen haben. Dennoch bewegt sie dieses Beispiel nicht, nach der Möglichkeit eines ähnlichen Selbstbetrugs zu fragen.

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Die Projektion der eigenen Aggression auf andere bleibt den Gewalttätern unbewußt. Wird durch die Offenbarung aber die verborgene Neigung ans Licht gehoben, werden die Menschen vor die Entscheidung gestellt, die Wahrheit über das eigene Tun anzuerkennen oder sie von nun an in bewußter Verstockung abzulehnen und damit zu Lügnern und Heuchlern zu werden. Die Schriftgelehrten und Pharisäer konnten bereits auf eine lange Offenbarungsgeschichte zurückblicken und am Beispiel ihrer Väter ablesen, wie Menschen einer blinden Gewalt verfallen. Die alttestamentlichen Schriften vermittelten ihnen eine beträchtliche Einsicht in jenen Mechanismus der Gewalt, der zum Selbstbetrug führt. Dennoch ließen sie sich nicht warnen. Die synoptischen Evangelien reden deshalb nirgends von einer unbewußten Neigung. Jesus wirft den Pharisäern und Schriftgelehrten ausdrücklich vor, daß sie die wahren Söhne der Prophetenmörder sind, und er

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klagt sie offen der Heuchelei (134) an. Im Mattäusevangelium taucht dieser Vorwurf an zehn verschiedenen Stellen auf, und im Lukasevangelium warnt Jesus seine Jünger ausdrücklich:

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Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, das heißt vor der Heuchelei (Lk 12,1).

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Der doppelte Vorwurf der Gewalttat und der Lüge findet sich noch an einer anderen Stelle innerhalb der gleichen Wehrede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten. In der Version des Mattäusevangeliums lautet er:

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Ihr seid wie die Gräber, die weiß angestrichen sind und äußerlich schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen von Toten und voll Fäulnis (Mt 23,27).

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Das schöne Äußere verbirgt nur eine innere Fäulnis. Diesen Gegensatz zwischen außen und innen bringt die Version des Lukasevangeliums noch deutlicher zum Ausdruck:

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Weh euch! Ihr seid wie Gräber, die man nicht mehr sieht; die Leute gehen darüber, ohne es zu merken (Lk 11,44).

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Das Grab verbirgt die Fäulnis. Die Pharisäer sind jedoch solche Gräber, die sich selbst nochmals verbergen. Die Leute sehen nicht nur die Fäulnis nicht. Sie merken nicht einmal mehr, daß Gräber da sind, die etwas verbergen. Die Verdeckung ist so vollkommen, daß selbst der Gedanke, etwas könnte verborgen sein, nicht mehr hochkommt (135). Wo die Neigung zum Töten nicht ausdrücklich in Erscheinung tritt, ist noch längst keine Gewähr, daß sie nicht trotzdem unterschwellig wirksam ist. Selbst dort, wo zunächst nicht einmal eine Vermutung vorliegt, kann sie unumschränkt herrschen. Der Prophetenmord führt zu einer so vollkommenen Lüge, daß den Leuten nicht einmal die Ahnung kommt, es könnte ein Unrecht geschehen sein.

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Im Mattäus- und Lukasevangelium weitet Jesus seine Anklage gegen die Pharisäer, Mörder zu sein, unmittelbar auf Jerusalem, ja auf die ganze

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Menschheit aus. Bei Lukas geschieht dies, indem er ein Wort der Weisheit zitiert. Im Mattäusevangelium sagt er (als personifizierte Weisheit) von sich selber:

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Darum seht: Ich werde Propheten, Weise und Schriftgelehrte zu euch senden. Einige von ihnen werdet ihr töten, ja sogar kreuzigen, andere in euren Synagogen geißeln und von Stadt zu Stadt verfolgen. So wird alles Blut über euch kommen, das auf Erden ungerecht vergossen wurde vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut des Sacharja, Berechjas Sohn, den ihr auf dem Vorhof zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt. Amen, ich sage euch: Das alles wird über diese Generation kommen. Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt werden (Mt 23,34-37).

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Dieser Text erinnert direkt an das Gleichnis von den bösen Winzern, in dem es ebenfalls heißt, daß die Pächter die Boten des Weinbergbesitzers geprügelt und getötet haben. In beiden Fällen wird durch einen kurzen heilsgeschichtlichen Überblick gezeigt, daß Israel sich nie zum Besseren bekehrt hat. Wieviele Propheten und Gerechte tatsächlich umgebracht wurden, wird nicht im einzelnen untersucht. Auch die Frage, auf welche Weise die Führer oder das Volk an den Morden beteiligt waren, bleibt unerheblich. Die Anklage zielt darauf, daß Israel letztlich immer vom gleichen Geist beherrscht war. Die einzelnen Mordtaten gewinnen aus der Sicht Jesu eine universale Bedeutung. Jerusalem kann, wie dies auf ähnliche Weise schon der Prophet Ezechiel getan hat, als jene Stadt definiert werden, die Propheten tötet und Boten steinigt. Sie ist die Stadt der bösen Winzer. Ihr wahrer Geist ist der Geist einer Mörderin.

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Dieses harte Urteil erstreckt sich nicht bloß auf Jerusalem und Israel. Gemäß dem zitierten Text spricht Jesus von allem Blut, das auf Erden vergossen wurde. Ausdrücklich nennt er Abel, der von seinem Bruder Kain erschlagen wurde. Die kainitische Ordnung mit ihrem Prinzip der siebenfachen Rache gehört nicht zur unmittelbaren Geschichte Israels. Die Bluttat Kains war aber nach jüdischem Verständnis der erste Mord in der Geschichte der Menschheit. Mit dem Hinweis auf diese Tat weitet Jesus folglich sein Urteil über Jerusalem auf die ganze vergangene Menschheitsgeschichte aus. Auch im Lukasevangelium wird vom Blut aller Propheten gesprochen, das » seit Erschaffung der Welt vergossen wurde« (Lk 11,50). Bei den alttestamentlichen Propheten konnten wir öfter feststellen, daß ihre Anklagen betreffs der Gewalt einen universalen Charakter haben. Die Vorwürfe Jesu wegen des Prophetenmordes richten sich zunächst zwar nur an die Pharisäer und Schriftgelehrten. Sie werden dann aber auf Jerusalem, auf die ganze Geschichte Israels, ja auf die ganze vergangene Menschheit ausgedehnt und erreichen so eine volle Universalität.

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Die Schriftgelehrten und Pharisäer als die wahren Söhne der Prophetenmörder handeln stellvertretend für alle Bluttäter seit der Erschaffung der Erde, seit der ersten Bluttat Kains an seinem Bruder Abel. Das harte Urteil Jesu über seine Gegner darf nicht in einem oberflächlichen moralischen Sinne mißverstanden werden. Paulus bescheinigt seinen ehemaligen Glaubensbrüdern ausdrücklich, daß sie Eifer hatten; und auch die historische Forschung weist nach, daß die Gruppe der Pharisäer nach üblichem Verständnis recht hochstehend war und sich subjektiv ehrlich bemühte, dem göttlichen Gesetz Hochachtung zu verschaffen. Daß Jesus über sie dennoch ein so scharfes Urteil sprechen konnte, zeigt, wie untergründig jener Geist des Tötens ist, den er in ihnen bloßlegte. Die Pharisäer haben diesen bösen Geist durch ihre Treue zum toten Buchstaben des Gesetzes verdeckt. Auf ähnliche Weise haben auch andere Menschen durch ihre Religionen und Kulturen die überall lauernde Gewalttätigkeit verborgen.

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Alles vergossene Blut wird - gemäß dem Wort Jesu - »über diese Generation kommen« (Mt 23,36). Mit dieser Ankündigung kann kaum gemeint sein, daß die zur Zeit Jesu lebenden Menschen für alle Verbrechen der Vergangenheit verantwortlich gemacht werden. Schon im Alten Testament hieß es, daß kein Sohn wegen der Sünden der Väter sterben müsse:

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In jenen Tagen sagt man nicht mehr: Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Söhnen werden die Zähne stumpf. Nein, jeder stirbt nur für seine eigene Schuld; nur dem, der die sauren Trauben ißt, werden die Zähne stumpf (Jer 31,29 f.; vgl. Ez 18,1-4; Joh 9,1 ff.).

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Stirbt jeder nur für seine eigenen Sünden, und kommt das Blut aller vergangenen Gewalttaten dennoch über die gegenwärtige Generation, dürfte dies bedeuten, daß die Menschen durch die Botschaft Jesu mit der Grundtendenz aller vergangenen Untaten konfrontiert werden. Blieb den früheren Generationen der wahre Impuls ihres eigenen Tuns ganz oder teilweise verborgen, so trifft dies von nun an nicht mehr zu. Was die menschliche Geschichte seit Kain beherrschte, wird offenkundig. Der gegenwärtigen Generation bleibt keine Ausflucht mehr. Sie wird mit der untergründigen Gewalt voll konfrontiert und in eine uneingeschränkte Verantwortung gerufen. Insofern kommt alles in der Vergangenheit vergossene Blut über sie. Hier liegt der Schlüssel zur Wahrheit, den bereits die Propheten dem Volk angeboten, den aber die Pharisäer mit ihrer frommen und doch täuschenden Gelehrtenarbeit wieder beiseite geschafft haben. Jesus holt den versteckten Schlüssel endgültig hervor. Die Juden können nur dadurch ihn einmal mehr zu beseitigen suchen, indem sie »den geliebten Sohn« selber verwerfen. Die Anklagen gegen den frommen pharisäischen Geist, etwas vom Höch-

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sten, was menschliche Anstrengung im religiösen Bereich hervorgebracht hat, stehen folglich in einer untrennbaren Einheit mit dem Wort vom verworfenen Stein.

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c) Die Entzweiung der Menschen durch Jesus

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Im Mattäus- und Lukasevangelium findet sich - wenn auch an unterschiedlicher Stelle - je ein Text, der im Gegensatz zu den bisher untersuchten Aussagen zu stehen scheint. In ihm spricht Jesus, daß er gekommen ist, das Schwert und die Entzweiung unter die Menschen zu bringen. Wird er selber von einem Geist des Tötens geleitet? Der kritische Text lautet im Mattäusevangelium:

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Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert: Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein (Mt 10,34 ff.; vgl. Lk 12,51 ff.).

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In diesem Wort Jesu wird teilweise der Prophet Micha zitiert. Wir sind auf den entsprechenden Text bereits im vorausgehenden Kapitel eingegangen. Micha sagt dort, daß in den Tagen der Endzeit keiner dem anderen trauen soll, und er stellt fest, daß in den Familien alle gegeneinander stehen werden. Bei Mattäus wird die prophetische Aussage leicht verändert. Jesus sagt von sich selber, daß er gekommen sei, die Entzweiung zu bringen. Wie ist diese Aussage zu verstehen? Andere Texte bezeichnen ihn doch gerade als den großen Friedensbringer. So singt im Lukasevangelium bereits bei seiner Geburt eine himmlische Schar:

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Verherrlicht ist Gott in der Höhe,

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und Friede ist auf der Erde

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bei den Menschen, die er liebt (Lk 2,14).

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Die Verherrlichung Gottes und der Friede unter den Menschen werden als die Großtaten angekündigt, die das neugeborene Kind vollbringen wird. Die ganze öffentliche Tätigkeit Jesu stand auch ganz in diesem Zeichen. Er lehrte jeden zufälligen Nächsten, ja sogar den Feind zu lieben (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36). Er pries die Friedensstifter selig und sagte von ihnen, »sie werden Söhne Gottes genannt werden« (Mt 5,9). Sind bereits die Friedensstifter Söhne Gottes, dann muß er als der »geliebte Sohn« auch auf einzigartige Weise Friedensstifter sein.

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Dennoch sagt Jesus in den zitierten Aussagen, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern die Entzweiung. Wegen der vielen Texte über die Liebe und den Frieden dürfen diese Worte nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob der Streit das Ziel seiner Botschaft wäre. Sie können nur bedeuten, daß er durch sein Kommen ungewollt und doch notwendigerweise Streit auslöst. Der wahre Grund für die Entzweiungen liegt deshalb nicht bei ihm selber. Er deckt aber durch sein Kommen die untergründig bereits vorhandenen Spannungen auf und provoziert so tatsächlich offene Feindschaften. Er wirkt als Schwert und als Störenfried, weil er die gewohnten Formen menschlicher Eintracht als trügerisch entlarvt (136). Selbst die natürlichsten und intimsten zwischenmenschlichen Bande können vor ihm nicht bestehen. Er enthüllt die geheime Zwietracht. Sein Auftreten wirkt als Gericht, und er fördert bei allen Menschen jene Wahrheit zutage, die der Prophet Micha bereits über Israel ausgesprochen hatte. Der Mensch ist ein Wesen, das sich seiner spontanen Neigung nach nicht einmal mit seinen Hausgenossen versteht. Der Sohn verachtet den Vater, die Tochter stellt sich gegen die Mutter, und selbst der Frau in den eigenen Armen ist nicht zu trauen (137).

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Die Verachtung und das gegenseitige Mißtrauen sind radikaler Art. Sie können bis zur tötenden Gewalt führen, wie ein Wort Jesu zeigt, das sich im Mattäusevangelium fast unmittelbar vor der Aussage über die Feindschaften in den Familien findet:

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Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder werden sich gegen ihre Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken (Mt 10,21).

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Weil Jesus als der einzigartige Friedensbringer auch die verdeckteste Gewalt bloßlegt, ist die unmittelbare Folge seines Kommens nicht die sofortige Versöhnung. Zunächst macht sich vielmehr die tötende Gewalt um so stärker bemerkbar. Bereits die Kindheitsgeschichte im Mattäusevangelium weist auf diese Tatsache hin. Die Frage, ob die Erzählung vom Kindermord in Betlehem auf einen historischen Bericht zurückzuführen ist, kann hier ausgeklammert werden. Der vorliegende Text zeigt auf alle Fälle, daß schon die Kunde von der Geburt des neuen Friedensfürsten genügte, um ein trauriges und grausames Blutbad auszulösen. Die Erzählung deutet ferner an, daß die Gewalt in Wahrheit nichts anderes ist als eine blinde Raserei. Weder der neugeborene Friedensfürst noch die unschuldigen Kinder hatten den geringsten berechtigten Anlaß zum Morden gegeben. AlIein der böse Verdacht und die blinde Einbildung von einer möglichen künftigen Rivalität genügten, um den Befehl zu einem grausamen Schlachten auszugeben.

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Decken die Evangelien den Hang zum Töten im menschlichen Herzen auf, meinen sie nicht bloß physische Mordtaten. Die Gerichtsworte wenden sich sogar in erster Linie gegen jene, die sich ihre eigenen Finger nicht schmutzig machen und sich deshalb für anständig und gut halten, deren Absichten, Wünsche und Pläne aber dennoch die wahren Ursachen der physischen und psychischen Gewalttaten sind. Aus dieser Perspektive wird ein Wort der Bergpredigt verständlich, das sonst leicht als übertriebene orientalische Redewendung beiseite geschoben wird. Jesus sagt darin zu seinen Jüngern und zum Volk:

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Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand umbringt, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du gottloser Narr, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein (Mt 5,21 f.)

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Nähme man an, Jesus drohe jedem, der ein harmloses Schimpfwort ausspricht, mit der Höllenstrafe, könnte man sein Wort schwerlich ganz ernst nehmen. Man müßte es, wie dies oft geschieht, stillschweigend übergehen. Ein solches Verständnis wäre aber ein volles Mißverständnis. Die bisher analysierten Texte belegen, daß die Strafe dem Brudermörder angedroht wird. Der Mord beginnt aber längst vor der physischen Tat in den bösen Gedanken und Wünschen des Herzens. Seine böse Macht ist bereits dort am Wirken, wo man »anständig« zusammenlebt und sich nur Schimpfwör

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ter an den Kopf wirft. Von da her wird die Drohung mit der Höllenstrafe verständlich.

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Gegen die Analysen Girards, nach denen Brüder instinktiv zu feindlichen Brüdern werden und alle Menschen spontan zur Gewalttätigkeit neigen, erhebt sich leicht der Einwand, die tägliche Erfahrung beweise das Gegenteil. Es gebe doch viele Familien, in denen man sich dank der spontanen Zuneigung zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern gut vertrage. Hier zeige sich doch die normale menschliche Natur. Wie Girard, so folgen aber auch die neutestamentlichen Schriften keineswegs dieser Erfahrung vom angeblich normalen Leben. Sie machen überdeutlich, daß überall dort, wo Menschen innerlich mit der Botschaft von der wahren Liebe konfrontiert werden, etwas ganz anderes aufbricht. Das sogenannte gute Einvernehmen enthüllt sich als brüchiger Waffenstillstand, und die aufbrechenden Entzweiungen legen den angeblichen Frieden als faulen Frieden bloß. Aus der Sicht der neutestamentlichen Schriften ist die vielbeschworene Alltagserfahrung nur das Ergebnis eines oberflächlichen Blicks, der noch nicht in die Abgründe der zwischenmenschlichen Beziehungen hineingeschaut hat.

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d) Der Mörder von Anbeginn

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Bis jetzt sind wir kaum auf das Johannesevangelium eingegangen. Finden sich in ihm abweichende Aussagen zum Thema, das wir untersuchen? Im Unterschied zu den Synoptikern, bei denen die Schriftgelehrten und Pharisäer als Gegner Jesu auftreten, schreibt das vierte Evangelium den Juden im allgemeinen diese Rolle zu. Die Auseinandersetzung wird hier noch etwas konsequenter dargestellt. Sie vollzieht sich in untrennbarer Verbindung mit der neuen Verkündigung, und sie erreicht ihren ersten Höhepunkt im achten Kapitel. In 8,37-59 enthüllt Jesus seinen Gegnern, wer er letztlich ist und wessen Geistes Kinder sie in Wahrheit sind. Er wirft ihnen vor, daß sie ihn töten wollen und dabei nur ihrem Vater folgen (8,37 f.). Die angegriffenen Juden verteidigen sich, und sie beanspruchen, Abraham zum Vater zu haben. Doch Jesus lehnt diese Verteidigung ab:

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Wenn ihr Kinder Abrahams wäret, dann würdet ihr die gleichen Werke wie Abraham tun (Joh 8,39).

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Daß die Juden die Werke Abrahams in Wahrheit nicht tun, begründet er mit der Wiederholung der schon in 8,37 erhobenen Anklage:

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Jetzt aber wollt ihr mich töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit gesagt hat, und diese Wahrheit habe ich von Gott gehört. So hat Abraham nicht gehandelt (Joh 8,40).

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Der Gesandte des Vaters deckt die letzten Impulse im Handeln seiner Gegner auf, indem er ihnen offen entgegenhält, daß sie ihn töten, ja daß sie gerade den töten wollen, der ihnen die Wahrheit sagt. Die Verkündigung der Wahrheit führt bei den Juden nicht zur Umkehr, sondern zur Verhärtung und zum Verlangen, den unbequemen Propheten beiseite zu schaffen. Gerade dadurch verraten sie ihren verborgenen Willen zum Töten, sie tun dies aber nur, indem sie die Wahrheit einmal mehr vor sich selber verbergen, den gegen sie erhobenen Vorwurf ablehnen und sich auf ihre gegenteilige Glaubensüberzeugung berufen:

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Wir stammen nicht aus einem Ehebruch, sondern wir haben nur einen Vater, das ist Gott (Joh 8,41).

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Die Auseinandersetzung spitzt sich nun ganz darauf zu, wer der wahre Vater der Juden ist. Jesus mißt die verbalen Beteuerungen seiner Gegner an ihrem konkreten Verhalten ihm gegenüber. Er erhebt den hohen Anspruch, daß er der wahre Gesandte des Vaters ist und daß folglich in der Einstellung zu seiner Botschaft und zu seiner Person die letzte Wahrheit des menschlichen Herzens offenkundig wird:

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Wenn Gott euer Vater wäre, dann würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern er hat mich gesandt (Joh 8,42).

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Da Jesus von Gott gekommen ist, müßten die Juden ihn lieben, wenn auch sie Gott zum Vater hätten. Nun aber wollen sie ihn töten. Jesus zieht daraus mit schonungsloser Offenheit die Konsequenz:

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Ihr stammt vom Teufel, er ist euer Vater, und ihr wollt das tun, was euer Vater will. Er war ein Mörder von Anfang an (Joh 8,44).

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Jesus hält seinen Gegnern nicht alle möglichen moralischen Vergehen vor. Ihr Verhalten läßt sich auf einen Nenner bringen: sie folgen ihrem Vater. Dieser Vater läßt sich eindeutig umschreiben: er ist ein Mörder von Anfang an. Die Juden werden letztlich von einem ganz bestimmten Grundimpuls beherrscht, vom Geist Satans, vom Geist des Tötens. Die Formulierung »Mörder von Anfang an« dürfte eine Anspielung an die Ermordung Abels enthalten. Jesus bezeugt den Juden, daß sie vom genau gleichen Geist besessen sind wie Kain. Sie sind in keiner Weise besser als der erste Mörder. Im Gegenteil, wie bereits Kain seine Tat durch die Frage »Bin ich denn der Hüter meines Bruders?« verbergen wollte, so versuchen auch sie, ihr Vorhaben zu verdecken. Sie bedienen sich dazu allerdings nicht mehr einer hilflosen Frage, sondern handeln aus einem klaren Lügengeist heraus. Nach

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der Definierung des Teufels als eines Mörders von Anbeginn fährt Jesus nämlich fort:

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Er steht nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er lügt, sagt er das, was ihm eigen ist; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge (Joh 8,44).

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In genauer Entsprechung zu den synoptischen Evangelien, die darstellen, wie Prophetenmord und Heuchelei untrennbar zusammengehören, zeigt das Johannesevangelium, daß der »Mörder von Anfang an« zugleich der »Vater der Lüge« ist. Der Gewalttäter will immer die Wahrheit seines eigenen Tuns vor andern und vor sich selber verbergen, indem er es teilweise ins Unterbewußte verdrängt und teilweise auf andere projiziert. Wird aber durch den wahren Gesandten Gottes das Verdrängte offenkundig und die Projektion als Projektion entlarvt, bleibt nur die Alternative: Annahme der unangenehmen Wahrheit oder bewußte Lüge (vgl. Joh 10,8 ff.). Die Offenbarung des Vaters ist untrennbar verbunden mit der Offenlegung der Abgründe des menschlichen Herzens. Von der Anerkennung dieses umfassenden Offenbarungsgeschehens hängt es ab, ob einer in der Wahrheit steht oder nicht. Über den »Mörder von Anfang an« sagt Jesus, daß »keine Wahrheit in ihm ist« (Joh 8,44). Hier geht es nicht um einen Teilaspekt, um eine Wahrheit neben vielen anderen. Im Mörder von Anfang an ist überhaupt keine Wahrheit. Letztlich gibt es nicht alle möglichen Arten von Unwahrheiten, sondern einen Geist, in dem überhaupt keine Wahrheit ist. Dieser wird vom Johannesevangelium mit dem »Mörder von Anfang an« identifiziert. Seine Enthüllung ist deshalb der Schlüssel zur Wahrheit und zur Erkenntnis. Die Aussagen des Johannesevangeliums decken sich inhaltlich genau mit den Anklagen in den synoptischen Evangelien gegen die frommen und ehrenwerten Schriftgelehrten und Pharisäer, daß sie die wahren Söhne der Prophetenmörder sind und den Schlüssel zur Erkenntnis beiseite geschafft haben.

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Einmal mehr stellt sich aber die Frage, ob die harten Anklagen nur auf die Juden zielen. Tatsächlich hat das Johannesevangelium im Laufe der Geschichte oft zur Rechtfertigung eines häßlichen Antisemitismus herhalten müssen, ja es dürfte diesen zum Teil direkt inspiriert haben. Wurde es dabei richtig gelesen oder gegen seine Grundintention fehlinterpretiert? Die Juden treten im vierten Evangelium ohne Zweifel als die entscheidenden Gegner Jesu auf. Doch sie stehen keineswegs allein. Bereits im Prolog arbeitet das Evangelium mit dem Gegensatz zwischen Licht und Finsternis. Das Mensch gewordene Wort ist das wahre Licht, das in der Finsternis leuchtet (Joh 1,5). Die Thematik Licht und Finsternis durchzieht fast das ganze weitere Evangelium. Dabei findet sich überhaupt kein Anhaltspunkt für die Annahme, daß nur die Juden im Bereiche der Finsternis wären. Der Gegensatz zwischen Licht und Finsternis wird vielmehr vom Evangelium

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selber gedeutet als Feindschaft zwischen dem Gesandten Gottes und der Welt.

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In der großen Abschiedsrede ist weder von den Juden noch von der Finsternis als feindlichen Kräften, sondern nur noch vom Haß der Welt die Rede. Vor allem in Joh 15,18-25 kündigt Jesus seinen Jüngern an, daß die Feindschaft der Welt sie treffen wird. Sie haben das gleiche Geschick wie ihr Meister zu erwarten. Jesus wurde nicht zufällig verfolgt. Er wurde nicht deshalb das Opfer der Gewalt, weil damals gerade ein paar besonders »böse« Schriftgelehrte, Pharisäer und Hohepriester in Israel gelebt haben. Er hat einen grundsätzlichen Kampf geführt. Durch die Juden hindurch hat ihn der Haß der Welt getroffen. Deswegen wird auch seinen Jüngern nichts erspart bleiben.

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Wenn ihr aus der Welt wäret, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben; aber weil ihr nicht aus der Welt seid, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, haßt euch die Welt (Joh 15,19).

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Wer aus der Wahrheit lebt, die Jesus gebracht hat, kann nicht zugleich in Freundschaft mit der Welt stehen; ja die Welt kennt der Wahrheit Christi gegenüber letztlich nicht einmal eine neutrale Toleranz. Sie haßt, was nicht zu ihr gehört. Jesus macht sehr deutlich, daß dieser Haß nicht mehr in einem dumpfen und undurchschauten Hang zur Gewalttätigkeit besteht. Weil er gekommen ist und die Wahrheit offengelegt hat, wurden seine Gegner zur Entscheidung gezwungen. Sie verfielen einer klaren Verstockung und einem entschiedenen Haß(138). Zweimal nacheinander spricht Jesus unmißverständlich diesen Gedanken aus:

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Wenn ich nicht gekommen wäre und nicht zu ihnen gesprochen hätte, dann wären sie ohne Sünde; aber jetzt haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde (Joh 15,22).

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Ohne das Kommen Jesu hätten die Menschen äußerlich kaum anders gehandelt. Er hat aber jene Wahrheit gebracht und jene Werke getan, die seine Gegner zu einer neuen Entscheidung herausfordern mußten:

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Wenn ich vor ihnen nicht die Werke getan hätte, die kein anderer getan hat, dann wären sie ohne Sünde. Aber jetzt haben sie gesehen, und sie haben mich und meinen Vater gehaßt (Joh 15,24).

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Im Verhalten gegenüber Jesus wird ganz offenkundig, was bereits die alttestamentlichen Propheten und Gerechten im beträchtlichen Maße erfahren mußten. Sie wurden nicht nur von vielen Feinden verfolgt und umringt, sondern auch grundlos gehaßt. Ähnlich erging es Jesus. Er schließt in der Abschiedsrede des Johannesevangeliums seine Ausführungen über den Haß

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der Welt, indem er ausdrücklich Psalm 69 aufgreift:

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Aber das Wort sollte sich erfüllen, das in ihrem Gesetz geschrieben ist: Ohne Grund haben sie mich gehaßt (Joh 15,25).

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Die Analysen von Girard zeigen, daß der Mensch in seinem Hang zur Gewalttätigkeit äußerst geschickt ist, immer gute, ja beste Gründe für sein Tun zu finden. Durch die alttestamentliche Offenbarung wurde diese Tarnung im fortschreitenden Maße als Tarnung erkannt, und dem Volk wurde die nackte Wahrheit vorgehalten. Die völlige Bloßstellung Israels und der Welt geschah schließlich durch Jesus. Durch seine Verkündigung der unbegreiflichen Liebe des himmlischen Vaters und durch sein gewaltfreies Verhalten hat er nicht den geringsten Anlaß zur Feindschaft gegeben. Dennoch wurde er mit tödlichem Haß verfolgt. Damit veranlaßte er seine Gegner zu zeigen, was letztlich ihr Herz gefangen hielt: ein grundloser Haß.

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Unsere Analyse johanneischer Texte führt uns dazu, den grundlosen Haß als eine Gewalttat zu verstehen, die sich ihres Tuns voll bewußt geworden ist. Läßt sich dieses Ergebnis halten? Kann der Haß nicht eine rein innerseelische Haltung sein, die nichts mit der Gewalt zu tun hat? Kann es umgekehrt nicht bewußte Gewalttätigkeiten geben, die keineswegs vom Haß inspiriert sind? - Die allerletzte Entscheidung über diese Frage muß im Laufe unserer ganzen Untersuchung fallen. Eine erste Antwort ist aber bereits hier möglich. Wenn im Johannesevangelium der entscheidende Vorwurf Jesu gegenüber den Juden lautet, daß ihr wahrer Vater der Mörder von Anbeginn ist, wäre es höchst überraschend, wenn im gleichen Evangelium mit dem Haß der Welt nicht ebenfalls der Geist dieses Mörders gemeint wäre. Der erste Johannesbrief stellt denn auch eine ausdrückliche Beziehung zwischen dem Haß und dem Mord her. Im dritten Kapitel dieses Briefes findet sich ein Aufruf zur Liebe. Dabei wird die positive Ermahnung mit der Warnung verknüpft, wie wahre Christen nicht handeln dürfen:

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Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug (1 Joh3,11 f.).

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Der Haß ist der eigentliche Gegensatz zur Liebe. Gemäß dem ersten Johannesbrief steht aber auch der Brudermord in gleicher Weise der Liebe entgegen. Haß und Brudermord treffen sich folglich in ihrem radikalen Gegensatz zur Liebe und sind letztlich identisch, wie der erste Johannesbrief an anderer Stelle selber ausdrücklich sagt:

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Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat das ewige Leben so, daß es in ihm bleibt (1 Joh3,15).

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Es gilt demnach nicht nur, daß jeder Mörder haßt, sondern auch umgekehrt, daß jeder, der haßt, ein Mörder ist. Der Haß bleibt nie eine rein innersee-

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lische Angelegenheit. Deshalb ist auch die Aussage im vorausgehenden Vers des gleichen Kapitels, daß jeder, der nicht liebt, im Tode bleibt (1 Joh3,14), weit mehr als eine unverbindliche bildhafte Redensart. Der Haß ist die Frucht des Todes, und er führt zum gewaltsamen Tod. Haß und Mord decken sich. Dabei ist die Frage zweitrangig, wer den Mord physisch ausführt. Entscheidend ist die Einsicht, daß jeder Haß auf die eine oder andere Weise zum Töten führt und deshalb selber schon Gewalttat ist.

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Ist Haß bewußte Gewalttätigkeit, so folgt keineswegs daraus, daß bei ihm jeder unbewußte Selbstbetrug ausgeschlossen wäre. Im Gegenteil, die Fähigkeit der Gewalt, sich selber zu verbergen, ist so groß, daß selbst Menschen, die ganz bewußt Gewalttaten begehen, nochmals einer völligen Selbsttäuschung verfallen können. Jesus weist auf diese abgründige Möglichkeit hin, wenn er seine Jünger auf die kommenden Verfolgungen vorbereitet:

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Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, ja es kommt die Stunde, in der alle, die euch töten, meinen, Gott einen heiligen Dienst zu erweisen (Joh 16,2).

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In der unmittelbar vorausgehenden Rede hat Jesus vom grundlosen Haß der Welt gesprochen. Nun zeigt er weiter, daß selbst Menschen, die aus grundlosem Haß seine Jünger töten, meinen können, Gott einen heiligen Dienst zu erweisen. Die Möglichkeiten der Gewalt zur Selbsttäuschung sind abgründig. Die Aussagen des Johannesevangeliums treffen sich diesbezüglich ganz mit der Theorie Girards.

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e) Kein Unterschied zwischen Juden und Heiden

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Die theologische Perspektive des Paulus ist recht verschieden von der Sicht der Synoptiker oder der des Johannesevangeliums. Wir haben deshalb kurz zu prüfen, ob die Aussagen des Heidenapostels mit den bisherigen Ergebnissen wenigstens grundsätzlich übereinstimmen. Weiter oben konnten wir bereits festhalten, daß Paulus alle Machthaber der Welt für die Kreuzigung Christi verantwortlich macht. Er sieht folglich in der Gewalt einen bedeutenden Faktor bei der Ablehnung des Sohnes Gottes. Schreibt er ihr aber auch jene zentrale Funktion zu wie die Evangelien?

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Die systematischste Darstellung der paulinischen Theologie findet sich im Römerbrief. In ihm lehrt der Apostel, daß die Menschen nur durch den Glauben die Gerechtigkeit vor Gott erlangen können und daß die Gesetzeswerke zu falschem Selbstruhm führen. Der Glaube aber erhält nach ihm seine Kraft aus dem Kreuz und der Auferweckung Christi. Diese zentralen Aussagen bereitet Paulus vor, indem er darlegt, daß alle Menschen, Juden

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wie Griechen, unter der Herrschaft der Sünde stehen. Nach ihm gibt es diesbezüglich keinen Unterschied:

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Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren (Röm 3,23).

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Worin aber besteht die Herrschaft der Sünde? Paulus beschreibt sie, indem er verschiedene alttestamentliche Aussagen zusammenreiht:

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Es gibt keinen, der gerecht ist,

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auch nicht einen;

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es gibt keinen Verständigen,

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keinen, der Gott sucht.

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Alle sind abgewichen,

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alle miteinander taugen nichts.

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Es gibt keinen, der Gutes tut,

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auch nicht einen. (Ps 14,1 ff.)

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Ein offenes Grab ist ihr Schlund,

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mit ihrer Zunge betrügen sie; (Ps 5,10)

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Schlangengift ist auf ihren Lippen. (Ps 140,4)

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Ihr Mund ist voll Fluch und Bitterkeit. (Ps 10,7)

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Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen,

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Verderben und Unheil bedecken ihre Wege;

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doch den Weg des Friedens kennen sie nicht. (Jes 59,7 f.)

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Gottesfurcht steht nicht vor ihren Augen. (Ps 36,2). (Röm 3,10-18)

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Die meisten alttestamentlichen Texte, die Paulus mehr oder weniger wörtlich zitiert, haben wir im vorangegangenen Kapitel selber als zentrale Aussagen gewertet. Paulus steht folglich der oben vorgetragenen Interpretation des Alten Testamentes zum mindesten nahe. Durch den Rückgriff auf Psalm 14 betont er zunächst, daß niemand, weder Jude noch Heide, gerecht und verständig ist. Alle stehen ohne Ausnahme unter der Herrschaft der Sünde. Keiner sucht Gott in Wahrheit, und die zwischenmenschlichen Beziehungen sind ganz verkehrt. Das Urteil des Heidenapostels deckt sich folglich ganz mit dem universalen Urteil der Propheten und der Psalmen. Er zeigt im weiteren die Verderbnis durch genau je zwei »Laster« auf, die Jesus in den Evangelien seinen Gegnern vorwirft: die Lüge und die Gewalt. Einerseits betrügen alle durch ihre Zunge: Schlangengift ist auf den Lippen und der Mund ist voll Bitterkeit. Anderseits eilen die Füße, Blut zu vergießen, und keiner kennt den Weg des Friedens. Zwischen den Aussagen des Paulus und denen der Evangelien ließe sich kaum eine größere Übereinstimmung denken. Der Abfall von Gott manifestiert sich auch nach ihm in der Gewalt und in der damit verbundenen Lüge. Wenn der Apostel an anderen Stellen des Römerbriefes sagt, durch die Sünde sei der Tod in die Welt gekommen (Röm 5,12; 6,23), ja die Sünde habe in ihm selbst den Tod bewirkt (Röm 7,10.13), meint er damit nicht einen rein spirituellen

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Tod. Die Sünde hat eine konkrete Gestalt. Paulus beschreibt sie in Röm 3,10-18 als Lüge und als Eilfertigkeit, Blut zu vergießen. Auch in seinem eigenen Leben war die Sünde eine sehr konkrete Wirklichkeit. Er hatte die Gemeinde Gottes vor seiner Bekehrung maßlos verfolgt und sie zu vernichten gesucht (Gal 1,13). Zwar hatte er ebensowenig wie die Schriftgelehrten und Pharisäer mit eigenen Händen getötet. Er betrieb aber die Verfolgung und stimmte denen bei, die sich zum Morden hinreißen ließen (Apg 8,1a). Auf ihn traf folglich das Urteil Jesu voll zu. In ihm herrschte die Sünde als Geist der Heuchelei und als Bereitschaft zum Töten. Saulus wähnte, durch die Verfolgung der jungen Christengemeinde für Gott zu eifern, genau wie Jesus gemäß Joh 16,2 vorausgesagt hatte. Der Geist der Verblendung und der Lüge hatte sich seiner so bemächtigt, daß er sogar den Mord für eine Gott wohlgefällige Tat hielt. Der spätere Paulus schrieb deshalb in seinem Römerbrief, die Sünde habe ihn getäuscht und getötet (Röm 7,11). Seine eigenen Füße eilten, Blut zu vergießen.

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Wenn der Apostel in einem anderen Zusammenhang lehrt, der Buchstabe töte (2 Kor 3,6), ist wiederum mehr als ein rein innerseelisches Töten gemeint. Der Buchstabe ist der Buchstabe des Gesetzes, durch das die Sünde lebendig wird (Röm 7,7-13). Paulus selbst wurde gerade durch seinen Eifer für den Buchstaben der jüdischen Überlieferung dazu verführt, die Christen zu verfolgen und dem Mord beizustimmen. Der Buchstabe hat ihn tatsächlich zum Töten verleitet. Genau das gleiche geschah bei der Verurteilung Jesu. Wie das Johannesevangelium erzählt, haben die Juden von Pilatus den Tod des Angeklagten mit den Worten gefordert:

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Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muß er sterben (Joh 19,7).

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Der Eifer für den Buchstaben des Gesetzes manifestiert sich früher oder später als Wille zum Töten, und zwar auch zum physischen Töten. Das Verhalten der Juden gegenüber Jesus und die Einstellung des Saulus zur Ermordung des Stephanus zeigen dies klar. Paulus steht folglich mit seinen Aussagen über die Sünde ganz in der Linie der Evangelien.

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f) Zusammenfassung

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Die allseitigen Rivalitäten und Gewalttätigkeiten sind im jüdischen Volk zur Zeit Jesu nicht offen ausgebrochen. Die römische Besatzungsmacht hatte dies vorläufig verhindert. Trotzdem hat der Prophet aus Nazaret die untergründige Leidenschaft unzweideutig offengelegt. Durch seine prophetischen Worte über die Zerstörung Jerusalems und über die anbrechende Endzeit, durch seinen Vorwurf gegen die Pharisäer, sie seien die wahren

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Söhne der Prophetenmörder, und durch seine Anklage gegen die Juden, sie hätten den Mörder von Anbeginn zum Vater, hat er den Willen zum Töten als den eigentlichen gottfeindlichen Geist diagnostiziert. Seine Ankündigung, er werde Zwietracht in die Familien bringen, hat ferner offenkundig gemacht, daß der Geist des Mörders von Anbeginn untergründig selbst in den intimsten familiären Beziehungen wirksam ist. Paulus hat seine Theologie auf genau den gleichen Erkenntnissen aufgebaut. Er hat die Herrschaft der Sünde als Schlangengift der Lüge und als Eilfertigkeit zum Töten konkret gedeutet.

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Bei den einleitenden Untersuchungen haben wir festgestellt, daß in der Verblendung das eigentliche hermeneutische Problem zu sehen ist. Durch sie wird der Schlüssel zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Verständnis der alttestamentlichen Schriften beiseite geschafft. Die Bauleute, die den Stein verwarfen, sind dieser Verblendung verfallen. Alle wichtigen neutestamentlichen Schriften zeigen nun weiter, daß die Neigung zur Gewalt der wahre Grund für die Ablehnung Jesu und damit auch der Verblendung war. In ihr manifestierte sich die Herrschaft der Sünde. Eine Hermeneutik, die nicht in vordergründigen Fragen stehenbleiben will, sondern die Problematik der kollektiven Verblendung ernst nimmt, muß deshalb zu einer Analyse der Gewalt und der Lüge führen. Die neutestamentlichen Schriften diagnostizieren den gottwidrigen Geist als Mörder von Anbeginn und als Vater der Lüge. Sie zeigen auch, daß die Gewalt sich so geschickt durch die Lüge verbergen kann, daß Menschen, selbst wenn sie die Jünger Jesu töten, noch meinen können, Gott einen Dienst zu erweisen. Der Geist des Mordens hüllt sich wie in ein Grab ein, über das Menschen schreiten, ohne zu merken, daß etwas unter ihren Füßen verborgen ist.

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3. Das Reich Gottes und der Beginn der neuen Sammlung

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Jesus hat sich nicht damit begnügt, die dunklen Mächte im menschlichen Herzen aufzuzeigen. Er hat vor allem den Anbruch des Reiches Gottes verkündigt und die Menschen zur Umkehr aufgerufen. Der Täufer hatte bereits vor ihm auf das nahe Reich hingewiesen und über die Pharisäer und Sadduzäer ein ähnliches Urteil gefällt:

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Ihr Schlangen, wer hat euch denn gelehrt, daß ihr aus dem kommenden Gericht entrinnen könnt? (Mt 3,7; vgl. Lk 3,7).

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In einem Volk, das durch die herbe Bußpredigt des Johannes aufgerüttelt war, hat Jesus seine Botschaft verkündet.

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a) Gottes Tat und menschliches Tun

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Wird durch das Wort der Offenbarung die untergründige Leidenschaft bloßgelegt, verliert der Sündenbockmechanismus seine Wirksamkeit. Er beschützt die Menschen nicht mehr vor sich selber und schafft keine Oasen relativen Friedens mehr. Die Aufdeckung des untergründigen Willens zum Töten stellt die Menschen vor die Entscheidung, entweder sich gegenseitig zu zerstören oder die Fähigkeit zu echter Verständigung von einer neuen Seite zu erwarten. Genau hier setzt die Predigt Jesu an. Er hat den wahren Frieden nicht als menschliches Werk, sondern als Reich Gottes verkündet. Durch die Gleichnisse, vor allem durch die Erzählungen von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29), vom Senfkorn (Mk 4,30 ff.) und vom Sauerteig (Mt 13,33), hat er gelehrt. daß dieses Reich ohne das Zutun der Menschen kommt. Es ist reines Geschenk Gottes.

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Die Botschaft vom Tun Gottes entbindet die Menschen aber nicht von eigener Anstrengung. Jesus hat seine Zuhörer zugleich mit anspruchsvollen ethischen Forderungen konfrontiert und sie zur Umkehr aufgerufen. Dadurch hat er deutlich gemacht, daß die Botschaft vom Reich Gottes nicht in dem Sinn verstanden werden darf, als ob die Menschen träge zuschauen könnten, wie Gott für sie sein Reich errichtet. Sie werden vielmehr gerade durch das Handeln Gottes zutiefst in die eigene Verantwortung gerufen. Das Tun Gottes will die Menschen zu neuem eigenen Tun befähigen.

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Der Zusammenhang zwischen dem Handeln Gottes und der Tat der Menschen wird besonders in den Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zeichenhaft sichtbar. Die Heilungen waren keine isolierten Kunststücke. Die Synoptiker legen auf vielfache Weise nahe, daß sie untrennbar zur Botschaft vom anbrechenden Reich gehörten. Mattäus und Lukas unterstreichen diesen Zusammenhang besonders stark.

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Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden (Mt 9,35).

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Das Mattäusevangelium berichtet in einem Atemzug von der Verkündigung des Reiches und von der Heilung der Kranken. Desgleichen zeigt es, wie Jesus auf die Frage des gefangenen Täufers, ob er es sei, der da kommen soll, antwortete:

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Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen: Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote werden auferweckt, und den Armen wird das Evangelium verkündet (Mt 11,4 f.; vgl. Lk 7,22 f).

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Die heilenden Taten sind das eindeutige Zeichen, daß Jesus derjenige ist, der da kommen soll. Seine Botschaft gewinnt dadurch die konkrete Gestalt. In der Auseinandersetzung mit den Pharisäern identifizierte er sogar sein eigenes heilendes Tun ausdrücklich mit dem Anbrechen des Reiches Gottes:

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Wenn ich die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen (Mt 12,28; vgl. Lk 11,20).

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Gottes Wort ist nicht leeres Wort. Es bewirkt, was es ankündigt. Wenn Jesus das Wort vom Reich predigt, überwindet er zugleich die feindlichen Mächte. Die Austreibung der Dämonen ist deshalb ein klares Zeichen, daß nicht irgendein leeres Wort, sondern das Reich Gottes verkündigt wird. Jesu heilendes Tun ist identisch mit dem Anbruch des Reiches.

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Die Erzählungen und zusammenfassenden Berichte über Heilungen nehmen in den Evangelien einen großen Raum ein. Allein bei Mattäus ist an 25 verschiedenen Stellen davon die Rede. Es wäre ganz verfehlt, diese vielen Heilungsberichte dem naiven Wunderglauben der Urgemeinde zuzuschreiben und darin nur ein Produkt frommer Phantasie zu sehen(139). Die heilenden Taten gehören so sehr zur Verkündigung vom nahen Reich Gottes, daß Jesus auch seinen Jüngern bei ihrer Aussendung einen entsprechenden doppelten Auftrag gab:

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Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben (Mt 10,7 f.).

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Jesus hat das Reich Gottes verkündet und Kranke geheilt. Seinen Jüngern gab er den Auftrag, beide Tätigkeiten fortzusetzen. Um die innere Beziehung zwischen der Botschaft vom Reich und den Heilungen zu verstehen, hat man sich von jenem Krankheitsverständnis freizumachen, das heute noch recht verbreitet ist. Danach ist die Krankheit nur ein Defekt in einem maschinenartig verstandenen Organismus. Gewiß gibt es rein organische Störungen. Doch sehr viele Krankheiten dürften, wie auch die moderne Medizin im wachsenden Maße einzusehen beginnt, mit dem ganzen Menschen etwas zu tun haben. Das biblische Krankheitsverständnis geht auf alle Fälle ganz in diese Richtung. Es sieht in der Krankheit eine Störung

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des gesamten Verhaltens, der Beziehungen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott. Erhellend ist das Psalmwort »krank vor Schmach« (Ps 69,21; vgl. 107,17), wonach die bittere Erfahrung der Schmach den Menschen krank machen kann.

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In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern hat Jesus auf vielfältige Weise gezeigt, daß die Menschen in ihrem tiefsten Herzen von einer zerstörerischen Leidenschaft beherrscht und von einem untergründigen Willen zum Töten umgetrieben werden. Es war deshalb nicht zufällig, daß sich viele Kranke und Besessene um ihn gedrängt haben. Diese Menschen bezeugten mit ihrem eigenen Leib, daß sie durch dunkle Mächte gebunden waren. Wenn Jesus sie geheilt hat, vollbrachte er nicht bloß wunderbare Taten. Er offenbarte zugleich, daß Gott bei seinem Kommen die Menschen von den zerstörerischen Mächten befreit. Die heilenden Taten waren mehr als rein äußerliche Zeichen; in ihnen ereignet sich bereits der Anbruch des Reiches. Was die gewalttätigen Menschen aus eigener Kraft nie zustande gebracht hatten, wurde in der Kraft Gottes möglich. Jesus hat die zerstörerischen Mächte aufgedeckt und in vielen Zeichentaten überwunden. Er handelte dabei nicht am Menschen wie an einem leblosen Objekt. Er hat vielmehr gerade die gebundenen und zerrütteten Kräfte zu neuem guten Tun freigesetzt. Ja, er vollbrachte die Tat Gottes nicht ohne die freie menschliche Mitwirkung. Er rief die gebeugten Menschen zum Glauben auf. In den Evangelien wird öfter betont, daß der Glaube den Kranken die Heilung gebracht hat (Mt 8,13; 9,22.29; 13,58; 15,28; 17,19 f.).

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Unter den heilenden Taten Jesu sind die Dämonenaustreibungen besonders zu beachten. Vor allem das Markusevangelium mißt ihnen eine große zeichenhafte Bedeutung zu (Mk 1,23-27.32 ff.39; 3,11.22; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-27). Bei der Aussendung der Jünger heißt es in diesem Evangelium nur, daß Jesus ihnen Macht gab über die unreinen Geister (Mk 6,7). Entsprechend wird ihre missionarische Tätigkeit mit folgenden Worten beschrieben:

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Die zwölf Jünger machten sich auf den Weg und riefen zur Umkehr auf. Sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie (Mk 6,12 f.).

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Der Besessene manifestiert auf sichtbare Weise, daß seine Kräfte ganz gebunden sind. In »La violence et le sacré« ist Girard auf dieses Phänomen ausdrücklich eingegangen. Er zeigt, wie im Zug der sich ausbreitenden Gewalttätigkeit überall monströse Vorstellungen entstehen und wie diese Wahngebilde eine unheilvolle Wirkung entfalten. Phantasievorstellungen, die leidenschaftlich erregte Menschen in andere hineinprojizieren, wirken aber real auf ihre Urheber zurück. Dabei kann es zu einer wachsenden Spaltung im eigenen Inneren kommen. Die Kräfte, die einem gehören, er-

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scheinen plötzlich als fremde. Dieser Vorgang vermag sich unter Umständen so zu steigern, daß die Betroffenen sich von eigenen Kräften wie von fremden Mächten beherrscht und besessen fühlen.

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Diese kurze Beschreibung dürfte zwar noch nicht den letzten Kern im Phänomen der Besessenheit deuten. Sie zeigt aber bereits, daß die Erfahrung, von dunklen Kräften willenlos beherrscht zu werden, viel mit der unterschwelligen Gewalttätigkeit zu tun hat. Nicht zufällig wird von den Besessenen in den Evangelien öfter gesagt, daß eine zerstörerische Leidenschaft sie beherrscht hat (Mk 1,26; 5,2-5; 9,17 bis 18.22). Diese gewalttätigen Äußerungen verraten, welche Kräfte in ihrem Innern wirksam waren. Die vielen Fälle von Besessenheit, die es anscheinend zur Zeit Jesu gab, weisen zudem auf eine allgemeine Erregung und auf starke Spannungen im damaligen Israel hin. Die Verkündigung Jesu vom anbrechenden Reich dürfte einerseits diese Erregung noch gesteigert haben; anderseits hat er zugleich den Weg zur Überwindung der allgemeinen Krise gewiesen. Durch die Austreibung der Dämonen mit »dem Finger Gottes« (Lk 11,20) hat er sinnenfällig bezeugt, daß das Reich Gottes im Anbrechen war und daß in der Kraft Gottes die zerstörerischen Mächte überwunden werden konnten.

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Die Heilung von Besessenen macht am deutlichsten den Zusammenhang zwischen dem Handeln Gottes und dem Tun der Menschen verständlich. Besessene sind nicht mehr Herr ihrer eigenen Kräfte; sie sind zerstörerischen und gewalttätigen Mächten ausgeliefert. Das in Jesu Botschaft und Tun anbrechende Reich Gottes erlöst die Menschen von den dunklen dämonischen Mächten und gibt ihnen die Herrschaft über sich selber zurück. Das Tun Gottes befreit und befähigt die Menschen zu eigenem Tun. Die untergründigen Leidenschaften und der heimliche Wille zum Töten können nicht durch bloß moralische Anstrengungen überwunden werden. Der Mensch ist kein im letzten autonomes Wesen. Entweder wird er von der Leidenschaft geknechtet, oder er läßt sich durch die Tat Gottes dazu befähigen, erst Herr in seinem eigenen Hause zu werden. Jesus hat sehr hohe ethische Forderungen verkündet. Würde man diese isoliert sehen, verfiele man einem zerstörerischen Moralismus. Der Buchstabe der Bergpredigt würde noch mehr töten als der Buchstabe des alttestamentlichen Gesetzes. Doch die Forderungen Jesu standen ganz im Zusammenhang mit seiner Ankündigung vom Reich Gottes. Er hat seine Zuhörer nicht ihren eigenen Kräften überlassen. Die heilenden Taten und vor allem die Dämonenaustreibungen bezeugten sinnenfällig, daß seine Verkündigung zugleich eine wirkmächtige Tat war. Menschen wurden aus der Versklavung durch die eigenen zerstörerischen Strebungen befreit.

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b) Dem Bösen nicht widerstehen

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Jesus hat seine Botschaft von der Gottes- und Nächstenliebe in einer Welt verkündet, die offen und unterschwellig von der Neigung zum Töten beherrscht wurde. Dadurch entstanden und entstehen Konflikte. Was sollen Menschen tun, die sich im Glauben an das anbrechende Reich auf die Botschaft der Liebe einzulassen und sich von ihren untergründigen Gewalttätigkeiten freizumachen versuchen, von Mitmenschen aber bedroht werden? - Die Antwort Jesu in der Bergpredigt lautet eindeutig:

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Leistet dem, der euch Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin (Mt 5,39).

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Diese Forderung klingt ganz unrealistisch. In der christlichen Tradition wurde sie deshalb sowohl auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene selten ganz ernst genommen und meistens als fromme übertreibende Redeweise in den Hintergrund geschoben. Doch mit welchem Recht? - Das zitierte Wort steht keineswegs isoliert da. In ähnlicher Form findet es sich in den meisten neutestamentlichen Schriften. Bei Lukas heißt es:

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Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen. Betet für die, die euch mißhandeln. Dem, der dich auf die eine Backe schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, laß auch das Hemd (Lk 6,27 ff.).

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Daß die Feindesliebe zum zentralen Bestand der neutestamentlichen Botschaft gehört, ist theoretisch unbestritten. Die zitierten Texte beweisen außerdem, daß die Behauptung, damit sei in erster Linie nur eine innere Haltung gemeint, eine klare Fehlinterpretation ist. Die neutestamentlichen Schriften trennen die innere Einstellung nie vom äußeren Tun. Die Feindesliebe hat sich in einem konkreten Verhalten, das in allem von dem absticht, was der Feind tut, zu bewähren. Auf den Haß ist mit Gutestun, auf den Fluch mit Segnen und auf Mißhandlungen mit Beten zu antworten. Dem Schlag darf kein Gegenschlag folgen.

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In der neutestamentlichen Briefliteratur findet sich die gleiche Forderung. Paulus schreibt im ermahnenden Teil des Römerbriefes:

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Vergeltet niemand Böses mit Bösem Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, wirst du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln. Laß dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse mit dem Guten (Röm 12,17-21).

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Eine ähnliche Mahnung findet sich im ersten Petrusbrief:

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Vergeltet nicht Böses mit Bösem, noch Kränkung mit Kränkung! Statt dessen segnet; denn ihr seid dazu berufen, Segen zu erlangen (1 Petr 3,9; vgl. 1 Thess 5,15).

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Die Aufforderung, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, steht ferner in sehr engem Zusammenhang mit den Seligpreisungen. In ihnen werden jene gepriesen, die Verfolgung erleiden um der Gerechtigkeit willen und die um Jesu willen beschimpft und verleumdet werden (vgl. Mt 5,10 ff.; Lk 6,22 f.). Ein ganz besonderes Gewicht erhält schließlich die Mahnung, dem Bösen nicht zu widerstehen, durch das eigene Verhalten Jesu. Als seine Gegner mit Gewalt gegen ihn vorgingen, hat er nicht den geringsten Versuch gemacht, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen. Ihrer bösen Tat hat er nicht widerstanden.

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Bereits ein kurzer Überblick zeigt eindeutig, daß die neutestamentlichen Texte, die dazu auffordern, dem Bösen nicht mit gleicher Waffe zu widerstehen, zu zahlreich und zu gewichtig sind, als daß man sie ehrlicherweise in den Hintergrund drängen könnte. Als orientalische übertreibende Redensarten lassen sie sich nicht abtun. Von unseren bisherigen Überlegungen her haben wir zudem noch viel weniger Grund, ihre Bedeutung zu unterschätzen.

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Die hohen ethischen Forderungen stehen ganz im Zusammenhang mit der alt- und neutestamentlichen Analyse der Gewalt. Nur in diesem Licht werden sie verständlich. Sie zeigen nämlich den einzig möglichen Weg auf, um den Teufelskreis der Mimesis und der Gewalt zu durchbrechen. Die Gefährlichkeit der Gewalt liegt nicht in der offenen Brutalität. Diese findet sich eher selten. Weit heimtückischer ist ihre Fähigkeit, im Zeichen von guten Gründen auf andere ansteckend zu wirken und selbst die Vernunft in ihren Bann zu schlagen. Wie das Johannesevangelium sagt, können Mörder meinen, Gott einen guten Dienst zu erweisen. Die Gewalt kann ihr wahres Wesen wie in einem Grab verbergen, über das die Leute schreiten, ohne etwas zu merken. Die Analysen von Girard legen dar, wie die überall wirkende Mimesis die Menschen unbemerkt zu Rivalitäten und zu Gewalttaten verleitet. Jedem entstehen ungewollt Gegner. Jeder hat aber auch gute Gründe zu glauben, der andere habe mit dem Bösen begonnen und er selber wolle nur erlittenes Unrecht vergelten. Das eigene Tun wird instinktiv durch vorausgegangene Taten des Gegners gerechtfertigt. Deshalb sind Feindschaften so komplex und verschlungen. Kaum je läßt sich die wahre Schuld beider Seiten sauber auseinanderdividieren.

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Genau hier setzen die ethischen Forderungen Jesu an. Sie zeigen den einzig möglichen Weg zu einer echten Überwindung von Feindschaften auf. Wo Böses mit Bösem vergolten wird und wo man auf Gewalt mit Gegengewalt antwortet, bleibt man im Bannkreis der Mimesis. In diesem Fall ist ganz

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zweitrangig, ob der erste Schlag zu Recht oder zu Unrecht geschah. Er verleitet auf alle Fälle zu einem Gegenschlag und setzt die ansteckende Wirkung der Aggression in Gang. Die Frage, ob die ethischen Forderungen des Neuen Testaments zu anspruchsvoll sind, muß zunächst zurückgestellt werden. Es gilt vielmehr zu sehen, daß die Gewalt eine ungeheuer ansteckende Wirkung hat.

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Wie Girard besonders deutlich analysiert, verlockt jeder Schlag dazu, nachgeahmt zu werden. Der Gewalt ist man deshalb bereits heimlich erlegen, wenn man sich auf einen frontalen Kampf mit ihr einläßt. Ihre ansteckende Wirkung ist so groß, daß derjenige, der direkt gegen sie angeht, unweigerlich dazu verleitet wird, die gleichen Mittel zum Gegenangriff zu benützen. Diese Mittel aber sind die Mittel des Bösen, auch wenn sie mit vielen noch so guten Gründen gerechtfertigt werden. Die Möglichkeiten der Selbsttäuschung sind unbegrenzt, wie das Beispiel der Pharisäer in den synoptischen Evangelien und das Verhalten der Juden im Johannesevangelium zeigen. Ob die ethischen Forderungen Jesu unrealistisch erscheinen oder nicht, im Licht der Theorie Girards wird auf alle Fälle überdeutlich, daß sie den einzig möglichen Weg aufzeigen, um den Teufelskreis des Bösen zu durchbrechen. Nur wo die Mimesis außer Kraft gesetzt wird, hört die Ausbreitung des Bösen auf. Dazu ist unbedingt nötig, dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln zu widerstehen.

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Zusätzliche Überlegungen, wie einzelne oder ganze Gemeinschaften schrittweise die Welt der Gewalt überwinden können, mögen sehr berechtigt sein. Dies ist Sache einer abwägenden Moraltheologie. Auf der grundsätzlichen Ebene aber, auf der die Evangelien die negativen Mächte analysieren, gibt es keinen entscheidenden Unterschied zwischen sogenannter gerechter und ungerechter Gewalt. Das weiter oben zitierte Wort Jesu aus dem Lukasevangelium über die Feindesliebe kann vielmehr direkt als Magna Charta christlicher Ethik verstanden werden. In ihm wird Schritt für Schritt betont und Punkt für Punkt aufgezeigt, wie man dem Bösen nicht auf gleicher Ebene begegnen darf. Der Haß ist mit Gutestun, der Fluch mit Segnen, die Mißhandlung mit Beten und der Schlag mit Hinhalten zu beantworten. Alles kommt darauf an, die Reziprozität des Bösen und der Gewalt zu durchbrechen.

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Die Frage, ob durch derartige ethische Forderungen Menschen nicht grundsätzlich überfordert werden, muß im Rahmen der eingangs aufgeworfenen hermeneutischen Überlegungen angegangen werden. Das Gleichnis von den bösen Winzern und das Wort vom verworfenen Stein machen sehr deutlich, daß die neutestamentlichen Aussagen über die Lüge und die Gewalt vom Alten Testament her angegangen werden müssen. Dies bedeutet, daß die

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Bergpredigt nicht moralisierend mißverstanden werden darf. Es geht nicht um eine kurzschlüssige Unterdrückung einiger Manifestationen der Feindschaften zwischen Menschen. Dadurch würde kaum etwas gelöst. Die lange alttestamentliche Geschichte deutet vielmehr darauf hin, daß zunächst das alle Menschen umfassende, unheimliche unterirdische Reich der Gewalt und der Lüge voll aufgedeckt werden muß, bevor eine wahrhafte Überwindung möglich wird. Alle anderen Versuche führen zunächst nur zu einer Verschlimmerung der Lage. Sie haben allerdings auch die Funktion, das »Gericht Gottes« zu beschleunigen, das sich im Aufbrechen der Feindschaften zeigt. Die Bergpredigt ist im Zusammenhang mit der biblischen Sozio- und Psychoanalyse der Lüge und der Gewalt zu sehen. Sie bietet nicht isolierte rigoristische Forderungen, sondern weist den Weg zur Überwindung der verhängnisvollen Mimesis.

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Da die Menschen bei allem Aufzeigen der verborgenen bösen Mächte immer wieder fehlen, kommt dem Verzeihen aus christlicher Sicht eine höchste Bedeutung zu. Nur dadurch kann das Übel, das bei allem guten Willen immer wieder durch nachahmende Schläge und Gegenschläge verursacht wird, innerlich überwunden werden. Jesus ermahnt deshalb seine Jünger zu vergeben, ja er fordert sie auf, nicht nur siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal zu verzeihen (Mt 18,22). Bei dieser Forderung mag man zunächst wieder an eine rhetorische Übertreibung denken. Damit ginge man aber an der gemeinten Sache ganz vorbei. Hier dürfte vielmehr eine klare Anspielung auf die alttestamentliche Gestalt des Lamech vorliegen. Nach der einen Darstellung des Buches Genesis war dieser der fünfte Nachkomme Kains (Gen 4,17 f.), nach der anderen war er der siebte Nachkomme Sets und der Vater Noachs (Gen 5,1-32). Doch diese Unterschiede sind von geringer Bedeutung. Ausschlaggebend ist, was das Buch Genesis Lamech in den Mund legt:

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Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde

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und einen Knaben für eine Strieme.

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Wird Kain siebenfach gerächt,

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dann Lamech siebenundsiebzigfach (Gen 4,23 ff.).

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Lamech symbolisiert die innere Maßlosigkeit der kainitischen Gesellschaft, die auf dem harten Prinzip der siebenfachen Rache beruht. Die Rache kennt aus sich heraus keine Grenze. Lamech erschlägt bereits für eine kleine Strieme einen Knaben und nimmt siebenundsiebzigfache Rache. Die entsprechende Forderung Jesu, siebenundsiebzigfach zu verzeihen, beinhaltet folglich, daß die Jünger selbst vor der Maßlosigkeit des Bösen nicht kapitulieren dürfen. Aus dem Geist Jesu heraus kann einer nie sagen: jetzt ist das Maß voll; jetzt zahle ich dem Gewalttäter mit gleicher Münze heim.

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Selbst dem Lamech mit seiner siebenundsiebzigfachen Rache soll ebensovielmal verziehen werden. Die Herrschaft der Gewalt kann nur dann innerlich gebrochen werden, wenn überhaupt nie der Punkt kommt, an dem die verzeihende Liebe vor ihr kapituliert und selber anfängt, das Böse durch eine entsprechende Vergeltung nachzuahmen.

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Die verzeihende Liebe hat aus neutestamentlicher Sicht noch in einem anderen Sinne die Maßlosigkeit zum Maß. Die Menschen sollen verzeihen, weil Gott verzeiht (vgl. Mt 6,14 f.); sie sollen so vollkommen sein, wie der himmlische Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Im Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger erzählt Jesus, wie ein König seinem Knecht die riesengroße Summe von zehntausend Talenten auf eine bloße Bitte hin erläßt. Die einzige (unausgesprochene) Bedingung ist, daß der Knecht anderen gegenüber ähnlich handelt. Dieser aber läßt einen Mitknecht, der ihm die über eine Million mal kleinere Summe von hundert Denaren schuldet, ins Gefängnis werfen. Deshalb trifft ihn schließlich doch die Strafe seines Herrn (Mt 18,23-35).

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Die Forderung zu verzeihen, steht von zwei Seiten her vor einem grenzenlosen Anspruch. Sie darf von außen gesehen vor der Maßlosigkeit der rächenden Gewalt anderer nie kapitulieren, und sie hat die Vollkommenheit Gottes zu ihrer inneren Norm. In einem Verzeihen, das nicht nur den Mord Kains, sondern selbst die extreme Rachsucht eines Lamech einholt, offenbart sich das wahre Wesen der verzeihenden Liebe des himmlischen Vaters. Die positive Grenzenlosigkeit der vollkommenen Liebe gewinnt konkrete Gestalt in der Überwindung der negativen Maßlosigkeit des Bösen. Die Forderung Jesu nach einem unbegrenzten Verzeihen bleibt keine abstrakte Idee. Sie verweist die Jünger in jene harte Welt, in der unter dem Einfluß der Mimesis der Kreislauf der Gewalt sich schier endlos weiterdreht, um in der Besiegung dieser negativen Endlosigkeit die positive Grenzenlosigkeit Gottes aufscheinen zu lassen.

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c) Mimesis und Nachfolge

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Jesus hat seine Jünger in die Nachfolge gerufen. Die neuere Theologie unterscheidet klar zwischen Nachahmung und Nachfolge(140). Im Lichte der Theorie Girards erweist sich diese Unterscheidung als doppelt wichtig. Wollte ein Gläubiger Jesus äußerlich zum Modell nehmen und sein Verhal

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ten nachahmen, müßte er sich in eine ihm fremde Welt hineinsteigern (141), und er würde unwillkürlich einem tödlichen Moralismus verfallen. Bei einer rein äußerlichen Fixierung auf den Boten der Liebe geriete der Jünger in eine wachsende innere Spannung. Er würde früher oder später fast notwendigerweise Taten begehen, die dem nachgeahmten Modell total widersprechen. Die Nachahmung der Liebe endet in der Gewalt, wie die Geschichte nur zu oft zeigt.

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Nur durch die Betonung und Verherrlichung der Spontaneität (142) gelingt die Überwindung der Mimesis nicht. Jeder Mensch ist in allen Bereichen zu sehr auf Vorbilder angewiesen, als daß der Versuch, nur den eigenen Eingebungen zu folgen und ganz autonom zu handeln, überhaupt sinnvoll sein könnte. Der Ruf Jesu in die Nachfolge eröffnet hingegen eine dritte neue Möglichkeit neben der Nachahmung eines Modells und der Fixierung auf eine nur in der Phantasie (und im modernen Denken) existierende reine Spontaneität. Jesu Wollen war ganz auf das Reich Gottes ausgerichtet. Das Ziel seines innersten Strebens sprach er als »Abba«, Vater, an (Mk 14,36). Sein Begehren war ein Begehren, das letztlich auf jedes sinnenhafte Objekt verzichten konnte, wie die Erzählungen von der Versuchung zeigen (vgl. Mt 4,1-11; Lk 4,1-13). Er wollte nur seinem Vater dienen. In der Sprache des Johannesevangeliums heißt dies:

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Meine Speise ist es, dem Willen dessen zu gehorchen, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden (Joh 4,34).

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Nicht nur durch seine Worte, sondern vor allem durch seine ganze Existenz hat Jesus die Jünger in die Nachfolge gerufen. Da sein eigenes Begehren und Streben auf den Willen des Vaters ausgerichtet war, hat er auch dem Streben der Jünger das gleiche Ziel gewiesen. Sie begehrten, wie er beten zu können, als sie ihn beten sahen (vgl. Lk 11,1). Wäre das Ziel Jesu ein beschränktes sinnenhaftes Gut gewesen, hätte die unbedingte Jüngerschaft notwendigerweise zu Rivalitäten führen müssen. Weil er aber auf das unmittelbare Begehren verzichtet hat, bewegte er auch seine Jünger zu ähnlichen Taten. Sie haben »alles verlassen« und sind ihm »nachgefolgt« (Mk 10,28). Jeden, der im vollen Sinn das Leben gewinnen wollte, verwies er auf diesen Weg (Mk 10,17-27), und er zeigte ihnen durch sein Wort und sein eigenes Streben den himmlischen Vater als wahrhaft begehrenswertes Gut auf. Dieser Vater ist aber ein unendliches Gut. Er kann deshalb von

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vielen, ja von allen Menschen erstrebt werden, ohne daß Rivalitäten zu befürchten sind.

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Gott als das unendliche Gut ist nicht nur reich genug für alle Menschen. Jesus hat auch gezeigt, daß der himmlische Vater kein Rivale seiner Geschöpfe ist. Im klaren Gegensatz zur Schlange in der Paradieserzählung, die Eva einreden wollte, Gott sei eifersüchtig, machte Jesus vor allem durch seine Heilungen am Sabbat deutlich, daß es keinen Gegensatz gibt zwischen dem Dienst Gottes und dem Wohl der Menschen. Die Pharisäer haben, indem sie gewisse Aussagen des Alten Testaments zum Prinzip erhoben, einen derartigen Gegensatz konstruiert. Jesus aber hat unter Berufung auf andere Schriftstellen einen Vater geoffenbart, der Barmherzigkeit will und nicht Opfer (Mt 12,1-8; vgl. Lk 6,1-5). Würde Gott von den Menschen Opfer verlangen, müßte sein Begehren notwendigerweise immer wieder in Konflikt geraten mit dem menschlichen Streben nach eigener Erfüllung. Er will aber nichts anderes als das wahre Wohl seiner Geschöpfe. Deshalb ist die Versöhnung untereinander sogar dem äußeren Kult vorzuziehen:

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Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe (Mt 5,23 f.).

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In dieser Forderung offenbart sich genau das Gegenteil von einem Gott, der auf die Menschen eifersüchtig wäre. Wo die Menschen einander Gutes tun, dort geschieht der wahre Gottesdienst (vgl. Mt 25,31-46). Jeder äußere Kult ist ohne die vorgängige Versöhnung wertlos, ja sogar heuchlerisch. Er hat aus sich heraus keinen eigenen Wert. Nur als äußeres Zeichen gelebter Bruderliebe ist er Gott wohlgefällig.

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Auf einen letzten Punkt, durch den sich der Weg der Nachfolge von einer äußeren Nachahmung grundlegend unterscheidet, ist kurz einzugehen. Wie vor allem das Johannesevangelium zum Ausdruck bringt, hat Jesus seinen Jüngern Gott nicht nur als das wahre Ziel aufgezeigt; er hat ihnen auch zu erkennen gegeben, daß er mit diesem Ziel auf ungeahnte Weise eins ist. Seine einmalige Nähe zum Vater könnte deshalb für die Jünger nochmals zu einem Objekt perfider untergründiger Rivalität werden. Das Streben der Menschen ist maßlos, und wie die Erzählung vom Sündenfall besonders deutlich macht, zielt es letztlich darauf, wie Gott zu sein (Gen 3,5). Wenn Jesus seine besondere Nähe zum Vater, ja seine Einheit mit ihm offenbart, weckt er dann nicht zutiefst im Herzen der Jünger spontan den heimlich-unheimlichen Wunsch auf gleiche Weise mit Gott eins zu sein? Löst er nicht durch sein offenes Zeugnis ein abgründiges rivalisierendes Streben aus? Oder gehört es zum Verzicht der Nachfolge, gerade diesen Wunsch in

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sich auszurotten? - Doch kann der Mensch überhaupt sein heimlichstes und tiefstes Verlangen abtöten? Verdrängt er es nicht, sofern er dies versucht, nur in dunkle Bereiche, wo es unkontrolliert weiterwuchert und gewaltsame Ausbrüche vorbereitet? - Der Mensch müßte ein ganz autonomes Wesen sein, wenn er eine volle Herrschaft über seine innersten Strebungen und seine abgründigen Begierden hätte. Doch gerade dies trifft nach dem eindeutigen Zeugnis der alt- und neutestamentlichen Schriften nicht zu. Wird in ihm ein letztes Verlangen wach und der Wunsch, wie Gott zu sein, ist in ihm schon lange geweckt worden, wuchert dieses heimlich weiter, bis es eine wahre Befriedigung findet.

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Wie kann eine letzte perverse Rivalität vermieden werden, wenn der Mensch seine heimlichste Begierde, wie sein größtes Vorbild, wie Gott zu sein, nicht ausrotten kann? - Die klarste Antwort findet sich in der Abschiedsrede des Johannesevangeliums. Auch der geheimsten Rivalität wird hier dadurch der Boden entzogen, daß Jesus seinen Jüngern nichts von seinem Leben und seiner Fülle vorenthält:

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Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; ich habe euch Freunde genannt, weil ich euch alles geoffenbart habe, was ich von meinem Vater gehört habe (Joh 15,15).

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Was Jesus dank seiner einmaligen Intimität vom Vater empfangen hat, gibt er seinen Jüngern weiter. Als das Brot vom Himmel ist er ganz Speise für andere (Joh 6,35.48.51). Er bittet deshalb seinen Vater ausdrücklich, daß alle Gläubigen in die volle Einheit mit ihm aufgenommen werden:

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Aber ich bitte nicht nur für sie, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast (Joh 17,20 f.; 14,20; 17,22 ff.).

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Das göttliche Leben, das Jesus vom Vater empfangen hat, bleibt nicht ein ausgesondertes und eifersüchtig zu behütendes Gut. Der Meister bleibt mit seinem inneren Reichtum nicht ein fernes unerreichbares Modell. Seine Jünger sind nicht mehr Knechte, er macht sie zu seinen Freunden, indem er ihnen alles, was er selber vom Vater empfangen hat, weitergibt(143).

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Im Kapitel über das Alte Testament haben wir gesehen, daß es zwischen David und Jonatan zu keiner Rivalität kam, obwohl alle Voraussetzungen

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dazu äußerst günstig waren. Der Grund lag darin, daß jeder den anderen wie das eigene Leben geliebt hat. Jesus hat seine Jünger noch mehr als sein irdisches Leben geliebt:

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Es gibt keine größere Liebe als die, wenn einer sein Leben gibt für seine Freunde (Joh 15,13).

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Jesus hat sein Leben tatsächlich hingegeben. Das Verhältnis Meister - Schüler, das immer in Rivalitäten abzugleiten droht, hat er weitergeführt in die Beziehung reiner Freundschaft. Bevor die Jünger zu Freunden werden, müssen sie jedoch allem eigenmächtigen Streben absterben. Sie müssen zur tiefsten Einsicht und Erfahrung kommen, daß sie aus sich selber nichts sind. Wenn sie alles getan haben, sollen sie von sich selber sagen: »Wir sind unwürdige Knechte« (Lk 17,10). Sie haben dabei keineswegs den unmöglichen Versuch zu unternehmen, das unbegrenzte Streben auszurotten. Im Gegenteil, sie müssen ihr Herz weit mehr öffnen, als es der spontanen menschlichen Neigung entspricht, und sie werden gerade durch die geschenkte Erfüllung fähig, die eigene Niedrigkeit in Wahrheit einzusehen und einzugestehen.

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Auch wenn der Mensch in irgendeiner verborgenen Tiefe seines Wesens danach strebt, wie Gott zu sein, so bleibt er doch stets ein Kleinkrämer, dessen Herz sich keineswegs spontan der großen Freundschaft und Liebe öffnet. Das allerletzte Problem liegt nicht darin, daß der Mensch wie Gott sein möchte, sondern in der demütigen Anerkennung, daß dieser Wunsch ihm auf eine unausdenkliche Weise tatsächlich erfüllt wird. Der Bettlerstolz muß überwunden werden, damit einer auf jene Botschaft eingehen kann, von der Paulus sagt:

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Wir verkünden, wie in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: wie Großes Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9).

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Auch die verborgenste und geheimste Rivalität kann besiegt werden, weil Gott dem Menschen Größeres zu geben bereit ist, als dieser sich in seinen kühnsten und wildesten Träumen auszumalen vermag.

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d) Jesu Versuch einer neuen Sammlung

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Der Prophet aus Nazaret hat in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern ihren untergründigen Willen zum Töten und zur Lüge bloßgelegt, zugleich hat er die Nähe, ja das Anbrechen des Reiches Gottes verkündet. Durch seine Botschaft der Gewaltfreiheit und der Feindesliebe und durch seinen

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Ruf in die Nachfolge hat er gelehrt, wie den bösen Mächten zu begegnen ist. Seine heilenden Taten und seine Dämonenaustreibungen manifestierten, daß die Worte seiner Verkündigung wirkende Kraft waren, weil sie Menschen tatsächlich aus der Knechtschaft zerstörerischer Mächte und aus unheilvoller Selbstverfangenheit befreiten und zu neuem freien Tun befähigten. Gott offenbarte er als einen Vater, der in keiner Weise ein Rivale der Menschen ist. Diese verschiedenen Aspekte seiner Tätigkeit hatten einen gemeinsamen Nenner: Er versuchte das Volk neu zu sammeln.

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Die Synoptiker betonen sehr oft, daß sich das Volk in Scharen um Jesus drängte (144):

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Viele Menschen aus Galiläa folgten ihm. Auch aus Judäa, aus Jerusalem und Idumäa, aus Peräa und aus der Gegend von Tyrus und Sidon kamen Scharen von Menschen zu ihm, als sie von allen hörten, was er tat (Mk 3,7 f.).

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Jesus zog die Scharen durch sein Wort und seine Wunder an. Er hat sich aber auch selber aktiv um die Sammlung bemüht. Er rief Menschen nicht nur wegen ihres individuellen Heiles in die Nachfolge, sondern um sie zu Menschenfischern zu machen (Mk 1,16-20). In seinem Namen sollten sie die sammelnde Tätigkeit in einem größeren Rahmen weiterführen. Als er die Scharen sah, »die müde und erschöpft (waren) wie Schafe, die keinen Hirten haben«, hatte er Mitleid mit ihnen (Mt 9,36). Er sandte seine Jünger aus mit der Botschaft vom nahen Reich Gottes und mit dem Auftrag zu heilen (Mk 6,6-13 par.). Er verstand sich als der Hirt, und er wollte durch sein eigenes Wort und durch das Wort seiner Jünger die Menschen wie zerstreute Schafe sammeln.

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Bereits die großen alttestamentlichen Propheten hatten die künftige eschatologische Wirksamkeit Gottes als neue Sammlung beschrieben. Nachdem im Zusammenhang mit der ersten Zerstörung Jerusalems die untergründige Gewalt nicht nur bei den götzendienerischen Völkern, sondern selbst im auserwählten Israel ganz offenkundig geworden war, konnten die Propheten den neuen Frieden nur noch als Werk Gottes verkünden. Jesus hat noch radikaler als seine alttestamentlichen Vorläufer den in allen Menschen wirksamen geheimen Willen zum Töten bloßgelegt. Er mußte deshalb den Frieden ebenso entschieden als reine Tat Gottes, als Reich Gottes verstehen. Seine sammelnde Tätigkeit war das notwendige Gegenstück zu seiner Diagnose der Gewalt. Der große Versuch der neuen Sammlung ist zunächst gescheitert. Der feierliche Einzug in Jerusalem war das letzte Zeichen einer

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bereits mißlungenen Bemühung. Das Mattäusevangelium zitiert bei der Beschreibung des Einzuges einen Text aus dem Propheten Sacharja, in dem der kommende Friedenskönig vorgestellt wird (Mt 21,5; vgl. Sach 9,9). Im Kontext ist bei Sacharja auch von der Befreiung der Gefangenen, von der Heimführung des Volkes und von der Errettung der zerstreuten Schafe die Rede. Jesus selbst konnte sein Volk zunächst aber nicht retten und heimführen. Rückblickend auf seine Tätigkeit sagte er:

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Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt werden. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Jungen unter ihre Flügel sammelt; aber ihr habt nicht gewollt (Mt 23,37; Lk 13,34).

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Jesus wollte die Menschen sammeln; ihm stand aber der Geist Jerusalems entgegen, der Geist jener Stadt, die Propheten tötet und Boten steinigt. Sein Mißerfolg war zunächst so total, daß selbst einer aus seinem engsten Freundeskreis sich vom Geist Jerusalems voll gefangen nehmen ließ. Ein anderer verleugnete ihn, und alle übrigen flohen in der entscheidenden Stunde. Gemäß dem Markus- und Mattäusevangelium hat Jesus die allgemeine Zerstreuung derer, die er zum Kern der neuen Sammlung machen wollte, vorausgesagt:

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Ihr werdet alle an mir irre werden; denn es steht geschrieben: Ich werde den Hirten erschlagen, und die Schafe werden zerstreut (Mk 14,27; Mt 26,31).

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Aus Jesu Versuch einer neuen Sammlung wurde so eine neue Zerstreuung. Selbst der innerste Kreis seiner Freunde wurde aufgesprengt. Dafür kam es zu einer Sammlung mit völlig umgekehrten Vorzeichen. Das Markusevangelium spielt im Bericht über den beginnenden Verrat des Judas auf Psalm 41 an (Mk 14,18), in dem ein alttestamentlicher Gerechter klagt, daß selbst sein Freund ihn verlassen hat und daß alle Feinde im Haß gegen ihn einig sind. Jesu Versuch einer neuen Sammlung provozierte eine allgemeine Sammlung und Verschwörung gegen ihn.

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Warum ließ sich das Volk nicht sammeln? Jesus sagte zu den Pharisäern und zur Stadt Jerusalem: »ihr habt nicht gewollt« (Mt 23,37). Dieses Nicht-Wollen dürfte nicht zufällig gewesen sein. Das Volk war unfähig zu wollen. Bereits der Prophet Jeremia hatte verkündigt, daß die Bekehrung Jerusalems nur dann möglich wäre, wenn auch ein Leopard seine Flecken ändern könnte (Jer 13,23). Und schon im Buch Josua findet sich das abgründige Urteil über Israel:

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Es wird euch nicht gelingen, dem Herrn zu dienen, denn er ist ein heiliger Gott, ein eifersüchtiger Gott (Jos 24,19).

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Wie Israel unfähig war, Jahwe zu gehorchen, so war es auch unfähig, die Botschaft Jesu aufzunehmen. Die Kinder Jerusalems haben nicht gewollt, weil sie sich ebensowenig bekehren konnten, wie ein Leopard seinc Flecken ändern kann.

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An drei Stellen im Neuen Testament wird mit leichten Änderungen das unheimlich klingende Wort aus Jesaja aufgegriffen, in dem Gott dem Propheten den Auftrag gibt, das Herz des Volkes hart zu machen, damit es sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird (Jes 6,9 f.). Mit diesem alttestamentlichen Zitat gibt das Neue Testament ausdrücklich den Grund an, weshalb das Volk nicht auf die Botschaft Jesu gehört hat. Das Johannesevangelium sagt:

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Sie konnten deshalb nicht glauben, weil Jesaja an einer anderen Stelle gesagt hat: Er hat ihre Augen geblendet und ihr Herz verhärtet, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht verstehen und umkehren und ich sie heile (Joh 12,39 f.; vgl. Mt 13,14 f.; Apg 28,26 f.).

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Im Zusammenhang mit den alttestamentlichen Aussagen über die Rache ist noch halbwegs verständlich, daß Gott selbst zugeschrieben wird, er blende die Augen und verhärte die Herzen der Menschen. Zwar wird bereits in diesem Kontext problematisch, weshalb Gott den Propheten geschickt hat, wenn er das Volk nicht heilen wollte. Auf dem Hintergrund der neutestamentlichen Botschaft von der grenzenlosen Liebe wird aber völlig unbegreiflich, daß Gott das Herz der Menschen verhärten soll. Das Wort von der Verstockung dürfte demnach in ähnlichem Sinne zu verstehen sein, wie die Aussage Jesu, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Weil die Menschen unfähig sind, zu hören, weil ihr gutes Wollen gebunden ist, bewirkt das Kommen Jesu tatsächlich nur eine Verstockung. Der Gott der Liebe kann unmöglich die Verhärtung des menschlichen Herzens als eigentliches Ziel anstreben. Dennoch sind die diesbezüglichen Aussagen ernst zu nehmen. Sie müssen in dem Sinne verstanden werden, daß Gott seinen Sohn zu Menschen schickt, die aus eigener Kraft heraus nicht fähig sind, ihn aufzunehmen, und die sich deshalb »notwendigerweise« verstocken. Die Worte von der Verblendung und Verhärtung weisen sehr eindrücklich auf die grundsätzliche Unfähigkeit der Menschen hin, Gutes zu wollen. Die brennende Frage lautet deshalb, welchen Sinn diese Verstockung von Gott aus gesehen haben kann. Muß die menschliche Selbstverfangenheit ihre letzte Verhärtung erreichen, bis sie sich aufbrechen läßt? Muß der heimliche Wille zum Töten ganz offenbar werden, bevor er sich in die grenzenlos verzeihende Liebe hinein ergeben kann? Wieder zeigt sich, daß die Verblendung die zentrale hermeneutische Frage bildet.

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4. Alle gegen einen: Jesus als Sündenbock

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Jesus hat die untergründige Neigung zur Gewalt schonungslos bloßgelegt. Sein Versuch aber, die Menschen im Zeichen des Reiches Gottes neu zu sammeln und zum wahren Frieden zu führen, ist zunächst gescheitert. Er provozierte nur eine letzte Verstockung. Jene, die sich in seinem Namen und im Namen seines Vaters nicht sammeln ließen, haben sich gegen ihn zusammengerottet.

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Das jüdische Volk war zur Zeit Jesu in mehrere Gruppen gespalten: die Pharisäer, die das Gesetz und die mündliche Überlieferung hochhielten und im Volk ziemlich Anhang hatten; die Sadduzäer, die neben dem Gesetz keine Überlieferung anerkannten und zu denen vor allem der Tempeladel gehörte; die Zeloten, die als gewalttätige Eiferer den Aufstand gegen die Römer betrieben; die Essener, die sich vom offiziellen Tempelgottesdienst abgesondert hatten und unter strenger Gesetzesbeobachtung das Weltende erwarteten. Obwohl sich diese Gruppen untereinander normalerweise stark befehdeten (vgl. Mt 22,23-40; Apg 23,1-10), trafen sie sich doch in der Ablehnung Jesu. Ohne die offene oder stillschweigende Zustimmung der Pharisäer, Sadduzäer und Zeloten hätte Jesus kaum verurteilt werden können. Und die gesetzeseifrigen Essener werden den »Übertreter« des Sabbatgebotes auch kaum unterstützt haben.

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Die Synoptiker berichten, wie sich in Galiläa vor allem die Pharisäer gegen Jesus gewandt haben (Mk 2,7 par.). Sie waren es, die nach der Heilung des Gelähmten am Sabbat in Wut gerieten und als erste den Beschluß faßten, Jesus umzubringen (Mk 3,6 par.). Das Markusevangelium erwähnt, die Pharisäer hätten diesen Entscheid zusammen mit den Anhängern des Herodes getroffen.

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Die Situation verschlimmerte sich für Jesus bei seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem. Nun begannen auch die Sadduzäer, sich ganz entschieden gegen ihn zu wenden. Nach Mk 11,18; 12,12 bildeten »Jesu prophetische Tempelaktion (11,15-17) und deren polemische Rechtfertigung vor einer wohl amtlichen Kommission (11,27-12,9) den Hauptanlaß für das Vorgehen der Jerusalemer Führung gegen den galiläischen Propheten, dem die Festpilger schon beim Einzug vor den Toren Jerusalems messianische Ovationen« (145) bereitet hatten (Mk 11,1-11). Von der Tempelreinigung an werden in den synoptischen Evangelien die Hohenpriester, die aus der Partei der Sadduzäer stammten, und die Schriftgelehrten, die vorwiegend zu den

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Pharisäern gehörten, immer zusammen als Feinde Jesu genannt. Beide Gruppen suchten gemeinsam, ihn zu beseitigen (Mk 11,18 ; Mt 21,45 f.; Lk 19,47; 20,19)(146). Diese Verschwörung konnte aber zunächst nicht richtig wirksam werden. Ein beachtlicher Teil des Volkes hing an ihm. Die Führer fürchteten sich deshalb, offen gegen ihn vorzugehen (Mk 12,12 par.). Sie sannen darauf, ihm heimlich beizukommen:

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Die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten nach einer Möglichkeit, Jesus auf listige Weise zu ergreifen und ihn zu töten. Sie sagten aber: Ja nicht am Fest, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt! (Mk 14,1 f.).

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Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme wurde Jesus zur Zeit des Festes verhaftet. »Die entscheidende Voraussetzung der sich in der Paschanacht und am ersten Festtag überstürzenden Ereignisse ist zweifellos der Judasverrat (Mk 14,10 f.43.46) gewesen. Er liefert(e) Jesus - wohl unverhofft und überraschend - noch in der Paschanacht in die Hände der Jerusalemer Führung im Haus des Hohenpriesters (Mk 14,53).« (147)

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Nachdem Jesus verhaftet worden war, »fällten alle das Urteil, er sei des Todes schuldig« (Mk 14,64). Das Markusevangelium hebt sogar hervor, daß am frühen Morgen »die Hohenpriester, die Ältesten und die Schriftgelehrten, also der ganze Hohe Rat, Jesus fesseln, abführen und an Pilatus ausliefern« ließen (Mk 15,1).

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Wie stand es mit dem Volk? Die verbreitete Vorstellung, daß die Massen Jesus beim Einzug in Jerusalem zugejubelt und daß die gleichen Leute wenige Tage später leidenschaftlich seine Kreuzigung verlangt haben, dürfte historisch kaum zutreffend sein. Die Führer haben gerade das Volk gefürchtet und werden deshalb kaum eine größere Menge über die geglückte Verhaftung informiert haben. Dennoch wird das Volk erwähnt. Leicht denkbar wäre, daß zufällig zur gleichen Zeit, als die führenden Kreise Jesus an Pilatus auslieferten, sich auch ein Volkshaufen bei ihm einfand, um die Befreiung des Barabbas zu fordern (148). Diese Leute hätten Jesus abgelehnt, weil der Landpfleger sie vor eine Wahl stellte. Der Menge wäre es in erster Linie um die Freilassung des Barabbas gegangen, der nach der Darstellung des Markusevangeliums vielleicht sogar als Unschuldiger verhaftet worden war. Der Prophet aus Nazaret wäre demnach eher zufällig von einer Gruppe des Volkes verstoßen worden.

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Die historische Frage wird sich bei der gegebenen Quellenlage wohl nie mit letzter Sicherheit beantworten lassen. Für unsere Interpretation ist sie

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auch nicht von großer Bedeutung. Entscheidender ist, daß die Evangelien in jenen Menschen, die auf die eine oder andere Weise bei der Verwerfung Jesu aktiv beteiligt waren, Repräsentanten ganzer Bevölkerungsschichten sehen und ihrem Tun eine grundsätzliche Bedeutung beimessen.

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Wir haben bereits festgestellt, daß Markus betont, »der ganze Hohe Rat« habe Jesus an Pilatus ausgeliefert (Mk 15,1). Mattäus spricht davon, daß » alle Hohenpriester und Ältesten des Volkes gemeinsam den Beschluß« faßten, ihn hinrichten zu lassen (Mt 27,1). Lukas erwähnt, daß sich »die ganze Versammlung« an diesem Tun beteiligte (Lk 23,1). Alle Synoptiker betonen folglich die Einmütigkeit der verantwortlichen Führer des Volkes.

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Von Pilatus forderte nach der Darstellung des Markusevangeliums »eine Menge« die Kreuzigung Jesu. Wie groß dieser Haufen tatsächlich gewesen sein mag, können wir, wie erwähnt, offenlassen. Für diese Menge wird aber das gleiche Wort gebraucht wie für jenes Volk, das früher Jesus folgte und sich von ihm begeistern ließ. Der Text legt folglich eine größere Zahl nahe, er erwähnt zudem, daß diese Menge zweimal laut schreiend gegen den widerstrebenden Pilatus die Kreuzigung Jesu verlangt hat. Das Markusevangelium erweckt so den Eindruck, daß eine große Zahl des Volkes Jesus leidenschaftlich abgelehnt hat. - Das Mattäusevangelium spricht in der Mehrzahl von Volksmengen (Mt 27,20.22). Diese sollen geschrien haben und in einen großen Tumult geraten sein (Mt 27,22 ff.). Dabei heißt es ausdrücklich, »das ganze Volk« habe gerufen: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27,25). Gemäß dieser Darstellung hat sich ganz Israel in verstockter Herausforderung gegen Jesus gewandt.

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Auf ähnliche Weise redet das Lukasevangelium bei der Darstellung der Verhandlung vor Pilatus ohne Einschränkungen vom Volk. Es erwähnt ausdrücklich, daß »alle miteinander« geschrien haben: »Weg mit ihm, laß den Barabbas frei!« (Lk 23,18). In diesem Evangelium findet sich zudem die Erzählung, daß Pilatus Jesus zu Herodes führen ließ. Dort klagten ihn die Hohenpriester und Schriftgelehrten aufs schärfste an, während Herodes und die Soldaten ihn verspotteten. Der Text legt folglich nahe, daß alle entscheidenden Kräfte in Israel einmütig Jesus angeklagt und verachtet haben. Die Erzählung schließt sogar mit dem interessanten Hinweis:

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An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher hatten sie in Feindschaft gelebt (Lk 23,12).

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Gegen Jesus haben sich nicht nur die verschiedenen Gruppen zusammengefunden, durch die gemeinsame Verachtung des Propheten aus Nazaret wurden aus bisherigen Feinden sogar Freunde. Die erwähnten Aussagen sind nicht in dem Sinne zu verstehen, als ob die Synoptiker jeden Juden im einzelnen für die Kreuzigung Jesu verantwortlich machen würden. Das

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Lukasevangelium sagt zum Beispiel ausdrücklich von Josef von Arimatäa, einem Mitglied des Hohen Rates:

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Er wartete auf das Reich Gottes und hatte dem, was die anderen beschlossen und taten, nicht zugestimmt, weil er gut und gerecht war (Lk 23,51).

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Selbst dieser Gerechte dürfte aber keinen offenen Widerstand geleistet, sondern sich aus Furcht ferngehalten oder zum mindesten geschwiegen haben. Das Johannesevangelium sagt auf alle Fälle von ihm, er sei »aus Furcht vor den Juden nur heimlich ein Jünger Jesu« gewesen (Joh 19,38). Desgleichen haben die anderen Jünger - mit Ausnahme des Judas - nicht offen gegen ihren Meister gehandelt. Doch aus Furcht »verließen ihn alle und flohen« (Mk 14,50). Sobald der Hirt getroffen wurde, haben sich die Schafe zerstreut (vgl. Mk 14,27).

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Jesus war in der entscheidenden Stunde ganz allein. Gegen ihn kämpften die Führer des Volkes, die sich ganz auf das Gesetz beriefen und damit voll im Namen Israels handelten. Eine Gruppe aus dem Volk schloß sich der offiziellen Behörde aus welchen Gründen auch immer an. Die Evangelien sehen in diesen Kräften Repräsentanten von ganz Israel. Danach standen schließlich alle gegen den Propheten aus Nazaret, weil sie sich fürchteten oder weil sie im letzten doch mit dem Geist ihrer Führer übereinstimmten (149).

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Wie ist die Tendenz der Evangelien, ganz Israel für die Verwerfung Jesu verantwortlich zu machen, zu verstehen? Handelt es sich um eine tendenziöse Darstellung, oder liegt darin eine grundsätzliche theologische Aussage? Wir haben bereits gesehen, daß zentrale neutestamentliche Texte eine heimliche Neigung zur Lüge und zur Gewalt in allen Menschen aufdecken. Dieser böse Geist wird am offenkundigsten in der Verwerfung Jesu. Wenn nun auf die eine oder andere Weise letztlich in allen Menschen der gleiche Geist wirksam ist, dann stehen heimlich auch alle gegen ihn. Die Erzählweise der Evangelien steht folglich ganz in Übereinstimmung mit jenen vielen Aussagen, die eine universale Neigung zur Gewalt bloßlegen. In der

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Allianz der Repräsentanten des Volkes und in der Furcht der anderen zeigt sich, daß letztlich alle zusammen gegen Jesus standen.

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In die gleiche Richtung weisen die hermeneutischen Überlegungen am Anfang dieses Kapitels. Im Gleichnis von den bösen Winzern handeln die Pächter nicht je einzeln gegen die Knechte und gegen den geliebten Sohn ihres Herrn. Sie verabreden sich vielmehr miteinander und handeln gemeinsam (Mk 12,7). Sie sind die Bauleute, die den Stein verwerfen. Der erste Petrusbrief identifiziert diese Bauleute mit allen (ungläubigen) Menschen (1 Petr 2,7 f.). Und Paulus spricht davon, daß alle Machthaber der Erde für die Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit verantwortlich sind (1 Kor 2,8). Alle ungläubigen Menschen sind die bösen Winzer, die sich zusammentun, um den geliebten Sohn zu packen, zu töten und hinauszuwerfen. Die Erzählweise der Evangelien, die den historisch begrenzten Ereignissen bei der Verwerfung Jesu auf indirektem Weg eine grundsätzliche Bedeutung zumißt, stimmt folglich ganz mit den reflexen hermeneutischen Aussagen des Neuen Testaments überein.

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Ein weiteres Element in der Erzählweise ist zu erwähnen. »Zwei Drittel des Materials der vormarkinischen Passionsgeschichte ist durch Anspielungen bzw. Zitationen von passio iusti-Motiven mitgeprägt.«(150) Rudolf Pesch hat die entsprechenden Stellen herausgearbeitet. Dabei handelt es sich vor allem um Anspielungen auf jene Psalmen, die sich unabhängig von neutestamentlichen Überlegungen für unsere Interpretation des Alten Testaments als zentral erwiesen haben (Ps 22; 31; 38; 55; 69; 109; 118). Es sind dies Lieder, in denen besonders ausdrücklich davon gesprochen wird, daß der Gerechte von vielen verlogenen Feinden ohne Grund verfolgt wird und daß eine ganze Rotte von Gewalttätern ihn umgibt. Die ganze vormarkinische Passionsgeschichte ist folglich auch dort, wo nicht ausdrücklich davon gesprochen wird, von der Vorstellung geprägt, daß viele verlogene Feinde sich gegen den einen gerechten Jesus zusammengerottet haben. Dabei ist nur zu bemerken, daß die Ausdrucksweise präziser wäre und näher an die biblischen Texte heranführen würde, wenn man nicht, wie dies in traditioneller Weise geschieht, vom »leidenden Gerechten«, sondern vom »verfolgten Gerechten« (persecutio iusti) sprechen würde. Schon im Alten Testament rühren die Leiden des Gerechten meistens von der Verfolgung durch viele Feinde her. Und dieses Motiv wurde nur deshalb für das Neue Testament so zentral, weil Jesus selber angefeindet und gewaltsam umgebracht wurde. Andere Formen des Leidens wie Krankheit, Hunger, Kinderlosig-

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keit, Gefahren von wilden Tieren etc. spielten in seinem Geschick überhaupt keine Rolle.

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Die erwähnten Fakten zeigen sehr deutlich, daß nicht nur einige isolierte Aussagen, sondern die ganze Erzählstruktur der Evangelien auf die Zusammenrottung der Feinde gegen Jesus hinweisen. Es handelt sich folglich um einen ganz zentralen Vorgang in seinem Geschick. Am allerdeutlichsten wird dies in einem Text der Apostelgeschichte ausgesprochen, auf den wir bis jetzt noch nicht eingegangen sind, der aber die bisherige Untersuchung voll bestätigt.

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Lukas erzählt in seiner zweiten Schrift, wie Petrus und Johannes von den Priestern, vom Tempelhauptmann und von den Sadduzäern wegen ihrer Predigt im Anschluß an eine Heilung verhaftet wurden. Weil man ihnen direkt nichts vorwerfen konnte, ließ man sie wieder frei. Nach ihrer Entlassung betete die versammelte Gemeinde einmütig zum Herrn. In diesem Gebet wird zunächst Psalm 2 zitiert, und zwar genau die Stelle, die vom Bündnis der Könige der Erde gegen den Herrn und seinen Gesalbten spricht:

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Was toben die Heiden,

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was machen die Völker vergebliche Pläne?

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Die Könige der Erde stehen auf,

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und die Herrscher haben sich verbündet

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gegen den Herrn und seinen Gesalbten

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(Apg 4,25 f.).

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Die verfolgte Gemeinde findet ihr eigenes Geschick vorgezeichnet in den Psalmen. Sie greift dabei gerade jene Stelle heraus, die vom Bündnis der vielen Könige gegen den einen Gesalbten des Herrn spricht. Dieses alttestamentliche Thema überträgt sie dann unmittelbar auf das Geschick Jesu, indem sie in ihrem Gebet fortfährt:

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Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, um alles auszuführen, was deine Hand und dein Ratschluß im voraus bestimmt haben (Apg 4,27 f.).

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Dieser Text enthält auf die denkbar klarste Weise zwei Aussagen, die für unsere Interpretation von entscheidender Bedeutung sind: 1. Die Feinde handeln nicht je einzeln; sie haben sich vielmehr gegen Jesus verbündet. 2. Die feindliche Allianz hat eine universale Dimension. Sie umfaßt Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels. Obwohl Lukas in seinem Evangelium erzählt, daß der römische Landpfleger von den jüdischen Führern zur Hinrichtung Jesu gedrängt werden mußte, sagt er nun, daß Pilatus ganz zum Bündnis gegen Jesus gehörte. Das im Text

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des Evangeliums belanglos scheinende Detail, daß Herodes und Pilatus anläßlich der Verwerfung Jesu aus Feinden zu Freunden wurden (Lk 23,12), erhält durch die Apostelgeschichte eine sehr grundsätzliche Bedeutung. Herodes und Pilatus erweisen sich als die Repräsentanten einer Allianz, die sowohl die Heiden wie die Stämme Israels umfaßt. Gemäß dem theologischen Urteil der Apostelgeschichte haben sich nicht nur einige jüdische Führer, eine Gruppe des Volkes und ein wankelmütiger Heide bei der Verwerfung Jesu zusammengefunden. Ganz Israel, alle Stämme, auch jene, die längst nicht mehr existierten, und alle Heiden haben sich vielmehr gegen den Knecht Gottes verbündet. Im begrenzten historischen Ereignis wird eine weltweite Dimension aufgedeckt. Die Tendenz zur Universalisierung, die wir bereits im Alten Testament sehr deutlich feststellen konnten, findet hier ihren Höhepunkt und ihre Vollendung. Alle Menschen der Erde verbünden sich gegen einen einzigen, gegen Jesus, den Gesalbten Gottes. Alle Gewalttäter stehen gegen den einen Heiligen. Die grundsätzliche Bedeutung des feindlichen Bündnisses wird durch die Tatsache zusätzlich unterstrichen, daß sich ein ähnlicher Vorgang im Leben der Jünger Jesu wiederholt. Die Tötung des Stephanus, des Protomärtyrers, schildert die Apostelgeschichte auf folgende Weise:

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Da erhoben sie (die Juden) ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten wie ein Mann auf ihn los, trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn (Apg 7,57 f).

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Hier wird das, was Girard mit dem Sündenbockmechanismus meint, in seiner reinsten Form beschrieben. Die Menge ist zutiefst erregt. Sie schreit und hält sich die Ohren zu. Sie stürmt wie ein Mann auf Stephanus los. Ihr Gottesverständnis ist total verschieden von dem des Ausgestoßenen. Sie hält ihn für einen Lästerer, und alle finden sich einmütig zusammen, ihn zu steinigen.

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Gemäß den Analysen Girards hat der Sündenbockmechanismus insofern eine universale Dimension, als er sich zu allen Zeiten und bei allen Völkern auf offene oder verborgene Weise wiederholt. Diese Universalität kennen auch die biblischen Schriften. Alttestamentliche Bücher sprechen immer wieder von der Zusammenrottung der Feinde. Auch im Geschick Jesu spielt sie die entscheidende Rolle und ebenso beim Protomärtyrer. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Perspektive Girards findet sich allerdings in den biblischen Büchern noch eine andere, allein der Offenbarung eigene Art der Universalität. Das Neue Testament sagt, daß alle Menschen der Erde sich gegen einen ganz konkreten Menschen, gegen Jesus, verbündet haben. Diese Aussage läßt sich in keiner Weise historisch verifizieren. Es handelt sich um ein theologisches Urteil, das sich ergibt aus dem einmaligen Anspruch Jesu und aus seinem Geschick, zu dem auch seine Auf

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erweckung und die Sendung des Geistes gehört. Die Theorie Girards deutet keineswegs die ganze Schrift. Wohl aber liefert sie die begrifflichen Voraussetzungen, um die Aussagen der biblischen Bücher ihrem vollen Gehalt nach zu würdigen. Sie hilft Zusammenhänge aufdecken, die man üblicherweise nur zu leicht übersieht.

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5. Der Sohn Gottes als »notwendiger« Sündenbock

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In »La violence et le sacré« wird durch eingehende literarische und ethnologische Analysen dargelegt, daß die Wahl des Sündenbocks immer rein zufällig geschieht. Girard kann auf diese Weise einsichtig machen, daß die aufbrechende Gewalt nicht durch objektive Gründe, sondern durch die Mimesis geweckt wird. Sie entlädt sich auf einen, der nicht mehr und nicht weniger schuldig ist als alle anderen. Durch dieses Spiel des Zufalls wird zugleich ein einleuchtender Grund für die unübersehbar vielfältigen Ausdrucksformen menschlicher Religion und Kultur angegeben.

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Das Neue Testament unterscheidet sich darin grundlegend von »La violence et le sacré« , daß es Jesus nicht als zufälligen Sündenbock begreift. Der heilige Knecht »mußte« leiden, und die aufbrechende Gewalt »mußte« sich auf ihn entladen. Alle Evangelien heben deutlich hervor, daß die Verkündigung Jesu von Anfang an Konfliktstoff enthielt. Seine Einstellung zum Gesetz und sein Verhalten gegenüber den Sündern waren eine erste und ernste Provokation der Schriftgelehrten und Pharisäer. Als daraus eine Feindschaft entstand, provozierte Jesus seine Gegner nochmals, indem er ihnen ihren heimlichen Willen zum Töten vorhielt. Über ihn hat sich nicht eine spontan aufbrechende Leidenschaft ergossen. Er hat einen einmaligen Anspruch erhoben und bei jenen, die seine herausfordernde Predigt ablehnten, schonungslos eine unterschwellige Neigung zur Gewalt bloßgelegt. Er gab dem aufbrechenden Haß festen Anlaß, sich auf ihn zu entladen. Seine Botschaft von der grenzenlosen Liebe Gottes und sein gewaltfreies Verhalten boten zwar nicht den geringsten objektiven Grund zu einem Vorgehen gegen ihn. Der Haß seiner Gegner war insofern völlig grundlos. Leidenschaften, die sich verbergen wollen, »mußten« aber an seinen offenen Worten und an seinem provozierenden Verhalten Anstoß nehmen. Jesus wurde notwendigerweise zum Sündenbock.

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Gemäß den Analysen von »La violence et le sacré« geschieht das Umschlagen der wechselseitigen Rivalitäten und allseitigen Aggressionen in die einmütige Gewalt aller gegen einen spontan und ganz plötzlich. Im Unterschied dazu stellen

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die Evangelien dar, wie die Gegnerschaft Jesu langsam gewachsen ist und wie sich die feindlichen Gruppen schrittweise gesammelt haben. Dies bedeutet keineswegs, daß die Verschwörung nur das Werk einer kühlen rationalen Überlegung war. Alle Evangelien betonen auf die eine oder andere Weise, daß hinter den gegnerischen Plänen und Beschlüssen letztlich eine blinde Leidenschaft wütete. So schließt Lukas seinen Bericht über eine Heilung am Sabbat mit der Bemerkung:

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Da wurden sie (die Pharisäer) von sinnloser Wut erfüllt und berieten, was sie gegen Jesus unternehmen könnten (Lk 6,11).

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Diese Aussage muß nicht unbedingt in dem Sinn interpretiert werden, daß die Pharisäer mit verzerrten und wutschnaubenden Gesichtern herumliefen. Das Lukasevangelium möchte nur hervorheben, daß ihre Gegnerschaft letztlich sinnlos war. Sie entsprang nicht objektiven Gründen, obwohl die Schriftgelehrten sicher glaubten, solche zu haben; in letzter Analyse war sie nur das Produkt einer blinden Leidenschaft. Auf diesen Sachverhalt weisen die Passionsberichte aller Synoptiker ausdrücklich hin. Man suchte Zeugen, nachdem der Beschluß, ihn umzubringen, bereits gefallen war. Von dem Hohen Rat wurde er bespuckt und mit Fäusten geschlagen (vgl. Mk 14,65). Die Szene mit Barabbas wird so dargestellt, daß die Menge die Freilassung des Mörders und die Verurteilung des Unschuldigen forderte. Auf die Frage des römischen Landpflegers, was er mit Jesus tun solle, schrien alle ohne Angabe eines Grundes: »Kreuzige ihn!« (Mk 15,13). Auf den Einwand insistierend, welches Verbrechen er denn begangen habe, antworteten die Führer und die Menge nicht einmal mehr mit Scheinanklagen. Sie verrieten ihr wahres Streben, indem sie nur noch lauter das gleiche schrien: »Kreuzige ihn!« (Mk 15,14). Der Passionsbericht zeigt auf diese Weise, daß die Leidenschaft die ruhige Vernunft ganz verdrängt hatte. Die Menge verlangte nur noch ein blutiges Opfer. Die synoptischen Evangelien sagen auf erzählerische Art, was das Johannesevangelium reflex ausdrückt: Jesus wurde ohne Grund gehaßt (Joh 15,25).

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Ist vor Pilatus die reine Leidenschaft durchgebrochen, so haben die jüdischen Führer keineswegs nur aus augenblicklicher Erregung gehandelt. Der Konflikt zog sich über längere Zeit hin. Es kam zu Streitgesprächen zwischen Jesus und seinen Gegnern, und diese haben unter sich viele Beratungen gehalten. Die Pharisäer waren keine Mörderbande im alltäglichen Sinn des Wortes. Zu ihnen zählten sehr gebildete und besonnene Menschen, und ihre Frömmigkeit war nach üblichen Vorstellungen echt. Dennoch stellen die Evangelien dar, wie auch diese Männer ganz von der Leidenschaft gefangengenommen wurden. Die unheimliche Fähigkeit der unterschwelligen Gewalt, die Vernunft zu betören, könnte kaum besser zum Ausdruck gebracht werden als durch das Beispiel der Pharisäer. Gegen Jesus haben sich nicht nur sehr unterschiedliche Gruppen zusammengetan. Der über längere Zeit schwelende Konflikt zeigt, daß eine totale Leidenschaft am Werk war, ein Streben, das den Verstand und den Willen der Beteiligten ganz in Beschlag nahm.

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Was war der tiefste Grund, daß sich die Gewalttätigkeiten in diesem ungewöhnlichen Maße auf Jesus entladen haben? Einen wichtigen Anlaß haben wir bereits festgehalten: die Bloßlegung des unterschwelligen Willens zum Töten. Jene Kräfte, die Jesus aufgedeckt hat, haben sich spontan gegen ihn gewandt. Überraschenderweise zeigen aber alle Evangelien, daß dies nicht der entscheidende Grund war. Der eigentliche Anstoß zur Auslösung der Gewalt lag im hohen Selbstbekenntnis Jesu.

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Gemäß den synoptischen Evangelien haben die Pharisäer ihren ersten Beschluß, Jesus umzubringen, nach einer Heilung am Sabbat gefaßt (Mk 3 ,1-6 par.). Alle drei Evangelisten setzen aber unmittelbar vor den Heilungsbericht das anspruchsvolle Wort: »Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat« (Mk 2,28 par.). Nicht die einmalige oder öftere Übertretung des Buchstabens, sondern der grundsätzliche Anspruch Jesu, Herr über den Sabbat und damit über das von Gott gegebene Gesetz zu sein, hat den unerbittlichen Widerstand der Pharisäer geweckt.

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Der direkte Zusammenhang zwischen dem hohen Selbstbekenntnis und der Entfesselung des Willens zum Töten zeigt sich noch deutlicher bei der Verurteilung Jesu durch den Hohen Rat. Markus und Mattäus berichten, wie die jüdische Behörde zunächst ein falsches Zeugnis gegen ihn suchte, aber keines finden konnte. Danach folgte die Frage des Hohenpriesters, ob er der Messias, der Sohn des Hochgelobten, sei (Mk 14,61 par.). Auf die als Zustimmung verstandene Antwort zerriß Kajafas das Gewand, und alle fällten das Urteil, der Angeklagte sei des Todes schuldig. Das (direkte oder indirekte) Selbstbekenntnis Jesu, der Sohn Gottes zu sein, war - gemäß den synoptischen Evangelien - der letztlich entscheidende Anlaß für das Todesurteil.

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Im Johannesevangelium wird der gleiche Zusammenhang noch stärker betont. Bereits im Anschluß an den Bericht über eine Heilung am Sabbat schreibt der Evangelist:

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Weil Jesus ihn (den Gelähmten) am Sabbat geheilt hat, verfolgten ihn die Juden. Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater ist bis zur Stunde tätig, und auch ich bin tätig.

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Darum strebten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich dadurch Gott gleich machte (Joh 5,16 ff.).

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Dieser Text hebt ausdrücklich hervor, daß der hohe Anspruch Jesu entscheidender war für die ablehnende Reaktion der Juden als der Bruch des Sabbatgebotes. Den gleichen Sachverhalt finden wir in der großen Streitrede über die wahre Vaterschaft. Jesus wirft darin seinen Gegnern vor, sie seien nicht Kinder Abrahams, sondern ihr wahrer Vater sei der Mörder von Anbeginn. Selbst durch diese äußerst harte Anklage geraten die Juden aber nicht ganz aus der Fassung. Das Johannesevangelium läßt das Streitgespräch weitergehen, ohne eine besondere Erregung zu erwähnen. Erst nachdem Jesus auf den Einwand, er sei noch nicht fünfzig Jahre alt und wolle Abraham gesehen haben, herausfordernd erklärt: »Ehe Abraham war, bin ich« , hoben die Juden Steine auf, um nach ihm zu werfen (Joh 8,57 ff.). Das hoheitsvolle Wort löste unmittelbar die gewalttätige Reaktion aus (151).

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Noch in einem weiteren Streitgespräch findet sich die gleiche Verbindung zwischen dem Anspruch Jesu und der Reaktion seiner Gegner. Beim Tempelweihfest erklärt er, daß niemand ihm die Schafe entreißen könne, die der Vater ihm gegeben hat. Als eigentliche Begründung führt er an: »Ich und der Vater sind eins« (Joh 10,30). Die unmittelbare Reaktion auf diesen Anspruch bestand darin:

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Da hoben die Juden wieder Steine auf, um ihn zu steinigen (Joh 10,31).

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Jesus versuchte, sich durch den Hinweis auf seine Werke zu verteidigen. Doch die Juden lehnten diese Antwort entschieden ab:

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Wir steinigen dich nicht, weil du ein gutes Werk getan hast, sondern weil du Gott lästerst; denn du bist doch nur ein Mensch und machst dich zu Gott (Joh 10,33).

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Die Juden sahen im Anspruch Jesu eine Gotteslästerung, deswegen wollten sie ihn steinigen. Er aber versuchte sich ein letztes Mal durch ein Wort aus Psalm 82 zu rechtfertigen. Doch erfolglos:

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Wieder wollten sie ihn festnehmen; aber er entzog sich ihren Händen (Joh 10,39).

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Das ganze Streitgespräch zeigt überaus deutlich, daß aus der Sicht des Johannesevangeliums der Anspruch Jesu, Gott gleich zu sein, der entscheidende Grund für die gewalttätige Reaktion seiner Gegner war. Dieses Ar-

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gument wird auch vor dem Richterstuhl des Pilatus ein letztes Mal mit aller Schärfe angeführt:

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Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muß er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat (Joh 19,7).

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Es kann kein Zweifel bestehen. Nach dem Johannesevangelium gab es einen letzten ausschlaggebenden Grund für die gewaltsame Ablehnung Jesu: sein Anspruch, der Sohn Gottes zu sein. Alle anderen Konfliktpunkte traten hinter diesem zurück.

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Auch die Apostelgeschichte hebt den engen Zusammenhang zwischen dem hohen Bekenntnis und den nachfolgenden Gewalttaten hervor. Die Rede des Stephanus endet mit einer Anklage, die inhaltlich ganz mit dem Vorwurf Jesu gegen die Pharisäer übereinstimmt:

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Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem heiligen Geist widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Sie haben jene getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid (Apg 7,51 f.).

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Die Anklage lautet auf Verrat und Mord. Wie die Evangelien die Gegner Jesu beurteilen, so schätzt die Apostelgeschichte jene Halsstarrigen ein, die sich ständig dem heiligen Geist widersetzen. In beiden Fällen haben wir es mit den wahren Söhnen der Prophetenmörder zu tun. Die ungeschminkte Aufdeckung dieser harten Wahrheit traf die Zuhörer des Stephanus tief. Dennoch löste sie bei ihnen keine unmittelbaren Gegenmaßnahmen aus. Ihre Reaktion beschränkte sich darauf, daß »sie aufs äußerste empört« waren und »mit den Zähnen knirschten« (Apg 7,54). Mit ihrer Zurückhaltung war es aber zu Ende, als Stephanus noch ausrief:

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Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen! (Apg 7,56).

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Nach diesem Bekenntnis zum Menschensohn folgte nur noch die brutale Zusammenrottung. Die Zuhörer erhoben ein lautes Geschrei und stürmten wie ein Mann auf Stephanus los.

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Aus den analysierten Texten ergibt sich eine klare Folgerung. Der Vorwurf Jesu (oder seiner Jünger) gegen die Pharisäer und Juden, sie seien halsstarrige Heuchler und Mörder, löste zwar Erregung aus, führte aber nie zu einer unmittelbaren physischen Gewalttat. Die Pharisäer waren keine primitiven Mörder, sondern voll Eifer für das Gesetz. Sie reagierten auf unangenehme Worte, ja selbst auf harte persönliche Vorwürfe nicht mit der Faust. Ihr Wille zum Töten brach erst los, als Jesus sich über das Gesetz stellte und seine volle Einheit mit Gott als seinem Vater beanspruchte. Den Propheten aus Nazaret haben nicht ein paar zufällige Bösewichte umgebracht.

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Gegen ihn stand ein grundsätzlicher Geist, der in allen Menschen wirksam ist.

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Wir stehen vor zwei eindeutigen neutestamentlichen Befunden: den Aussagen über die universale Verbündung und über den entscheidenden gewaltauslösenden Faktor. Nun gilt es nur noch, den inneren Zusammenhang zwischen diesen beiden Aussagen deutlich zu machen. Die Stämme Israels

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und die Heiden haben sich gegen Jesus zusammengerottet, weil sie durch seinen hohen Anspruch, der einmalige Gesandte, ja der Sohn Gottes zu sein, dazu gereizt wurden. Die universale Verschwörung richtete sich folglich nicht gegen einen zufälligen Menschen. In voller Übereinstimmung mit den bisherigen Analysen sagt die Apostelgeschichte, daß sich die Juden und Heiden gegen den von Gott gesalbten »heiligen Knecht Jesus« verbündet haben (Apg 4,27). Er war der eigentliche Sündenbock, und auf ihn hat sich die Gewalt nicht zufällig entladen. Er hat sie durch seinen Anspruch und sein Selbstbekenntnis provoziert.

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Die universale Zusammenrottung gegen den Gesalbten und den Sohn Gottes offenbart, daß zutiefst im menschlichen Herzen ein Groll gegen Gott wohnt. Bereits der Psalmist hatte zu Gott geklagt:

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Um deinetwillen werden wir getötet Tag für Tag, behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat (Ps 44,23; vgl. Ps 69,8; Jer. 15,15).

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Die Frevler verfolgten den Gerechten, weil sie Gott treffen wollten. Das Neue Testament macht noch deutlicher, daß die Menschen in ihrem innersten Herzen Gott nicht lieben, ja ihm gegenüber nicht einmal indifferent sind. Ihr grundloser Haß bricht los, sobald sich in Jesus der Vater offenbart. Die Menschen grollen Gott und tragen ihm etwas nach. Da sie ihn selber nicht unmittelbar treffen können, richtet sich ihre gewalttätige Leidenschaft gegen jenen, der bekennt, mit Gott ganz eins zu sein.

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In voller Übereinstimmung mit den analysierten Texten aus den Evangelien und der Apostelgeschichte lehrt Paulus, daß das »Trachten des Fleisches Feindschaft gegen Gott« ist (Röm 8,7). Die Menschen sind ihm gegenüber keineswegs gleichgültig, wie sie oft vorgeben. In ihren Herzen wohnt eine wahre Feindschaft. Das Trachten des Fleisches führt deshalb im wahrsten Sinne zum Tode (Röm 8,6). Der Groll gegen Gott entlädt sich auf Mitmenschen, und diese werden umgebracht. Paulus zitiert im gleichen Kapitel des Römerbriefs auch den oben erwähnten Psalm 44, in dem der Beter klagt, daß er um Jahwes willen »den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt« ist und wie ein Schlachtschaf behandelt wird (Röm 8,36).

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Weil die Menschen von Gott abgefallen sind, haben sich ihre Beziehungen untereinander verkehrt. Jeder wird zum Opfer der Mimesis und verfällt leicht Rivalitäten. Die Menschen sind unglücklich über diesen Zustand. Da

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sie sich ihre Schuld nicht einzugestehen vermögen, schieben sie diese in ihrem innersten Herzen auf Gott ab und sind heimlich voll Ressentiment gegen ihn. Das alttestamentliche Buch Ijob bietet das eindrücklichste Zeugnis vom menschlichen Groll. Der leidende Mensch vermag bei sich selber keine Schuld zu finden, dafür erscheint ihm Gott als willkürlicher Herrscher und grausamer Quäler. Er streitet in kühner Offenheit mit ihm; er möchte, wenn er ihn nur fände, sein Recht vor ihm ausbreiten und seinen »Mund mit Beweisen füllen« (Ijob 23,4). Doch Gott läßt sich nicht finden; nur sein Zorn verfolgt anscheinend unablässig den Gequälten. - Der Groll ist normalerweise so tief im menschlichen Herzen verborgen, daß er von außen nicht wahrgenommen werden kann. Wo er jedoch so offen in Erscheinung tritt wie im Buch Ijob, ist der Schritt bis zur Enthüllung der vollen Wahrheit nicht mehr weit. Es braucht nur noch eine Umkehrung der Perspektive, bis offenkundig wird, wer Gott in Wahrheit ist und was sich tatsächlich im Innersten des Menschen verbirgt. Im alttestamentlichen Buch Ijob ergießt sich der Groll ins Leere. Die neutestamentlichen Schriften zeigen hingegen, wie Jesus durch seine Botschaft von der grenzenlosen Liebe Gottes, durch sein Verhalten gegenüber den Sündern und vor allem durch seinen Anspruch, mit Gott eins zu sein, in wachsendem Maße die Feindschaft aller erregt hat. Der heimliche Groll konnte endlich sein wahres Opfer finden. Gott hat den Menschen ihr Ressentiment nicht übelgenommen. Er ließ sich in seinem Sohn von allen treffen und zum Sündenbock machen.

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Mit unseren Analysen bewegen wir uns jenseits jeder Alltagsmoral. Der heimliche Wille zum Töten und vor allem der versteckte Groll gegen Gott lassen sich normalerweise weder durch eine unmittelbare Gewissenserforschung noch durch eine psychologische Introspektion klar aufdecken. Die volle Wahrheit zeigt sich erst in der Auseinandersetzung mit der Botschaft der reinen Liebe und bei einem entsprechenden gewaltfreien Verhalten. Nur in dieser Situation treten zwei total verschiedene und doch meist vermischte Grundeinstellungen unzweideutig auseinander: die Sicht der Bauleute, die den Stein verwerfen, und die Sicht des Evangeliums, für das gerade der verworfene Stein zum Eckstein wird. Von da her wird sowohl die letzte Wahrheit über Gott als auch über den Menschen offenkundig. In innerer Übereinstimmung mit dem Wort vom verworfenen Stein sagt Paulus:

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Gott soll sich als der Wahrhaftige erweisen, jeder Mensch aber als Lügner (Röm 3,4).

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Die Lüge und die Verstockung stellen das eigentliche hermeneutische Problem. An diesem Punkt entscheidet sich, ob die Worte der Schrift in Wahrheit verstanden werden oder ob gerade die Berufung auf sie nochmals dazu dient, den heimlichen Groll gegen Gott und das Trachten nach dem Bruder-

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mord zu verdecken. Erst wenn ganz klar in Erscheinung tritt, daß Gott ganz der Wahrhaftige ist und alle Lüge und Gewalt vom Menschen her kommt, ist der dunkle Abgrund des menschlichen Herzens ganz aufgedeckt.

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Von diesen Analysen her wird einsichtig, weshalb die neutestamentlichen Schriften in der Verblendung und Verstockung das zentralste hermeneutische Problem sehen. Die letztlich grundlose Neigung zur Gewalt versteckt sich einerseits hinter angeblich guten Gründen, anderseits verdeckt sie selber nochmals eine dunkle Wahrheit: den Groll gegen Gott. Dieses doppelte Versteckspiel macht es unmöglich, daß die Menschen aus sich heraus die verborgenen Abgründe ihres eigenen Herzens durchschauen könnten. Erst in der Konfrontation mit dem »geliebten Sohn« verraten die Menschen ungewollt, was letztlich in ihnen steckt.

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Der Konflikt zwischen Jesus und seinen Gegnern leuchtet tiefer in die Abgründigkeit des menschlichen Herzens hinein, als dies die Analysen von »La violence et le sacré« zu tun vermögen. Diese erlauben zwar, strukturelle Zusammenhänge in den alt- und neutestamentlichen Schriften zu entdecken, die ohne diese Hilfe übersehen werden. Umgekehrt fällt aber vor allem von den Evangelien her ein neues Licht auf die Theorie Girards zurück. Es zeigt sich, wie offen diese Theorie ist und wie sie in einem neuen Kontext neu verstanden werden kann.

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Obwohl Girard in der Neigung zur Gewalt das zentralste Problem zwischenmenschlicher Beziehungen sieht, bleibt seine Beschreibung in der Schwebe. Er wendet sich einerseits klar dagegen, die Aggression im Sinne vieler Verhaltensforscher als biologischen Trieb zu verstehen. Anderseits identifiziert er sie auch nicht mit der psychischen oder geistigen Komponente der menschlichen Natur. Sie ist kein naturnotwendiges Streben und scheint dennoch ganz zum Menschen zu gehören. Was ist sie denn? - Auf diese Frage gibt Girard keine Antwort, und seine Stärke ist es, daß er keine vortäuscht. Auf der Ebene seiner Analysen läßt sich auch keine Erklärung finden. Die neutestamentlichen Schriften hingegen zeigen, wie die Gewalt zwar im Zentrum des menschlichen Herzens verwurzelt ist, aber dennoch nicht zu seinem Wesen gehört. Die von Girard analysierte Grundlosigkeit der Aggression ist die Folge einer grundlosen Tat, des freien Abfalls von Gott. Die biblischen Schriften bezeugen immer wieder, daß die Menschen so verstockt sind, daß sie gar nicht anders handeln können. Dennoch ist ihr Handeln nicht naturnotwendig, sondern die Folge eines bösen Willens. In dieser Spannung wird die Abgründigkeit der menschlichen Freiheit angesichts der unendlichen Liebe Gottes erahnbar. Der Zorn springt deshalb so leicht von einem Objekt zum anderen über, weil er letztlich keines von diesen meint. Im Tiefsten ist er Groll gegen Gott. Weil die freie Ablehnung

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der göttlichen Liebe grundlos ist, muß der Mensch sein eigenes Tun so tief vor sich verbergen, daß er nicht einmal mehr merkt, daß er eine Feindschaft im Herzen trägt. Und weil er den Groll gegen Gott nicht sieht, bleibt ihm auch die Grundlosigkeit seiner Neigung zur Gewalt verborgen.

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Eine weitere offene Frage in »La violence et le sacré« wird durch die biblischen Schriften geklärt. Girard möchte zeigen, daß die sakralen Vorstellungen aus der einmütigen Übertragung der eigenen aggressiven Bilder auf einen zufälligen Sündenbock entstehen. Er führt für seine These so viele und gewichtige Gründe an, daß sie schwerlich direkt abgelehnt werden kann. Unsere Untersuchungen über die alttestamentlichen Schriften lieferten zudem Hinweise, die sie eindeutig stützen. Dennoch bleibt ein gewisses Ungenügen. Selbst wenn die Erfahrung lehrt, daß zornige und gewalttätige Menschen leicht monströsen Wahnvorstellungen verfallen, und selbst wenn sehr verständlich ist, daß die plötzliche Beschwichtigung des Sturmes durch die Ausstoßung eines Opfers auf alle Betroffenen sehr faszinierend wirken muß, so ist der Unterschied zwischen profan und sakral derart grundsätzlich, daß ungelöst bleibt, ob die These von Girard alles erklärt.

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Auf diese offene Frage geben die neutestamentlichen Schriften eine klare Antwort. Die Offenbarung, daß hinter der Neigung zur Gewalt letztlich der Groll gegen Gott wuchert und daß durch alle zufälligen Sündenböcke hindurch Gott als der angeblich Schuldige angezielt wird, zeigt einen neuen Zusammenhang auf zwischen dem Mechanismus der einmütigen Gewalt und dem Ursprung der sakralen Vorstellungen. Ist bei jeder Zusammenrottung gegen ein zufälliges Opfer auf undurchschaute und verworrene Weise Gott als letzter Sündenbock mitgemeint, wird auch irgendeine dumpfe Vorstellung von ihm in jedes zufällige Opfer hineinprojiziert. In allen kollektiven Wahngebilden findet sich folglich eine verzerrte Vorstellung vom wahren Gott. Die einmütige Übertragung der Aggressivität auf ein zufälliges Opfer erklärt wohl die Vielfalt der religiösen Ausdrucksformen und das Doppelgesicht des Sakralen als segenbringende und tötende Macht, als niederschmetternder Schrecken und als betörende Faszination. Erst die mitschwingende verworrene Vorstellung vom wahren Gott macht aber den grundsätzlichen Unterschied zwischen profan und sakral letztlich verständlich. Der Mensch kann sich von Bildern, die er selber geschaffen hat, deshalb bis in seine tiefsten Wurzeln hinein beeindrucken lassen, weil er durch diese Bilder hindurch eine ihm total überlegene Wirklichkeit erspürt. Die Sündenböcke gewinnen eine sakrale Qualität, weil sich der Groll gegen Gott und gegen den geliebten Sohn heimlich auf sie entlädt. Die Reaktion gegen den »notwendigen« Sündenbock zeigt auf, was in der Ausstoßung der zufälligen Opfer noch verschleiert blieb.

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6. Einer für alle: die Erlösung

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Jesu Versuch einer neuen Sammlung ist zunächst gescheitert. Sein Volk wollte nicht hören. Dafür haben sich alle gegen ihn verschworen. Das Nicht-Wollen des Volkes Jesus gegenüber war identisch mit dem Willen, ihn zu töten. Der Sinn seiner Botschaft und seines Kommens hängt folglich ganz vom Sinn seines Todes ab. In der christlichen Tradition wurde dieser Tod als Erlösertod verstanden und als zentraler Punkt im göttlichen Heilswerk betrachtet. Die bisher skizzierte Interpretation des Alten und Neuen Testamentes hat sich darin zu bewähren, ob sie auch den neutestamentlichen Aussagen über die Erlösung voll gerecht zu werden vermag.

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Wir beginnen den neuen Abschnitt unserer Untersuchung mit einer kurzen Analyse des Hebräerbriefes. Von dieser Schrift her stellt sich nämlich das entscheidende Problem. In der Perspektive Girards ist der Auszug aus der Gewalt identisch mit der Entlarvung der rituellen Opfer. Die völlige Aufdeckung und Überwindung des Willens zum Töten durch die Botschaft der Liebe müßte folglich zu ihrer Aushöhlung und Selbstauflösung führen. Dagegen wird jedoch im Hebräerbrief der Tod Christi als Opfer bezeichnet, und es ist von seinem Dienst als ewiger Hoherprieser die Rede. Wird damit nicht die bisherige Interpretation an einem wichtigen Punkt in Frage gestellt?

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Der Hebräerbrief beschreibt die Person und das Werk Jesu Christi, indem er ständig alttestamentliche Aussagen und Vorbilder heranzieht. Bei diesen Vergleichen ergeben sich Übereinstimmungen und Unterschiede. Zunächst zeigt der Brief, daß Jesus als der Sohn über den Engeln steht und daß er einer größeren Herrlichkeit als Mose gewürdigt wurde. Dann beginnt ein detaillierter Vergleich mit dem alttestamentlichen Opferdienst. Jesus wird ausdrücklich als Hoherpriester bezeichnet, und von ihm wird gesagt, er sei gekommen »durch sein Opfer die Sünde zu tilgen« (Hebr 9,26). Bei der konkreten Durchführung des Vergleiches wird jedoch weit mehr die Diskontinuität als die Kontinuität betont. Das Priestertum Jesu Christi war nicht nach der Ordnung Aarons und kein levitisches Priestertum (Hebr 7,11). Er ging nicht in einen von Menschen gemachten Tempel ein (Hebr 9,24; vgl. 9,1-5). Sein Priestertum entsprach nicht dem alten Gesetz (Hebr 7,12.16). Er war kein Diener des Alten Bundes (Hebr 8,1-13). Er brachte nicht immer wieder die gleichen Opfer dar, die das Gewissen der Opfernden nicht zur Vollkommenheit führen können (Hebr 9,1-28). Er war vielmehr der Mittler eines neuen und besseren Bundes (Hebr 8,6-13; 9,15) und Diener des wahren Zeltes, das der Herr aufgeschlagen hat (Hebr 8,2). Er

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hat ein für allemal die Sünde getilgt und die Menschen mit Gott versöhnt (Hebr 9,1-28).

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Bei einer derart starken Betonung des Unterschiedes zwischen den rituellen Opfern und der Tat Christi erhebt sich die Frage, was beiden dennoch gemeinsam ist. Die Antwort ist eindeutig: sowohl der alttestamentliche Kult wie die Tat Christi haben etwas mit dem Blut zu tun. Der Hebräerbrief betont mehrfach, daß Mose den Alten Bund mit Blut geschlossen hat (Hebr 9,18-21; 11,28) und daß die Opfer mit dem Blut von Böcken und Stieren dargebracht wurden (Hebr 9,7.12.13; 10,4; 13,11), ja er urteilt über die alte Ordnung ganz allgemein:

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Fast alles wird nach dem Gesetz mit Blut gereinigt, und ohne daß Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung (Hebr. 9,22).

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Gleichzeitig hebt der Brief hervor, daß auch der Neue Bund im Blut geschlossen wurde. Jesus hat durch das Blut eine ewige Erlösung vollbracht (Hebr 9,12) und unser Gewissen von toten Werken gereinigt (Hebr 9,14; 13,12). Durch dieses Blut haben wir Zuversicht (Hebr 10,19), und es ist das Blut des neuen und ewigen Bundes (Hebr 10,29; 12,24; 13,20). In fünf Kapiteln (9-13) gebraucht der Hebräerbrief das Wort Blut 17mal. Nach ihm treffen sich der alte und der neue Bund folglich darin, daß bei beiden das Blut eine entscheidende Rolle spielt. Doch selbst in diesem Punkt ist der Unterschied größer als die Übereinstimmung. Die alttestamentlichen Priester haben nämlich fremdes Blut (von Böcken und Stieren) vergossen (Hebr 9,25; 10,4), Jesus aber hat durch sein eigenes Blut die versöhnende Tat vollbracht (Hebr 9,12; 13,12). Obwohl das Wort Blut eine Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Bund anzuzeigen scheint, bricht gerade hier nochmals ein fundamentaler Unterschied auf. Indem Jesus durch sein eigenes Blut die Sünden aller tilgte, hob er die rituellen Opfer, bei denen immer fremdes Blut vergossen wurde, aus den Angeln.

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Trotz des gegenteiligen Anscheins bestätigt der Hebräerbrief die Folgerung, die sich von der Theorie Girards und von unserer Interpretation des Alten Testaments her aufdrängt. Die völlige Aufdeckung der Gewalt beraubt die rituellen Opfer jeden Sinnes. Als Frage bleibt, weshalb der Hebräerbrief die Leidenstat Christi weiterhin als Opfer bezeichnet, wenn sie mit dem alttestamentlichen Kult innerlich nichts zu tun hat. Trotz der Betonung der Diskontinuität stellt der Brief eine gewisse Kontinuität dadurch her, daß er Jesus als »Hohenpriester nach der Ordnung Melchisedeks« bezeichnet (Hebr 5,6.10; 6,20; 7,1.10.15.17). Diese Formulierung findet sich im Hebräerbrief allerdings weit häufiger als im ganzen Alten Testament zusammen. Dort taucht der Name Melchisedek nur zweimal auf (Gen 14,18; Ps 110,4), und nur ein einziges Mal findet sich die Aussage vom »Priester auf

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ewig nach der Ordnung des Melchisedek« (Ps 110,4). Wir haben es demnach mit einem ganz isolierten Randthema zu tun. Der Eindruck drängt sich auf, der Autor des Hebräerbriefes habe fast krampfhaft nach einem Anknüpfungspunkt gesucht, um in bezug auf das Priestertum wenigstens den Anschein einer Kontinuität zwischen alter und neuer Ordnung zu wahren. Daß der isolierte Ausdruck »Priester auf ewig« zur Begründung einer inneren Kontinuität in Wahrheit nicht genügt, zeigt der Vergleich mit den weit zahlreicheren Aussagen über »den Bund des ewigen Priestertums mit Pinhas«. Obwohl sich durch verschiedene alttestamentliche Schriften hindurch dieses Thema klar verfolgen läßt (Num 25,11-13; Ps 106,30 f.; 1 Makk 2,54; Sir 45,23; 50,24) und der Name des Pinhas auch sonst noch öfter auftaucht, ist es keinem neutestamentlichen Autor eingefallen, das ewige Priestertum Jesu Christi mit jenem des alttestamentlichen Eiferers in Beziehung zu bringen. Wenn deshalb der Hebräerbrief den im Alten Testament völlig isolierten Ausdruck »Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks« aufgreift, wird damit keine innere Beziehung zum Kult angedeutet, sondern auf etwas unableitbar Neues verwiesen. Dies trifft um so mehr zu, als Psalm 110 das Wirken Gottes und des Priesters nach der Ordnung Melchisedeks in einer Weise schildert, die nicht im geringsten zum Leidens- und Erlösertod des Gekreuzigten paßt:

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Er zerschmettert Könige am Tage seines Zornes.

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Er hält Gericht unter den Völkern, er häuft die Toten,

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die Häupter zerschmettert er weithin auf Erden (Ps 110 f.).

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Jesus hat sich selber hingegeben und hat nicht die Toten gehäuft. Sein Kreuzestod stand in krassem Gegensatz zu jenem, der die Häupter zerschmettert. Die konkreten Vorstellungen vom ewigen Priester nach der Ordnung Melchisedeks in Psalm 110 passen in keiner Weise zur Erlösertat Christi. Die Verbindung ist rein äußerer Art. Der Hebräerbrief stützt sich nur auf den schwachen Befund, daß der Name Melchisedek als König der Gerechtigkeit und des Friedens gedeutet werden kann und daß seine Vor- und Nachfahren nirgends erwähnt werden. Durch solche Anspielungen wird auf etwas Geheimnisvolles verwiesen, aber gerade keine Kontinuität zu den rituellen Opfern aufgezeigt.

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Trotz dieser eindeutigen Feststellung klaffen im Hebräerbrief die alte und die neue Ordnung keineswegs zusammenhangslos auseinander. Wenn auch die Stichworte Priestertum und Opfer nur eine äußerliche Beziehung herzustellen vermögen, gibt es auch nach dieser neutestamentlichen Schrift eine innere Kontinuität. Sie erscheint aber in einem anderen Zusammenhang, nämlich beim Thema des Glaubens. Der Hebräerbrief bezeichnet Jesus einerseits als den »Urheber und Vollender des Glaubens« (Hebr 12,2). An-

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2derseits schildert er, wie Abel, Henoch und Noach, wie die Patriarchen und Mose, wie Richter, Propheten und Gerechte im Glauben ihre großen Taten vollbracht haben. Im Glauben ließen sich manche foltern. »Wieder andere erduldeten Spott und Schläge, dazu Ketten und Kerker. Gesteinigt wurden sie, verbrannt, zersägt, mit dem Schwert umgebracht« (Hebr 11,36 f.). Neben Jesus als dem »Vollender des Glaubens« gibt es eine ganze »Wolke von Zeugen« (Hebr 12,1), die zum Teil ein ähnliches Schicksal wie er erlitten haben. Auch sie mußten »von den Sündern Widerstand erdulden« (vgl. Hebr 12,3) und haben dabei auf die rettende Macht Gottes gehofft.

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Der Hebräerbrief beschreibt die Ursituation des alttestamentlichen Gerechten fast mit den gleichen Worten, wie wir es im vorausgehenden Kapitel getan haben. Der Glaubende wird von Todfeinden verfolgt. Genau von dieser Erfahrung her zeigt der Brief die innere Kontinuität zum neuen Bund auf. Er stellt den Urheber des Glaubens in eine Reihe mit einer ganzen »Wolke« von Glaubenszeugen, die ähnlich wie er verfolgt wurden und in allem auf Gott vertraut haben. Bildet der Glaube des von vielen Feinden Verfolgten die eigentliche Brücke zwischen alter und neuer Ordnung, ergeben sich daraus unmittelbare Folgen für das Verständnis der Erlösertat Christi. Sie ist nicht im Lichte der kultischen Opfer, sondern vom Geschick der verstoßenen und getöteten Propheten und Gerechten her zu verstehen. Eine Entsprechung zwischen dem Opfer Christi und den rituellen Opfern zeigt sich höchstens darin, daß der Prophet aus Nazaret von seinen gewalttätigen Gegnern so hingeschlachtet wurde, wie die Opfernden Tiere zur Schlachtbank geführt haben (Jer 11,19; Jes 53,7). Der Hebräerbrief stimmt folglich in seinen zentralsten Aussagen über den Glauben ganz mit dem Gleichnis von den bösen Winzern und mit dem Wort vom verworfenen Stein überein. Auch gemäß dieser neutestamentlichen Schrift liegt der entscheidende Punkt zum Verständnis der Person und der Tat Christi darin, daß er durch den Widerstand der Sünder und durch das gewaltsame Geschick der Kreuzigung (Hebr 12,2 f.) den Gehorsam lernte (Hebr 5,8) und so zum Urheber und Vollender des Glaubens wurde (Hebr 12,2).

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Nach der Bestimmung des hermeneutischen Rahmens kann der Versuch unternommen werden, die Erlösertat Christi in sich näher zu deuten. Dazu sind vor allem die echten Paulusbriefe in die Analyse einzubeziehen, weil der Heidenapostel in verschiedenen Zusammenhängen die Versöhnungstat Christi erwähnt. Aber auch die übrigen Schriften sind zu beachten. Da sich im Neuen Testament allerdings nirgends eine längere Abhandlung über den Sinn des Kreuzestodes findet, kann die Erlösungslehre nur durch eine strukturelle Analyse der zerstreuten einzelnen Aussagen erarbeitet werden.

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Gegen Jesus haben sich alle verbündet. Die neutestamentlichen Schriften lehren weiter, daß er für uns sogar zur Sünde gemacht wurde. Im zweiten Korintherbrief beschreibt Paulus die apostolische Aufgabe als einen Dienst der Versöhnung. Dabei fallen entscheidende Aussagen über den Versöhnungsdienst Christi. In kühnen Worten sagt der Apostel, daß Gott seinen Sohn »für uns zur Sünde gemacht« hat (2 Kor 5,21). Ähnlich heißt es im Galaterbrief, daß »er für uns zum Fluch wurde« (Gal 3,13). Gemäß der Darstellung des Lukasevangeliums hat Jesus sein Geschick mit folgenden Worten vorausgesagt:

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An mir muß sich das Schriftwort erfüllen: Er wurde zu den Verbrechern gerechnet (Lk 22,37; vgl. Jes 53,12).

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Die neutestamentlichen Schriften betonen also mehrfach, daß Jesus zur Sünde und zum Fluch gemacht und daß er zu den Verbrechern gezählt wurde.

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Damit ist aber nicht alles gesagt. Die Gegenseite wird ebenso deutlich hervorgehoben. Der Hebräerbrief urteilt, daß für uns ein Hoherpriester notwendig war, »der heilig ist, unschuldig, fehlerlos, gesondert von den Sündern« (Hebr 7,26). Desgleichen zeichnet der erste Petrusbrief Jesus als Vorbild, indem er auf ihn ein Wort aus dem Lied über den Leidensknecht anwendet:

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Er hat keine Sünde begangen,

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und in seinem Mund war keine Falschheit

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(1 Petr 2,22; vgl. Jes 53,9).

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Das Johannesevangelium stellt dar, wie Jesus durch eine herausfordernde Frage auf seine Sündenlosigkeit hinwies. Er hielt seinen Widersachern entgegen:

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Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen? (Joh 8,46).

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Paulus hebt schließlich die innere Spannung zwischen der Sündenlosigkeit Jesu und der Tatsache, daß er zum Fluch wurde, auf besonders pointierte Weise hervor:

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Er (Gott) hat den, der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden (2 Kor 5,21).

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Die scheinbar widersprüchlichen Aussagen, daß Jesus sündenlos war und dennoch zur Sünde und zum Fluch gemacht wurde, lassen sich nur unter der Voraussetzung sinnvoll zusammenbringen, daß die Sünden der vielen auf den einen Sündenlosen übertragen wurden. Genau dies sagt der erste Petrusbrief:

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Er (Christus) hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Kreuz hinaufgetragen, damit wir für die Sünden tot seien und für die Gerechtigkeit leben (1 Petr 2,24).

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Gott hat nicht irgendeine mysteriöse Sünde auf seinen Sohn gelegt; der Sündenlose hat vielmehr unsere Sünden, die Sünden der vielen getragen. Dies konnte er nur tun, wenn sie zuvor auf ihn übertragen wurden. Die eigentliche Problematik der christlichen Erlösungslehre besteht folglich darin, wie diese Übertragung näher zu verstehen ist. Wer hat die Sünden der vielen auf den einen Heiligen geworfen? Auf welche Weise geschah dies?

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Vor allem seit dem frühen Mittelalter wurde immer wieder gesagt, Christus habe als Gott-Mensch durch seinen Tod dem himmlischen Vater eine unendliche Genugtuung dargebracht. Er habe stellvertretend jene grenzenlose Beleidigung gesühnt, die Gott durch die Sünden der Menschen zugefügt worden sei. Diese Theorie ist - wenigstens in jener Form, wie sie ins öffentliche Bewußtsein der Kirche eingegangen ist - ziemlich einfach und leicht verständlich. Sie hat sich deshalb auch lange Zeit in weitem Maße durchgesetzt. Dennoch hat sie große Mängel, und mindestens in ihrer vulgarisierten Form (152) steht sie in deutlichem Widerspruch zu klaren neutestamentlichen Aussagen. Gemäß der Lehre von der unendlichen Genugtuung kann man zwar mit vollem Recht von einer Übertragung der Verdienste Christi auf alle reuigen Sünder sprechen. In ihr wird aber kaum bedacht, daß zunächst nicht nur die Sündenstrafen, sondern die Sünden selber auf den einen Heiligen übertragen wurden. Die neutestamentlichen Schriften heben aber gerade diesen Vorgang deutlich hervor. Ferner läßt sich das Gottesbild, das hinter der lange Zeit gängigen Satisfaktionslehre stand, kaum mit jenem Vater in Einklang bringen, auf den Jesus immer wieder hingewiesen hat (153). Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32)

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und vom unbarmherzigen Gläubiger (Mt 18,23-35) machen offenbar, daß Gott verzeiht, ohne Gegenleistung und Genugtuung zu fordern. Er besteht nur darauf, daß der Mensch dem Mitmenschen gegenüber ebenso grundlos verzeiht, wie ihm ohne Grund Barmherzigkeit geschenkt wurde. Der unbarmherzige Gläubiger verfällt dem Gericht, weil er seinen Mitknecht wegen einer kleinen Schuld ins Gefängnis werfen läßt, obwohl ihm selbst eine weit größere Schuld ohne jede Gegenleistung erlassen wurde. Der Herr spricht deshalb zu ihm:

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Du elender Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte (Mt 18,32 f.).

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In genauer Entsprechung zu diesem Gleichnis lehrt Jesus im Anschluß an das Vaterunser:

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Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben (Mt 6,14).

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Das Mattäusevangelium bringt das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger sogar in einen ausdrücklichen Zusammenhang mit der Forderung Jesu an seine Jünger, grenzenlos zu vergeben. Selbst mit Siebenmal-Verzeihen ist die obere Grenze noch nicht erreicht: »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal« (Mt 18,22). Wer zunächst auf Genugtuung wartet, kommt nie dazu, siebenmal zu verzeihen, geschweige denn siebenundsiebzigmal. Fordert Jesus von den Menschen ein unbegrenztes Verzeihen, muß jener Vater, den er verkündet, noch bereitwilliger dazu sein. Gemäß der Bergpredigt ist es nämlich Sache der Zöllner und der Heiden, nur jene Menschen zu lieben und nur jenen Gutes zu tun, von denen man eine Gegenleistung erwartet (Mt 5,43-47). Die Vorstellung von einem Gott, der Genugtuung fordert, ist demnach heidnischen Ursprungs. Im Gegensatz dazu verlangt Jesus von seinen Jüngern:

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Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin (Mt 5,39).

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Als tiefste Begründung für diese ungewohnte Forderung gibt er an:

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Ihr sollt also vollkommen sein, denn auch euer himmlischer Vater ist vollkommen (Mt 5,48).

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Wie wir weiter oben gesehen haben, ist die Forderung, dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln zu widerstehen, unabdingbar, um nicht dem ansteckenden Sog der Gewalt zu verfallen. Die genau gleiche Forderung ergibt sich aber auch aus dem Verhalten und der Vollkommenheit des himmlischen Vaters. Der Gott Jesu Christi ist genau das Gegenteil der Gewalt. Er vergilt

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nicht Gleiches mit Gleichem. Er fordert nicht Auge um Auge. Sein grenzenloses Verzeihen und seine grundlose Liebe heben sich in allem vom Mechanismus der Gewalt und vom Teufelskreis der zerstörerischen Gegenseitigkeit ab. Aus einer wahrhaft christlichen Erlösungslehre muß deshalb jeder Gedanke an eine Gegenleistung vollständig eliminiert werden. Unsere bisherigen Folgerungen aus zahlreichen neutestamentlichen Texten entsprechen haarscharf der ausdrücklichen Lehre des Paulus. Im zweiten Korintherbrief schreibt er:

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Denn Gott war in Christus, als er durch ihn die Welt mit sich versöhnte und darauf verzichtete, ihre Übertretungen anzurechnen (2 Kor 5,19).

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In diesem Vers wird die Versöhnung näher umschrieben als Verzicht Gottes, die Sünden anzurechnen. Hier fehlt nicht nur jeder Hinweis auf eine Gegenleistung. Sie wird sogar direkt ausgeschlossen. Paulus betont mit Nachdruck, daß Gott gerade dadurch die Welt mit sich versöhnt hat, daß er die Sünden nicht anrechnete. Im Verzicht, den Menschen etwas nachzutragen, besteht die eigentliche Liebestat Gottes. Dem entspricht die andere zentrale Lehre des Paulus, wonach die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben und nicht durch Gesetzeswerke erlangt wird (Röm 3,28).

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Wird die grenzenlos verzeihende Liebe Gottes voll ins Licht gerückt, erhebt sich um so drängender die Frage, weshalb eine erlösende Tat Christi noch nötig war und wieso die Sünden der vielen auf den einen Heiligen übertragen werden mußten. - Wir haben bereits gesehen, daß die neutestamentlichen Schriften einen Groll gegen Gott und einen Willen zum Töten aufzeigen, die zutiefst im menschlichen Herzen verwurzelt sind. Jerusalem war die Stadt, die die Propheten mordete. Obwohl Jesus ihre Kinder sammeln wollte, hat sie nicht gewollt. An Ermahnungen und Ermunterungen, an Einladungen und am Vorbild hat es zwar nicht gefehlt. Jesus hat immer wieder versucht, sein Volk für das Reich Gottes zu gewinnen, und durch seine heilende Tätigkeit hat er es auch auf ganz außergewöhnliche Weise angesprochen. Dennoch hat das Volk nicht gewollt. Sein Nicht-Wollen muß so tief in ihm verankert gewesen sein, daß es mit eigener Kraft gar nicht wollen konnte. Wie schon in einigen kühnen alttestamentlichen Aussagen Israel die Fähigkeit zur Bekehrung abgesprochen wurde, so weist auch das neutestamentliche Thema der Verstockung auf eine eigentliche Unfähigkeit des Volkes hin, aus eigener Kraft das Gute zu wollen. Das menschliche Herz hat sich im Groll und in seinem heimlichen Willen zum Töten so verfangen, daß es sich nicht mehr selber aus der Verstrickung befreien kann. Paulus hat diese universale heilsgeschichtliche Wahrheit in der Sprachform eines persönlichen Erfahrungsberichtes zum Ausdruck gebracht:

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Ich begreife mein Handeln nicht: ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse Ich weiß, daß in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt: Das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will In meinem Inneren freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangenhält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden (Röm 7,15-23).

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In mehreren Anläufen betont Paulus, daß sein Wollen gebunden ist, daß das Gesetz der Sünde ihn gefangenhält und daß er nicht zu tun vermag, was er vollbringen möchte. Nach der Beschreibung dieses unglücklichen Zustandes bricht er jedoch in den Dank- und Jubelruf aus, daß Jesus Christus ihn aus seinem Todesleib errettet hat. Die Erlösung ist folglich nötig, damit die Menschen von ihrer Unfähigkeit, das Gute zu wollen, befreit und erlöst werden. Gott bedarf keiner Genugtuung, wohl aber muß der Mensch aus seinem eigenen Gefängnis herausgeholt werden, damit er fähig wird, das reine Geschenk der zuvorkommenden Liebe anzunehmen. Paulus wendet sich deshalb flehend an die Gemeinde: »Laßt euch mit Gott versöhnen« (2 Kor 5,20). Nicht Gott muß besänftigt, sondern die Menschen müssen von ihrem Haß erlöst werden. Sie sollen nicht mehr länger verstockten Widerstand leisten, sondern sich der werbenden Liebe Gottes ergeben und sich von ihrem Groll befreien lassen. Wie aber geschieht diese Befreiung? Durch die Übertragung der Sünden der vielen auf den einen Sündenlosen. Und wie vollzieht sich diese Übertragung?

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Gemäß der Analysen Girards kann sich eine Gruppe von Menschen von ihren Konflikten und Rivalitäten dadurch befreien, daß sich alle gegen einen zusammenrotten und ihre eigene Gewalttätigkeit im Akt des Tötens auf diesen übertragen. Dieser Vorgang ist höchst real, denn er vollendet sich in der Ermordung des Opfers. Zur Ausscheidung der eigenen Aggression braucht es folglich einen Sündenbock. Hat Gott die Menschen auf analoge Weise von ihrem Haß befreit, indem er ihnen seinen geliebten Sohn als Opfer darbot, auf das sie ihre Bosheit abladen konnten?

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Die Evangelien lehren, daß die Unfähigkeit der Menschen Gott gegenüber untrennbar verbunden ist mit ihrem Willen zu töten. Ihre Erlösungsbedürftigkeit manifestiert sich gerade in ihrer Neigung zur Gewalt. Die neutestamentlichen Schriften zeigen ferner, daß sich gegen Jesus alle Heiden und die Stämme Israels, also alle erlösungsbedürftigen Menschen, zusammengerottet haben. Desgleichen lehren sie, daß die Sünden aller auf den einen Sündenlosen real übertragen wurden. Diese eindeutigen Aussagen passen nur dann sinnvoll zusammen, wenn man folgert, daß gerade durch die universale Zusammenrottung die Übertragung der Sünden aller auf den einen

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Heiligen geschah. Die Stellvertretung ist mehr als eine juristische Festsetzung. Jesus konnte für alle sterben, weil sich zuvor alle gegen ihn gewandt haben. Alle haben sich gegen ihn verbündet und durch die Kreuzigung ihren Groll gegen Gott und ihren Willen zum Töten real auf ihn übertragen.

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Beim gewöhnlichen Sündenbockmechanismus geschieht die Übertragung immer nur teilweise. Die Gewalt wird deshalb nie grundsätzlich nach außen abgeleitet, sie kann stets von neuem aufbrechen. Alle Evangelien zeigen hingegen, daß die Botschaft Jesu von der unbegreiflichen Liebe Gottes und sein Anspruch, mit Gott ganz eins zu sein, selbst bei den frommen und gebildeten Pharisäern den untergründigsten Groll und den verborgenen Willen zum Töten an den Tag gebracht haben. In der Allianz gegen ihn offenbarten sich die dunkelsten Mächte des menschlichen Herzens. Die kollektive Übertragung gewann deshalb einen ganz neuen Sinn. Sie war realer und universaler als bei den Zusammenrottungen gegen zufällige Sündenböcke. Alle gottfeindlichen Mächte verbanden sich gegen ihn und entluden ihren bösen Willen auf seinen Leib (154)

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. So hat er die Sünden aller »mit seinem Leib auf das Kreuz hinaufgetragen« (1 Petr 2,24).

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Als Zwischenergebnis können wir festhalten, daß sich die Einsicht in den Sündenbockmechanismus in ausgezeichneter Weise zum tieferen Verständnis der neutestamentlichen Aussage eignet, Jesus als der Heilige sei zur

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Sünde und zum Fluch gemacht worden. Einer weiteren Durchdringung der Erlösungslehre ist damit der Weg geöffnet.

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Die auf das eine Opfer übertragenen bösen Taten lösen sich nicht endgültig von den Tätern. In »La violence et le sacré« wird gezeigt, daß sie als sakraler Schrecken auf die Gewalttäter zurückwirken. Das Alte Testament hat die sakralen Vorstellungen im wachsenden Maße als Götzendienst entlarvt. Die Rückwirkung der Gewalttat wurde deshalb immer mehr in ihrem wahren Wesen erkannt. Die entscheidende Aussage lautete schließlich, daß die bösen Taten auf das Haupt der Täter zurückfallen.

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Das Opfer einer kollektiven Übertragung erleidet sein zufälliges Schicksal normalerweise resigniert oder widerwillig. Jesus hat sein Geschick gefühlsmäßig auch ungern getragen. Die Erzählung von der Todesangst in Getsemani bezeugt, wie er vor dem Tod gezittert und den Vater gebeten hat, daß der Kelch an ihm vorübergehe. Seinem innersten Wollen nach hat er sich aber ganz dem Vater gefügt:

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Nicht mein Wille, sondern der Deine geschehe (Mt 26,39).

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Der Wille des Vaters bestand darin, das Böse nicht mit Bösem zu vergelten. Auf das erlittene Unrecht und auf die geballte Macht der Sünde hat er deshalb nicht wie viele alttestamentliche Beter mit Rachewünschen geantwortet. Er betete vielmehr für seine Verfolger. Das Lukasevangelium berichtet als erstes Wort am Kreuz:

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Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34).

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Obwohl Jesus das Verhalten seiner Gegner zwar scharf kritisiert hatte, antwortete er auf ihr gewalttätiges Tun nicht mit Zorn, sondern entschuldigte sie vor seinem Vater wegen ihrer Unwissenheit. Der erste Petrusbrief sagt ebenfalls:

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Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem, der gerecht richtet (1 Petr 2,23).

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Daß Jesus seine Sache voll Vertrauen dem gerechten Richter überließ, könnte zwar in Frage gezogen werden durch das erschütternde Wort, das der Gekreuzigte gemäß dem Markus- und Mattäusevangelium unmittelbar vor seinem Tod ausgestoßen hat:

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Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Mk 15,34; Mt 27,46).

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»Dieses Wort wurde von Anfang an als Problem empfunden. Bereits Lukas erscheint es unerträglich; er läßt Jesus deshalb sterben mit dem Wort: ›Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist‹ (23,46). Bei Johannes stirbt

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Jesus sogar mit dem sieghaften Wort: ›Es ist vollbracht‹ (19,30). So wurde es schon innerhalb der biblischen Tradition als anstößig empfunden, daß Jesus in Gottverlassenheit gestorben sein soll.«(155) Eine tiefe gefühlsmäßige Verlassenheit Jesu anzunehmen dürfte zwar kein entscheidendes theologisches Problem stellen. Im Gegenteil, wie die Todesangst so zeigt auch sein Gefühl letzter Ohnmacht, daß er die Todeserfahrung nicht durch irgendeinen Fanatismus überspielt hat. Sein gewaltsames Geschick hat er mit voller menschlicher Empfindsamkeit erlitten. Anders läge die Problematik, müßte man annehmen, Jesus wäre vor dem Tod mit seinem innersten Wollen aus der Hand Gottes geglitten und er hätte begonnen, an jenem zu zweifeln, der seine Sache gerecht richten konnte. Das Lukas- und Johannesevangelium bestreiten diese Annahme ausdrücklich. Aber auch bei Markus und Mattäus kann aufgezeigt werden, »daß es sich beim Ruf ›mein Gott, warum hast du mich verlassen‹ um ein Wort aus Psalm 22 handelt, der den gesamten Passionsbericht geprägt hat. Das Zitat des Psalmanfangs meint nach damaliger Zitationsweise die Zitation des ganzen Psalmes.« (156) Dieser ist deshalb in seinem vollen Umfang zur Deutung des Geschickes Jesu heranzuziehen. Wir haben bereits weiter oben gesehen, daß in diesem Lied zunächst sehr eindrücklich beschrieben wird, wie die vielen Feinde den Gerechten umgeben und umringen. Der Psalm endet aber mit dem Bekenntnis des Verfolgten, daß Gott sein Leben dem Rachen der Feinde entreißt. Der Gerettete will den Namen Jahwes in der Gemeinde preisen. Auch das Markus- und Mattäusevangelium belegen folglich - wenn auch auf indirektere Weise -, daß Jesus nicht verzweifelt ist, sondern seine Sache tatsächlich dem überlassen hat, der gerecht richtet.

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Jesus hat verzichtet, Böses mit Bösem zu vergelten, ja er hat noch mehr getan. In der Zusammenrottung gegen ihn hat sich nicht nur der heimliche Groll gegen Gott und der untergründige Wille zu töten offen manifestiert. Da er der Sündenlose und der Bote der unbegreiflichen Liebe Gottes war, gewann die Sünde in der universalen eschatologischen Allianz gegen ihn ihren perversen Höhepunkt. Aus dem heimlichen Groll wurde offener Haß. Aus der Neigung zur Gewalt wurde Mord am Heiligen. Die Verkündigung seiner Heilsbotschaft drohte faktisch zu einem universalen Unheilsereignis zu werden (157). Die Abendmahlsberichte zeigen (158), wie Jesus diese höchste

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Gefahr gebannt hat. Er hat nicht nur verzichtet, Böses mit Bösem zu vergelten, sondern er ist gerade für jene vielen gestorben, die in der Zusammenrottung gegen ihn ihre höchste Bosheit begingen.

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Nach alttestamentlichem Verständnis fallen die bösen Taten auf das Haupt der Täter zurück(159). Im Bündnis des »Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels« (Apg 4,27) gegen den »heiligen Knecht Jesus« konzentrierten sich alle anderen Lügen und Gewalttaten der Menschen. Die Sünden der ganzen Welt ballten sich gegen den »geliebten Sohn« zusammen und entluden sich auf ihn. Von ihm her fiel aber nicht ein universales Unheil auf das Haupt der vielen Täter zurück. Er hat vielmehr die kollektive böse Tat ganz auf sich genommen und sie in seinem eigenen Leib durch seine gewaltfreie und verzeihende Liebe verwandelt. Zugleich hat er seine Sache dem überlassen, der gerecht urteilt. Das Gericht des Vaters zeigte sich jedoch darin, daß er zwar die Sünde sich voll auswirken ließ, in seiner grundlosen Güte aber darauf verzichtete, sie den Menschen anzurechnen (2 Kor 5,19).

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Die Gewalttäter der Welt, die Juden und die Heiden, haben nicht nur ihren heimlichen Groll und ihren untergründigen Willen zum Töten auf Jesus übertragen. In der universalen Allianz gegen ihn haben sie sogar die größte nicht mehr überbietbare Gewalttat begangen. »Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden« (160) (Röm 5,20). Der Vater hat jenen dem Tod entrissen, der mit der ganzen Sünde und Gewalttat der Welt beladen worden war, und er hat den Gekreuzigten in Entsprechung zu

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dessen eigener Hingabe zum Quell des Lebens für die vielen gemacht. Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden. Auf die schlimmste Gewalttat der Welt folgte kein vergeltender Gegenschlag, zurück flossen vielmehr Ströme verzeihender Liebe.

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Im Johannesevangelium spricht der Hohepriester Kajafas nach der Erweckung des Lazarus zu den verwirrten Mitgliedern des Hohen Rates:

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Ihr wißt keinen Rat. Ihr bedenkt nicht, daß es besser für euch ist, wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht (Joh 11,49 f.).

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Die Weisheit des Kajafas ist die Weisheit des Politikers. Da Konflikte unvermeidlich sind, ist es besser, wenn einer für die andern geopfert wird, als daß alle zugrunde gehen. Kajafas handelt genau nach der Logik des Sündenbockmechanismus. Durch die kollektive Ausstoßung und Tötung eines Opfers soll das Volk vor der Selbstzerstörung bewahrt werden. Es ist besser, daß einer an Stelle aller anderen stirbt. Die Aussage des Kajafas hat aber zugleich einen ganz anderen Sinn. Das Evangelium weist auf diesen zweiten Sinn durch die Bemerkung hin, Kajafas habe aus prophetischem Geist geredet, weil er der Hohepriester jenes Jahres war. Danach hat er geweissagt, daß Jesus durch seine Hingabe für das Volk sterben werde.

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Der doppelte Sinn im Wort des Kajafas steht in genauer Entsprechung zur doppelten Perspektive im Wort vom verworfenen Stein. Die Sicht der Bauleute ist identisch mit der politischen Weisheit des Kajafas. Danach ist es besser, daß einer als Sündenbock verworfen wird, damit alle anderen in einer relativ friedlichen Ordnung weiterleben können. Der prophetische Sinn im Worte des Hohenpriesters hingegen deckt sich mit der Sicht des Evangeliums. Der Ausgestoßene wird zum wahren Eckstein, indem er nicht auf Rache sinnt, sondern das Volk gerade durch sein Sterben erlöst.

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Die untrennbare Verbindung beider Perspektiven im Wort des Kajafas und im Wort vom verworfenen Stein beweist, daß im Erlösungsgeschehen die liebende Hingabe nur durch die kollektive Verwerfung hindurch wirksam wird. Jesus konnte für alle sterben, weil sich zuvor alle gegen ihn zusammengerottet haben (161).

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Die verzeihende Liebe Gottes respektiert in vollem Maße das heimliche Begehren und Trachten des menschlichen Herzens. Er vergewaltigt nicht den bösen Willen durch eine Flut von Liebe, die in diesem Fall gar keine echte Liebe mehr wäre. Gott läßt die Menschen ihrem geheimen Willen gemäß handeln. Durch die Sendung seines Sohnes schuf er sogar die Mög-

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lichkeit, daß der versteckte Groll gegen ihn zum offenen Haß werden konnte. Er erlöste die Menschen dadurch, daß er ihre bösen Taten sich bis zu ihrem perversen Höhepunkt entwickeln, aber nicht mehr auf die Täter zurückfallen ließ. Nachdem sie ihre innersten Begierden auf Jesus entladen hatten, konnte vom Getöteten und Auferweckten her eine Liebe in ihr Innerstes zurückfließen, die sie in keiner Weise mehr vergewaltigte. Was keine menschliche Phantasie hätte ersinnen können, trat ein: das Gesetz der Vergeltung wurde zum Gesetz der erlösenden Liebe. Der Fluch wurde mit Segen vergolten. Der Verschwörung des Hasses antwortete die verströmende Liebe.

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7. Der Zorn Gottes

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Die Deutung der Erlösertat Christi als Befreiung der Menschen aus ihrer eigenen bösen Verfangenheit durch einen Gott der reinen Gewaltlosigkeit und Liebe bedarf einer letzten Prüfung. Wurden die Texte zur Stützung der vorgetragenen Interpretation nicht einseitig ausgewählt? Ist es nicht verfehlt, den alttestamentlichen Zorn Gottes ganz zu übergehen, da doch selbst im Neuen Testament noch öfters von ihm die Rede ist? - Der ausführlichste Text über den göttlichen Zorn findet sich - neben der Offenbarung des Johannes - im Römerbrief (1,18-32). Das apokalyptische Buch des Johannes bedient sich einer sehr komplexen und verwirrenden Bildersprache. Verglichen damit sind die Aussagen des Paulus sehr durchsichtig und klar. Das neutestamentliche Verständnis des göttlichen Zornes dürfte sich deshalb am ehesten vom Römerbrief her erschließen.

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Paulus beginnt seine Ausführungen mit der Feststellung, daß sich der Zorn über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen offenbart. Er lehrt auf eindeutige Weise, daß Gott der Ungerechtigkeit tatsächlich mit Zorn begegnet. Dann legt er dar, worin die Gottlosigkeit besteht. Obwohl der Schöpfer durch die Werke der Schöpfung eindeutig erkennbar ist und die Menschen ihn auch tatsächlich erkannt haben, ließen sie es ihm gegenüber an Ehre und Dank fehlen. Ihr Sinn verfinsterte sich, und sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern von Menschen und Tieren. Der eigentliche Abfall lag folglich in dieser Vertauschung, im Götzendienst, in der Produktion eigener sakraler Vorstellung

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anstelle der Verehrung des wahren Gottes. Die Antwort Gottes auf diese Verkehrung und auf die Zuwendung der Menschen zu ihren eigenen Bildern ist der Zorn.

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Nachdem Paulus auf diese Weise gezeigt hat, worin die Gottlosigkeit besteht, geht er dazu über, durch drei ähnlich lautende Formulierungen den Zorn genauer zu charakterisieren. Er schreibt, daß Gott die Menschen »den Begierden ihres Herzens« (Röm 1,24), den »entehrenden Leidenschaften« (Röm 1,26) und »einem verworfenen Denken« (Röm 1,28) auslieferte. Im Unterschied zum Alten Testament ist bei Paulus nicht einmal mehr andeutungsweise davon die Rede, daß Gott selbst gewalttätig eingreift. Desgleichen fehlt die Vorstellung, daß er andere Menschen aufhetzt, die Übeltäter zu bestrafen. Der Zorn besteht nach Paulus nur darin, daß Gott die Menschen sich selbst, ihren Begierden, Leidenschaften und ihrem verkehrten Denken ausliefert. Keine fremde Gewalt ist mehr im Spiel. Der Zorn ist identisch mit der vollen Respektierung jenes menschlichen Tuns, das sich gegen Gott wendet und zur völligen Verkehrung der zwischenmenschlichen Beziehungen führt.

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Paulus hebt die Pervertierung in zwei Bereichen besonders hervor, im sexuellen Verhalten und im verworfenen Denken mit all seinen Folgen. Die durch den Abfall von Gott entbrannte Leidenschaft führt zunächst zur Störung der sexuellen Beziehungen und dann - als Folge des verworfenen Denkens - zu Ungerechtigkeit, Lüge, Neid und Mord. Die Darstellung im Römerbrief hat eine überraschende Parallele im Bericht über den Sündenfall im Paradies. Auch dort zeigt sich der Abfall von Gott zunächst in der Störung der sexuellen Beziehungen, indem Adam und Eva merken, daß sie nackt sind (Gen 3,7). Diese erste überraschende Entdeckung führt zu weiteren Problemen und Leiden. Die Frau muß in Schmerzen gebären, und die Sexualität wird zum Mittel der Herrschaft des Mannes über sie. Die göttliche Strafe kommt nicht von außen, sondern aus der gestörten Sexualität selber. Gott sprach zur Frau:

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Viel Mühsal bereite ich dir, oft wirst du schwanger sein, unter Schmerzen gebierst du Kinder. Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen (Gen 3,16).

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Im Unterschied zur Paradieseserzählung sieht Paulus die Verkehrung der sexuellen Beziehungen nicht einseitig vom Los der Frau, sondern von beiden Partnern her. Die typische Form der brennenden Begierde ist für ihn die Homosexualität (Röm 1,26 f.). Männer wie Frauen vertauschen den natürlichen Verkehr und entbrennen in Begierde zueinander. Sie erhalten

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deswegen auch den gebührenden Lohn (Röm 1,27)(162). Der Zorn Gottes erweist sich darin, daß er selbst das verkehrte und leidenschaftliche Tun voll respektiert und die Menschen so der gegenseitigen Bestrafung und der Selbstzerstörung überläßt.

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Besonders deutlich wird die gegenseitige Zerstörung in jener Verkehrung, die nach der sexuellen folgt. Gemäß der Paradieseserzählung ist der Tod die eigentliche Frucht der Sünde. An welchen Tod dabei zu denken ist, zeigt der gleich an den Sündenfall anschließende Bericht von der Ermordung Abels. Die aus dem Abfall von Gott folgende Zerrüttung der zwischenmenschlichen Beziehungen erreicht ihren Höhepunkt im Brudermord. - Paulus weist im Römerbrief auf den genau gleichen Zusammenhang hin, indem er gleich nach der sexuellen Perversion weitere zwischenmenschliche Verkehrungen aufzählt. Dabei erreicht die Weigerung, Gott anzuerkennen, auch nach ihm ihren Höhepunkt im Mord. Der Heidenapostel hebt allerdings stärker als die Paradieseserzählung die Beziehung zwischen dem verworfenen Denken (List, Tücke, Verleumdung, üble Nachrede) und dem Mord hervor. Er bewegt sich damit ganz auf der Linie der Evangelien, die den Vorwurf des Prophetenmordes untrennbar mit der Anklage auf Heuchelei und Lüge verbinden.

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Der Zorn besteht nur darin, daß Gott das menschliche Tun bis in seine letzten und bitteren Konsequenzen hinein respektiert (vgl. Mt 23,38; Lk 13,35). Die Aussagen des Paulus über den göttlichen Zorn stimmen folglich ganz mit unserer Interpretation der Erlösung überein. Das eigentliche Geheimnis der abgründigen Liebe offenbart sich in einer Erlösertat, die die Menschen voll ernst nimmt, ja bis zum äußersten ihrem eigenen Tun überläßt. Die Sünder folgen ihrer Begierde und verfallen der Leidenschaft, schließlich rotten sich alle gegen den Gesalbten und den Sohn Gottes zusammen. Aus der tiefsten Verkehrung heraus begehen sie alle den Mord am wahrsten Bruder, dem Sohn Gottes; gerade so fallen sie aber unverhofft und ungewollt der göttlichen Liebe in die Arme.

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An wenigen Stellen spricht das Neue Testament allerdings auch von einer Sünde, die nicht vergeben wird (Mk 3,29; 1 Joh5,16), und hie und da droht es mit der Höllenstrafe. Es rechnet folglich mit der Möglichkeit, daß Menschen selbst der erlösenden und grundlos verzeihenden Liebe nochmals Widerstand leisten können. Ob diese düstere Möglichkeit in gewissen Fäl

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len Wirklichkeit wird, läßt sich vom Neuen Testament her nicht entscheiden und bleibt im Geheimnis Gottes verborgen.

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Fraglich bleibt in unserem Zusammenhang noch, ob nicht die spezifisch apokalyptischen Texte ein anderes Verständnis vom Zorn Gottes lehren. Vor allem die Offenbarung des Johannes scheint von einer Gewalt zu sprechen, die sich direkt vom Himmel her über die Menschen ergießt. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, ist allerdings genau zu bedenken, daß die letzte Schrift des Neuen Testaments ganz in der Bildersprache der jüdischen Apokalyptik geschrieben ist. Es ist deshalb ziemlich schwierig, zwischen dem sehr zeitbedingten Bildmaterial und der eigentlichen Aussage zu unterscheiden. Am ehesten dürfte dies, wenigstens soweit es für unsere Untersuchung nötig ist, durch einen kurzen Vergleich mit den apokalyptischen Texten (den Reden über die Endzeit) in den synoptischen Evangelien gelingen (Mt 24,1-25,46; Mk 13,1-37; Lk 21,5-36). In einem früheren Kontext sind wir bereits kurz auf die Reden Jesu über die Endzeit eingegangen. In ihnen ist tatsächlich ausführlich von der Gewalt und vom Gericht Gottes die Rede. Es findet sich aber überhaupt keine Aussage bezüglich einer direkten Gewalttat Gottes, es wird nur gesagt, daß Menschen gewaltsam gegeneinander vorgehen. Neben Naturphänomenen werden vor allem Kriege und allgemeine Aufstände angekündigt:

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Ein Volk wird sich gegen das andere erheben, und ein Reich gegen das andere (Mk 13,8 par.).

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Diese Aussage ist teilweise ein Zitat aus einem bereits früher erwähnten Text des Jesaja, in dem der alttestamentliche Prophet das Gericht über Ägypten ankündigt. Dort heißt es:

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Und sie kämpfen gegeneinander:

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Bruder gegen Bruder, Nachbar gegen Nachbar,

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Stadt gegen Stadt, Gau gegen Gau (Jes 19,2).

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Die allgemeine Verwirrung beim Gericht über Ägypten wird in der Rede Jesu über die Endzeit auf die ganze Welt ausgeweitet und zur Beschreibung des Gerichtes verwendet. Besonders erwähnt wird dabei die Ermordung der Jünger, und einmal mehr wird deutlich gemacht, daß Menschen einander ausliefern:

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Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder werden sich gegen ihre Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken (Mk 13,12).

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In all diesen Texten erscheinen die Gewalttaten nie als eine Sache Gottes, sondern ausschließlich als eine Angelegenheit unter Menschen. Brüder, Nachbarn, Städte, Gaue, Völker und Reiche fallen übereinander her. Bei

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den Synoptikern geht der apokalyptische Schrecken ausschließlich von den Menschen aus. Sie liefern einander dem Tod aus.

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An einer Stelle ist zwar auch von kosmischen Ereignissen die Rede, von der Verfinsterung der Sonne und des Mondes und vom Herabfallen der Sterne. Alle drei Synoptiker verstehen diese Naturphänomene aber nur als Begleiterscheinungen beim Kommen des Menschensohns (Mk 13,24-27 par.). Nirgends wird im geringsten angedeutet, die Menschen würden durch die herabfallenden Sterne getötet. Wenn das Mattäusevangelium sagt, daß alle Völker jammern und klagen, setzt es diese Ankündigung nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit den Naturphänomenen, sondern mit dem Zeichen des Menschensohnes am Himmel (Mt 24,30) (163).

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Angesichts dieses eindeutigen Befunds wäre es höchst überraschend, wenn die Offenbarung des Johannes etwas grundsätzlich anderes lehren würde. Tatsächlich findet sich in ihr keine Aussage, die Gott selber Gewalttaten zuschreibt(164). Reiter bringen den gewaltsamen Tod über die Menschen (Offb 6,1-8), die Schalen des göttlichen Zornes werden von Engeln ausgegossen (Offb 16,1-21), und Engel blasen jene Trompeten, die Unheil zur Folge haben (Offb 8,6-9,21). Bei diesen Aussagen ist zu bedenken, daß in der jüdischen Apokalyptik Engel für menschliche Gemeinschaften, ja für ganze Völker stehen können. So heißt es im Buch Daniel:

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Der Engelfürst des Perserreiches hat sich mir einundzwanzig Tage lang entgegengestellt, aber Michael, einer der obersten Engelfürsten, kam mir zu Hilfe Ich muß bald zurückkehren und mit dem Engelfürsten von Persien kämpfen. Wenn ich mit ihm fertig bin, dann wird der Engelfürst von Jawan (Griechenland) kommen (Dan 10,13-20).

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Hier sind nicht imaginäre himmlische Kämpfe, sondern reale Auseinandersetzungen mit den Persern und Griechen gemeint. Auch im ersten Teil der Offenbarung des Johannes bezeichnet das Wort Engel ganz eindeutig kein himmlisches Wesen, sondern eine konkrete menschliche Gemeinschaft oder deren Vorsteher. Der Seher Johannes wird siebenmal aufgefordert, an die Engel der verschiedenen Gemeinden einen Brief zu schreiben (Offb 2,1.8.12. 18; 3,1.7.14). Der allgemeine Sprachgebrauch der jüdischen Apokalyptik und des ersten Teiles der Offenbarung legt folglich nahe, daß »die sieben Engel mit den Schalen des Zornes« Völker bezeichnen, die übereinander herfallen. Der Seher sieht die verborgene Wahrheit. Er deckt auf, was die meisten Menschen nicht sehen, nämlich jene Gewalt, die sich selber immer wieder verbirgt. Auf weltweiter Ebene tut er genau das, was Jesus den Pharisäern gegenüber getan hat, indem er ihnen vorhielt, Heuchler und die wahren Söhne der Prophetenmörder zu sein.

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Die Offenbarung des Johannes spricht allerdings nicht nur von Kämpfen, sondern auch von einem Endkampf, in dem einer auftritt, dessen Gewand blutdurchtränkt ist. Er schlägt die Völker, und er »tritt die Kelter des Weines des rächenden Gottes« (Off 19,13-15). Er wird »König der Könige und Herr der Herren« genannt (Offb 19,16). Dieser königliche Herrscher hat aber keine Waffe in der Hand. Sein Schwert kommt vielmehr aus seinem Mund. Er kämpft allein mit der Waffe des Wortes. Sein Name lautet: »Das Wort Gottes« (Offb 19,13). Mit alttestamentlichen Bildern sagt dieser Text nichts anderes als das Mattäusevangelium, in dem Jesus verkündet, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert (vgl. auch Eph 6,17). Mit dem Wort Gottes oder bildlich gesprochen mit dem Schwert, das aus dem Munde kommt, wird der verborgene Groll gegen Gott und die heimliche Gewalttätigkeit aufgedeckt. Die Botschaft von der grenzenlosen Liebe wirkt als Gericht in der Welt, weil sie die Menschen zutiefst mit sich selber konfrontiert. Jener, der »die Kelter des Weines des rächenden Gottes« tritt, ist niemand anders als das Lamm, das nicht gekommen ist, zu schlachten, sondern das selber geschlachtet wurde (Offb 5,6; 7,14; 12,11).

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Die neutestamentlichen apokalyptischen Schriften lehren folglich über den Zorn Gottes nichts anderes als Paulus im Römerbrief. Die Unterschiede, die zwischen beiden Textreihen bestehen, rühren einerseits vom Bildmaterial, anderseits von den verschiedenen Anwendungsgebieten her. Paulus beschreibt den Zorn auf interpersoneller Ebene; die apokalyptischen Texte sehen ihn hingegen im weltgeschichtlichen Rahmen. In beiden Fällen geht es aber um die Tatsache, daß Gott die Taten der Menschen bis zum äußersten ernst nimmt. Er überläßt die Übeltäter ihren eigenen Begierden mit

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allen unausweichlichen Folgen. Das Wort Gottes ist das Wort der grenzenlosen Liebe und zugleich des Gerichts, indem es das untergründige Sinnen und Trachten aufdeckt und die Menschen vor die Entscheidung stellt, entweder ihre eigenen bösen Neigungen besiegen zu lassen oder einer unerbittlichen (gegenseitigen) Selbstbestrafung zu verfallen.

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8. Die neue Sammlung. Der Heilige Geist und das neue Gottesvolk

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Der erste Versuch Jesu, Israel zu sammeln, ist gescheitert. Die Führer und das Volk haben nicht gewollt. Der Hirt wurde geschlagen, und die Schafe haben sich zerstreut (vgl. Mt 26,31). Gott aber hat die Sache seines Sohnes, gegen den sich alle Juden und Heiden zusammengerottet hatten, zur seinen gemacht und ihn dem Bereich des Todes entrissen. Er manifestierte sein grundloses Erbarmen als Antwort auf den Groll und den Haß der verschworenen Menschen in der Erweckung seines Sohnes und in der Ausgießung des Geistes.

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Bereits für die alttestamentlichen Propheten waren die großen Gerichts- und Strafreden gegen das Volk und die Völker nicht das letzte Wort. Sie verkündeten darüber hinaus ein kommendes Handeln Gottes und beschrieben es als neue Sammlung des Volkes (und der Völker) und als Ausgießung des Geistes. Wie durch die Zerstörung Jerusalems die Geschichte Israels erstmals gerichtet wurde, so erging durch die Allianz aller gegen Jesus das definitive Gericht über die Sünde der Menschheit. Doch dies war nicht die letzte Tat Gottes. Der Kreuzigung folgte die Auferweckung des Sohnes und die beginnende Sammlung des neuen Gottesvolkes durch die Ausgießung des Geistes.

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Die meisten neutestamentlichen Texte, die vom Heiligen Geist sprechen, zeigen, daß er das wahre Prinzip der Einheit ist. Der Friede als Frucht des Geistes unterscheidet sich jedoch klar von jener Einheit, die durch den Sündenbockmechanismus geschaffen wird. Letztere ist nichts anderes als eine Uniformität, die durch das gemeinsame Feindbild erzwungen wird. Der Heilige Geist hingegen sammelt die Menschen, indem er jeden einzelnen in seiner Eigenart und Freiheit respektiert und alle nicht gegen, sondern für jemanden, für den Herrn eint.

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Die Apostelgeschichte hebt in ihrem Bericht über das Pfingstfest hervor, daß die Zungen von Feuer sich verteilten und sich auf jeden von ihnen niederließen (Apg 2,3). Desgleichen sagt sie bezüglich des Sprachenwunders nicht, daß alle die eine Sprache verstanden, sondern daß die Apostel anfingen, in fremden Sprachen zu reden und alle in Jerusalem bestürzt waren, weil jeder sie in seiner eigenen Muttersprache reden hörte (Apg 2,4-8). Der Geist bewirkte ein einheitliches Verständnis bei voller Respektierung aller vorgegebenen Unterschiede. Ähnlich wie die Apostelgeschichte betont auch Paulus das vielfältige Wirken des einen Geistes. Dieser schafft weder Uniformität, noch isoliert er die einzelnen voneinander. Er teilt zwar jedem einzelnen eine besondere Gabe zu. Sei es die Gabe der Weisheit, der Erkenntnis, der Glaubenskraft, der Heilung, der prophetischen Rede, der Unterscheidung der Geister oder der verzückten Rede (1 Kor 12,1-11). Dennoch bleibt die Einheit:

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Das alles bewirkt der eine und gleiche Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will (1 Kor 12,11).

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Der Geist schafft keine inhaltsleere und monotone Einheit. Er nötigt nicht alle zum gleichen Tun. Er wirkt vielmehr durch die Austeilung der unterschiedlichsten Gaben eine reiche und spannungsvolle Einheit. Im ersten Korintherbrief drückt Paulus diese Wahrheit gleich anschließend an die Rede vom einen Geist und den vielen Gaben nochmals mit dem Bild vom einen Leib und von den vielen Gliedern aus. Kein Glied ist identisch mit dem anderen. Alle aber sind nötig, und nur alle zusammen bilden den einen Leib. Alle haben deshalb einträchtig füreinander zu sorgen (1 Kor 12,12-31).

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Gemäß der Aussage des Propheten Ezechiel erweist sich Gott gerade dadurch vor den Augen der Völker als heilig, daß er das zerstreute Volk neu sammelt. Das Neue Testament bestätigt diese Aussage und differenziert sie zugleich. Der Erweis vollzieht sich auf doppelte Weise. Der Sohn Gottes provoziert zunächst eine Sammlung im negativen Sinn. Gegen ihn rotten sich alle zusammen und entladen ihren bösen Willen auf ihn. Der Geist aber bewirkt die positive Sammlung der bekehrten Verschwörer und Übeltäter. Dabei bedingen sich beide Wirkweisen gegenseitig. Jesus als Sohn Gottes und als Sündenbock der ganzen Welt ist jener, auf den bereits bei der Empfängnis und später wieder bei der Taufe im Jordan der Geist herabkam. Der Geist seinerseits bewirkt die neue Sammlung nur dadurch, daß er die Menschen in jene Wahrheit einführt, die der Sohn gebracht hat (Joh 14,17; 16,13). Beide sind vom Vater gesandt und bedingen sich wechselseitig in ihrer innerweltlichen Wirksamkeit.

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Die Offenbarung des wahren Gottes geschieht, indem sich alle »bösen Winzer« gegen den »geliebten Sohn« wie gegen ein gewaltloses Opferlamm zusammenrotten. Girard zeigt, wie die sakralen Vorstellungen bei der Ausstoßung des Sündenbocks entstehen. Die biblischen Schriften entlarven diese Vorstellungen zunächst als Götzendienst und als Lüge. Auf einer tieferen Ebene aber geben sie der Theorie Girards einen ganz neuen Sinn. Die sakralen Vorstellungen entstehen nicht zufällig bei der Zusammenrottung. Der eine notwendige Sündenbock der Welt ist tatsächlich auch der Sohn des wahren Gottes, und er offenbart sich als solcher, indem er durch seine Auferweckung manifestiert, daß alle Projektionen und alle Lügen der Menschheit auf seiten derer wirksam sind, die sich gegen ihn zusammengetan haben.

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Diese Offenbarung ist nur möglich, indem Gott zugleich zu erkennen gibt, daß er keine den Menschen äußerliche Wirklichkeit ist. Als solcher bliebe er Objekt offener oder geheimer Rivalitäten. Der Sohn kann als Sohn nur erkannt werden, indem der Geist die Herzen derer, die sich gegen ihn zusammengetan haben, innerlich umkehrt und sie auf ihn hin neu sammelt. Er bewirkt nicht etwas Disparates. Er offenbart, daß Gott das letzte Geheimnis des menschlichen Herzens ist, und er gibt der negativen Sammlung gegen den Sohn ein ganz neues Vorzeichen. Die bisher entfaltete Interpretation der biblischen Schriften führt so direkt zu einer Dreifaltigkeitstheologie. Die unheilvolle Dreiecksstruktur der menschlichen Begierde wird überwunden durch die Offenbarung der dreifaltigen göttlichen Liebe. Der Mensch erstrebt nicht direkt ein Objekt. Wie durch eine fremde Begierde erst die eigene geweckt und auf ein Objekt ausgerichtet wird, so wird durch den Willen des Sohnes der Geist ins eigene Herz gesandt und dieses auf den Vater ausgerichtet. Diese Analogie zwischen der Dreiecksstruktur der menschlichen Begierde und der Offenbarung des dreifaltigen Gottes kann im vorgegebenen Rahmen allerdings nicht weiter ausgefaltet werden. Dies wäre das Thema einer eigenen Studie.

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Einige kurze Hinweise sind noch zu geben zur neuen Sammlung, die der Geist bewirkt. Im ersten Korintherbrief folgt unmittelbar nach den Ausführungen über den einen Geist und die vielen Gaben und über den einen Leib und die vielen Glieder das Hohelied der Liebe. Paulus legt darin dar, wie alles Tun nur durch die Liebe seinen wahren Sinn bekommt. Ohne sie bleiben alle Anstrengungen »tönendes Blech« (1 Kor 13,1). Selbst die Glaubenstaten und die Hingabe des Leibes nützen nichts ohne sie (1 Kor 13,2 f.). Von der Liebe selbst aber sagt Paulus, daß sie nicht eifersüchtig, sondern langmütig und gütig ist. Bereits in unseren Ausführungen zum Alten Testament haben wir - wenigstens am Beispiel von David und Jonatan und

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von den beiden Frauen vor Salomon - gesehen, daß nur eine Liebe, die den anderen so liebt wie das eigene Leben, die Neigung zur Rivalität an ihrer Wurzel überwinden kann. Entsprechend preist Paulus im Hohenlied nicht irgendein Gefühl, sondern jene Liebe, die in der Nachfolge Jesu bereit ist, das eigene Leben zu opfern. Die Wirkkraft des Geistes manifestiert sich in dieser Welt, indem er Menschen zu einer vollen Hingabe des Lebens befähigt.

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Die Apostelgeschichte berichtet, wie Stephanus seinen Gegnern in einem Atemzug Halsstarrigkeit und Mord vorwarf (Apg 7,51 f.). Gemäß dieser Anklage manifestiert sich der ständige Widerstand gegen den Heiligen Geist in der dauernden Neigung zum Töten. Auf ähnliche Weise unterscheidet Paulus zwischen einem Trachten des Fleisches und einem Trachten des Geistes. Beide stehen im Gegensatz zueinander:

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Das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich feindlich gegenüber (Gal 5,17).

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Das Begehren und Trachten des Fleisches führt zum Tod (Röm 8,6 f.). Das Begehren des Geistes hingegen bringt Früchte der »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue« (Gal 5,22). Dem Heiligen Geist steht ein klar umschriebener Feind gegenüber: das Trachten des Fleisches, das zum Tode führt, oder mit den Worten der Apostelgeschichte: das halsstarrige Herz der Prophetenmörder. Diese klaren neutestamentlichen Aussagen machen einmal mehr deutlich, daß der Geist der Liebe nur dort voll wirksam wird, wo er zugleich den ihm entgegenstehenden Willen zum Töten bloßlegt und überwindet.

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Wenn Jesus in den Evangelien lehrt, nicht nur den Freund, sondern auch den Feind zu lieben, mahnt er uns einerseits, niemanden von der Liebe auszuschließen, anderseits fordert er uns auf, jene Menschen, die wir lieben, ganz zu lieben, also auch den Feind, der sich im Freund versteckt. Haben sich alle Menschen gegen Jesus verschworen und wohnt in allen ein heimlicher Groll gegen Gott, dann schlummert selbst im geliebten Du eine heimliche Neigung zum Morden. Eine zwischenmenschliche Beziehung hat folglich erst dann ihre Wahrheit erreicht, wenn sie bis zu dieser Tiefe vorgestoßen ist. Da der Abfall von Gott automatisch jedes zwischenmenschliche Verhalten pervertiert, können die gestörten Beziehungen durch die Bekehrung des Herzens nur wahrhaft erneuert werden, wenn gleichzeitig die heimliche Perversion aufgedeckt und eingestanden wird.

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Wo die Botschaft der Liebe in schönen Worten über die dunklen Abgründe hinweggleitet, wird sie früher oder später notwendigerweise als unwirklich und lebensfremd empfunden. Wenn man aus Menschenfurcht nicht wagt,

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die dunklen Bereiche des eigenen Herzens andern zu zeigen und wenn man sich aus Angst vor aufbrechenden Konflikten nicht auf die undurchschaubaren Tiefen eines Du einläßt, bleibt die christliche Botschaft steril. Untrennbar zur Liebe gehört die Aufdeckung der raffinierten Täuschungsmechanismen der Gewalt.

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Die wahre Liebe ist auch etwas anderes als das Träumen von einer isolierten Paarbeziehung. In ihrer Urform ist sie nicht Zweierbeziehung, sondern dreifaltige Liebe. Nur als solche vermag sie die unheilvolle Dreiecksstruktur der Begierde an ihrer Wurzel zu überwinden. Als dreifaltige ist sie von ihrem Ansatz her auf Gemeinschaft ausgerichtet. Den eigentlichen Raum der Liebe bilden deshalb im Neuen Testament nicht isolierte Paarbeziehungen, sondern die Gemeinden der Glaubenden.

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Die Wirksamkeit des Geistes bleibt nicht auf die interpersonelle Ebene beschränkt. Wie im Alten Testament angekündigt wurde, offenbart sich Gott, indem er ein neues Volk sammelt. Zeichenhaft sichtbar wird dieses neue Volk überall dort, wo sich die Herrschaftsverhältnisse grundlegend ändern. Das Lukasevangelium läßt Maria schon vor der Geburt ihres Kindes ein Lied singen, in dem es heißt:

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Er (Gott) vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:

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er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;

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er stürzt die Mächtigen vom Thron

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und erhöht die Niedrigen (Lk 1,51 f.).

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Die gleiche Veränderung der Machtverhältnisse deutet Jesus an, wenn er seine Jünger ermahnt:

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Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll dem Kleinsten gleich werden und der Führende dem Dienenden (Lk 22,25 f.).

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Die Analysen von Girard zeigen, wie jede autoritäre Herrschaft nach dem Sündenbockmechanismus funktioniert. Die Aufdeckung der untergründigen Vorgänge der Gewalt durch die Botschaft der grenzenlosen Liebe muß deshalb notwendigerweise zu einer grundsätzlichen Veränderung der Herrschaftsstrukturen führen. Genau dies bezeugt das Neue Testament. Wo die volle Wahrheit aufscheint, verlieren die Mächtigen ihren Thron, die Niedrigen werden erhöht, und der Führende kann nur ein wahrhaft Führender bleiben, wenn er sich dem Dienenden gleichmacht. Gründet die alte Gesellschaftsordnung auf dem Sündenbockmechanismus, so zeigt sich das neue Volk darin, daß die einzelnen nicht mehr um die ersten Plätze zu rivalisieren brauchen.

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Bereits das Neue Testament und noch mehr die lange Kirchengeschichte

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belegen, daß die neue Sammlung durch das Wirken des Heiligen Geistes nicht schlagartig erfolgt. Sie vollzieht sich nur langsam im Laufe einer langen Geschichte. Die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche, ist deshalb dazu bestimmt, in einer noch zerstreuten und gewalttätigen Menschheit die bereits begonnene Sammlung des Geistes zeichenhaft sichtbar zu machen. Sie ist das neue Gottesvolk und soll es zugleich immer mehr werden. Die Interpretation der biblischen Schriften im Lichte des Sündenbockmechanismus führt notwendigerweise zu einer Ekklesiologie, zu einer vertieften Lehre vom neuen Gottesvolk. Wie die Dreifaltigkeitstheologie, so kann aber auch die vom Sündenbockmechanismus her zu entwerfende Ekklesiologie hier nicht weiter ausgefaltet werden.

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Ein letzter und entscheidender Punkt ist noch kurz zu erwähnen. Die bisherigen Untersuchungen führen zum Ergebnis, daß Gott im Laufe der alt- und neutestamentlichen Geschichte seine grenzenlose (dreifaltige) Liebe offenbarte, indem er gleichzeitig die entgegenstehende böse Macht im Herzen aller Menschen schrittweise bloßlegte. Die Aufdeckung der untergründigen Wirklichkeit geschah aber immer durch das Wort. Wir sind deshalb an jenem Punkt angelangt, an dem wir nochmals zu allen bisher erwähnten Texten über den Zorn, die Rache und die Gewalt zurückkehren müßten, um sie unter einer neuen Rücksicht zu lesen. Die Aufmerksamkeit wäre nicht mehr bloß auf die Gewalt zu richten, die offengelegt wurde, sondern ebenso auf das Wort, durch das die Enthüllung geschah.

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Es wäre zu beachten, daß die neue Sammlung des Volkes in der Kraft des Geistes ebenfalls durch das Wort erfolgt. Nur als Andeutung sei hier darauf hingewiesen, daß zum Beispiel in der Apostelgeschichte der Geist immer etwas mit der Rede zu tun hat. Er bewirkt die Zungenrede (Apg 2,4; 10,44 ff.; 19,6) und die prophetische Rede (Apg 2,17; 4,25; 11,28; 21,4.11; 28,25). Er macht Menschen zu Zeugen und befähigt sie, in Freimut zu verkünden (Apg 1,8; 4,8.31; 5,32; 6,10; 7,51 f.; 9,17-20; 13,4 f.).

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Die Theologie vom Sündenbock ist deshalb letztlich identisch mit einer Theologie des Wortes, die ganz zu sich selbst gekommen und sich ihres wahren Wesens bewußt geworden ist (was in einer späteren Studie im einzelnen aufgezeigt werden soll). Solange die Wirkweise der Gewalt nicht voll durchschaut wird, bleibt das Wort mindestens teilweise gefangen. In dem Maße aber, wie die Mechanismen der bösen Mächte aufgedeckt werden, kann die Theologie des Wortes zu sich selber finden. So ist zum Beispiel in fast hundert Psalmen von Feinden und Gewalttätern die Rede. Die Konfrontation mit dieser dunklen Wirklichkeit geschieht aber durch das Wort, durch das Lied, eben durch die Psalmen. Desgleichen verkünden die Propheten ihre Botschaft als Wort Gottes. Das reine Wort, der Logos, er

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weist sich schließlich als jener, der an der Gewalt nicht den geringsten Anteil hat. Und die Apostel verstehen ihr Amt als »Dienst am Wort« (Apg 6,4). Entsprechend ermahnt der Epheserbrief die Gläubigen, sich vom Geist erfüllen zu lassen und Gott in Lobliedern zu preisen:

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Seid nicht zügellos und berauscht euch nicht mit Wein, sondern laßt euch vom Geist erfüllen! Laßt in eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder, wie der Geist sie eingibt, erklingen! Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lob des Herrn! (Eph 5,18 f.; vgl. 3,16).

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Das freie und wahre Loblied Gottes kann dort erklingen, wo Menschen nicht mehr »berauscht« sind. Nicht der Wein bildet aber die entscheidende Gefahr. Der universalste und gefährlichste Rausch ist der Blutrausch.

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Dem »berauschten« Menschen steht jener gegenüber, der frei sprechen und wahrhaft hören kann. Die volle Aufdeckung der Wahrheit ist deshalb weit mehr als ein rein theoretischer Vorgang. Jene geheimen Aggressionen sind zu überwinden, die selbst den konkreten Vorgang des Sprechens und Hörens immer wieder stören. In Psalm 40, den auch der Hebräerbrief aufgreift (10,5 ff.), heißt es:

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An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen,

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Brand- und Sündopfer forderst du nicht.

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Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt;

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Darum sage ich: Ja, ich komme (Ps 40,7 f.).

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Der Psalmist wird sich voll bewußt, daß ihm ein Gehör eingepflanzt ist, indem er gleichzeitig die Nutzlosigkeit der Schlacht- und Speiseopfer durchschaut. Die rituellen Opfer gehören zu jener Gesellschaftsordnung, die letztlich im Sündenbockmechanismus gründet. Wer innerlich an sie gebunden bleibt, hat Ohren und hört doch nicht. Er merkt nicht, daß ihm ein Gehör eingepflanzt ist. Umgekehrt bekennt der Leidensknecht bei Deuterojesaja, daß ihm Gott »das Ohr geöffnet« und ihn gleichzeitig gelehrt hat, der Gewalt nicht zu widerstehen (Jes 50,5). Das Öffnen des Ohres und das gewaltfreie Verhalten hängen bei diesem Propheten untrennbar zusammen.

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Am Anfang dieses Kapitels haben wir festgehalten, daß Jesus ein grundlegendes hermeneutisches Problem aufwirft, indem er die Worte des Propheten Jesaja zitiert:

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Mit den Ohren werdet ihr hören und doch nichts verstehen,

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mit den Augen werdet ihr sehen und doch nichts einsehen.

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Denn das Herz dieses Volkes ist verhärtet,

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ihre Ohren sind schwerhörig,

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und ihre Augen sind verschlossen (Mt 13,14 f.).

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Die tiefe Wahrheit dieser Aussage wird nun sichtbar. Solange der Stein von den Bauleuten noch nicht verworfen worden ist und der untergründige Groll gegen Gott und die Neigung zum Töten noch nicht offenkundig geworden sind, bleiben die Ohren schwerhörig (mit Folgen bis in die Physiologie hinein). Das Wort bleibt ein leeres und spitzes Wort, das nur zu leicht den Streit schürt. Die Machthaber und Gewalttäter verachten deshalb meistens das Wort und halten es für ohnmächtig (165). Doch sie täuschen sich. Das Wort der dreifaltigen Liebe öffnet die schwerhörigen Ohren der Menschen, indem es gleichzeitig die Gewalt überwindet. Es wirkt mit äußerster Geduld, aber unfehlbar.

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Perspektiven

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Unsere Untersuchung konnte nicht auf Einzelheiten eingehen. Sie muß deshalb durch detaillierte Studien ergänzt und weiter geprüft werden. Bereits jetzt dürfte aber feststehen, daß die Theorie Girards einen sehr hilfreichen hermeneutischen Raster liefert, um die biblischen Schriften in einem neuen Licht zu sehen und um die innere Einheit der großen alt- und neutestamentlichen Themen besser zu verstehen. Es scheint mir deshalb unwahrscheinlich, daß weitere Einzelstudien zu einem grundlegend anderen Resultat führen könnten. Gewiß müssen viele Punkte noch weiter ausgefaltet, manche vielleicht nuanciert und differenziert werden. Die vorgetragene Interpretation könnte aber nur dann als ganze in Frage gestellt werden, wenn sich ein noch überzeugenderer hermeneutischer Raster finden ließe. Ein solcher ist gegenwärtig weit und breit nicht sichtbar, und die Theorie Girards entspricht so vielen biblischen Texten dem Wortlaut nach, daß ein grundlegend anderer Entwurf auch schwer denkbar ist.

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Wenn die hier vorgestellte Interpretation der biblischen Schriften evident zu sein scheint, drängt sich notwendigerweise die Frage auf, weshalb eine derart klare Sache nicht schon früher entdeckt wurde. Aus der Sicht Girards ist die Antwort eindeutig. Die Fähigkeit der Gewalt, ihr wahres Wesen zu verbergen, ist so groß, daß sie auch die Christen dazu verleiten konnte, an sich eindeutige Texte wieder einseitig zu lesen. Diese Antwort ist nicht eine leere Behauptung, sondern sie läßt sich in der Theologiegeschichte nachprüfen. Die vielen alttestamentlichen Texte und vor allem die neutestamentlichen Aussagen über die universale Neigung zur Gewalt wurden tatsächlich immer wieder in die eine oder andere Richtung uminterpretiert.

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In den synoptischen Evangelien wirft Jesus seinen Gegnern, den Schriftgelehrten und Pharisäern, mit klaren Worten vor, sie seien Heuchler und die wahren Söhne der Prophetenmörder. In der christlichen Tradition folgte man weitgehend der Meinung, diese Anklage richte sich nur gegen die Juden. Man übersah, daß Jesus gleichzeitig von allem Blut sprach, das seit Gründung der Erde vergossen wurde. Desgleichen schränkte man die harten Vorwürfe im Johannesevangelium, die Juden hätten den Mörder von Anbeginn zum Vater, auf die unmittelbaren Adressaten ein. Wiederum verschloß man sich der Einsicht, daß die Feindschaft der Juden im Johannesevangelium nur eine besondere Form des Hasses der Welt ist. - Ebenso

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bezog man das Gleichnis von den bösen Winzern und das Wort von den Bauleuten, die den Stein verwerfen, nur auf das untreu gewordene auserwählte Volk. Man bemerkte nicht, daß der erste Petrusbrief mit dem Wort vom verworfenen Stein das Verhältnis aller Menschen, die nicht wahrhaft glauben, zu Jesus umschreibt. Die klaren neutestamentlichen Aussagen über die universale Neigung zur Gewalt schränkte man folglich fast durchgehend auf die Juden ein. Die Christen, die den Mechanismus der Gewalt hätten durchschauen sollen, bauten einen neuen Sündenbock auf. Der Antisemitismus diente dazu, die Wahrheit über sich selber zu verbergen. Die Pharisäer hatten zur Zeit Jesu das Beispiel ihrer Väter vor Augen, die zu Prophetenmördern wurden. Sie ließen sich dadurch aber nicht warnen. Die Christen hatten während der vergangenen Jahrhunderte die Taten der Pharisäer vor Augen, die in völliger Selbsttäuschung den Gerechten und Gewaltlosen ans Kreuz gebracht hatten. Durch dieses noch eindeutigere Beispiel ließen sie sich ebenso wenig warnen. In beiden Fällen sah man die Untaten der anderen, ohne dadurch zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Die Pharisäer haben durch die Verfolgung Jesu und die Christen durch die Verfolgung der Juden die Wahrheit über sich selber niedergehalten.

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Heute bemüht man sich in weiten christlichen Kreisen, den häßlichen Antisemitismus zu überwinden. Dabei versucht man nicht selten, die harten Aussagen der Evangelien über die Pharisäer, die Schriftgelehrten und die Juden abzuschwächen und einige zufällige Übeltäter für die Kreuzigung Jesu verantwortlich zu machen. Auf diese Weise wird aber nur einmal mehr der Wahrheit ausgewichen. Die Aussagen der Evangelien über die Juden sind hart, und an ihnen gibt es nichts zu rütteln, wenn man nicht einer willkürlichen Exegese verfallen will. Der Antisemitismus wird nicht dadurch überwunden, daß man mit trügerischen Kunstgriffen klare Aussagen vernebelt, sondern indem man sich der Einsicht öffnet, daß alle Urteile über die Pharisäer und die Juden in dem Maße auch für die Christen gelten, als sie ihr Herz nicht dem Gott der unbegreiflichen, gewaltfreien Liebe ganz zuwenden.

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Neben den Juden gab es in der christlichen Tradition ein weiteres Opfer, auf das die Schuld, wenn auch auf andere Weise, abgeschoben wurde. Nach eindeutigen biblischen Aussagen hat die Sünde den Tod zur Folge. In der christlichen Theologie achtete man meistens nicht genau darauf, was die alt- und neutestamentlichen Schriften unter diesem Tod verstanden. Man stellte nur fest, daß auch die Christen sterben mußten und daß sich bei aller Anstrengung, die Sünde zu überwinden, das Sterben nicht verhindern ließ. Man konnte deshalb keinen notwendigen Zusammenhang zwischen den eigenen Sünden und dem eigenen Sterben entdecken. Entsprechend

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interpretierte man biblische Texte und vor allem die Paradieseserzählung in dem Sinne, daß durch die alleinige Schuld Adams der Tod über die ganze Menschheit gekommen sei. Auf ihn schob man die Verantwortung für all das viele Todesleid ab. Dabei achtete man nicht darauf, daß in der Geschichte von Kain und Abel die Urform des von den biblischen Schriften gemeinten Todes geschildert wird. Ebenso übersah man, daß die Propheten in ihren Drohreden nie das Ende des biologischen Lebens, sondern immer den gewaltsamen Tod als Strafe für die Sünde angekündigt hatten. Vor allem aber verkannte man das Geschick Jesu. Er hat die wahre Frucht der Sünde auf sich genommen, und diese bestand in einem gewaltsamen Tod. Weil man folglich den klaren Zusammenhang zwischen der Sünde und dem gewaltsamen Tod nicht sah (oder im geheimen nicht sehen wollte), mußte Adam für die Untaten aller Menschen herhalten.

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Seit dem Aufkommen der Abstammungslehre glauben allerdings auch die Christen immer weniger, daß der biologische Tod aller Menschen dem Versagen eines urzeitlichen Stammvaters zuzuschreiben sei. Die biblische Aussage, daß der Tod die Frucht der Sünde sei, droht sich deshalb zu verflüchtigen. Dieser auflösenden Tendenz kann nur begegnet werden, indem man klar feststellt, daß die alt- und neutestamentlichen Schriften in erster Linie den gewaltsamen Tod meinen, wenn sie von der Frucht der Sünde sprechen. (Der biologische Tod dürfte insofern mitgemeint sein, als er im Unglauben erfahren wird.) Die Verantwortung kann deshalb keineswegs allein auf einen Stammvater vor urdenklichen Zeiten abgeschoben werden (166). Sie trifft jeden einzelnen. Wie die Propheten ihrem Volk das Heil oder den gewaltsamen Tod als Alternative vorgelegt haben, so stehen auch die Menschen heute vor der Entscheidung, entweder ihre eigene böse Neigung von der verzeihenden Liebe Gottes besiegen zu lassen oder den Menschenmördern in die Hände zu arbeiten.

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Die biblische Wahrheit über die universale Neigung zur Gewalt wurde noch durch einen weiteren Verdrängungsprozeß niedergehalten. Die apokalyptischen Texte sprechen so eindeutig von Feindschaften zwischen Men-

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schen und von Kriegen zwischen Völkern, daß man diese Wahrheit unmöglich übersehen konnte. Es war aber möglich, diese Texte als ganz falsch zu interpretieren. Man sah in ihnen detaillierte Beschreibungen von Ereignissen, die in irgendeiner unbestimmten Zukunft eintreten werden. In der christlichen Tradition begriff man lange Zeit nicht, daß mit dem Kommen Christi die Endzeit bereits begonnen hatte und daß folglich die apokalyptischen Texte eine tiefere Wahrheit über die Gegenwart enthalten. Die Aussagen über die allgemeinen Gewalttaten bezog man auf jene verkommenen Menschen, die unmittelbar vor dem Weltende leben werden. Man konnte sich dadurch von einer Konfrontation mit der unangenehmen Wahrheit dispensieren.

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Die neuere Theologie hat zwar klar erkannt, daß nach neutestamentlichem Verständnis die Endzeit mit dem Kommen Christi bereits begonnen hat. Die Wahrheit über die Gewalt wurde dennoch einmal mehr verdrängt. In den apokalyptischen Texten sahen viele kritische Theologen nur den Ausdruck zeitbedingter, wirrer Vorstellungen, mit denen aufgeklärte Menschen angeblich nichts mehr anfangen können. Man meinte, diese Texte müßten entmythologisiert werden, und man übersah, daß das Neue Testament in seinen Hauptaussagen die kosmisch-apokalyptischen Bilder der jüdischen Literatur über den Zorn Gottes radikaler entmythologisiert hatte als manche moderne Kritiker.

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Trotz vieler und sehr eindeutiger biblischer Aussagen über die universale menschliche Verfangenheit im Groll gegen Gott und im Willen zum Töten haben sich folglich die großen theologischen Traditionen kaum systematisch mit ihnen auseinandergesetzt. Die unangenehme Wahrheit wurde abgeschoben auf die Juden, auf Adam und auf die Generation vor dem Weltende. Die klaren Texte dienten nicht dazu, die verborgene böse Neigung im eigenen Herzen aufzudecken. Sie hatten teilweise genau die gegenteilige Funktion. Sie halfen, die Wahrheit zu verschleiern. Die Aussage der Texte und ihr tatsächlicher Gebrauch standen in Gegensatz zueinander. Der beste Buchstabe wurde zum tötenden Buchstaben.

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Nachdem die großen theologischen Traditionen der offenen und klaren Konfrontation mit der Problematik der unterschwelligen Gewalt und des heimlichen Grolls gegen Gott ausgewichen waren, konnten auch die Kirchen ziemlich leicht der Meinung verfallen, die Sache Gottes sei notfalls durch Gewalt zu verteidigen. So kam es zu den berühmt-berüchtigten Phänomenen wie: Ausbreitung des Glaubens durch das Schwert, militärisches Vorgehen gegen Häretiker, Kreuzzüge, Inquisition und Folter, Hexenverbrennungen, Religionskriege usw. Jesus hatte vorausgesagt, daß Menschen der Meinung verfallen werden, durch Töten Gott einen Dienst zu erweisen.

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Daß sogar die offizielle Kirche und Heilige dieser Täuschung erliegen konnten, wirft ein Licht auf die diabolische Geschicklichkeit der Gewalt, ihr wahres Wesen zu verbergen.

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Sobald sich unter den Christen die Meinung breitgemacht hatte, das Reich Gottes sei unter Umständen auch durch Gewalt zu verteidigen oder sogar durch das Schwert auszubreiten, war der Weg frei, die eigenen bösen Neigungen wieder offener und doch unbemerkt in Gott hineinzuprojizieren. Die theologische Vorstellung von der Besänftigung des göttlichen Zornes durch die Sühnetat des Sohnes bildete einen Kompromiß zwischen den neutestamentlichen Aussagen von der grenzenlosen göttlichen Liebe und den eigenen heimlichen Projektionen. Indem man lehrte, daß Gott durch die Sendung seines Sohnes aus freier eigener Initiative die fundamentale Möglichkeit zur Erlösung geschaffen hat, hielt man einerseits den Gedanken von der unverdienten zuvorkommenden Liebe des Vaters aufrecht. Anderseits konnten unter der Vorstellung von einem Gott, der blutige Genugtuung fordert, die undurchschauten eigenen Projektionen weiterwuchern.

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Wenn heute die verborgenen Zusammenhänge in wachsendem Maße durchschaut werden, ist dies die Folge eines langen Reifungsprozesses. Auch wenn die biblische Wahrheit in manchen Punkten wieder verdunkelt und zum Teil sogar verdreht wurde, ist sie von den Kirchen nie als ganze verfälscht worden. Sie machte ihren Weg durch die Geschichte und wirkte wie ein Sauerteig (167). Gerade die Verkehrungen im Namen des Christentums wurden für viele Heilige und Reformer zum Anlaß, mit neuer Kraft auf die ursprüngliche Botschaft hinzuweisen und eingefleischte Vorstellungen und etablierte christliche Mächte in Frage zu stellen. Selbst die christentumskritische Aufklärung, die ihre Waffen zu einem beträchtlichen Teil aus dem dunklen Arsenal der Kirchengeschichte geholt hat und immer noch holt, ist von der wahren christlichen Inspiration nie ganz losgekommen, und sie hat über sehr verworrene und komplizierte Umwege die ursprüngliche prophetische Kritik in immer neue Bereiche menschlicher Existenz hineingetragen. Die Kritik eines Kant, Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud - um nur einige der Wichtigsten zu nennen - steht in einer untergründigen Abhängigkeit vom prophetischen Impuls, und sie hat das abendländische Denken in fortschreitendem Maße daran gewöhnt, den vordergründigen Vorstellungen zu mißtrauen und einer verborgeneren Wahrheit nachzuspüren. Girard

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steht voll in dieser Tradition, und er führt sie insofern zu Ende, als durch ihn die Kritik des vordergründigen Bewußtseins zu jenem Ursprung zurückkehrt, von dem sie anfänglich ausgegangen ist, nämlich der Kritik der Propheten an den götzendienerischen und gewalttätigen Vorstellungen des eigenen Volkes und der Kritik Jesu am angeblich guten Willen seiner Gegner (und aller Menschen).

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Daß Girard zu jener fundamentalen Kritik vorstoßen oder besser gesagt zurückkehren konnte, die sich bereits in den biblischen Schriften findet, war nicht bloß die Folge einer rein religiösen oder geistesgeschichtlichen Entwicklung. Inzwischen hatte die Gewalt durch die Technik auch ganz neue Formen angenommen. Mittels der modernen militärischen Mittel offenbart sie heute auf der Ebene der gesamten Menschheit wieder jene bedrohlichen Möglichkeiten, die sie bei den »primitiven« Völkern ohne Gerichtsbarkeit immer schon hatte. Die Neigung zur Rivalität kann die Menschen so blenden, daß sie einer völligen Selbstzerfleischung und Selbstzerstörung zu verfallen drohen. Im Unterschied zu den »primitiven« Gesellschaften gibt es heute jedoch keine Sündenböcke mehr, die in genügendem Maße zur Entladung der aufgestauten Aggressionen herhalten könnten. Durch sie wird die unheilvolle Möglichkeit der kollektiven Selbstzerstörung nicht mehr abgewendet. Zwar ist heute oft von Sündenböcken die Rede (168). Gerade dies ist aber ein Zeichen, daß diese kollektive Projektion nicht nur von Girard, sondern auch von einer breiteren Öffentlichkeit in wachsendem Maße durchschaut wird. Ist der Sündenbockmechanismus aber aufgedeckt, verliert er seine mögliche positive Wirkung. Er erweist sich nur noch als ein Zusammenrotten von Übeltätern und bewirkt reine Zerstörung.

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Die untergründigen Vorgänge, die zur Gewalt führen, sind allerdings noch nicht voll bloßgelegt. Der heutige Rüstungswettlauf funktioniert zum Beispiel noch genau nach den Regeln der gewalttätigen Mimesis. Die militärischen Anstrengungen einer Weltmacht werden durch die andere nachgeahmt. Diese Nachahmung liefert der ersten wiederum den »objektiven« Grund, die Spirale weiter zu drehen. Wie feindliche Brüder in den griechischen Tragödien, so steigern sich heute Weltmächte gegenseitig in die Konfrontation hinein. In unseren Tagen steht allerdings etwas ganz anderes auf dem Spiel. Der Schauplatz der modernen Tragödie ist nicht mehr eine kleine Stadt, sondern die ganze Welt, und alle Menschen sind in das kolossale Spiel der Rivalitäten einbezogen. Da das weltweite Ausmaß der Kon-

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frontation eine ganz neue Bedrohung darstellt, ist es umgekehrt auch möglich, den Vorgang der gewalttätigen Mimesis leichter zu durchschauen. So hat zum Beispiel das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt: »Wenn er (der Rüstungswettlauf) andauert, ist sehr zu fürchten, daß er eines Tages all das tödliche Unheil anrichtet, zu dessen Herbeiführung er schon die Mittel bereitstellt.«(169) Ein kürzlich erschienenes römisches Dokument hat die Hintergründe des Rüstungswettlaufes noch klarer diagnostiziert: »Dieses System internationaler Beziehungen, das auf der Angst, der Gefahr und der Ungerechtigkeit gründet, bildet eine Art kollektiver Hysterie: einen Wahnsinn, den die Geschichte richten wird. (170)

1871
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Nach Girard führen die gegenseitigen Rivalitäten und zornigen Erregungen notwendigerweise zu grotesken Wahnvorstellungen. Von ähnlichen Wahngebilden spricht das römische Dokument, wenn es den Rüstungswettlauf als kollektive Hysterie bezeichnet. Wie die »primitiven« Völker ihre Projektionen aber als real erfuhren und als sakrale Mächte verehrten und sich zugleich davor fürchteten, so ängstigen sich auch heute die meisten Politiker und die Mehrzahl der Menschen einerseits vor der »kollektiven Hysterie« und dem »Wahnsinn« der militärischen Entwicklung und halten diese anderseits doch für die einzig realistische Antwort auf das Problem der Bedrohung. Die damit aufgeworfenen schweren Fragen können hier zwar nicht weiter behandelt werden. Die zitierten kirchlichen Äußerungen dürften aber mindestens andeuten, daß jene Vorgänge, die Girard bei den »primitiven« Völkern aufgezeigt hat und die in der Offenbarungsgeschichte eine so entscheidende Rolle gespielt haben, auch heute noch eines der schwersten und weltweitesten Probleme stellen.

1872
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Es ist kaum ein Zufall, daß die tieferen Einsichten in den Sündenbockmechanismus fast zur gleichen Zeit aufgetaucht sind, wie die Kirche ihre unerbittliche Diagnose des Rüstungswettlaufs vorgelegt hat. Die Zeit scheint langsam reif zu werden, um die verborgene Wahrheit über die Gewalt zu durchschauen. Als Frage bleibt nur, ob die unangenehme Wahrheit von den Menschen anerkannt oder einmal mehr und auf noch raffiniertere Weise verdrängt wird. In dieser Situation sind die Christen besonders herausgefordert, die Wahrheit der Evangelien zu sehen und im weltweiten Rahmen zu bezeugen.

1873
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Anmerkungen:  

1874
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 1. R. Schwager, Der Heilige Stuhl und die Abrüstung. In: Der Vatikan zur Rüstung. Hg. v. der Katholischen Sozialakademie Österreichs, 1979, 61.64.

1875
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2. Die Zeit, 9. April 1993, 1.

1876
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3. U. Beck, Der feindlose Staat. In: Die Zeit, 23. Okt.1992, 65.

1877
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4. R. Girard, Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987, 412-418.

1878
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5. Frankfurt 1993.

1879
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6. Ebd. 9.

1880
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7. Ebd. 11.

1881
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8. R. Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre. München 1986.

1882
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9. Auch Girard hat erst seither seine wesentlichen biblischen Arbeiten veröffentlicht: ders., Das Ende der Gewalt, Analyse des Menschheitsverhängnisses. Freiburg i.Br. 1983, 144-295; ders., Der Sündenbock, Zürich 1988, 148-300; ders., Hiob - ein Weg aus der Gewalt. Zürich 1990.

1883
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10. R. Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (ITS 29). Innsbruck 1990. Zu diesem Buch gab es ein Symposium, das dokumentiert wird in: Dramatische Erlösungslehre. Ein Symposion (ITS 38). Hg. von J. Niewiadomski u. W. Palaver. Innsbruck 1992.

1884
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11. R. Girard, La violence et le sacré, Paris 1972.

1885
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12. In: Le monde, Paris, 27. Okt. 1972.

1886
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13. In: Esprit 41 (1973) 527-563.

1887
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14. M. Faessler, Avant-propos, in: Bulletin du Centre Protestant d'Etudes 27 (1975) 3.

1888
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15. R. Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961.

1889
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16. In: R. Girard, Critique dans un souterrain, Lausanne 1976, S. 35-111.

1890
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17. Ders., La violence et le sacré, Paris 1972.

1891
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18. S. Freud. Massenpsychologie und Ich-Analyse, Studienausgabe IX, Frankfurt a. M. 1974, S. 98.

1892
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19. Ebd., S. 98.

1893
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20. Vgl. M. Leenhardt: »En son esprit (du Mélanésien) image du cadavre et image du dieu ne sont pas encore dissociées. Sa pensée flottante va de l'un à l'autre et, dans ce mouvement, donne sa forme à la notion de bao« (Do Kamo, Paris 41947, 44).

1894
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21. Vgl. P. Berger / T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1969.

1895
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22. Zu erwähnen sind unter anderem: E. Durkheim (Totemismus als Urform der Religion); J. G. Frazer (psychologisierend-evolutionistische Theorie, gemäß der die Magie am Anfang der geistigen Entwicklung der Menschheit stand); E. B. Tylor (Animismus als Urform der Religion); S. Freud (Religion als Produkt verdrängter Libido).

1896
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23. Wenn Girard sagt, die menschliche Begierde habe von Natur aus kein bestimmtes Objekt, stellt er damit keineswegs in Abrede, daß etwa bei Müdigkeit spontan das Bedürfnis nach Schlaf oder bei Hunger das Verlangen nach Nahrung entsteht. Er meint nur, daß jene grundlegende Begierde, die das ganze Verhalten eines Menschen prägt und bestimmt, von sich aus auf kein bestimmtes Objekt ausgerichtet ist.

1897
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24. S. Freud, Totem und Tabu, Studienausgabe IX, S. 427.

1898
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25. M. Leenhardt, Do Kamo, S. 61 f.

1899
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26. Ebd., S. 120.

1900
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27. R. Girard, Das Evangelium legt die Gewalt bloß, in: Orientierung 38 (1974) 54.

1901
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28. H. Peukert, Wissenschaftstheorie-Handlungstheorie-Fundamentale Theologie, Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Düsseldorf 1976.

1902
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29. Ebd., S. 261.

1903
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30. Vgl. auch: Th. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolution. Frankfurt a. M. 1967, und die durch dieses Buch ausgelöste Diskussion. Eine kurze Übersicht über diese Diskussion bietet: W. Zimmerli, Wissenschaftstheorie in der Diskussion, Auseinandersetzung mit Thomas Kuhn, in: Neue Zürcher Zeitung, 19./20. Juli 1975, S. 39.

1904
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31. A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, Paris 41947, S. 169 (eigene Übersetzung).

1905
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32. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Leipzig 1928, S. 271.

1906
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33. Ebd., S. 273.

1907
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34. Ebd., S. 277.

1908
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35. Ebd., S. 330-342.

1909
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36. Ebd., S. 339.

1910
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37. Ebd.

1911
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38. Ebd.

1912
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39. Zum Begriff »Mechanismus« sagte Girard 1973: »Ich ziehe heute dem Ausdruck ›Sündenbockmechanismus‹, den ich in ›La violence et le sacré‹ gebrauche, die Formulierung ›kollektive Übertragung auf ein zufälliges Opfer‹ vor, die mir weniger zweideutig erscheint, weil sie von jeder rituellen Bedeutung frei ist« (Discussion avec René Girard, in: Esprit 41 [1973] 549).

1913
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40. Ebd., S. 551. Deutsche Übersetzung: R. Girard, Das Evangelium legt die Gewalt bloß, in: Orientierung 38 (1974) 53.

1914
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41. Ebd., S. 54.

1915
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42. Ebd., S. 55.

1916
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43. Discussion, Anm. 25.

1917
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44. Veröffentlicht in: Bulletin du Centre Protestant d'Etudes 27 (1975) Nr. 3.

1918
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45. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments (2 Bände), München 1957/60.

1919
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46. W. Dietrich, Rache, Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema, in: Evang. Theol. 36 (1976) 450-472.

1920
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47. Vgl. N. Lohfink, Unsere großen Wörter, Freiburg-Basel-Wien 1977, S. 209-224.

1921
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48. Vgl. Theol. Handwörterbuch zum Alten Testament, hrsg. v. Jenni/Westermann, München-Zürich 1971, Art. amas.

1922
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49. »Die Flut kommt ja letztlich nicht von außen. Sie ist das, was unsere Gewalttat, die Essenz all unserer Sünde, selbst mit der Welt anrichtet« (Lohfink, Unsere großen Wörter, S. 217).

1923
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50. Vgl. Theol. Handwörterbuch, Art. dm.

1924
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51. H. Frederiksson, Jahwe als Krieger, Lund 1945, S. 114. Ferner: »Die Bestimmungen der Kriegsgesetze, welche die Bedeutung u. a. von kultischer Reinheit einschärfen, wurzeln ja alle in dem Gedanken, daß Jahwe als Kriegsgott ein heiliger und gefährlicher Gott war. Die Heiligkeit ist hier von dämonischer Art« (ebd. S. 114 f.).

1925
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52. Da es sehr unterschiedliche Wendungen gibt, ist die Zählung nicht einfach. Auf ungefähr tausend Stellen kommt man, wenn man die oben erwähnten Formulierungen herausgreift. Nicht gezählt bleiben dabei jene Verse, in denen auf ganz allgemeine Art vom Gericht und von der Strafe Gottes die Rede ist; desgleichen bleiben die Wehklagen und die Aussagen der Trauer über das vernichtete Israel außer Betracht.

1926
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53. Vgl. J. Scharbert, Das Verbum PQD in der Theologie des Alten Testaments; ders., SLM im Alten Testament, in: Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments, hrsg. v. K. Koch, Darmstadt 1972, S. 278-324.

1927
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54. Ebd., S. 322.

1928
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55. So gibt es zum Beispiel in den großen Gesetzessammlungen eine Reihe von Anweisungen, durch die Jahwe eine begrenzte Strafe gebietet und nicht den Tod des Ungehorsamen fordert.

1929
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56. An manchen Stellen heißt es: Gott läßt die Taten auf den Täter zurückfallen, an andern ist jedoch nur von einer reinen Selbstbestrafung die Rede: vgl. Lev 24,15; 26,37; Ri 9,56.57; 1 Sam 25,39; 1 Kön 2,32.44; 8,32; 2 Kön 10,6-17; 2 Chr 6,23; 20,22 f.; Neh 3,36; Tob 14,10; Est 9,25; 2 Makk 12,22; Ijob 4,8; 18,7.8; 22,5-10; 27,13 f.; 35,5-14; Ps 7,13-17; 9,16.17; 10,2; 35,8; 37,15; 57,7; 64,9; 81,13; 141,10; Spr 1,18; 4,19; 8,36; 9,12; 11,17.27; 12,13-14; 18,3; 26,27; Koh 10,8 f.; Weish 11,16; 12,27; Sir 4,19; 27,25-30; Jes 3,9.11; 14,20; 19,13; 49,26; 50,11; 54,15; 64,6; Jer 5,19; 7,19; 44,7 f.; 50,24; Ez 7,4.9; 9,10; 11,21; 16,43; 17,19; 22,31; 38,21; Hos 4,9; 14,1; Joel 4,4.7; Obd 15; Hab 2,8.10.

1930
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57. K. Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?, in: Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments, S. 130-181.

1931
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58. Siehe: K. Hj. Fahlgren, Die Gegensätze von edaq im Alten Testament, ebd. S. 87-129.

1932
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59. Vgl. Scharbert, SLM im Alten Testament, a. a. o., S. 300-324.

1933
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60. Vgl. Koch, Vergeltungsdogma, a. a. O., S. 150.

1934
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61. Vgl. Ps. 13; 22; 27; 28; 30; 44; 55; 69; 74; 88; 89; 102; 104.

1935
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62. C. Westermann, Schöpfung, Stuttgart-Berlin 1971, S. 32.

1936
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63. Ebd., S. 33.

1937
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64. L. Wächter, Der Tod im Alten Testament, Stuttgart 1967, S. 201. Vgl.: »Im Gegensatz zum Leben steht - ganz ähnlich wie schwere Krankheit, Armut oder Verlassenheit von Freunden - nur der vorzeitige, gewaltsame und kinderlose Tod, nicht aber der Alterstod« (H. Schüngel-Straumann, Tod und Leben in der Gesetzesliteratur des Pentateuch, Diss. Bonn 1969, S. 226 ff.).

1938
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65. Vgl. Lohfink, Unsere großen Wörter, S. 127-144.

1939
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66. N. Lohfink, Gott im Buch Deuteronomium, in: La Notion biblique de Dieu, hrsg. v. J. Coppens, Gembloux 1976, S. 106.

1940
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67. »Das Deuteronomistische Geschichtswerk erklärt das Babylonische Exil durch eine Dreiecksgeschichte von sieben Jahrhunderten: Hier Jahwe, da die anderen Götter, dazwischen - hin- und hergerissen und schließlich den anderen Göttern verfallen und von Jahwe dem Untergang geweiht - Israel« (Lohfink, Unsere großen Wörter, S. 129). Der Dreiecksstruktur der Begierde, wie Girard sie analysiert, scheint eine Dreiecksgeschichte zwischen Jahwe, den Göttern und Israel zu entsprechen.

1941
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68. »Die Götter sind so bedeutend wie die Staaten, die sie repräsentieren. Mit ihnen gedeihen sie und gehen mit ihnen zugrunde. So hat etwa Assur den Fall Ninives nicht überlebt« (O. Keel, Feinde und Gottesleugner, Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen, Stuttgart 1969, S. 219).

1942
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69. Koch, Vergeltungsdogma (Anm. 13).

1943
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70. Ebd., S. 146.

1944
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71. Ebd., S. 167.

1945
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72. Lohfink, Unsere großen Wörter, S. 128-131.

1946
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73. H. Schüngel-Straumann, Gottesbild und Kultkritik vorexilischer Propheten, in: SBS 60, Stuttgart 1972, S. 34.

1947
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74. Ebd., S. 43. Vgl. A. Weiser, Das Buch des Propheten Jeremia, ATD, Göttingen 1959, S. 71 ff.

1948
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75. Schüngel, Gottesbild, S. 94.

1949
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76. H. W. Wolff, Das Kerygma des deuteronomistischen Geschichtswerks, in: ZAW 73 (1961) 183 f.

1950
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77. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, S. 259.

1951
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78. Siehe: Ex 29,10: Lev 1,4; 3,2.8.13; 4,4.15.24.29.33; 8,14.18.22; Num 8,12.

1952
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79. Schüngel, Gottesbild, S. 104.

1953
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80. Vgl. O. Kaiser, Den Erstgeborenen deiner Söhne sollst du mir geben, Erwägungen zum Kinderopfer im Alten Testament, in: Denkender Glaube, Festschrift für C. H. Ratschow, hrsg. v. O. Kaiser, Berlin-New York 1976, S. 24-28. Die vorgetragenen Argumente, daß die Kinderopfer ganz selten waren, überzeugen aber kaum.

1954
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81. H. Gunkel, Ausgewählte Psalmen, Göttingen 41917, S. 46.

1955
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82. K. Seybold, Das Gebet des Kranken im Alten Testament, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1973.

1956
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83. C. Westermann, Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament, in: ZAW 66 (1954) 47.

1957
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84. Ebd., S. 62.

1958
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85. Keel, Feinde und Gottesleugner (Anm. 24).

1959
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86. Ebd., S. 90.

1960
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87. Ebd., S. 55.

1961
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88. J. Becker, Wege der Psalmenexegese, SBS 78, Stuttgart 1975, S. 86. Vgl. ders.; Israel deutet seine Psalmen, Urform und Neuinterpretation in den Psalmen, SBS 18, Stuttgart 1966.

1962
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89. Ders., Wege der Psalmenexegese, S. 90.

1963
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90. Ebd., S. 89.

1964
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91. Keel, Feinde und Gottesleugner, S. 99.

1965
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92. G. von Rad, Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, in: Evang. Theol. 24 (1964) 62.

1966
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93. Keel, Feinde und Gottesleugner, S. 211.

1967
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94. Viele Feinde: Ps 25,19; 38,20; 55,19: 56,3; 63,10; 119,157. Lügner: Ps 12,3; 28,3; 52,5; 55,22; 116,11; 120,2; 144,8. Grundloser Haß: Ps 35,19; 38,20; 63,10.

1968
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95. Vgl. Ps 31,12; 38,12; 41,10; 44,14; 69,9-13; 79,4; 88,9.19: 89,42.

1969
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96. Vgl. Ps 3,7; 17,9; 27,6; 35,15; 48,5; 62,4; 71,10; 83,4; 86,14.

1970
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97. O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen 1967, S. 79.

1971
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98. Ebd., S. 62.

1972
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99. Ps 2,2 f.; 10,6 f.; 22,7 ff.; 27,12; 35,11 f.; 41,6 f.; 70,4; 79,4.

1973
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100. Ps 12,3; 28,3; 50,19; 52,5; 55,22; 64,4; 109,2; 116,11; 120,2; 144,8.

1974
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101. Ps 10,2; 35,8.

1975
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102. Ps 14,2 ff.; 82,5.

1976
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103. Ps 10,2; 17,10; 31,19; 59,13; 73,6; 75,5; 140,6.

1977
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104. Vgl. Ps 7,7; 10,15; 11,6; 28,4; 31,18; 55,16; 56,8; 58,10; 59,14; 69,25; 79,6; 109, 6-16; 137,7 ff.; 143,12.

1978
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105. In den Psalmen tauchen sehr oft die Themen Hilfe, Rettung, Befreiung, Entreißen aus der Not, Erhörung des Gebetes usw. auf.

1979
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106. H. Gese, Vom Sinai zum Zion, München 1974, S. 192.

1980
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107. Lohfink, Unsere großen Wörter, S. 84-88.

1981
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108. »Für eine ›Theologie des Alten Testaments‹ ergibt sich daraus, daß für Israels Reden von seinem Gott der Bericht über die Rettung aus seiner Existenzbedrohung in den Anfängen seiner Geschichte der primäre Inhalt seines Redens von Jahwe geworden ist... Im Bereich seines geschichtlichen Lebens, da, wo seine politischen Entscheidungen fallen, seine Bedrohung durch Feinde sich erhebt, die Frage der Bergung im Schutz politischer Großmächte entschieden werden muß, hier erfährt es besonders nachdrücklich die Begegnung mit seinem Gott, dem es in eben diesen Geschehnissen nicht entrinnen kann« (W. Zimmerli, Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie, München 1974, S. 34 f.).

1982
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109. Keel, Feinde und Gottesleugner, S. 217.

1983
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110. Ebd., S. 219.

1984
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111. Ebd., S. 219 f.

1985
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112. Ebd., S. 220.

1986
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113. Vgl. E. Kutsch, Verheißung und Gesetz, in: BZAW 131, Berlin 1973.

1987
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114. Lohfink, Unsere großen Wörter, S. 44-56.

1988
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115. Keel, Feinde und Gottesleugner, S. 220.

1989
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116. Vgl. Ps 7,7 f.; 9,8-17; 33,10 ff.; 44; 47; 72; 77,14 f.; 83; 86,8 ff.; 94; 113,4 ; 118, 10-14; 135,8-12; 145,10-13.

1990
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117. Ein weiteres Beispiel liefert die Geschichte Josefs. Weil einer der Brüder aus der Allianz der feindlichen Brüder ausgeschert ist, konnte der vom Tod Bedrohte überleben. Weil Josef selber auf Haß nicht mit Haß reagierte und das Böse nicht mit Bösem vergalt, konnte er für seine Brüder zum Heil werden. Aus dem Ausgestoßenen wurde der Segensbringer, aber nicht im Sinne des Sündenbockmechanismus, sondern durch die Umkehrung dieses Verhaltens im Sinne der verzeihenden Liebe.

1991
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118. Vgl. Jer 12,3; 15,15; 17,18; 18,21.23.

1992
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119. Vgl. Anm. 60.

1993
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120. Eine andere Übersetzung läßt sich ebenfalls vertreten. Diese ist aber nur in bezug auf die Frage, ob mit dem Knecht ein Individuum oder Israel gemeint sei, wichtig (vgl. N. Lohfink, ›Israel‹ in Jes 49,3, in: Wort, Lied und Gottesspruch. Beiträge zu Psalmen und Propheten. Festschrift für J. Ziegler, Bd. 2, hrsg. v. J. Schreiner, Würzburg 1972, S. 217-229).

1994
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121. Einschränkend höchstens: Jes 50,11.

1995
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122. Der Ausdruck »die vielen« (Jes 52,15; 53,11.12a.12b) ist im inklusiven Sinne von »alle« zu verstehen (vgl. J. Jeremias, in: ThWBNT VI, S. 536 ff.).

1996
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123. Zimmerli, Studien, S. 217.

1997
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124. Vgl. Jes 43,1.14; 44,6.24; 47,4; 48,17.20; 49,7.25; 50,2; 51,11.14; 52,3; 54,5.

1998
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125. Vgl. Jes 40,9; 41,13.14; 43,5; 44,2; 51,7; 54,4.

1999
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126. Vgl. 41,4; 43,10; 44,6; 45,3; 48,12.

2000
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127. K. Koch, Sühne und Sündenvergebung um die Wende von der exilischen zur nachexilischen Zeit, in: Evang. Theol. 26 (1966) 237.

2001
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128. R. Girard, Das Evangelium legt die Gewalt bloß, in: Orientierung 38 (1974) 53.

2002
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129. Siehe ebd.; ferner: ders., Les malédictions contre les pharisiens et la révélation évangélique, in: Bulletin du Centre Protestant d'Etudes 27 (1975) Nr. 3.

2003
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130. Vgl. R. Pesch, Das Markusevangelium, II. Teil, Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Freiburg-Basel-Wien 1977, S. 213-214.

2004
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131. Vgl. ebd., S. 217; O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Neukirchen-Vluyn 1967, S. 269-273.

2005
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132. Vgl. Josephus Flavius, Geschichte des jüdischen Krieges, Köln 1900.

2006
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133. Vgl. J. Jeremias, Heiligengräber in Jesu Umwelt, Göttingen 1958.

2007
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134. Der Vorwurf der Heuchelei meint nicht unbedingt eine individuell bewußte Fehlhaltung. Er bringt nur zum Ausdruck, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten dem verborgenen Willen zum Töten ganz erlegen sind, obwohl die Einsicht in die Wirksamkeit dieses Willens dank der Botschaft Jesu objektiv schon vorlag. In der Apostelgeschichte kann Petrus den Juden deshalb zugestehen, daß sie trotz des objektiv vorliegenden Wissens aus Unwissenheit gehandelt haben (Apg 3,17). Wenn die synoptischen Evangelien von der Heuchelei und das Johannesevangelium vom Haß sprechen, zeigen sie die Grundstruktur jenes Tuns auf, das die offenkundig gewordene Wahrheit ablehnt; ob für die einzelnen Beteiligten diese Wahrheit auch subjektiv ganz offenkundig war, bleibt dabei außer Betracht oder wird - wie in der Apostelgeschichte - sogar verneint.

2008
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135. Vgl. Girard, Malédictions, S. 19 ff.

2009
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136. Die Interpretation, das Kommen Jesu bewirke nur deshalb Entzweiungen, weil ein Teil der Menschen seiner »übernatürlichen« Botschaft nicht folgen wolle, ist unhaltbar. Einerseits widerspricht sie jenen vielen Texten, die von einem universalen Willen zum Töten sprechen, der längst vor dem Kommen Jesu in den Menschen heimlich wirksam war. Anderseits würde diese Interpretation jenen Recht geben, die sagen, das Christentum zerstöre durch seinen »extremen« Geist die bestehende Harmonie des natürlichen Lebens.

2010
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137. Nach weit verbreiteten Vorstellungen ist die menschliche Gemeinschaft etwas Selbstverständliches. Es wird gesagt, positive familiäre Beziehungen ergäben sich unmittelbar aus der menschlichen Natur und diese seien die Grundlage jeder weiteren menschlichen Gesellschaft. Danach sollen mehrere Familien durch die sogenannten natürlichen verwandtschaftlichen Beziehungen eine Sippe bilden. Viele Sippen fänden sich schließlich durch gemeinsame Interessen zu einem Staat zusammen. Gemäß der Theorie Girards sind derartige Vorstellungen nur leere Konstruktionen, die nichts erklären, weil sie die tiefe Neigung zur Rivalität und zur Gewalt völlig verkennen. Das Neue Testament steht in der Beurteilung der sogenannten natürlichen familiären Beziehungen ganz in Übereinstimmung mit Girard.

2011
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138. Vgl. Anm. 7.

2012
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139. Vgl. R. Pesch, Jesu ureigene Taten?, Freiburg-Basel-Wien 1970.

2013
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140. Vgl. RGG 3 IV (1960), Art. Nachfolge, 1286-1293.

2014
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141. Vgl. die Analysen Girards über die Nachahmung des Amadis von Gaula durch Don Quichotte (ders., Mensonge romantique, S. 11 ff., 89-109, 145-157).

2015
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142. Vgl. U. Sonnemann, Negative Anthropologie, Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Reinbek bei Hamburg 1969.

2016
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143. Die Kirchenväter haben diese Wahrheit teilweise auf sehr massive Weise zum Ausdruck gebracht, indem sie von der Vergottung der Menschen sprachen. Vgl. Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique III (1957), Art. Divinisation. 1370-1459.

2017
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144. Mk 1,32 f.37.45; 2,2.13; 3,7-12.20.32; 4,1; 5,21; 6,31.33 f.55 f.; 8,1; 9,14 f.; 10,1.46; 11,8 f.; 12,37.

2018
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145. Pesch, Markus II, (s. Anm. 3), S. 412.

2019
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146. Ebd., S. 412.

2020
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147. Ebd., S. 413.

2021
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148. Ebd., S. 420-421; 462-464.

2022
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149. »Die ›dem ganzen Volke‹ durch Gott in Jesus zuteil gewordene Freude wird nun von ihm in aller Form verworfen. Wie wenig Lukas bzw. sein Gewährsmann allerdings daran gedacht hat, nun das einfache Volk als solches für Jesu Beseitigung im Letzten verantwortlich zu machen, zeigen Stellen wie 24,20; Apg 4,9 ff. 25 ff. u. ö. Doch bleibt die Schuld des Volkes auch dann für ihn bestehen, wenn es nicht die Hauptverantwortung trägt; es hat eben den ihm von Gott gegebenen und beglaubigten (Apg 2,22) König (2,11) im entscheidenden Augenblick verleugnet (Apg 3,13)« (K. H. Rengstorf, Das Evangelium nach Lukas, NTD, Göttingen 1974, S. 265 f.).

2023
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150. Pesch, Markus II, S. 13.

2024
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151. In »Les malédictions contre les pharisiens« zitiert Girard Joh 8,43-59. Dabei läßt er aber die hohen Selbstaussagen aus. Er stößt deshalb nicht bis zum allerletzten Grund für die unheimliche Neigung zur Gewalt vor.

2025
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152. Vgl. G. Greshake, Der Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theo1ogiegeschichte, in: Erlösung und Emanzipation, hrsg. v. L. Scheffczyk, Freiburg 1973, S. 85-88.

2026
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153. Selbst wenn man die Satisfaktionslehre in erster Linie als Wiederherstellung eines zerbrochenen ordo versteht, bleibt ein Problem. Neben anderen Texten zeigen vor allem die Gleichnisse von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16), vom verlorenen Schaf (Lk 15,3-7), von der verlorenen Drachme (Lk 15,8 ff.) und vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), daß das Rechtsdenken eher Sache derer ist, die gegen Gott murren. Eine biblische Erlösungslehre muß vor allem solchen Texten voll gerecht werden. Wenn Anselm von Canterbury gemeint hat, die Würde des Menschen verlange, daß er selbst die gestörte Ordnung wiederherstelle, ist dem ein anderes Verständnis der Würde entgegenzuhalten. Diese wird viel eher dadurch gewahrt, daß der Mensch befähigt wird, anderen ebenso grundlos zu verzeihen, wie ihm aus grundlos reiner Liebe verziehen wurde.

2027
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154. In den synoptischen Evangelien verkündet Jesus öfter, daß der Menschensohn getötet werden muß (Mt 16,21; 17,22; Mk 8,31; Lk 9,22.44; 17,25). Den Frauen am Grab eröffneten Engel, daß der Menschensohn ausgeliefert werden mußte (Lk 24,7). Das gleiche wurde den unverständigen Jüngern noch einmal auf dem Weg nach Emmaus begreiflich gemacht (Lk 24,26). Die Apostelgeschichte berichtet schließlich, daß Paulus den Juden in Thessalonich »erklärte, daß der Christus leiden und von den Toten auferstehen mußte« (Apg 17,3). Dieses heilsgeschichtliche »muß« hat seinen letzten Grund nicht in einem rachegierigen Gott, der sich erst besänftigen läßt, nachdem er Genugtuung erhalten hat. Jesus mußte leiden, damit sich die Schrift erfüllte (vgl. Lk 24,46; Apg 3,18.24; 10,43; 13,27). Die Beziehung zwischen Verheißung und Erfüllung darf jedoch nicht rein äußerlich verstanden werden. Die alttestamentlichen Prophetien bestanden darin, daß jenes Grundgeschehen bereits teilweise aufgedeckt wurde, das im Leben Jesu voll zur Auswirkung kam. Wie sich die vielen heidnischen Könige gegen den König in Israel, das ganze Volk gegen den Propheten oder die vielen Frevler gegen den einen Gerechten zusammengetan haben, so haben sich die Stämme Israels und die Heiden gegen den heiligen Knecht verbündet. Jesus mußte sterben, weil nur so die Menschen ihren Gotteshaß auf den Sohn Gottes und ihren Menschenhaß auf den Sohn des Menschen übertragen konnten.

2028
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155. W. Kasper, Jesus der Christus, Mainz 1974, S. 139.

2029
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156. Ebd., S. 139.

2030
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157. Vgl. R. Pesch, Wie Jesus das Abendmahl hielt, Freiburg-Basel-Wien 1977, S. 81-86.

2031
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158. zur historisch-kritischen Frage: Pesch, ebd., S. 15-80; H. Patsch, Abendmahl und historischer Jesus, Stuttgart 1972; H. Schürmann, Jesu ureigener Tod, Freiburg-Basel-Wien 1975; Der Tod Jesu, hrsg. v. K. Kertelge, Freiburg-Basel-Wien 1976.

2032
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159. zur Zeit Jesu war die Einsicht, daß die bösen Taten auf das Haupt der Täter zurückfallen, aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich verbreitet. Auf alle Fälle berichtet das Mattäusevangelium, wie das ganze Volk als Antwort auf die Unschuldserklärung des Pilatus herausfordernd schrie: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27,24 f.). In der Apostelgeschichte wirft der Hohepriester vor dem Hohen Rat den Aposteln vor: »Ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen« (Apg 5,28). Das eine Mal wird das Blut trotzig herausgefordert (wohl in der Annahme, daß es machtlos sei), das andere Mal wird das mögliche Kommen des Blutes als Gefahr empfunden. Beide Aussagen beruhen auf der Überzeugung, daß vergossenes Blut (dadurch, daß ein anderer die Sache des Getöteten zur seinigen macht) auf den Täter zurückwirkt.

2033
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160. Paulus schreibt das Anwachsen der Sünde dem Gesetz zu. Diese Wirkung löst aber jener Buchstabe des Gesetzes aus, der tötet (vgl. 2 Kor 3,6). Auch Paulus bringt deshalb das Anwachsen der Sünde mit dem Töten in Beziehung.

2034
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161. Damit ist keine metaphysische, sondern eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit gemeint. Jesus »mußte« von allen verworfen werden, um alle erlösen zu können.

2035
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162. Der ganze Römerbrief verfolgt eine heilsgeschichtliche Perspektive. Sein Urteil über die Homosexualität ist deshalb typologisch und nicht unmittelbar moralisch zu verstehen.

2036
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163. Das Lukasevangelium berichtet zusätzlich, daß wegen des Tobens und Donnerns des Meeres die Menschen voll Angst und Bestürzung sein werden. Der Evangelist dürfte diese Vorstellung ebenfalls aus der jüdischen Apokalyptik übernommen haben. Bereits weiter oben haben wir jedoch gesehen, daß das Toben des Meeres in der jüdischen Überlieferung zum Teil eindeutig als bildhafter Ausdruck für die Gewalttätigkeiten unter Völkern verstanden wurde. Im Gesamtzusammenhang der endzeitlichen Rede ist sowohl diese Deutung als auch jene, die das Buch der Weisheit von der ägyptischen Finsternis gibt, in Betracht zu ziehen.

2037
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164. In Offb 20,9 heißt es zwar: »Feuer fiel von Gott her aus dem Himmel und verzehrte sie.« Damit wird aber etwas beschrieben, das erst nach dem »Tausendjährigen Reich« eintreten soll. Wir befinden uns folglich in einem Bereich, in dem sich die Unterscheidung zwischen alttestamentlichem Bildmaterial (2 Kön 1,10; Ez 39,6) und gemeinter Aussage nicht einmal mehr annähernd durchführen läßt.

2038
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165. Selbst Goethe, der große Meister des Wortes, mußte deshalb schreiben:

2039
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Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«

2040
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Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

2041
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Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,

2042
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ich muß es anders übersetzen... (Faust).

2043
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166. Von der Theorie Girards her liegt nicht der geringste Anlaß vor, die Erzählung von einem »Urereignis« grundsätzlich in Frage zu stellen, auch wenn selbstverständlich keine historischen Quellen davon berichten. Diese Theorie postuliert ja selber ein ähnliches Ereignis. Die Frage nach dem Sündenfall »Adams« kann aber erst sinnvoll aufgeworfen werden, nachdem zunächst voll zur Kenntnis genommen wird, was die biblischen Schriften über die Verantwortung und über die böse Neigung der gegenwärtig lebenden Menschen sagen. In unserer Untersuchung haben wir deshalb die Frage nach der ersten Sünde bewußt ausgeklammert.

2044
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167. Eine kurze Skizze, über welch verschlungene Wege der Impuls des Evangeliums oft in der Kirche und vor allem in der abendländischen Geschichte wirksam war, findet sich in: R. Schwager, Glaube, der die Welt verwandelt, Mainz 1976, S. 76 bis 156.

2045
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168. Man muß nur die Tageszeitung bewußt verfolgen, um zu entdecken, wie oft und in wie unterschiedlichen Zusammenhängen ausdrücklich von Sündenböcken gesprochen wird.

2046
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169. Gaudium et spes, Nr. 81.

2047
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170. L'osservatore Romano, 3. Juni 1976, S. 6.

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