Christina Richter-Ibáñez ist seit April 2023 Professorin für Musikwissenschaft mit den Schwerpunkten Performance Studies, zeitgenössische und populäre Musik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Nach der Promotion an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart mit der Arbeit „Mauricio Kagels Buenos Aires (1946–1957). Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen“ (erschienen bei transcript 2014), folgten Stationen in Tübingen und Salzburg sowie ein Forschungsaufenthalt an der University of Oxford als Beteiligte am Balzan Research Project „Towards a Global History of Music“. Sie forschte von 2018 bis 2023 an der Universität Tübingen zu Übersetzungsstrategien in populärer Musik. Als Mitbegründerin des Forschungsnetzwerks Trayectorias und der Fachgruppe Deutsch-Ibero-Amerikanische Musikbeziehungen in der Gesellschaft für Musikforschung engagiert sie sich besonders für den Dialog mit lateinamerikanischen Musiker*innen und Forscher*innen. Sie publiziert und lehrt zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Insbesondere beschäftigt sie sich mit englischen und spanischen Übersetzungen von Popsongs.
In ihrem Online-Vortrag präsentierte Christina Richter-Ibáñez Beispiele aus ihrer Forschung der letzten Jahre sowie einige Theorien aus der Popmusikforschung und Phonomusicology. Die Musikwissenschaftlerin begann ihren Vortrag mit dem Zitat „Gracias por la música“ und bat das Publikum darum, das Zitat mit einem Lied zu assoziieren. Nach längerem Nachdenken verwies sie die Zuhörer*innen darauf, dass es sich um das berühmte ABBA-Lied „Thank you for the Music“ handelte. Sie stellte in der Folge einen Vergleich zwischen dem englischen Originaltext und der spanischen Übersetzung auf und zeigte auf, dass es im Spanischen vielmehr mit „Ich möchte den Liedern danken, die Emotionen vermitteln“ (Quiero dar la gracias a las canciones que transmiten emociones) übersetzt wurde. Gleich darauf durften die Zuhörer*innen die englische und die spanische Version des Liedes anhören. Auffallend war dabei nicht nur, dass der Text anders war, sondern, dass auch der Ton in der spanischen Version sehr viel sanfter und weniger kraftvoll klang. Als Musikhistorikerin interessiert sich Christina Richter-Ibáñez insbesondere dafür, inwiefern sich Stimmen und Töne in verschiedenen Sprachversionen ändern. Ihren Fokus legt sie dabei insbesondere auf den Zeitraum der 1960er bis 2000er Jahre. Durch die heutigen technischen Mittel, insbesondere aber durch künstliche Intelligenz, ist es heutzutage sehr viel leichter, Stimmen zu verändern als noch vor fünfzig Jahren, wo nur mit Hall oder Kompression gearbeitet wurde. Parallele Sprachversionen entstanden erstmals um das Jahr 1960, als es die ersten Mehrspuraufnahmen gab. Vorher mussten Sänger*innen wie etwa Edith Piaf z. B. ein ganzes Lied neu aufnehmen. Als Paradebeispiel für das sog. „Golden Age of Translation“ in Westeuropa der 1950er und 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts, präsentierte uns die Vortragende die US-amerikanische Pop- und Schlagersängerin Connie Francis, die Anfang der 1960er-Jahre mehrsprachige Erfolgstitel hatte (z. B. Deutsch: „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“, „Schöner Fremder Mann“, aber auch spanische, japanische und italienische Titel). Als weiteres Beispiel nennt sie die deutsche Sängerin Manuela, die in den 1960er Jahren zu den Stars und Teenageridolen der BRD zählte und die insbesondere durch den Titel „Schuld war nur der Bossa Nova“ (engl. Originalsong „Blame it on the Bossa Nova“ von Cynthia Weil und Barry Mann, in mehreren Sprachversionen erschienen) bekannt geworden war.
In den 1970er Jahren begannen viele Musiker*innen, deren Muttersprache nicht Englisch war, auf Englisch zu singen, so etwa die berühmte schwedische Pop-Gruppe ABBA mit ihrem berühmten Album „Waterloo“, das mit der schwedischen Fassung begann und mit der englischen Fassung endete. Der Song wurde von Benny Andersson und Björn Ulvaeus komponiert, nachdem die Gruppe bei der Vorentscheidung für den Eurovision Song Contest (ESC) mit „Ring Ring“ ausgeschieden war. Im April 1974 gewann ABBA mit „Waterloo“ schließlich den ESC in Brighton. Mit der spanischen Version von „Chiquitita“ begründete ABBA ihren Erfolg in den spanischsprachigen Ländern, insbesondere in Spanien, Argentinien und Mexiko. Das Recht dieses Songs wurde übrigens an UNICEF übergeben, da darin wichtige Botschaften zu den Themen Armut, Kinder, Hunger, Leid und Elend stecken.
Dem folgten 1980 weitere ABBA-Songs mit spanischen Texten sowie das Album „Gracias por la música“. Zudem präsentierte Christina Richter-Ibáñez ein Spektrogramm der englischen und der spanischen Version von „Thank you for the music“ und erklärte den Zuhörer*innen, wie so ein Spektrogramm zu lesen und interpretieren ist: Beispielweise erkennt man daran, dass die spanische Version weniger dicht ist, weil etwa weniger Sänger daran beteiligt waren und mit weniger Kompression gearbeitet wurde oder dass in der englischen Version mehrere schwarze Stellen zu sehen sind, was dafür steht, dass die Lautstärke höher ist sowie dass bei der englischen Version typischerweise ein Anschleifen und/oder Abwärtsgleiten zu erkennen ist.
Auch erklärte uns die Musikwissenschaftlerin, dass die sog. Hookline (von englisch hook = ‚Haken‘, und line = ‚Zeile‘), eine für ein Musikstück charakteristische eingängige Melodiephrase oder Textzeile, die den Wiedererkennungswert für das Stück ausmacht, also quasi in der Erinnerung „hängenbleibt“ und aus ihr leicht reproduziert werden kann, meist in der Übersetzung in Teilen enthalten bleibt, was für diese günstig ist. Der Ohrwurmeffekt eines Musikstücks wird also meist durch dessen Hookline bestimmt. Als letztes Beispiel nannte Christina Richter-Ibáñez in ihrem Vortrag den Pop-Sänger Sting, der auch auf Spanisch und Portugiesisch singt und auch selbst die Übersetzung als Kommunikationsangebot mit dem Publikum verwendet. Beispielsweise nennt sie das Lied „Fragile“ aus Stings zweiten Studioalbum „Nothing Like the Sun“, das 1988 als Single veröffentlicht wurde und das er zusätzlich auf Spanisch und Portugiesisch unter den Titeln „Fragilidad“ und „Fragil“ gesungen hat und noch zweimal auf seiner 1988 erschienenen EP-Variante des Albums „Nada como el sol“ („Nothing like the Sun“) erschienen war. Die spanische Version erschien als B-Seite zu „I'm So Happy I Can't Stop Crying“. Der Song ist eine Hommage an den amerikanischen Bauingenieur Ben Linder, der 1987 bei der Arbeit an einem Wasserkraftwerksprojekt in Nicaragua von den Contras getötet wurde. Im Spanischen erhält der Song außerdem eine stärkere semantische Bedeutung, was an den Lyrics im Spanischen „Nada se logra con violencia Ni se lograra“ – “Nothing comes from violence and nothing ever could” erkennbar ist. V. a. im Chorus werden Zuhörenden viel direkter angesprochen, etwa wenn es heißt (dt. Übers.): „Du weinst und ich weine und der Himmel auch“; hier werden sich die Zuhörenden der Zerbrechlichkeit viel stärker bewusst und es wird in der spanischen Version ein viel stärkeres Gemeinschaftsgefühl geschaffen. Einen interessanten Hinweis lieferte die Musikwissenschaftlerin auch, als sie erklärte, dass Produktion und Rezeption nicht immer in derselben Reihenfolge erfolgen müssen: Sehr oft hören Menschen zuerst die Übersetzung oder sind nur damit vertraut, ohne die Originalversion der Songs zu kennen.
Die Musikwissenschaftlerin präsentierte in der Folge die Forschungsfragen, mit denen sie üblicherweise arbeitet. Diese können sich in soziologische und musikanalytische Fragen aufteilen lassen und lauten wie folgt: Wer übersetzt, mit welcher Absicht, was genau wird übersetzt, für welches Zielpublikum, auf welche Weise (z. B. 2./3. Hand), (oft werden Verse oder Absätze weggelassen) und welche Konsequenzen ergeben sich daraus. In der Folge stellt sie eine Frage an das Publikum und fragt danach, wie diese an Popsong-Übersetzungen herangehen würde bzw. was dazu benötigt wird. Dazu braucht es jedenfalls die nötige Sprachkompetenz in beiden Sprachen, es braucht auch Kulturkenntnisse beider Sprachen, allerdings berichtete die Musikhistorikerin auch, dass sie selbst Muttersprachler*innen zu Hilfe gezogen hat, um fremdsprachige Lyriks zu untersuchen und dass diese Arbeit in vielen Fällen auch eine Teamarbeit sein darf. Christina Richter-Ibáñez verwies auch darauf, dass es wichtig ist, auch den Tonträger selbst zu analysieren (Vinyl-Platten, CDs, Cover), da auch diese Elemente zur Analyse mit hinzugezogen werden sollten. Die Phonomusicology untersucht als Querschnittsdisziplin das Zusammenspiel zwischen Klangereignis, Tonträger, Cover, Aufführungssituation, Produzent*innen, Interpret*innen, Kontext und Konsum. Ein wichtiger Unterschied zwischen der historischen und der populären Musikwissenschaft ist es laut Christina Richter-Ibáñez, die Peter Wicke zitiert, dass die Musikwissenschaft mit dem Notentext arbeitet, letztere aber vielmehr auf den Sound fokussiert ist. Forschende müssen somit nicht nur die Struktur, sondern vor allem die klangliche Realisierung, die sinnliche Klanggestalt des musikalischen Materials, die Klangfarbe, die Intensität u. ä. ansehen, es geht insbesondere um Fragen der Vermarktung und Musik wird zugleich als Ware betrachtet. Es werden vielmehr Tracks analysiert, die Kombinationen aus Song (samt melodischer Elemente und Rhythmik) und Performance sind. Die Musikwissenschaftlerin erläuterte zudem, wie Klangverläufe nicht nur verbal beschrieben, sondern auch visualisiert werden können: Beispielsweise können harmonische Verläufe und Takte in Tabellen dargestellt werden, es können aber auch Diagramme und Spektrogramme verwendet werden, um den Songverlauf zu visualisieren. Zugleich weist Christina Richter-Ibáñez darauf, dass Liedtexte wie Sprache und Sprechakte funktionieren, sie entstehen in der populären Musik meist als singend artikulierte Phrasen (etwa wie in „Thank you for the music“) und sehr oft werden Worte oft auch wegen ihres Rhythmus und Klangs gedeutet. Sänger*innen arbeiten mit Emotionen, non-verbale Elemente, Ton, Songtexte sind Träger kultureller Identität. Lieder kommen in erster Linie durch die Melodie und die Stimme, ganz zuletzt erst durch den Text an das Publikum.
Gegen Ende ihres Vortrages sprach die Musikhistorikerin noch eine wichtige Unterscheidung an, die im vokalen Ausdruck zu treffen ist: Die sog. Real Person (reale Person), die Performance Persona und der Character (die Rolle, die jemand im Song verkörpert). In der Übersetzung sollte auch darauf geachtet werden. Der vokale Ausdruck ist dabei die Ausgestaltung des melodischen Verlaufs, das Gleiten zwischen und das Erreichen von Tonhöhen, der Einsatz von Vibrato beim Halten eines Tones auf einem Vokal, die Stimmklang/-farbe, definiert durch unterschiedlich stark hervorgehobene Teiltöne, hervorgerufen durch Register, Atemtechnik und Resonanzeinstellungen, oft auch assoziiert mit typischen Einsatzkontexten, die Lage der Vokale und Konsonanten sowie der Umgang damit und letztlich auch die Verhauchtheit und Rauheit. Abschließend sprach Christina Richter-Ibáñez noch von ihrem methodischen Vorgehen in der Übersetzung populärer Musik aus dem Zeitraum 1960 bis 2000. Zum einen beinhaltet diese die Recherche nach vergleichbaren Tracks in unterschiedlichen Sprachen, zum anderen den Erwerb von Tonträgern und deren Digitalisierung, das Zurechtschneiden vergleichbarer Abschnitte, die Analyse mit den Mitteln der Popmusikfoschung, die Analyse des Sounds mit Hilfe digitaler Werkzeuge sowie nicht zuletzt die Suche nach Paratexten der Veröffentlichung wie etwa Schallplatten- und CD-Hüllen und -Texte, Periodika (Tageszeitungen oder Fanmagazine), Fernseh- und Konzertmitschnitte sowie Kommentare von Hörenden in social Media.
Phonomusicology ist somit sehr arbeitsintensiv und erfordert viel Vorbereitung und Arbeit: Christina Richter-Ibáñez schlägt vor, eine begrenzte Auswahl zu treffen, um etwa Unterschiede im vokalen Ausdruck präziser zu vergleichen.
Wir bedanken uns bei Christina Richter-Ibáñez für diesen interessanten und bereichernden Vortrag zur Popsong-Übersetzung und Phonomusicology.
(Dr. Linda Prossliner, BA MA)